Begleitpublikation - Fritz Bauer Institut
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Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Geleitwort 5 DIE ERRICHTUNG DES KONZENTRATIONSLAGERS 7 BUNA-MONOWITZ 1. Was war die I.G. Farben? 8 2. Die Gründung der I.G. Auschwitz im April 1942 10 3. Das Konzentrationslager Auschwitz 14 4. Zwangsarbeiter bei der I.G. Auschwitz 16 5. Die SS 20 6. Die Mitarbeiter der I.G. Farben 24 DIE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER 28 BUNA-MONOWITZ 7. Deportation 30 8. Ankunft 34 9. Zwangsarbeit 37 10. Fachleute 40 11. Hierarchien unter den Häftlingen 42 12. Willkür und Misshandlungen 45 13. Verpflegung 47 14. Hygiene 48 15. Krankheit 50 16. Selektion – Die »Auswahl zum Tode« 53
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | Inhaltsverzeichnis 3 17. Widerstand 56 18. Bombenangriffe 59 19. Todesmärsche 61 20. Befreiung 64 21. Die Zahlen der Toten 66 DIE I.G. FARBEN NACH 1945 UND DIE JURISTISCHE 67 AUFARBEITUNG IHRER VERBRECHEN 22. Die I.G. Farben nach 1945 68 23. Der Nürnberger Prozess gegen die I.G. Farben 70 (1947/48) 24. Die Urteile im Nürnberger Prozess 72 25. Der Wollheim-Prozess 76 (1951 – 1957) 26. Aussagen aus dem Wollheim-Prozess 78 (1951 – 1957) 27. Frankfurter Auschwitz-Prozesse 80 (1963 – 1967) 28. Die politische Vereinnahmung des 81 Fischer-Prozesses durch das SED-Regime 29. Das Ende der I.G. Farben i.L. 82 (1990 – 2003) Impressum 85
5 Geleitwort Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus ZUR AUSSTELLUNG Der Chemiekonzern I.G. Farben ließ ab 1941 in unmittelbarer Nähe zum Konzen- trationslager Auschwitz eine chemische Fabrik bauen, die größte im von Deutsch- land während des Zweiten Weltkriegs eroberten Osteuropa. Sie war zugleich als zentraler Baustein des gewaltsamen Programms der »Germanisierung« der Region um Auschwitz gedacht. Neben deutschen Fachkräften setzte das Unternehmen auf der riesigen Baustelle Tausende von Häftlingen aus dem KZ Auschwitz, außerdem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus ganz Europa ein. Für die zunehmende Zahl von KZ-Häftlingen errichteten der Konzern und die SS, die eine intensive Zu- sammenarbeit miteinander verband, 1942 das firmeneigene KZ Buna-Monowitz. Tausende Häftlinge kamen durch die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu Tode oder wurden in den Gaskammern in Auschwitz-Birkenau ermordet, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren. Die Ausstellung des Fritz Bauer Instituts zeichnet Entstehung, Betrieb und Auflösung des KZ Buna-Monowitz nach. Historische Fotografien dokumentieren die Perspektive von SS und I.G. Farben auf Baustelle und Lageralltag. Sie werden kontrastiert mit autobiographischen Texten von Überlebenden, darunter Primo Levi, Jean Améry und Elie Wiesel, sowie den Aussagen von ehemaligen Häftlingen in den Nachkriegsprozessen. Informationen zu den Gerichtsverfahren nach Kriegs- ende und den Bemühungen der Überlebenden um Entschädigung beschließen die Ausstellung. In der vorliegenden Begleitpublikation sind die Inhalte der Ausstellung dokumentiert und in Grundzügen erläutert. Sie dient der Vor- und Nachbereitung und ist als Einführung in das Thema hilfreich. Ziel ist es, die überlieferte Erinne- rung von ehemaligen Häftlingen des KZ Buna-Monowitz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Ihre zum Teil literarisch anspruchsvollen, zum Teil als Zeugenaussagen in Prozessen formulierten Texte sind die zentralen Exponate. Die übrigen Elemente bieten Informationen, um ihre Erzählungen und Aussagen in den Kontext zu setzen. Die Ausstellung ist dem Andenken der ermordeten und der überlebenden Häftlinge des Lagers Buna-Monowitz gewidmet. Auf dem Gelände des I.G. Farben- Hauses, heute Teil der Goethe-Universität Frankfurt am Main, erinnert das Woll- heim Memorial an sie. Dessen Website [www.wollheim-memorial.de] bietet genaue Informationen und darüber hinaus auch Interviews mit Überlebenden. Prof. Dr. Sybille Steinbacher | Direktorin Fritz Bauer Institut
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz 7 die Errichtung des Konzentrationslagers Buna-Monowitz Aufnahme der amerikanischen Luftaufklärung vom Lager Monowitz (Auschwitz III) (Die Aufnahme wurde – wie die ebenfalls gedrehte, 1978 eingefügte Beschriftung – zur Vereinheitlichung der Karten nach Norden ausgerichtet.) | Auschwitz, 31. Mai 1944 | Washington, DC, National Archives and Records Administration
8 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 1. I.G. Farben Firmenlogo der I.G. Farben um 1925 | Leverkusen, Bayer AG, Corporate History & Archives Die 1925 gegründete »I.G. Farbenindustrie« war keine Interessen- gemeinschaft im herkömmlichen Sinne, sondern eine Aktien- gesellschaft, also ein einheitliches Unternehmen, in dem die bis dahin selbständigen Firmen der I.G. aufgingen. Der Begriff »Interessengemeinschaft« hatte ab 1925 lediglich die Bedeutung eines Eigennamens, der nicht mehr voll ausgeschrieben, sondern nur noch in der Abkürzung »I.G.« verwendet wurde.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 1. I.G. Farben 9 WAS WAR DIE I.G. FARBEN? Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten chemischen Fabriken in Deutschland. Sie stellten vor allem künstliche Farbstoffe her. Im Ersten Weltkrieg machten diese Betriebe große Gewinne mit Sprengstoffen. Sechs von ihnen grün- deten im Jahr 1925 die I.G. Farbenindustrie AG, einen der größten internationalen Industriekonzerne. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 stellte sich die I.G. Farben rasch auf die neue politische Situation ein: Der Konzern unterstützte den Wahlkampf der NSDAP 1933 finanziell. In der gesamten Zeit der NS-Herrschaft zahlte das Unternehmen Millionenbeträge an die verschiedenen NS-Massenorga- nisationen. Neben der finanziellen Lobbyarbeit sorgten die Konzernleitung und die Belegschaft für eine rasche Selbstnazifizierung: Bis Ende 1936 traten acht Spitzenmanager in die NSDAP ein. Auch Mitarbeiter in mittleren Leitungsfunk- tionen versprachen sich durch die Parteimitgliedschaft erhöhte Karrierechancen. Zugleich wurden alle Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder, die gemäß der NS-Ras- senpolitik als Juden galten, zum Rücktritt gezwungen, ins Ausland versetzt oder entlassen. Die I.G. Farben stimmte ihre Interessen, Forschung und Investitionen in den Bereichen Sprengstoffe und Chemiewaffen, Kunstfasern, Leichtmetalle, Treibstoffe und Mineralöle, Kunststoffe und Synthesekautschuk eng mit der wirtschaftlichen Vorbereitung für den Zweiten Weltkrieg ab. Der Konzern beteiligte sich damit wesentlich an der Aufrüstungspolitik des »Dritten Reichs«. DIE ZUSAMMENARBEIT DER I.G. FARBEN MIT DEM NS-REGIME Der Zentralausschuss der I.G. Farben schuf 1935 in Berlin die »Vermittlungs- stelle W« (W = Wehrmacht), um die Zusammenarbeit mit dem Militär zu verbes- sern. Leiter wurde Vorstandsmitglied Carl Krauch, der zu einer Schlüsselfigur bei der Verflechtung von Konzern und Regierung wurde. 1936 übernahm Krauch mit seinem von der I.G. mitgebrachten Team die Ab- teilung »Forschung und Entwicklung« im »Amt für deutsche Roh- und Werkstoffe«. Ziel dieser Abteilung war es, kriegswichtige Rohstoffe durch chemisch erzeugte Stoffe zu ersetzen, um das Deutsche Reich von Importen unabhängig zu machen. Die Vorgaben der NS-Regierung zu Qualität und Quantität von Stoffen wurden mit den Investitionsplanungen und der Forschung der I.G. Farben abgestimmt. 1940 wurde Krauch als »Generalbevollmächtigter für Sonderfragen der che- mischen Erzeugung« direkt Hermann Göring unterstellt. Für seine Aufgaben als Regierungsvertreter und für die Kriegsplanung beurlaubte ihn die I.G. Farben. Er behielt jedoch alle Ämter im Konzern bei und wurde weiterhin von ihm bezahlt. Die Gründungsfirmen der I.G. Farben BASF (Ludwigshafen), Bayer (Leverkusen), Farbwerke Hoechst (Frankfurt am Main), Agfa (Berlin), Weiler-ter Meer (Uerdingen), Griesheim-Elektron (Frankfurt am Main)
