Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien

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Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
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          Kazeem
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Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
Belinda Kazeem-Kamiński   Fleshbacks (Videostill), 2021
Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
2   Belinda Kazeem-Kamiński   Fleshbacks (Videostills), 2021

                                                               5    EINFÜHRUNG

                                                                    WERKBESCHREIBUNGEN
                                                               10   In Search of Red, Black, and Green
                                                               12   To let them know what we think about them
                                                               14   Schebestas Schatten
                                                               16   Fleshbacks
                                                               18   The Letter
                                                               20   In Remembrance to the Man Who Became Etched
                                                                       into History as „Der Aschanti an der Akademie“
                                                               22   In Remembrance to the Man Who Became Known as
                                                                       Angelo Soliman, (Ante Mortem) I & (Post Mortem) II
                                                               24   You are awaited, but never as equals
                                                               26   Ashantee, edited
                                                               34   Ashantee, edited & annotated
                                                               36   Strike a Pose & In Remembrance to Ella Williams
                                                               38   Unearthing. In Conversation
                                                               42   Yaarborley Domeïs Brief

                                                               32   AUSSTELLUNGSPLAN

                                                               44   INTERVIEW:
                                                                    BELINDA KAZEEM-KAMIŃSKI
                                                                    IM GESPRÄCH MIT ANNE FAUCHERET

                                                               56   BIOGRAFIE

                                                               58   VERANSTALTUNGS- UND
                                                                    VERMITTLUNGSPROGRAMM
Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
5     Belinda Kazeem-Kamiński     Einführung

Einführung
Die Kunsthalle Wien widmet den in Wien lebenden Künstlerinnen*
Ana Hoffner ex-Prvulovic* und Belinda Kazeem-Kamiński zwei
Einzelausstellungen, die vom 22. Oktober 2021 bis zum 6. Februar
2022 gleichzeitig in der oberen Halle der Kunsthalle Wien Muse-
umsquartier zu sehen sind.

Unsere Einladung an Ana Hoffner ex-Prvulovic* und Belinda
Kazeem-Kamiński folgt dem Grundsatz der Kunsthalle Wien, Künst-
lerinnen* zu zeigen, die das Erbe von Imperialismus, Kolonialismus
und Versklavung hinterfragen und in ihren Praktiken Rassismus
und Heteronormativität als politische Instrumente betrachten, die
historisch entwickelt wurden (und bis heute verwendet werden),
um bestimmte Gebiete und bestimmte Körper zu unterwerfen und
auszubeuten.

Die beiden Einzelausstellungen finden gleichzeitig in der oberen
Halle statt, sind jedoch durch zwei verschiedene Eingänge zugäng-
lich und durch eine Trennwand separiert. Der Ort, die Architektur
und die Dramaturgie wurden dazu entwickelt, die ungeteilte Auf-
merksamkeit auf die jeweilige künstlerische Praxis zu lenken, dem
Publikum jedoch zugleich die Gelegenheit zu bieten, sich zwischen
diesen beiden Universen hin- und herzubewegen und ausgewählte
Momente der Begegnung zu ermöglichen.

Die Einladung der beiden Künstlerinnen* zu Einzelausstellungen in
der Kunsthalle Wien geht auf das Jahr 2019 zurück, und die Aus-
stellungen waren ursprünglich für das Frühjahr 2020 geplant. Doch
aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde dieses Vorhaben zweimal
verschoben. Einerseits hat diese lange Vorbereitungszeit neue
Entwicklungen ermöglicht; andererseits waren die Künstlerinnen*
gezwungen, mit dem unvorhersehbaren Rhythmus und der (kon-
tinuierlichen) Überarbeitung des Projekts umzugehen. Die finalen
Ausstellungen sind das Ergebnis eines intensiven Dialogs, einer
ständigen Selbstreflexion und teils auch von Kompromissen. Die
beiden Präsentationen umfassen sowohl bereits bestehende, für
die Räume der Kunsthalle Wien neu interpretierte und bearbeitete
Werke als auch Neuproduktionen, die eigens für diesen Anlass ent-
standen sind.

