Bausteine eines europäischen Wirtschaftsmodells im digitalen Kapitalismus
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14 Schwerpunkt spw 4 | 2021 Bausteine eines europäischen Wirtschaftsmodells im digitalen Kapitalismus Einleitung zum Heftschwerpunkt von Arno Brandt, Uwe Kremer und Thilo Scholle1 ©Trilight Vision DKosig – Getty Images/iStockphoto Spätestens seit Dan Schillers Buch „Di- these, dass der digitale Kapitalismus eine gital Capitalism“ aus dem Jahr 1999 ist der spezifische Etappe der kapitalistischen Ent- Diskurs über den digitalen Kapitalismus auf wicklung ist, die auf einem differenzierten der polit-ökonomischen Agenda (Schiller System von Plattformen und anderen digi- 1999). Die Zeitschrift SPW hat sich in die- talen Technologien gründet, die die Gene- sen Diskurs seit dem ersten Kongress der rierung von Profiten aus der Gewinnung Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2017 zum und Nutzung von Daten ermöglicht. Dieser „Digitalen Kapitalismus“ eingebracht und technologischen Basis entspricht ein noch sich seither mit eigenen Ausgaben und Arti- im Entstehen begriffenes Set von instituti- keln zu diesem Thema positioniert. Gleich- onellen Arrangements, das die ökonomische wohl sind wir selbst, was eine Theorie des Tragfähigkeit dieses Modells gewährleistet. digitalen Kapitalismus betrifft, noch nicht Ebenso wie sich der Fordismus in der ersten weit über den Status erster, vorläufiger Be- Hälfte des 20. Jahrhunderts zur hegemoni- griffsbestimmungen hinausgekommen. alen Prosperitätskonstellation in den westli- Eine konsistente Theorie des digitalen Ka- chen Industrieländern entwickelte, kann der pitalismus steht noch aus . Wir begnügen digitale Kapitalismus im 21. Jahrhundert ein uns daher auch anlässlich des diesjährigen spezifisches politisch-ökonomisches Ent- Schwerpunktthemas mit der Arbeitshypo- wicklungsmodell des modernen Kapitalis- mus werden (Brandt 2019). Dr. Arno Brandt ist Ökonom, Mitherausgeber der spw und lebt in Lüneburg. Dr. Uwe Kremer ist Sozialwissenschaftler und Mitherausgeber der spw. Die Datenextraktion gehört bei Platt- Thilo Scholle ist Mitglied der spw-Redaktion, Jurist und lebt in Lünen. Ansätze für eine Theorie des digitalen Kapitalismus haben in jüngster Zeit formen praktisch zur genetischen Ausstat- Sabine Pfeiffer (2021) und Philipp Staab (2019) vorgelegt. tung, um auf dieser Basis Netzwerkeffekte
spw 4 | 2021 Schwerpunkt 15 zu erzielen (Snircek 2018, S. 90). Digitaler und sozial eingebetteter Wirtschaftsmodel- Kapitalismus ist kein Wirtschaftsmodell, le zu schmieden, wenngleich die laufenden das sich ausschließlich oder vor allen Din- Auseinandersetzungen um digitale Macht gen auf die Extraktion und Verwertung von und „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff Daten im Dienstleistungssektor (z.B. Sozi- 2018) oder demokratische Kontrolle in den ale Netze, Suchmaschinen, elektronischer USA nicht entschieden sind. Handel) beschränkt, sondern schließt ex- plizit auch die Welt der Industrien mit ein. Das Gegenmodell China verfügt ebenfalls Sowohl materielle als auch immaterielle über Techkonzerne, die z.T. zum Führungs- Güter werden in seinem Kontext hergestellt feld der börsennotierten Unternehmen auf- und ausgetauscht. Es geht um digitale Güter, schließen konnten, die aber eng mit dem aber auch um physische Güter, die mittels chinesischen Staat verflochten sind. Das chi- digitaler Technologien produziert und dis- nesische Modell für die Gestaltung der Zu- tribuiert werden. Je nachdem, welche Tech- kunft beruht auf der Sicherung