10 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 2. Gründung I.G. Auschwitz DIE GRÜNDUNG DER I.G. A U S C H W I T Z I M A P R I L 1 9 4 2 Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 suchte die I.G. Farben nach einem Standort für ein großes Chemiewerk in Osteuropa. Die Ent- scheidung fiel 1940/41 auf die 60 Kilometer westlich von Krakau gelegene Stadt Oświęcim (Auschwitz). Dabei spielten militärische, politische und wirtschaftliche Gründe eine Rolle: Der Ort lag verkehrsgünstig, in der Umgebung fanden sich reiche Rohstoffvorkommen (Kohle, Kalk und Wasser), und für den Bau des Werks konnten Zwangsarbeiter aus dem nahegelegenen Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt werden. Das neue Chemiewerk war als komplexe chemische Fabrik konzipiert. Zu- nächst sollte das Werk die militärische Nachfrage nach künstlichen Kraftstoffen und synthetischem Kautschuk (Buna) befriedigen. Für spätere Friedenszeiten war geplant, dass die Produktionsanlagen den Markt im eroberten Osten mit Kunst- stoffen versorgen sollten. WAS IST BUNA? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die weltweite Nachfrage nach Naturkaut- schuk (Gummi) für die Reifenproduktion der stark wachsenden Automobilindus- trie. Der damit einhergehende Preisboom veranlasste die Chemieindustrie, nach Verfahren für eine künstliche Herstellung von Kautschuk zu suchen. Seit 1929 hielt die I.G. Farben ein Patent auf die Herstellung von künstlichem Gummi, das sie als Buna bezeichnete. Aufgrund der hohen Herstellungskosten und der fallenden Preise für Naturkautschuk während der Weltwirtschaftskrise wurde die Produktion jedoch eingestellt. Ab 1933 nahmen die I.G. Farben und das NS-Regime Verhandlungen über die Großproduktion von Buna auf, um sich von Naturkautschuk unabhängig zu machen. Geplant wurden vier Produktionsanlagen: in Schkopau (Buna I, Produktion ab März 1937), Hüls (Buna II, Produktion ab 1940), Ludwigshafen (Buna III, Pro- duktion ab Ende 1942) und Auschwitz (Buna IV). Besuch Heinrich Himmlers auf der Baustelle | Baustelle I.G.- Baugelände, Auschwitz 1942 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler besuchte am 17. und 18. Juli 1942 Auschwitz und ließ sich von I.G.-Oberingenieur Dr. Max Faust die Baumaßnahmen zeigen.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 2. Gründung I.G. Auschwitz 11 Werke und Betriebe der I.G. Farben 1943 | Nürnberg, 1947 | Washington, DC, National Archives and Records Administration Im Zweiten Weltkrieg profitierte die I.G. Farben von der Übernahme von Betrieben in den besetzten Gebieten. An mindestens 23 Standorten setzte der Konzern Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ein.
12 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 2. Gründung I.G. Auschwitz
13 Die Baustelle der I.G. Auschwitz | Auschwitz, um 1943/44 | Frank- furt am Main, Fritz Bauer Institut An dem Kraftwerk wurden Eisenbeton- und Dachdeckerarbeiten ausgeführt. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 waren einige Anlagen im Fabrikkomplex fertiggestellt, die Großproduktion von Methanol lief seit Oktober 1943. Zu der für Februar 1945 vorgesehenen Aufnahme der Buna-Produktion kam es nicht mehr.
14 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 3. Konzentrationslager Auschwitz D A S KO N Z E N T R AT I O N S L A G E R AUSCHWITZ Im April 1940 befahl Heinrich Himmler, der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, den Bau des Konzentrationslagers Auschwitz. Zum Komman- danten wurde SS-Hauptsturmführer Rudolf Höß ernannt. Durch die sukzessive Ein- richtung von Gaskammern in Birkenau seit 1942 wurde das Lager in den Jahren 1943 und 1944 zum größten Vernichtungszentrum der Nationalsozialisten. In Auschwitz wurde die systematische Massenvernichtung von Menschen, vor allem Juden aus ganz Europa, aber auch Sinti und Roma, mit dem Giftgas Zyklon B durchgeführt. Auschwitz war zudem eines der größten Zwangsarbeitslager der deutschen Industrie. In über 40 Außenlagern mussten Häftlinge in landwirtschaft- lichen Betrieben, Rüstungsfabriken, Kohlegruben und anderen Produktionsstätten Zwangsarbeit leisten, bis ihre Kräfte erschöpft waren. Von den Juden, die zwischen 1942 und 1944 aus ganz Europa nach Auschwitz deportiert wurden, wählte die SS Zehntausende zur Zwangsarbeit aus. Ihre Ange- hörigen wurden zumeist direkt nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau ermordet. SS-Interessengebiet Auschwitz-Birkenau 1944 | Nachbearbeitete Fotografie | Auschwitz, 26. Juni 1944 | Washington, DC, National Archives and Records Admin- istration Historische Aufnahme der amerikanischen Luftaufklärung von Auschwitz I, Birkenau und Monowitz
SCHEMATISCHE ÜBERSICHT ÜBER DAS SS-INTERESSENGEBIET 0 km 2 km Auschwitz-Birkenau um 1944 Auschwitz II (Birkenau): Stadtzentrum von Auschwitz Das Vernichtungs- und Konzentrationslager (Oświęcim) lag in einem Sperrbezirk von rund 40 Quadrat- kilometern und wurde zwischen 1941 und 1944 kontinuierlich ausgebaut. Ab 1942 bestanden in Birkenau Anlagen für den systematischen Massenmord. l h se ic We Werk der I.G. Farben Werk für synthetischen Treibstoff und Gummi Auschwitz I (Stammlager): Das auf einem ehemaligen Kasernengelände errichtete Lager existierte seit Mai 1940. Die Häftlinge mussten in den nahegelegenen Betrieben der SS Zwangsarbeit leisten. 1941 Auschwitz III (Buna-Monowitz führte die Lagerleitung hier erstmals Versuche zur Massenvernichtung von Menschen mit und Nebenlager): dem Giftgas Zyklon B durch. 1942 erbaute die I.G. Auschwitz das firmeneigene Lager Buna-Monowitz. Es war das erste Konzentrationslager, das sich auf dem Gelände eines privatrechtlichen Groß- konzerns befand. 15