Belinda Kazeem-Kamiński schafft in ihren Arbeiten – seien es
Fotoserien, Filme oder Installationen – Raum für Begegnungen,
Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
6      Belinda Kazeem-Kamiński         Einführung                         7     Belinda Kazeem-Kamiński       Einführung

                                                                          sie widmen sich ernsthaft ihrer politischen Aufgabe, Bedingungen
                                                                          zu stellen und die – realen und imaginierten – Räume zu schaffen,
                                                                          um die Vergangenheit zu bearbeiten, die Zukunft zu erfinden und
                                                                          die Gegenwart in ihrem jetzigen Zustand aufzulösen.

                                                                          Die Werke von Ana Hoffner ex-Prvulovic* sind multimediale In-
                                                                          stallationen, die Film, Fotografie, Objekte und Text miteinander
                                                                          verbinden. Die Künstlerin* beschäftigt sich eingehend mit der Fa-
                                                                          brikation von Geschichte, Erinnerung und Subjektivität, wobei sie*
                                                                          unterstreicht, dass bei diesen Prozessen das Unbewusste am Werk
                                                                          ist. Entlang welcher Linien von Herrschaft und Ausschluss finden
                                                                          solche Prozesse statt? Welche Geschichten und Praktiken werden
                                                                          weggewischt und ausradiert? Wie könnten wir die misogynen und
                                                                          rassistischen Vorurteile entschärfen, die in offizielle (westliche) Ge-
                                                                          schichten und Darstellungen eingebettet sind? In der Ausstellung
                                                                          erzählt die Künstlerin* Geschichten von Queerness als Überlebens-
                                                                          strategie, von non-alignment als Ethik (und nicht nur als Geopolitik)
                                                                          und von Familie als Raum für selbstgewählte Verwandtschaft. Sie*
                                                                          inszeniert Momente der Subversion, der Krise und des Widerstands
                                                                          und versucht so herauszufinden, wie ein zeitgenössisches Subjekt
                                                                          verborgene Geschichten ausgraben und sich aneignen kann, um
                                                                          kulturellen, gesellschaftlichen und psychologischen Zuschreibun-
Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostill), 2017   gen zu entkommen. In ihrer* eingehenden Untersuchung der Rolle
                                                                          von schmutzigem Kapital bei der Finanzierung von Kunstinstitu-
                                                                          tionen hinterfragt die Künstlerin* zudem in einer selbstreflexiven
Gespräche und gelegentlich auch Auseinandersetzungen zwischen             Bewegung, inwiefern das Kunstfeld in der Lage ist, minoritäre Alter-
ihr und dem Publikum, vor allem jedoch zwischen ihr und den               nativen und unangepasste Denkweisen zu begrüßen, zu fördern und
Menschen, die ihre Arbeiten, ihre Erinnerungen und ihre Vorstellun-       für sie einzustehen.
gen beleben: jene, die zum Verschwinden gebracht wurden und die
verstorben sind, jene, die hier sind, und jene, die kommen werden.        Da wir in einem Land verortet sind, in dem der (wissenschaftliche)
Die Künstlerin verknüpft kritische Schwarze feministische Theorie,        Kolonialismus kaum diskutiert wird, in dem die „weiße Unschuld“
konzeptuelle visuelle Strategien und fiktionale Narration (ein-           (Gloria Wekker) ein unhinterfragtes gesellschaftliches Paradigma
schließlich Science-Fiction), und erforscht verschiedene Methoden,        ist und in dem die historische Migration und kulturelle Kreolisierung
um über Zeiten und Räume hinweg zu kommunizieren. Sie unter-              immer noch zugunsten der Vorstellung von einer einzigartigen,
zieht Blickregimes einer kritischen Untersuchung und dekodiert den        ausschließlichen Verankerung im Westen ausgeblendet werden,
rassistischen kulturellen Apparat, der dem fortdauernden System           erschien es uns wichtig, diese beiden Künstlerinnen* zu präsentie-
der Unterjochung und Ausbeutung Schwarzer Leben zugrunde liegt;           ren, die in Wien leben und international tätig sind. Beide erforschen
gleichzeitig überwindet sie die Gewalt, die in Archiven, in Museen        unermüdlich rassistische Blickregime und Praktiken des Fremd­
und in Büchern enthalten ist, indem sie Wege des gegenseitigen            machens, und beide nutzen ästhetische Strategien des Widerstands.
Austauschs, der Fürsorge und des Imaginierens erschließt. Belinda         Gleichzeitig spricht jede der Künstlerinnen* aus einer unterschied-
Kazeem-Kamińskis Kunstwerke wählen stets Minimalismus statt               lich verorteten Perspektive, die auf unterschiedlichen Erfahrungen
Opulenz, Verstreuung statt Monumentalität, Flüchtigkeit statt Fi-         beruht, was in zwei eigenständigen Praktiken resultiert.
xierung und Offenheit statt Geschlossenheit, und sie begrüßen Lü-
cken und Leerstellen. Sie befinden sich in einem ständigen Prozess,       — Anne Faucheret
in ständiger Selbstreflexion, „in the wake“ (Christina Sharpe), und         Kuratorin
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8   Belinda Kazeem-Kamiński   The Letter (Videostill), 2019
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10     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                11     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen

                                                                         Belinda Kazeem-Kamiński, In Search of Red, Black, and Green, 2021

IN SEARCH OF RED, BLACK, AND GREEN, 2021                                 als Panafrikanische Flagge,           unvollendetes Projekt“, wie die
3 C-Drucke auf Aludibond, je 80 x 119,3 cm                               Black Liberation Flag und Afri-       afroamerikanische Denkerin und
                                                                         can-American Flag bezeichnet –        Theoretikerin Saidiya Hartman
Die Protagonist*in der dreiteili-      Hintergründen: Rot, Schwarz       mehrere Namen, die sich alle          schreibt. Aus diesem Grund
gen Fotoserie In Search of Red,        und Grün. Die Farbkombination     auf ein Symbol der Befreiung          unterstreicht ­Belinda Kazeem-
Black, and Green (2021) hält           mag als visueller Code gelesen    Schwarzer Menschen beziehen.          Kamińskis Arbeit die dringende
Ausschau nach einer Sache, die         werden – eine Erinnerung an die                                         Notwendigkeit, an dem festzu-
sich außerhalb des Bildes befin-       Flaggen einiger afrikanischer     Auf verschlüsselte Weise kom-         halten, was emanzipatorische
det – etwas, das über den Blick        Nationalstaaten, die im Zuge      men diese drei Farben zum Ein-        und befreiende Schwarze Pro-
der Betrachtenden hinausgeht           der Dekolonisierung gegründet     satz; als kraftvolle Erinnerung       jekte angetrieben hat und immer
und für das Publikum nicht er-         wurden. Die dreifarbige Flagge,   an die Befreiungskämpfe der           noch antreibt: das Beharren
sichtlich ist. Das Modell nimmt        bestehend aus gleich langen       afrikanischen Diaspora sowie für      darauf, Freiheit zu imaginieren,
in den drei Fotografien jeweils        horizontalen Streifen im selben   die Freiheit Schwarzer Men-           zu praktizieren und demnach zu
fast dieselbe Position ein,            Rot, Schwarz und Grün (von        schen im Allgemeinen. Diese           leben, was es bedeuten würde,
jedoch stets mit andersfarbigen        oben nach unten), wird ebenso     Freiheit ist noch immer „ein          wirklich frei zu sein.
Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
12     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen                  13     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen

TO LET THEM KNOW WHAT WE THINK ABOUT THEM,
aus dem Projekt VOIDS, 2021
3 Textilflaggen, je 90 x 120 cm