der Massen- nologien bzw. Plattformen und deren insti- loyalität durch die Vergabe von Privilegien tutionellen Einbettungen in den jeweiligen unter der Führung der Kommunistischen Volkswirtschaften dominieren, existieren Partei. Die chinesische Hightech-Strategie unterschiedliche Ausprägungen der Gewin- fußt auf einer Industriepolitik, die Ausdruck nung und Nutzung von Daten. eines Staatskapitalismus 3.0 ist, der stra- tegische Planung und autoritäre Überwa- Die USA und China zählen heute zu den chungspolitik miteinander verbindet (Butol- global führenden Volkswirtschaften, die bis- lo, Staab 2018). Das chinesische Modell zeigt lang im Kontext der digital-kapitalistischen aber, dass im Rahmen staatlicher Lenkung Produktivkraftentwicklung erfolgreiche Ge- sehr wohl Alternativen zu rein marktgetrie- schäftsmodelle entwickelt haben. Ihre Tech- benen Geschäftsmodellen möglich sind und konzerne zählen seit Jahren zu den erfolg- sich auf den chinesischen Märkten auch die reichsten börsennotierten Unternehmen im amerikanischen Techkonzerne den Direkti- Weltmaßstab. In den USA hat die kommer- ven des chinesischen Staates unterordnen. zielle Aneignung des Internets – durchaus mit Unterstützung staatlicher Investitions- Mit ihrem strategischen Masterplan programme – eine kleine Zahl marktbe- „Made in China 2025“ steuert die chine- herrschender Techkonzerne, die vor allem sische Wirtschaft auch nach der Corona-Kri- von hochdynamischen Netzwerkeffekten se auf einem außerordentlich erfolgreichen profitieren, hervorgebracht. Dieses Modell Wachstumskurs. Von dem selbst gesteckten lässt deutliche Anzeichen dafür erkennen, Ziel, China zu einem „starken, demokra- dass sich die amerikanischen Techkonzerne tischen, zivilisierten, harmonischen und mittlerweile auch als globale Finanzdienst- modernen sozialistischen Land“ zu machen leister weiterentwickeln (Eichengreen 2021, (Xi Jinping), ist das Land aber noch meilen- S. 18). Erfolgreiche Geschäftsmodelle erge- weit entfernt. ben in der Summe allerdings noch kein öko- nomisch tragfähiges Wirtschaftsmodell, was Das Internet der Konsumenten ist heute sich durchaus als Chance für ein alternatives fest in der Hand amerikanischer und chi- europäisches Wirtschaftsmodell erweisen nesischer Konzerne. Weder der deutschen kann (siehe unten). Seit der Wahl von Joe noch der europäischen Wirtschaft als Gan- Biden sind in den USA zudem deutliche Ge- zes wird es auf absehbare Zeit gelingen, hier genkräfte erkennbar, die die bisherigen Ge- eine führende Rolle im globalen Maßstab zu schäftsmodelle infrage stellen und regulato- übernehmen. Aber in der industriellen Pro- rische Eingriffe durchsetzen wollen. Damit duktion beginnt mit dem Internet der Dinge ergeben sich auch aus deutscher bzw. europä- (IoT) und der Künstlichen Intelligenz (KI) ischer Perspektiver durchaus Chancen, neue eine neue Ära wirtschaftlicher Entwicklung. Allianzen bei der Entwicklung demokratisch Es geht um eine digitale Transformation, für
16 Schwerpunkt spw 4 | 2021 die das deutsche Produktionsmodell und in zählt nach wie vor ein erheblicher Teil der Teilen auch die Produktionsmodelle anderer Beschäftigten zum „Netzwerk Industrie“, westeuropäischer Volkswirtschaften mit ih- das Logistik und unternehmensnahe Dienst- rer Ausrichtung auf diversifizierte Qualitäts- leistungen mit einschließt (Eickelpasch produktion bzw. Herstellung von Produkten 2018). In den anderen westeuropäischen hoher Komplexität prädestiniert sind. So Volkswirtschaften stellt sich die Situation wie in der deutschen Industrie sich eine durchaus