16 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz ZWANGSARBEITER BEI DER I.G. AUSCHWITZ Auf der Baustelle der I.G. Farben wurden in großem Umfang Zwangsarbeiter aus dem Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. Für die I.G. Farben war die Ausbeutung der Häftlinge ein profitables Geschäft. Die Mietpauschale für die Häft- lingsarbeit lag etwa ein Drittel unter dem üblichen Lohnniveau für freie Arbeits- kräfte in dieser Region. Zu Beginn der Bauarbeiten an der Fabrik im April 1941 mussten die Häftlinge jeden Tag vom Stammlager Auschwitz zur sechs bis sieben Kilometer entfernten Baustelle marschieren. Später wurden sie mit der Bahn gebracht. In den Augen der I.G.-Werksleitung stellten sowohl der kräftezehrende Marsch, der die unter- ernährten Häftlinge zusätzlich schwächte, als auch der zeitaufwendige Transport mit Güterwaggons einen nutzlosen Verschleiß an Arbeitskraft und -zeit dar. Daher drängte sie auf die Errichtung eines Außenlagers auf dem Werksgelände. Es ent- stand im Herbst 1942 an der Stelle des polnischen Dorfes Monowice, dessen Ein- wohner vertrieben worden waren. Häftlinge des Buna-Außenkommandos marschieren durch die Stadt Auschwitz. | Auschwitz, zwischen April 1941 und Juli 1942 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz 17 1942 1943 1944 Januar 2.900 7.000 Februar 1.500 7.000 März 3.000 7.800 April 3.200 7.200 Mai 4.000 9.200 Juni 4.000 10.100 Juli 5.000 10.100 August 6.000 11.500 September 6.400 10.100 Oktober 6.600 9.800 November 2.300 6.400 10.600 Dezember 3.700 7.000 10.500 Zwangsarbeiter im Konzentrationslager Buna-Monowitz | Antoni Makowski, »Organisation, Entwicklung und Tätigkeit des Häftlings-Krankenbaus in Monowitz (KL Auschwitz III)«, in: Hefte von Auschwitz, Jg. 15 (1975) Die Tage der Häftlinge im KZ Buna-Monowitz bestanden aus vielen Stunden meist schwerer Arbeit im Freien ohne die nötige Schutzkleidung. Die Arbeitszeit betrug im Sommer zehn bis elf Stunden, im Winter mindestens neun Stunden. Nach der Rückkehr ins Lager mussten die Häftlinge manchmal noch ein bis zwei Stunden Ausbauarbeiten im Lager leisten. Die meisten Häftlinge des Lagers Buna-Monowitz, etwa 25.000 bis 30.000 Personen, gingen aufgrund der ungenügenden Ernährung, der unzureichenden Kleidung und der harten Arbeitsbedingungen zugrunde. Viele wurden auf der Baustelle ermordet oder bei Selektionen (Aussonderungen nach Kriterien der »Arbeitsfähigkeit«) in die Gaskammern nach Birkenau geschickt. Häftlinge beim Ausmarsch aus dem Lager Buna-Monowitz zur Arbeit auf dem Werksgelände | Auschwitz, zwischen 1942 und 1944 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau Nach dem Morgenappell wurden die Arbeitskommandos zusammengestellt. Sobald die SS eine Postenkette zur Baustelle und um sie herum gebildet hatte, rückten die Kommandos aus. Im Hintergrund des Bildes sind die Baracken der SS zu erkennen.
18 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz 19
20 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS DIE SS Die SS verwaltete und bewachte das Lager Buna-Monowitz. Sie vermietete die KZ-Häftlinge an die I.G. Farben zur Zwangsarbeit auf dem Werksgelände. Be- reits im März 1941 einigten sich die Vertreter der I.G. Farben und der SS in Berlin auf die Bedingungen der Zwangsarbeit: Sie vereinbarten, dass die I.G. Farben pro Hilfsarbeiter und Tag drei Reichsmark, pro Facharbeiter und Tag vier Reichsmark an die SS zahlte. Die Häftlinge erhielten keinerlei Lohn. Täglich sorgten die SS-Wachmannschaften für die Bereitstellung der Arbeits- kommandos. Die Aufmerksamkeit der SS-Männer galt vor allem der Absicherung des Lagers nach außen und der Aufrechterhaltung der inneren »Ordnung«. SS-Angehörige, die im Januar 1945 zur Absicherung von 2.006 Männer Buna-Monowitz und seiner Außenlager eingesetzt waren: 15 Frauen Ehemalige SS-Angehörige, die nach 1945 juristisch zur Re- 4 Männer chenschaft gezogen wurden: S. 21: Auszüge aus: Kommandanturbefehl von Heinrich Schwarz vom 28. Januar 1944 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz- Birkenau Der Lagerkommandant hatte die oberste befehlende Dienststel- lung in einem Konzentrationslagers inne. Er war Befehlshaber der Wachmannschaften und des weiteren von der SS eingesetzten Personals.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS 21 […]
22 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS LAGERKOMMANDANT Heinrich Schwarz (1906 – 1947) Eintritt in SS und NSDAP: Dezember 1931 Zivilberuf: Reproduktionsfotograf 1906 in München geboren. → Ausbildung zum Reproduktionsfotografen und zeit- weise Arbeit in diesem Beruf. → 1926 bis 1931 erwerbslos. → Ab 1939 Beginn einer Laufbahn bei der Lager-SS, zunächst in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen. → Im Juni 1941 Versetzung in das SS-Hauptamt »Haushalt und Bauten«. → September 1941 Wechsel in die Inspektion der Konzentrationslager in die Abteilung »Häftlingseinsatz«. Stationierung in der Außenstelle in Auschwitz und zeitweise in Birkenau. → Im August 1943 setzte ihn der Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, als seinen Vertreter ein. → Ab November 1943 bis zur Räumung im Januar 1945 Lagerkommandant in Buna-Monowitz und den angeglie- derten Außenlagern. → Ab dem 1. Februar 1945 Lagerkommandant des Konzen- trationslagers Natzweiler-Struthof im Elsass. → 1947 von einem französischen Militärgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Foto: Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut KOMMANDOFÜHRER, RAPPORTFÜHRER Bernhard Rakers (1905 – 1980) Eintritt in SA und NSDAP: März 1933 Eintritt in SS: Herbst 1934 Zivilberuf: BäcKer 1905 in Sögel im Emsland geboren. → 1930 Meisterprüfung als Bäcker. → 1934 Bewerbung als Wachmann in den frühen Konzentrationslagern im Emsland. Ab- bruch der Ausbildung zum KZ-Wächter nach einem Unfall. → Umschulung als Koch. Arbeit in der Lagerküche des KZ Esterwegen. → 1936 bis 1942 Küchenchef im KZ Sachsenhausen. Wegen Unterschlagung von Lebensmitteln Versetzung nach Auschwitz. → Ab Anfang 1943 Kommandoführer in Buna-Monowitz. Morgens und abends eskortierte er mit dem ihm unterstellten SS-Wachkommando die Häftlinge zum Werksgelände und zurück ins Lager. Nach Beschwerden wegen seiner Grau- samkeit und Brutalität gegenüber Häftlingen wurde er zum Rapportführer in Buna- Monowitz befördert. In dieser Funktion war er unter anderem für die Appelle und die Feststellung der Lagerstärke zuständig. → Dezember 1944 bis Januar 1945 Lager- führer im Nebenlager Gleiwitz II (Deutsche Gas-Ruß-Werke GmbH; Sitz Dortmund). → Im Februar 1945 Lagerführer im Nebenlager Weimar-Gustloff-Werke des KZ Bu- chenwald. → 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. → 1948 im Entnazi- fizierungsverfahren aufgrund seiner Zugehörigkeit zur SS zu einer Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt (die Strafe wurde vom Gericht auf seine Kriegs- gefangenschaft angerechnet und galt als verbüßt). → Rückkehr in seinen Beruf als Bäcker. → 1950 Verhaftung und Beginn von insgesamt drei Prozessen vor dem Landgericht Osnabrück (1952–1959) gegen ihn. → 1953 im ersten Rakers-Prozess wegen Mordes an Häftlingen zu lebenslanger Haft