Voids (2017–2021) besteht aus mehreren Werken in einem breiten
Spektrum von Medien und widmet sich den heimsuchenden Erinne-
rungen einer Gruppe westafrikanischer Darsteller*innen, die Ende
des 19. Jahrhunderts nach Wien gebracht wurden. Die visuellen und
konzeptuellen Strategien des Projekts widerstehen der Versuchung,
die „Lücken [des Archivs] zu füllen“ (Saidiya Hartman) oder die
historischen Zwischenräume des dominanten (nationalen) Nar-
rativs zu schließen. Stattdessen konzentriert sich das Projekt auf
die Heimsuchungen des Kolonialismus und verhandelt andauernde
Vergangenheiten.

Yaarborley Domeï war eine der         Zeremonialflaggen anknüpft.
westafrikanischen Darsteller*in-      Asafos – übersetzt bedeutet
nen, die 1896–1897 nach Europa        Asafo „das Kriegsvolk“, von sa
gebracht wurden, um Teil der          (Krieg) und fo (Volk) – waren
Ausstellungen über indigene           traditionelle Krieger*innen-
Volksgruppen aus Afrika zu            organisationen, die sich um die
sein. Während ihres Aufenthalts       Verteidigung und das Wohl-
im Wiener Prater verfasste sie        ergehen ihrer Gemeinschaften
einen Brief, der in der Zeitung       kümmerten. Jede Asafo hatte         Belinda Kazeem-Kamiński in Zusammenarbeit mit Baba Issaka,
Wiener Caricaturen veröffent-         ihren eigenen Namen, ihre eige-     To let them know what we think about them, 2021
licht wurde. Yaarborley Domeï         ne Nummer, eigene Insignien,
betont darin ihre Absicht, der        einen eigenen Schrein und eine      zu finden sind. Belinda Kazeem-           und ursprünglich die deutsche
Wiener Bevölkerung mitzuteilen,       Flagge. Darüber hinaus wurden       Kamiński hat sich hierbei für drei        Übersetzung für „Asante“ ist,
was sie über sie denkt. Davon         allen Mitgliedern klar definierte   szenische Motive entschieden:             also für das Volk des Asante-­
ist auch der Titel dieses Werkes      Rollen zugeteilt. Asafo-Flaggen     ein Porträt eines Mädchens nach           Königreichs in der Region, wo
inspiriert – von einer Zeile im       waren nicht nur die Symbole         einer Fotografie, vermutlich von          sich das heutige Ghana befindet.
Brief, die lautet: „I am writing      ihrer Gemeinschaften, sondern       Peter Altenberg, eine Hand, die           Der Sankofa-Vogel bildet ein
all of this to you, so you tell the   auch eine visuelle Metapher für     einen Sankofa-Vogel hält, und             zentrales Symbol in der afrikani-
white people what I think about       das, war ihre Mitglieder mitei­     eine andere Hand, die eine (gol-          schen Diaspora. Auf seinem Weg
them“ (Ich schreibe Ihnen das         nander verband, sei es ein histo-   dene) Erdnuss hält. Die Erdnuss           in die Zukunft – manchmal mit
alles, damit Sie den weißen           risches Ereignis, ein Gründungs-    – eine Pflanze, deren Geschich-           einem Ei im Schnabel – blickt
Menschen mitteilen, was ich           moment oder ein Aphorismus.         te sich mit der Geschichte der            er zurück, um das Vergangene
über sie denke). Die Installation     Die Flaggen in der Ausstellung      Versklavung überschneidet –               nicht zu vergessen, um sich
besteht aus drei Asafo-Flaggen,       wurden zu diesem Zweck ge-          bezieht sich hier auch auf das            immer daran zu erinnern, was
die Belinda Kazeem-Kamiński           schaffen, nämlich als Geden-        österreichische Wort „Aschanti“,          vorher war, und um eine Zukunft
zusammen mit dem renommier-           ken an jene westafrikanischen       das für Erdnüsse verwendet wird           aufzubauen.
ten ghanaischen Flaggenma-            Darsteller*innen, die nach Wien
cher Baba Issako entworfen hat,       gebracht wurden. Sie gehen          Siehe auch die Werkbeschreibungen von:
der an die Tradition der Herstel-     somit über jene kolonialen Dar-     Yaarborley Domeïs Brief, 2021, S. 42–43
lung von textilen Gedenk- und         stellungen hinaus, die im Archiv    The Letter, 2019, S. 18–19
Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
14     Belinda Kazeem-Kamiński            Werkbeschreibungen                  15    Belinda Kazeem-Kamiński       Werkbeschreibungen