anders dar, aber insgesamt ist die Rekombination von industriellen, digitalen industrielle Basis Westeuropas immer noch und dienstleistenden Elementen anbahnt, signifikant größer als die der USA. Damit sind in Europa die Voraussetzungen für eine hat der industrielle Sektor mit seinen indus- neue Stufe der Evolution des Netzes grund- trienahen Dienstleistungen weiterhin eine sätzlich vorhanden. Es muss perspektivisch Schlüsselstellung für die wirtschaftliche darum gehen, aus diesen Potenzialen ein eu- Entwicklung der Gesamtwirtschaft. ropäisches Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das seine sozialen Errungenschaften und ge- Innerhalb Westeuropas existiert eine Viel- meinsamen Werte zur Geltung bringt und zahl unterschiedlicher Produktionsmodelle, sich wirtschaftlich gegenüber der Konkur- die aufgrund ihrer Pfadabhängigkeiten eine renz aus USA und China behaupten kann. Konvergenz in Richtung eines gemeinsamen europäischen Produktionsmodells außer- Deutschland und Europa stehen in den ordentlich schwierig gestalten (Abelshau- kommenden Jahren vor großen Heraus- ser 2013). Eine Strategie, die langfristig auf forderungen, die eng mit der sozial-ökolo- eine Annäherung der Produktionsmodelle gischen Transformation und der Bewälti- setzt, muss unterschiedliche Geschwindig- gung des demografischen Wandels sowie keiten, Ambiguitäten, Widersprüche und den sozialen und ökonomischen Folgen der Ungleichzeitigkeiten im Konvergenzpro- Corona-Pandemie in Verbindung stehen. Di- zess in Kauf nehmen. Strategisch sollte dort ese Transformationsprozesse setzen enorme angesetzt werden, wo bereits gemeinsame Investitionen in materielle und immaterielle Institutionen und Projekte bestehen oder Infrastrukturen voraus. Aus ökonomischer sich Kooperationen auf europäischer Ebe- Perspektive geht es vor diesem Hintergrund ne anbahnen. Gemeinsame Forschungs- ganz entscheidend darum, die Rolle der Pro- projekte oder die Etablierung gemeinsamer duktivität und die mit ihr verbundene wirt- Formen beruflicher Weiterbildung dürften schaftliche Dynamik in den Fokus des wirt- sich zum Beispiel schneller umsetzen las- schaftspolitischen Handelns zu nehmen. In sen als die Entwicklung eines gemeinsamen den zurückliegenden Jahrzehnten war der Systems industrieller Beziehungen. Mit der Trend abnehmender Zuwachsraten der Pro- aktuellen Krise der europäischen Wirtschaft duktivität trotz der auf breiter Front voran- (Corona-Krise) ergibt sich zugleich auch ein schreitenden Digitalisierung unverkennbar. Zeitfenster für grundlegende Reformen in- Dies gilt insbesondere für die USA, aber nerhalb der EU, wie die Resonanz auf Initi- auch für die größeren westeuropäischen ativen zugunsten einer auf gesellschaftliche Volkswirtschaften. Dabei zeigt sich, dass die Bedarfsfelder orientierten Innovationspoli- Digitalisierung und das Aufsetzen erfolg- tik (missionsorientierte Innovationspolitik) reicher digitaler Geschäftsmodelle noch kei- (Mazzucato 2021) oder die Etablierung eines ne tragfähige volkswirtschaftliche Dynamik EU Wiederaufbaufonds zeigen. Letzteres erzeugen. In der Ökonomie wird dieses Phä- könnte die Tür zu einer gemeinsamen euro- nomen auch als „Produktivitätsparadoxon“ päischen Fiskalpolitik öffnen (Tooze 2021, bezeichnet (Hübner 2018, Krämer 2019) Gutenberg et al. 2021). Für die gesamtwirtschaftliche Produktivi- In keinem Kontinent weisen die ame- tät ist nach wie vor die industrielle Basis von rikanischen Techkonzerne einen höheren entscheidender Bedeutung. In Deutschland Marktanteil auf als in Europa (Nemitz 2021).