verurteilt. → Mitte 1971 begnadigt und Weiterarbeit in seinem Zivilberuf. Foto: Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS 23 SANITÄTSDIENSTGRAD Gerhard Neubert (1909 – 1993) Eintritt in SS: Mai 1940 Zivilberuf: Klavierbauer 1909 in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge geboren. → 1927 Abschluss der Lehre als Klavierbauer. → 1931 Tätigkeit in einer Möbelfabrik. → 1940 Einberufung zur Waffen-SS und Grundausbildung in Prag. → Mitte 1942 nach Auschwitz kommandiert. Wachdienst und Bedienung der Desinfektionsanlage für Kleidung, Absolvierung eines Desinfektions- und Krankenpflegerlehrgangs. → Seit Anfang 1943 Sanitäts- dienstgrad im Häftlingskrankenbau des KZ Buna-Monowitz und dort an Selektionen beteiligt. → Nach der Auflösung des Lagers im Januar 1945 Dienst in den Konzen- trationslagern Buchenwald, Mittelbau-Dora (Boelcke-Kaserne) und Neuengamme. → 1945 Verhaftung durch die britische Armee, nach zehn Wochen Freilassung. → Arbeit als Bauerngehilfe, Tischler und Polier. → 1958 bis 1963 Angestellter bei der Standortverwaltung einer Bundeswehreinheit, danach abermals Tätigkeit in der Möbelfabrik, in der er schon vor dem Krieg gearbeitet hatte. → Im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess angeklagt, jedoch nicht in Untersuchungshaft ge- nommen. Wegen Krankheit des Angeklagten trennte das Gericht das Verfahren ab. → Im zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1965 – 1966) wurde er erneut vor Gericht gestellt und zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. → 1971 Entlassung. Foto: Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut LAGERARZT Horst Fischer (1912 – 1966) Eintritt in SS: November 1933 Eintritt in NSDAP: Mai 1937 Zivilberuf: Arzt Fischer, geboren 1912 in Dresden, wuchs als Vollwaise bei Verwandten in Dresden und Berlin auf. → 1932 bis 1937 Medizinstudium an der Universität Berlin. → Ab 1939 Arbeit als Truppenarzt der Waffen-SS. → 1942 nach Auschwitz versetzt. Aufstieg zum Stellvertreter des Standortarztes. → November 1943 bis September 1944 Lagerarzt im Häftlingskrankenbau in Buna-Monowitz (Fischer war einer der ranghöchsten SS-Mediziner in Auschwitz). → Nach 1945 Landarzt in der DDR. → Mitte der 1960er Jahre Aufdeckung seiner Identität als Nebenprodukt einer Über- prüfung durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wegen intensiver West- kontakte und »politischer Unzuverlässigkeit« gegenüber dem DDR-Regime. → Im März 1966 wurde Fischer vom Obersten Gericht der DDR des Mordes an mehreren Tausend Menschen für schuldig befunden und hingerichtet. Foto: Frankfurt am Main, picture-alliance/dpa
24 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben D I E M I TA R B E I T E R D E R I.G. FA R B E N Die I.G. Farben sandte Ingenieure, Angestellte und Meister zur I.G. Auschwitz. Die Mitarbeiter erhielten für die Versetzung Gehaltszulagen, etwa in Form von »Trennungsentschädigungen«, Steuererleichterungen und besonderen Sozial- leistungen, darunter eine mustergültige medizinische Versorgung. Zudem wurde ihnen ein umfassendes Freizeitprogramm geboten, um einen Ausgleich zur Arbeit und zum »Verzicht auf die aus der Heimat gewohnte Zivilisation, Lebenskultur« (Walther Dürrfeld, Heinrich Schuster) zu schaffen. Die Belegschaft der I.G. Auschwitz wurde entsprechend der NS-Rassenhier- archie kategorisiert und in insgesamt zwölf Barackenlagern getrennt nach Herkunft und Status untergebracht. In der Stadt Auschwitz wurden im April 1941 die Wohn- häuser von Juden beschlagnahmt und für leitende Angestellte der I.G. Auschwitz bereitgestellt. Für die übrigen Beschäftigten ließ die Werksleitung moderne Wohn- siedlungen und Baracken errichten. Fotos von Feierabend- und Sportver- anstaltungen | Auschwitz, 1943/44 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Die Werksleitung der I.G. Auschwitz organisierte für ihre Angestellten ein umfangreiches Freizeitangebot in Form von Konzerten, Kino- und Theatervor- stellungen und Sportveranstaltungen.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben 25 Neuerbaute Siedlung in der Stadt Oświęcim (Auschwitz) | Auschwitz, 1943/44 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Den Ingenieuren und Angestellten gewährte die Werksleitung besondere Sozial- leistungen wie Grünanlagen oder die Verschönerung ihrer Wohnungen. Das Foto wurde im I.G.-Farben-Prozess von dem Angeklagten Walther Dürrfeld als Beispiel für den rasanten Aufschwung der Stadt und des gesamten Landstrichs dank der I.G.-Werkssiedlung vorgelegt. BELEGSCHAFT IN AUSCHWITZ AM 15. NOVEMBER 1942 Deutsche Belegschaft: 4.944 Gesamtbelegschaft * des Werks: 20.555 *) ohne Häftlinge des KZ Buna-Monowitz Neben Zivilarbeitern handelt es sich um Zwangsarbeiter (vor allem aus Osteuropa), Kriegsgefangene und Häftlinge aus einem Erzie- hungslager, die in verschiedenen Barackenlagern in Auschwitz un- tergebracht waren. Entsandte Mitarbeiter der I.G. Farben nach Auschwitz und Angehörige von Fremdfirmen: GEWERBLICHE BELEGSCHAFT ANGESTELLTE Belegschaft Fach- Hilfs- Lehrlinge, technische kauf- arbeiter arbeiter Umschüler männische Deutsche 331 483 1.776 111 535 I.G.-Angehörige Angehörige 1.122 386 22 91 87 fremder Firmen Deutsche 1.453 869 1.798 202 622 Belegschaft insg. Bernd Wagner | IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941 – 1945, München 2000, S. 331
26 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben DAS LAGERSYSTEM DER I.G. AUSCHWITZ Auf der Großbaustelle der I.G. Farben herrschte von Beginn an starker Arbeitskräf- temangel. Dem versuchte die I.G. Farben durch die Anwerbung von zivilen Fremd- arbeitern entgegenzuwirken. Zudem nutzte sie ab 1940 ihre »Vermittlungsstelle W« in Berlin, um Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zu beschaffen. Untergebracht waren diese Menschen in riesigen Lagerkomplexen, welche die Werksgebäude der I.G. Farben umgaben (im Plan gelb markiert). Für die zahlreichen ausländischen Arbeitskräfte variierten der Arbeitsschutz und die sozialrechtlichen, politischen, medizinischen und hygienischen Bedin- gungen je nach ihrer durch die NS-Ideologie definierten Stellung als »Rasse«. Die Löhne der Ostarbeiter, Polen, Balten, Juden, Sinti und Roma waren deutlich ge- ringer als die Löhne anderer Ausländer oder der Deutschen, ihre Unterbringung und medizinische Versorgung war schlechter, und die Lebensmittelrationen fielen geringer aus. Die unmenschlichste Form der Zwangsarbeit erlebten die Häftlinge in den Konzentrationslagern, zumeist handelte es sich um jüdische Häftlinge, die jed- weden Rechts beraubt wurden.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben 27 Fabrik- und Lagerkomplex des Werkes Auschwitz der I.G. Farben | Plan im Maß- stab 1:10.000 | Ende 1944 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Der zeitgenössische Lageplan der I.G.-Planer wurde im Nürnberger Prozess ver- wendet, um den Anwesenden die Anordnung der Gebäude zu veranschaulichen.