SCHEBESTAS SCHATTEN, 2017/2021
3 digitale C-Prints auf Papier, je 9 x 13 cm

Schebestas Schatten (2017/                westliche rassistische Kolonial-
2021) besteht aus drei Schwarz-           narrativ nährte. Diesen Zielen
Weiß-Fotografien im Post-                 folgend, zeigen die Fotos den
kartenformat, welche sich in              Fotografen selbst nur in gerin-
einem Schaukasten befinden                gerem Maß. Paul Schebesta war
und jeweils zum Teil mit einer            sich wahrscheinlich des Vorteils
blauen, gelben oder roten Farb-           seiner Abwesenheit bewusst.
fläche abgedeckt sind. Auf den            Diese ermöglichte es ihm, als
unbedeckten Stellen der Origi-            eine Art unsichtbarer Schöpfer
nalfotos sind einige Schatten             in Erscheinung zu treten. Auf ei-
sichtbar, die auf die Körper und          nigen wenigen Fotos ist er aber
die Kleidung der fotografierten           zu sehen, oder zumindest sein
Personen geworfen werden; so              Schatten. Es sind genau diese
zeichnet sich der verschwom-              Fotos, die Belinda Kazeem-
mene Umriss eines Doppelhuts              Kamiński in ihr Werk aufgenom-
ab – eigentlich sind es zwei              men hat. Durch ihre Entschei-
übereinander gestapelte Hüte.             dung, sich auf ein kleines,
                                          aber grundlegendes Detail zu
Der Schatten scheint die unbe-            konzentrieren, nämlich auf den
absichtigte Signatur vom Autor            Schatten, den der Hut/die Hüte
des Fotos zu sein, Paul Sche-             und der Körper des kolonialen
besta (1887–1968). Tatsächlich            Fotografen werfen, verwandelt
befinden sich im Archiv der               die Künstlerin das Unsichtbare
Österreichischen Nationalbiblio-          in das Sichtbare und vice versa:
thek Hunderte von Fotografien,            Der unsichtbare Autor wird          Belinda Kazeem-Kamiński, Schebestas Schatten, 2017/2021
die dem österreichisch-tsche-             sichtbar gemacht, während die
chischen Missionar, Autor,                hypervisibilisierten und unter-
Pädagogen und Ethnografen                 worfenen Modelle durch ihre
zugeschrieben werden. Es                  vorübergehende Unsichtbarkeit
sind Fotos, die er vermutlich             Schutz erhalten.
von seinen Reisen in die heu-
tige Demokratische Republik
Kongo mitgebracht hat. Gezeigt
werden größtenteils Menschen,
denen er begegnete, die er be-
obachtete und in inszenierten
Szenen ablichtete, um sie als die
Verkörperung des „Anderen“
darzustellen, was letztlich das

Dieses Werk ist eine Vorstudie für Unearthing. In Conversation, 2017.
Siehe die Werkbeschreibung auf S. 38–41.
Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
16     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                   17     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen

FLESHBACKS, aus dem Projekt VOIDS, 2021
3 Videoprojektionen, Farbe und Ton, 4:3, insgesamt 6 min