spw 4 | 2021 Schwerpunkt 17 In der EU entstehen gerade erste Ansätze für und teilweise auch schon in EU-Kontexten einen regulatorischen Rahmen, der poten- verfolgten Maßnahmen und Vorhaben (wie ziell geeignet ist, die Macht der Tech-Kon- die GAIA-X-Initiative) eine instruktive und zerne zurückzudrängen und der europä- anschlussfähige Grundlage für weiterge- ischen Industrie gesetzliche Grundlagen für hende Perspektiven. Die weitere Diskussion ihre Geschäftsmodelle zu verschaffen. Die wird zeigen, welche Analyse der sich voll- Europäische Datenschutzverordnung bietet ziehenden Transformationsprozesse wir zur die Chance, auch international Standards Grundlage der künftigen Strategiebildung für den Umgang mit Daten und neuen Ge- machen sollten (vgl. dazu auch den Beitrag schäftsmodellen zu setzen. Mit den klima- von Torsten Windels in diesem Heft). politischen Initiativen der EU („European Green Deal“) entsteht zusätzlich ein Rah- Mit diesem Heft begleiten wir den dies- men, um im europäischen Wirtschaftsraum jährigen Kongress „DigiCap 2021 Ein pro- perspektivisch ein klimaneutrales Wachs- gressives Modell für die digitale Wirtschaft tum zu ermöglichen. Im zivilgesellschaft- in Europa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, der lichen Raum entwickeln sich in Europa vom 15. - 19. November 2021 stattfindet. darüber hinaus zunehmend Initiativen, die Mit den Beiträgen des Heftschwerpunktes auf digitalpolitische Reformen drängen und wollen wir anhand von ausgewählten The- auf dezentraler Ebene mit Formen digitaler menfeldern aufzeigen, wie Reformperspek- Souveränität experimentieren. tiven zugunsten eines inklusiven und nach- haltigen Wirtschaftsmodells gedacht werden Die Suche nach einem neuen europä- können. Bei aller Unterschiedlichkeit der ischen Wirtschaftsmodell sollte sich von der Beiträge zeigen sich dabei insbesondere auch Erkenntnis leiten lassen, dass in Europa ein die Schwierigkeiten, angesichts der national- Regime, das auf langfristige Finanzierung, staatlichen Pfadabhängigkeiten die Perspek- kooperative industrielle Beziehungen, be- tive einer gemeinsamen europäischen Wirt- rufliche Bildung, Sozialstaatlichkeit und schafts- und Digitalpolitik in den Blick zu einen gestaltenden Staat setzt, die Voraus- nehmen, die einen echten Reformfortschritt setzungen dafür schafft, dass in nachhaltige bedeuten könnte. Infrastrukturen und in spezifisches Wissen (tacet Knowledge) investiert wird und damit In unserem Interview mit dem österrei- die vorhandenen Produktivitätspotenziale chischen Ökonomen Stephan Schulmeis- gehoben werden können. Dabei geht es um ter geht es zunächst sehr grundlegend um nicht weniger als um progressive Strukturre- ein europäisches Modell der sozial-ökolo- formen, statt eines „muddling through“, wie gischen Bändigung des Kapitalismus. Wie es in den zurückliegenden Jahrzehnten in der in seinem Buch „Der Weg zur Prosperität“ EU zu beobachten war. Derartige Reformen (Schulmeister 2018) vertritt Schulmeister dienen nicht der Modifikation im Grund- die These, dass für ein fortschrittliches eu- satz vorhandener Strukturen und Mechanis- ropäisches Sozialmodell ein Wechsel von men, sondern sind auf deren grundlegenden der finanz- zur realkapitalistischen Spielan- Umbau in den großen gesellschaftlichen ordnung stattfinden muss. Aus seiner Sicht Bedarfsfeldern ausgerichtet (Brandt, Kre- muss das Profitstreben der Kapitalisten mer 2019, dieselben 2020). Einige Beiträge durch strikte Regulierung auf die Schaffung in diesem Heft bewegen sich zwar noch im realer Werte, z.B. im Rahmen eines „Green Rahmen des überlieferten Regulationstyps Deals“ umgeleitet werden. Durch die Steige- und gehen der Grundphilosophie der EU rung der Realakkumulation kann auch die folgend davon aus, dass mit wettbewerbspo- Verhandlungsposition der Gewerkschaften litischen Maßnahmen und einer begrenzten gestärkt und der Ausbau des europäischen Zahl regulativer Eingriffe die vorhandenen Sozialstaats finanziert werden. Trotz der Herausforderungen bewältigt werden kön- zunehmenden Krisen des Finanzmarktkapi- nen. Gleichwohl bieten die vorgeschlagenen talismus sieht Schulmeister aber nicht, dass