28 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz Die Häftlinge im Konzentrationslager Buna-Monowitz
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz 29 »Ganz anders ist Buna. Buna ist hoffnungslos, durch und durch trübe und grau. Diese ausgedehnte Wirrnis von Eisen, Zement, Schlamm und Qualm ist die Verneinung der Schönheit schlechthin. Ihre Straßen und Bauten werden mit Zahlen und Buchstaben benannt wie wir, wenn sie nicht unmenschliche und unheilvolle Namen tragen. In diesem Bereich wächst kein Grashalm, und die Erde ist getränkt mit den giftigen Säften von Kohle und Petro- leum. Nichts lebt hier, nur Maschinen und Sklaven: und jene mehr als diese.« Primo Levi | Ist das ein Mensch?, München 1991, S. 85 Zur Person: Primo Levi (1919 – 1987) wurde am 31. Juli 1919 in Turin geboren und studierte dort Chemie. Ende 1943 wurde er als Mitglied der Resistenza verhaftet und im Januar 1944 zunächst in das Lager Fossoli bei Modena und von dort aus im Februar nach Buna-Monowitz deportiert. Levi überlebte die schweren Arbeitskom- mandos in den ersten Monaten und wurde im November 1944 als Chemiker in ein Facharbeiterkommando aufgenommen. Bis Januar 1945 arbeitete er im wetterge- schützten Labor. Kurz vor der Räumung des Lagers erkrankte er an Scharlach und wurde im Häftlingskrankenbau zurückgelassen, in dem es zu diesem Zeitpunkt keine medizinische Betreuung mehr gab. Durch Glück und Zufall erlebte er die Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 und kehrte nach Italien zurück, wo er bis 1977 in der chemischen Industrie arbeitete. Seine autobiographischen Berichte, seine Erzählungen und Romane wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet und in viele Sprachen über- setzt. 1987 nahm sich Levi mutmaßlich das Leben. Primo Levi | circa 1960 | Zum Text: Primo Levis Bericht erschien bereits 1947 (Neuausgabe 1958) auf Mailand, Fondazione Italienisch unter dem Titel Se questo è un uomo und ist der wohl bekannteste und Centro di Documenta- für die Rezeption einflussreichste Bericht eines Monowitz-Überlebenden. Levi zione Ebraica Contem- schildert seine Erlebnisse während seiner einjährigen Haft in Buna-Monowitz. poranea (Fondo fotografico Seine Beschreibungen sind überaus präzise, klar und nüchtern. Dabei nutzt er Levi Anna Maria, inv. 363-016) seine persönlichen Erfahrungen als Ausgangspunkt für Reflexionen über die Ent- menschlichung der Opfer.
30 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 7. Deportation D E P O R TAT I O N Im Herbst 1941 begann die bürokratisch organisierte Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich, dem Protektorat Böhmen und Mähren und dem ›ange- schlossenen‹ Österreich. Mit Zügen wurden die Menschen zunächst in die Ghettos im besetzten Mittel- und Osteuropa verschleppt. Seit März 1942 fuhren Züge aus den besetzten und verbündeten europäischen Ländern auch nach Auschwitz. Vorbereitet wurden die als »Sonderzüge« bezeichneten Transporte der Deutschen Reichsbahn durch das Referat IV B 4 (»Judenreferat«) des Reichssicher- heitshauptamts (RSHA) in Berlin unter der Leitung von Adolf Eichmann. Etwa 650 solcher Transporte mit insgesamt über einer Million Juden, Sinti und Roma endeten in Auschwitz-Birkenau. Im Deutschen Reich holten Beamte die Betroffenen zu Hause ab und sperrten sie in öffentliche Sammellager, die in Messehallen oder in jüdischen Einrichtungen wie Synagogen errichtet worden waren. War ein Transport zusammengestellt, brachte die Gestapo die Betroffenen zu Fuß oder in Lkws zu den öffentlichen Bahnhöfen, zumeist Güterbahnhöfen, von wo aus die Züge starteten. »Mein Bruder Hermann und ich […] richteten uns, als erste in den Waggon kletternd, in einer Ecke ein. Unterhalb einer Klappe, die eine Art Fensteröffnung war, damit die Tiere, die sonst hier transportiert wurden, an heißen Tagen nicht erstickten. Unser Waggon füllte sich so sehr, dass an ein Sich-Hinlegen nicht mehr zu denken war. Als der Zug rollte und nirgendwo hielt, Imo Moszkowicz | wurden die ersten menschlichen Bedürfnisse riechbar. 2003 in seinem Haus Wer den Mut hatte, sich in die Hosen zu scheißen, der in Ottobrunn | Wien, Daniela Ebenbauer war gar nicht so schlecht dran. […] Die Degradierung nahm allerprimitivste Formen an, die ihren Tiefpunkt auf der Rampe von Auschwitz erreichte. Beinahe vier Tage waren wir unterwegs, die meisten vollgeschissen, elendig stinkend.« Imo Moszkowicz | Der grauende Morgen. Erinnerungen, Paderborn 2008, S. 79 Zur Person: Imo Moszkowicz (1925 – 2011) war der Sohn eines jüdisch-russischen Schuhmachers und wuchs in Ahlen im Münsterland auf. 1938 emigrierte der Vater nach Argentinien, die Familie sollte am 10. November folgen. In der Pogrom- nacht am 9. November wurden jedoch die Wohnung und alle Ausreisedokumente zerstört. 1939 erfolgte die Umsiedlung der Familie nach Essen. Die Mutter und vier Geschwister wurden im April 1942 nach Izbica, ein »Durchgangsghetto« für die
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 7. Deportation 31 Vernichtungslager Sobibor und Belzec, deportiert. Der Bruder David wurde nach Auschwitz verschleppt und im Februar 1943 auf der Rampe erschossen. Am 1. März 1943 wurden Imo und sein Bruder Hermann von Dortmund nach Auschwitz deportiert. Auf der Rampe verlor Imo seinen Bruder aus den Augen. Er selbst wurde zur Zwangsarbeit für die I.G. Farben gezwungen. Moszkowicz über- lebte die Todesmärsche und wurde im Mai 1945 in der Nähe von Liberec (Reichen- berg) durch die Russen befreit. Nach der Befreiung begann er eine Theater- und Regiekarriere. Er war als Schauspieler und Regisseur an zahlreichen großen Bühnen im deutschsprachigen Raum sowie in Santiago de Chile und Tel Aviv tätig und führte in über 200 Fernseh- filmen und -serien Regie. Am 11. Januar 2011 starb er in München. Zum Text: Moszkowicz veröffentlichte seine Autobiographie im Jahr 1996, also mit über 50 Jahren Abstand. Er macht sein Unvermögen, die Verfolgung, Zwangsarbeit und die Erlebnisse in Buna-Monowitz vergessen zu können, zum Thema seines Buches: Die verdrängten und unerwünschten Erinnerungen brachen immer wieder in seinen Alltag und seine Arbeit als Schauspieler und Regisseur ein. Moszkowicz berichtet nicht historisch-chronologisch, sondern nimmt Schil- derungen aus seinem Leben nach der Befreiung als Ausgangspunkt für Erinne- rungen und Reflexionen über Auschwitz. Dabei springt er immer wieder zwischen den Erinnerungsebenen, die er sprachlich unterschiedlich gestaltet. Erst die stete Rückkehr zu positiven Erinnerungen ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen. DEPORTATIONEN VON JUDEN NACH AUSCHWITZ-BIRKENAU Frankreich 69.000 Niederlande 60.000 Belgien 25.000 Deutschland/Österreich 23.000 Italien 7.500 Norwegen 690 Slowakei 27.000 Protektorat Böhmen und Mähren/Ghetto Theresienstadt 46.000 Jugoslawien 10.000 Griechenland 55.000 Polen 300.000 Ungarn 438.000 Aus Konzentrationslagern 34.000 1.100.000 Insgesamt etwa (1.095.190) WEITERE DEPORTATIONEN Polen 147.000 Sinti und Roma 23.000 Sowjetische Kriegsgefangene 15.000 Andere 25.000 1.300.000 Insgesamt etwa (1.305.190) Franciszek Piper | Die Zahl der Opfer von Auschwitz | Staatliches Museum Ausch- witz-Birkenau, 1993
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Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 7. Deportation 33 Auszug Transportliste | Transport vom 29. November 1942 aus Berlin nach Auschwitz | Bad Arolsen, Arolsen Archives Die Gestapo ging bei der Zusammenstellung der Transporte systematisch und akribisch vor. In Zusammenarbeit mit verschiedenen lokalen und kommunalen Dienststellen wurden die in den jeweiligen Orten lebenden Juden erfasst. Die Erhebung diente als Grundlage für die Transporte.
34 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 8. Ankunft ANKUNFT Die Deportationszüge kamen von Frühjahr 1942 bis Mai 1944 an der »Alten Rampe« in der Nähe des Güterbahnhofs von Auschwitz an. Im Mai 1944 wurde die »Neue Rampe« innerhalb des Vernichtungslagers Birkenau in Betrieb genommen. Nach der Ankunft trieben SS-Männer die Deportierten oft mit Schreien und Schlägen aus den Waggons. Direkt neben dem Zug fand die erste Selektion durch SS-Offiziere, ab März 1943 ausschließlich durch SS-Ärzte statt. Noch auf der Rampe wurden zwei Kolonnen gebildet: Alte, Schwache, Kinder und jüngere Jugend- liche, Schwangere und Frauen mit Kindern wurden direkt in die Gaskammern ge- bracht. Die Überlebenden der Selektionen gelangten zu Fuß oder auf Lkws in das Stammlager Auschwitz, in das Vernichtungslager Birkenau oder in das firmen- eigene Arbeitslager Buna-Monowitz der I.G. Farben. Dort mussten sie sämtliche Wertsachen und ihre Kleidung abgeben, kamen zur »Entlausung« und wurden in kalte Duschen geführt. Ihnen wurden die Haare geschoren, und eine Häftlings- nummer wurde ihnen auf den linken Unterarm tätowiert. Nach einem sogenannten Quarantäneaufenthalt erfolgte die Zuteilung zu einem Arbeitskommando, in dem sie Zwangsarbeit leisten mussten. Waren sie physisch nicht mehr arbeitsfähig, schickte sie die SS ins Gas. 15 — 35 % der Deportierten wurden als »arbeitsfähig« beurteilt. 65 — 85% wurden sofort in den Gaskammern ermordet. »Endlich hält der Zug an, und im Morgengrauen sind wir auf dem Bahnsteig von Auschwitz. Die Türen der Waggons werden aufgerissen und unter Gebrüll und Geschrei müssen wir sie verlassen. […] Herzergreifende Szenen spielen sich ab, als Frauen und Kinder von den Männern getrennt werden. Auf der Bahnhofsrampe kommen wir an einigen SS-Offizieren vorbei, die uns, einen nach dem anderen, sehr oberflächlich im Vorbei- gehen mustern. Man wird entweder nach rechts oder nach links gewiesen. Ich komme nach rechts und bemerke, dass die auf meiner Seite eingereihten Männer eher jung und in guter physischer Verfassung sind. Die Selektion scheint beendet zu sein. Man sagt uns, dass wir ins Lager marschieren werden. Die andere Gruppe hingegen wird auf Lastwagen verladen.« Willy Berler | Durch die Hölle. Monowitz, Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald, Augsburg 2003, S. 51
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 8. Ankunft 35 Zur Person: Willy Berler (1918– 2008) wurde am 11. April 1918 in Czernowitz in der Bukowina als Sohn eines Kaufmanns geboren. Er war Mitglied in zionistischen Ju- gendorganisationen und besuchte 1936 eine Landwirtschaftsschule in Palästina. Auf Wunsch der Eltern kam er nach einem Jahr zurück, um in Liège Chemie zu studieren. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Belgien 1940 flüchtete Berler nach Frankreich, kehrte jedoch nach einigen Monaten aus Geldnot wieder. Er wurde denunziert und am 19. April 1943 nach Buna-Monowitz deportiert. In den ersten Tagen arbeitete er im »Kommando Holzhof«. Nach einer Woche, in der er schwere Baumstämme mit bloßen Händen transportieren musste, war er so entkräftet, dass er in den Krankenbau kam. Aus Mitleid sorgte der Blockälteste dafür, dass er in das Stammlager Auschwitz I verlegt wurde. Ab Ende Januar 1944 arbeitete er in einem Pflanzenzuchtlabor im SS-Hygiene-Institut Rajsko. Er überlebte den Todesmarsch und befand sich im KZ Buchenwald, als er von der U.S. Army am Willy Berler | 1940 | 11. April 1945 befreit wurde. Berler kehrte nach Belgien zurück, wo er in der Indus- Paris – Gerpinnes, trie arbeitete und 1947 seine Frau Ruth heiratete. L’ Harmattan – Quorum / Ruth Fivaz-Silbermann Zum Text: Berler schrieb den Bericht erst mit einem Abstand von über 55 Jahren. Aus der zeitlichen Distanz heraus schildert er detailliert den Alltag der Häftlinge, das Verhalten der SS und der Funktionshäftlinge sowie einige Abläufe im Lager. Dabei ist er sehr auf eine genaue historische Einordnung des Geschehenen bedacht. Berler wählt eine einfache, sachlich-nüchterne Sprache. Auffallend ist demge- genüber die Wahl der Erzählzeit: Der Ich-Erzähler berichtet im Präsens. Dadurch schafft er Unmittelbarkeit. »Wir kamen vor ein großes Tor, das von SS-Männern bewacht wurde. Ein kurzes Gebell. Das Tor öffnete sich. Wir sahen die Stacheldrahtgitter, die Wachtürme, Männer in Blau und Weiß mal hier, mal dort, einen großen leeren Platz, eine Reihe niedriger Häuser aus Holz. […] Wir mußten […] einen Flur entlanglaufen. Männer, Häftlinge sagten uns auf deutsch – ein paar auf französisch: ›Gib alles her, was du hast, du darfst nichts bei dir behalten, du kannst es nachher wieder abholen.‹ […] Der Befehl sauste auf uns nieder: ›Alles ausziehen.‹ Dreihundertvierzig Männer splitternackt, das hatte ich noch nie gesehen, das war irgendwie lächerlich. Die einen hielten ihre Hände wie ein Feigenblatt, ande- re krümmten sich. Niemand lachte. Die nächste Etappe war die Dusche, lauwarm, mit etwas, das an Seife erinnerte. Hätten wir gewußt, was für eine Bedeutung das Duschen hatte, splitternackt, für die, die am Bahnhof in der rechten Reihe standen, hätten wir uns in diesem Augenblick ganz sicher unwohl gefühlt.« Paul Steinberg | Chronik aus einer dunklen Welt, München 1998, S. 46