18 Schwerpunkt spw 4 | 2021 die demokratische Linke das Rüstzeug dafür konkrete Zwischenerfolge für gemeinsame entwickelt hat, die Hegemonie für einen Pa- materielle und soziale Zwischenstandards radigmenwechsel zu übernehmen. zu erzielen. Die Entwicklung von Mindest- löhnen und deren Einbettung in institutio- Für den hannoverschen Ökonomen Tors- nelle Arrangements in den Mitgliedsstaaten ten Windels häufen sich die Dysfunktiona- und in der EU zeigt, dass gewerkschaftliche litäten in Wirtschaft und Gesellschaft und Erfolge durchaus möglich sind. verweisen auf Defizite im Akkumulations- regime. Die neoliberalen Neuordnungen in In ihrem Beitrag unterstreicht die Leip- Real- und Finanzwirtschaft sowie Staat und ziger Bundestagsabgeordnete und stellver- Gesellschaft haben nicht die versprochene tretende Vorsitzende der FES Daniela Kolbe Selbststeuerung gebracht. Stattdessen wur- die Bedeutung der Forschungs- und Techno- den ökonomische und soziale Instabilitä- logiepolitik auf europäischer und nationaler ten verstärkt. Der Bedeutungszuwachs der Ebene. Dabei hebt sie die Bedeutung staat- Finanzwirtschaft und die Konzentrationen licher Handlungen in der Förderung von in der Plattform- und Digitalökonomie sind Forschungsanstrengungen hervor. Staatli- wesentliche Ausgangspunkte auf der Suche ches Handeln trägt zum Erfolg von Inno- nach einer neuen „Prosperitätskonstellati- vationen bei. Die öffentlichen Gebietskör- on“. Zentral bleibt das ‚richtige‘ Verständnis perschaften sollten vor diesem Hintergrund dieser Herausforderungen. Handelt es sich stärker Innovationen fördern, indem sie um in den üblichen Bahnen verlaufende ihre Kaufkraft nutzen, um regionale KMU Prozesse im Kapitalismus (Finanzialisierung und Start-ups stärker in Ausschreibungen und Digitalisierung) oder bereits um grund- zu berücksichtigen. In Zeiten zunehmender legende Formationswechsel (Finanzmarkt- globaler Konkurrenz um Ideen und die dar- oder Digitaler Kapitalismus)? Für Ersteres an geknüpften Möglichkeiten für einen ge- sind regulative Markteinhegungen nötig. sellschaftlichen Wohlstand, muss stärker die Für Letzteres sind grundlegendere Reform- Frage diskutiert werden, wem das Wissen ei- schritte nötig. gentlich gehört. Diese Herausforderung hat auch entwicklungspolitische Bedeutung. So Der Nürnberger Sozial- und Personal- hat zuletzt die Debatte um die Freigabe von wissenschaftler Werner Widuckel hebt in Impfstoffpatenten gezeigt, dass durch das seinem Beitrag über „Gewerkschaften und derzeitige System ganze Weltregionen dro- europäisches Sozialmodell“ auf die Schwie- hen, ins Abseits zu geraten. Zu befürchten rigkeiten ab, die sich auf dem Weg zu ei- steht, dass die gesundheitliche, soziale, öko- ner Konvergenz der industriellen Bezie- logische und wirtschaftliche Ungleichheit hungen und der Durchsetzung von mehr zwischen und innerhalb der Länder weiter Mitbestimmung in den Weg stellen. Dies wachsen wird. betrifft insbesondere den Verlust und die Heterogenität gewerkschaftlicher Organi- Paul Nemitz, Mitarbeiter der EU-Kom- sations- und Gestaltungsmacht, der in den mission, verweist in seinem Beitrag zunächst zurückliegenden Jahren nicht zuletzt durch auf die Defizite und Handlungsbedarfe im die vorherrschende neoliberale Politik, aber Bereich der Digitalisierung in Europa. Dabei auch innergewerkschaftliche Auffassungs- zeigt sich, wie stark die EU gegenüber den unterschiede und Konflikte zu verzeichnen USA und China ins Hintertreffen geraten ist. war. Differenziert analysiert Widuckel in Nach einem Überblick über die digitalpoli- diesem Zusammenhang Organisations- tischen Initiativen der EU folgt eine knappe grad, Tarifbindung und Lohnkoordination Skizze eines „europäischen Weges“ zwischen in unterschiedlichen EU-Ländern. Trotz den digitalen Kapitalismen der USA und aller Schwierigkeiten plädiert er dafür den Chinas. Dieser Weg ist durch eine Politik steinigen Weg zu einem gemeinsamen euro- der Beschränkung von Macht in Markt und päischen Sozialmodell weiterzugehen und Staat gekennzeichnet, um Wettbewerb und
spw 4 | 2021 Schwerpunkt 19 Grundrechte zu schützen. Demokratischer Dimensionen des Produktivitätsparadoxons, in: SPW Rechtsrahmen und demokratische Willens- 2/2018, S. 16 - 20 bildung sind für Nemitz zentrale Bezugsgrö- ■ Hübner, K. (2018): Produktivitätsrätsel. Einige Hypothe- ßen, um den gesellschaftlichen Nutzen der sen, in: SPW 2/2018, S. 21 - 26 Digitalisierung in Wirtschaft, Staat und Zi- ■ Kurz, H.D., Schütz, M., Strohmaier, R., Zilian, St. (2018): vilgesellschaft sicherzustellen. Riding a new wave of innovations. A long-term view at the current process of creative destruction, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 4/2018, S. 545 - 583 Auf der Grundlage des sozialdemokra- tischen Zukunftsprogramms umreißt die ■ Mazzucato, M. (2021): Mission – Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft, Frankfurt a.M. Parteivorsitzende Saskia Esken die digital- politischen Grundsatzpositionen der SPD. ■ Müller-Jentsch, W. (2017): Strukturwandel der industri- Deutschland muss aus dieser Perspektive im ellen Beziehungen, Wiesbaden 21. Jahrhundert zur „Gigabit-Gesellschaft“ ■ Nemitz, P., Pfeiffer, M. (2021): Digitale Souveränität werden, wofür neue Bildung, aber auch er- erfordert Autonomie und Dezentralität, in: Gärber, A. (2021): Europa.Besser.Machen – Vorschläge für eine weiterte Arbeitnehmerrechte erforderlich progressive Wirtschaftspolitik, Frankfurt a. M., S. 309 - sind. In Europa gelte es vor allem durch die 319 Herstellung von Bauteilen und Cybersicher- ■ Pfeiffer, S. (2021): Digitalisierung als Distributionskraft heit digitale Souveränität zu gewährleisten. – Über das Neue am digitalen Kapitalismus, Bielefeld Ohne intrinsische Unterstützung aus der Zi- ■ Schiller, D. (1999): Digital Capitalism – Networking the vilgesellschaft ist aus ihrer Sicht eine Bändi- global market system, Cambridge, (Massachusetts) Lon- gung des digitalen Kapitalismus nicht denk- don bar. ó ■ Snircek, N. (2018): Plattform-Kapitalismus, Hamburg Literatur: ■ Staab, Ph. (2019): Digitaler Kapitalismus - Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin ■ Abelshauser, W. (2011): Deutsche Wirtschaftsgeschichte – von 1945 bis zur Gegenwart, Berlin ■ Tooze, A. (2021): Ein Finanzminister Merz wäre ein sys- temisches Risiko für die EU, ZEIT-online, 10.05.2021 ■ Abelshauser, W. (2013): Die EU braucht Regeln, die Ein- heit in Vielfalt zulassen, FAZ, 03.12.2013 ■ Zuboff, S. (2018): Überwachungskapitalismus, Frankfurt a.M ■ Brandt, A. (2019): Digitaler Kapitalismus - Auf der Su- che nach einer neuen Prosperitätskonstellation, in: SPW 5/2019, S. 21 - 30 ■ Brandt, A., Kremer, U. (2020): Progressive Struktur- reformen und demokratischer Sozialismus, in: SPW 4/2019, ■ Brandt, A., Kremer, U. (2019): Demokratische Vergesell- schaftung – Revisionen und Hypothesen für einen mo- dernen Sozialismus a.a.O., 73 - 78 ■ Butollo, F., Staab, Ph. (2018): Digitaler Kapitalismus – Wie China das Silicon Valley herausfordert, in: FES - WISO direkt 3/2018 ■ Eichengreen, B. (2021): Wettlauf zwischen Windhunden und Bluthunden, In: Wirtschaftswoche, 30.04.2021, S. 18, ■ Eickelpasch, A. (2018): Industrie vs. Dienstleistungen? Plädoyer für eine integrierte Sichtweise, in: Soziale Marktwirtschaft: All inclusive? – Industrie, Gütersloh, s. 78 - 103 ■ Guttenberg, L., Hemker, J., Tordoir, S. (2021): Alles wird anders – Wie die Pandemie die EU-Finanzarchitektur verändert, in: Wirtschaftsdienst 2/2021, S. 90 – 24 ■ Krämer, H. (2018): Technische Revolution oder säkulare Stagnation. Historische, technologische und strukturelle
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