36 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 8. Ankunft Zur Person: Paul Steinberg (1926 – 1999) wurde am 18. Oktober 1926 in Berlin in eine russisch-jüdische Familie geboren. Die Mutter starb bei der Geburt. 1933 zog die Familie nach Frankreich, später nach Italien, Spanien und wieder zurück nach Frankreich. Im September 1943 verhafteten französische Polizisten den Sechzehn- jährigen und brachten ihn ins französische Durchgangslager Drancy. Von dort wurde er wenige Wochen später nach Auschwitz deportiert und in Buna-Monowitz zum Schleppen von Ziegelsteinen gezwungen. Steinberg erwarb das Wohlwollen des Lagerältesten und wurde nach einigen Tagen einem leichteren Kommando zum Reinigen von Magazinen zugeteilt. Bei seiner Ankunft im KZ Buna-Monowitz hatte er sich als Chemiker aus- gegeben, deshalb wurde er ab Januar 1944 im »Chemie-Kommando«, dem auch Primo Levi angehörte, eingesetzt. Am 18. Januar 1945 wurde er mit Tausenden anderen Häftlingen auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben und von dort in Paul Steinberg | 1998 offenen Waggons ins KZ Buchenwald gebracht. Dort gelang es ihm, sich als politi- beim Überlebenden- schen Häftling auszugeben und so der Ermordung der im Lager verbliebenen etwa treffen in Frankfurt 1.200 jüdischen Häftlinge zu entgehen. Nach der Befreiung Buchenwalds kehrte am Main | Frankfurt Steinberg nach Paris zurück, wo er in einem kaufmännischen Beruf arbeitete. Er am Main, Fritz Bauer heiratete und hatte zwei Töchter. 1999 starb er in Paris. Institut Zum Text: Paul Steinberg entschloss sich, nach 50 Jahren seine Erinnerungen an das KZ Buna-Monowitz aufzuschreiben. Der Bericht folgt grob einer chronologi- schen Ordnung der Ereignisse, allerdings wechselt der Erzähler immer wieder die Erzählebene. Er schildert zum einen die im Lager verübten Grausamkeiten, zum anderen reflektiert er, welche Auswirkungen das Erlebte auf ihn in der Nachkriegs- zeit hatte. Von seinem aktuellen Standpunkt aus versucht Steinberg, sich seinem frü- heren Ich als Achtzehnjähriger anzunähern, es zu verstehen und seine Handlungen nachzuvollziehen. Ihn beschäftigt vor allem die Frage, wie die täglichen Gräuel und die Gewalt die Menschen veränderten, insbesondere, wie er sich selbst ver- änderte, sich anpasste, um überleben zu können, und sich gleichzeitig deshalb schuldig fühlte. HÄFTLINGSNUMMERN Die SS erfasste nur diejenigen Deportierten mit Nummern, die bei der Ankunft nicht direkt in den Gaskammern ermordet wurden. Jeder Häftling erhielt eine fortlaufende Nummer, mit der er anstelle seines Namens im Lager angesprochen wurde. Anfangs waren Häftlinge in Auschwitz durch Nummern auf der Kleidung gekennzeichnet worden. Weil toten Häftlingen (vor allem im Winter) häufig die Kleidung gestohlen wurde und eine Identifizierung dann kaum noch möglich war, ging die SS ab Mitte 1942 dazu über, jüdischen Häftlingen die Nummer auf den linken Unterarm zu tätowieren. Ab 1943 wurde mit allen Häftlingen, die keine »Reichsdeutschen« waren, so verfahren. Diese Praxis war nur in Auschwitz üblich, in anderen Konzen- trationslagern hatten Häftlinge ihre Nummer nur auf der Kleidung zu tragen.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 9. Zwangsarbeit 37 ZWANGSARBEIT Die SS und Wirtschaftsunternehmen beuteten die Häftlinge sowohl inner- halb als auch außerhalb des Lagers als Arbeitskräfte aus. Innerhalb des Geländes wurden sie von der SS bei der Lagerverwaltung, der Arbeitsorganisation und im Krankenbau eingesetzt. Außerhalb arbeiteten sie für die I.G. Farben oder wurden an Dutzende von Industrieunternehmen weitervermietet. Die Häftlinge fürchteten vor allem die Transport- und Erdkommandos sowie die Kabelkommandos. Dabei handelte es sich um Arbeitskommandos mit einigen Hundert Häftlingen, die ständig mit brutalsten Prügelexzessen zu höherem Arbeits- tempo angetrieben wurden. Viele brachen bei der schweren Arbeit zusammen und starben. Auf der Baustelle waren die Häftlinge der Witterung schutzlos ausgeliefert. Die Häftlingskleidung schützte nur unzureichend gegen Hitze oder Kälte. Im Winter kehrte kaum ein Kommando ohne Erfrierungen von der Arbeit zurück, manchmal gab es 30 Tote am Tag. Zu zahlreichen Toten kam es auch bei Arbeitsunfällen auf der Werksbaustelle der I.G. Auschwitz. Die häufigsten Todesursachen waren jedoch körperliche Auszehrung und unbehandelte Krankheiten. Durchschnittliche Überlebensdauer der Häftlinge in Buna-Monowitz: 3 — 4 Monate »Das erste Kommando, zu dem wir ausrückten, war das Zementkommando. Die Waggons, die genauso aussahen wie jene, die uns nach Auschwitz transportierten, hatten Zementsäcke geladen. Im Waggon standen jeweils zwei Häftlinge, die einen Zementsack hoben, ihn einem vor dem Waggon stehenden Häftling auf die Schultern legten, dieser dann mit seiner Last im Laufschritt zu einem Zementlagerplatz lief, wo ihm der Zementsack von zwei anderen Häftlingen zum Stapeln abgenommen wurde. Dann ging es im Laufschritt zu dem Waggon zurück. Im Laufschritt mußte alles gehen. ›Im Laufschritt, dalli-dalli!‹ Meine Erinnerung will nicht zurückrufen, wie viele an dieser Schwerstarbeit bereits in den ersten Tagen zu Grunde gingen. Mir kommt es wie ein Prüffeld vor: Wer das hier übersteht, hat gewisse Chancen, weiterzu- kommen, weiterzuleben.« Imo Moszkowicz | Der grauende Morgen. Erinnerungen, Paderborn 2008, S. 90
38 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 9. Zwangsarbeit Zur Person: Imo Moszkowicz ▸ vgl. S. 30 Zum Text: Bei der Ankunft auf der Rampe in Auschwitz hatte sich Moszkowicz wohl- weislich als Zimmermann ausgegeben. Nachdem er die Zeit im »Todeskommando Zement« überstanden hatte, fand er Arbeit als Zimmermann. Er wurde für die Herstellung von Holzsäulen für eine Hallenkonstruktion eingesetzt. Da diese Arbeit rasch vonstattenging, wurde er zusätzlich zum Schleppen von Eisendraht eingeteilt. Den Draht mussten die Häftlinge auf ihren Schultern vom Lagerplatz aus zur Baustelle tragen. Ihre Schultern versuchten sie mit dem Papier zerrissener Zementsäcke zu schützen, was jedoch nur leidlich gelang und zudem verboten war. »Otto und ich mußten uns dem Kabelkommando anschließen. Die Arbeit im Kabelkommando war eine der schwersten, die man sich vorstellen kann. Wir waren jeder Witte- rung ausgesetzt. Ob im Sommer bei sengender Hitze oder im Winter bei klirrendem Frost und tiefem Schnee, täglich mußte über eine bestimmte Länge ein Graben für die Kabel gegraben werden. Je vier bis fünf Häftlinge mußten die Loren mit Erde vollschaufeln und sie bergauf schieben. Dazu gab es fast ununterbrochen Schläge von den SS-Männern und den Kapos, die die Arbeit für die IG-Farben mit Stockhieben beschleunigen wollten. So blieb es nicht aus, daß fast täglich Häftlingen von den Loren Finger oder Zehen, oft sogar Hände und Füße, abgefahren wurden. Die Verstümmelten wurden zwar in den Krankenbau eingeliefert, aber man sah sie nie wieder lebend herauskommen.« Tibor Wohl | Arbeit macht tot. Eine Jugend in Auschwitz, Frankfurt am Main 1990, S. 48 Zur Person: Tibor Wohl (1923 – 2014) wurde am 28. Juni 1923 in Rarbok in der Tschechoslowakei (heute Rohožník) geboren und wuchs mit seinem jüngeren Bru- der Paul in einer bürgerlichen Familie auf. 1936 zog die Familie nach Prag. Ein Versuch, nach Ecuador zu fliehen, scheiterte 1939, da die Familie einem Betrü- ger aufgesessen war. Im Dezember 1941 wurde die Familie zur Zwangsarbeit nach Theresienstadt und im Oktober 1942 weiter nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft verlor Wohl seine Familie aus den Augen und sah sie nie wieder. In Buna-Monowitz wurde er für schwere Transportarbeiten und im Kabel- kommando eingesetzt. Während eines Aufenthalts im Krankenbau führten SS- Ärzte, darunter Horst Fischer, Experimente mit Elektroschocks an ihm durch. Nach einem kurzen Aufenthalt im Schonungsblock im Frühjahr 1944 lernte Wohl den Tschechen Arnost Tauber kennen und schloss sich dem Widerstand an. Über diese Kontakte wurde er der Desinfektionsstation zugeteilt, wo er bis zur Auflösung des Lagers arbeitete.
Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 9. Zwangsarbeit 39 Wohl wurde am 18. Januar 1945 auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrie- ben. Es gelang ihm jedoch, während eines Partisanenangriffs mit zwei Kameraden zu entkommen und sich bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar zu verstecken. Wohl kehrte nach Prag zurück, heiratete und hatte zwei Kinder. 1969 floh er mit seiner Familie nach Österreich und arbeitete fortan als Montageabteilungs- leiter. Zuletzt lebte er in Frankfurt am Main. Wohl sagte im zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen Gerhard Neubert und in der DDR 1966 gegen Horst Fischer aus. Zum Text: Wohl verfasste bereits 1948 in tschechischer Sprache ein Manuskript über seine Erlebnisse. Erst 30 Jahre später, nach seiner Verrentung, schrieb er dann eine Version in deutscher Sprache. Sie sollte dazu beitragen, die Wahrheit über Auschwitz aufzudecken. Wohls Wunsch, dadurch »nach den vielen Jahren eine Last« abschütteln zu können, blieb unerfüllt. So konstatiert er in seinem Tibor Wohl | 1998 beim Vorwort: »ich will vergessen, aber ich kann es nicht«. Überlebendentreffen Wohl berichtet detailliert vom Lageralltag in Buna-Monowitz. Dabei verzich- in Frankfurt am Main | tet er auf Ausblicke auf die Nachkriegszeit oder die Zeit vor seiner Lagerhaft. Der Frankfurt am Main, Text ist chronologisch in einzelne Kapitel gegliedert und beschreibt verschiedene Fritz Bauer Institut Aspekte des Lagerlebens: die Ankunft, den tödlichen Arbeitsalltag, die permanen- ten Schikanen und Prügelexzesse, Aufenthalte im Krankenbau und Selektionen. Er beginnt seine Erinnerungen mit der Deportation nach Auschwitz und endet mit der Befreiung durch die Rote Armee. Viele Erlebnisse, die ihn selbst betrafen und zu denen er als Zeuge vor Gericht aussagte, wie die pseudomedizinischen Folter- experimente von Fischer, spart er jedoch aus. Häftlinge entladen Zementsäcke von Bahnwaggons, die für die Baustelle der I.G.-Farben-Fabrik bestimmt sind. | Auschwitz, zwischen 1942 und 1945 | Fotograf unbekannt | Washington, DC, United States Holocaust Memorial Museum
40 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 10. Fachleute FACHLEUTE Mit dem Fortschreiten der Bauarbeiten wandelten sich die Arbeitsschwer- punkte. Immer mehr Häftlinge wurden als qualifizierte Facharbeiter eingesetzt. Sie übernahmen Arbeiten als Schlosser, Maurer, Zimmerleute, Maler oder Schweißer. Ab 1944 wuchs der Anteil der Produktionskommandos, in denen Häftlinge in Chemie- laboratorien hochqualifizierte Arbeiten ausführten. In den Schreibkommandos er- ledigten einige wenige Häftlinge sogar Schriftverkehr und bearbeiteten Statistiken. Häftlinge wurden jedoch bevorzugt zu riskanten und lebensgefährlichen Arbeiten herangezogen, wie im Bombenräumkommando, das 1944 nach den Luftangriffen Blindgänger auf dem Werksgelände barg. »Ein Schlosser etwa war ein privilegierter Mann, da man ihn in der zu errichtenden IG-Farben-Fabrik brauchen konnte und er die Chance hatte, in einer gedeckten, der Witterung nicht ausgesetzten Werkstatt zu arbeiten. Das gleiche gilt für den Elektriker, den Installateur, den Tischler oder den Zimmermann. Wer Schneider oder Schuster war, hatte vielleicht das Glück, in eine Stube zu kommen, wo man für die SS arbeitete. Für den Maurer, den Koch, den Radiotechniker, den Auto- mechaniker gab es die Minimalchance eines erträglichen Arbeitsplatzes und damit des Überstehens. Anders war die Lage dessen, der einen Intelligenzberuf hatte. Ihn erwartete das Schicksal des Kaufmanns, der gleichfalls zum Lumpenproletariat im Lager gehörte, das heißt: er wurde einem Arbeitskommando zugeteilt, wo man Erde aufgrub, Kabel legte, Zementsäcke oder Eisen- traversen transportierte.« Jean Améry | Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Über- wältigten, München 1988, S. 16 f. Zur Person: Jean Améry (1912 – 1978) wurde am 31. Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien in eine jüdische Familie geboren. Der Name Améry ist ein Anagramm von Mayer und Jean die französische Form von Hans. Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs Améry bei der Mutter auf. Bereits als Zwölfjähriger verließ er die Schule. Nach einer Buchhändlerlehre arbeitete er einige Jahre als Gehilfe in der Buchhand- lung der Volkshochschule Leopoldstadt. Er bildete sich an der Universität Wien durch den Besuch literarischer und philosophischer Vorlesungen weiter. Ende 1938 floh er nach Belgien. Nach einer ersten Verhaftung 1940 gelang Améry die Flucht.
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