Fleshbacks (2021) ist ein drei-        getroffene Unterscheidung
teiliger Kommentar zu The              zwischen „body“ (Körper) und
Letter (2019). Die Protago-            „flesh“ (Leib), wobei das körper-
nist*innen des Films werden            liche Regime nur freien oder
in verschiedenen städtischen           befreiten Subjektpositionen
Settings gezeigt. Es handelt           zugestanden wird. Diese können
sich nicht um die gleichen Dar-        bestimmen, auf welche Art und
stellenden wie in The Letter,          Weise Bedeutung aus ihnen
dennoch offenbart sich eine            abgeleitet und ihnen auferlegt
gewisse Verbindung durch               wird. Hingegen wird „Leib“ zur
die Gegenstände, die von den           Bezeichnung Schwarzer Körper
Darstellenden in Fleshbacks            verwendet, welche in der Folge
verwendet werden (ein Vergrö-          des Versklavungshandels und
ßerungsglas sowie Werkzeuge            seiner „zu Leibe machenden“
für Restaurator*innen), ebenso         Gewalt nur als Körperfragmente
wie durch die schwarzen Over-          oder als eine Masse an Leibern
alls, die sie tragen. Im Laufe des     wahrgenommen werden. So
Films tritt ein Wandel ein. Die        schreibt Hortense Spillers: „Vor
Darstellenden beginnen, sich           dem ‚Körper‘ existiert der ‚Leib‘.
in der Stadt zu bewegen – sie          […] Denken wir an den ‚Leib‘ als
steigen Treppen hinauf, laufen         primäre Erzählung, so denken
bergauf, klettern auf Leitern –        wir auch an seine Verbrennung,
sie folgen einem Gefühl, einem         Teilung und Zerrissenheit – wir
Ruf, der sie in eine Zone führt, in    denken an Leiber, die an die
der die Grenzen zwischen Wien          Klüsen des Schiffes gefesselt
und Accra, zwischen damals             wurden oder über Bord fielen,
und heute, zwischen dem Hier           entkamen.“ (Mama’s Baby,
und dem Dort verschwimmen              Papa’s Maybe: An American
und schließlich überholt sind.         Grammar, 1987, S. 67; Über-
                                       setzung: Daphne Nechyba). Der
Der Titel Fleshbacks bezeichnet        Leib ist der Schauplatz für Ge-
ein Wort, das Belinda Kazeem-          walt, aber auch für eine neue Art
Kamiński geschaffen hat – eine         von Beziehung.
Verschmelzung der Wörter
„flashback“, einer Rückblende in
einem Roman oder einem Film,
und „flesh“ (Leib). Die Künst-
lerin stützt sich hier auf die von
der afroamerikanischen Wissen-
schaftlerin Hortense Spillers

Siehe auch die Werkbeschreibung von The Letter, 2019, S. 18–19.             Belinda Kazeem-Kamiński, Fleshbacks (Videostills), 2021
18     Belinda Kazeem-Kamiński          Werkbeschreibungen                 19     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen

THE LETTER, aus dem Projekt VOIDS, 2019
Videoprojektion, Farbe und Ton, 16:9, 18 min

Als Inspiration für dieses Werk         sie sich, um ein Ritual durchzu-
dient ein offener Brief, welcher        führen, bei dem sie auf einem
1896 von Yaarborley Domeï – ei-         Tisch kleine Schätze in Raum
ner Frau aus Westafrika, welche         und Zeit arrangieren, die sie
im Rahmen einer sogenannten             mitgebracht zu haben scheinen.
Völkerschau ausgestellt wurde –         Eine goldene Schere in der Form
verfasst und in der Zeitung             eines Vogels, goldene Erdnüs-
­Wiener Caricaturen veröffent-          se, rote Kerzen, Kristalle, ein
 licht wurde. Das Video erzählt         pinkfarbenes Feuerzeug, ein
 Domeïs Geschichte auf spekula-         mit Anmerkungen versehenes
 tive und futuristische Weise neu,      Buch, Stücke eines Waxstoffes
 um die Macht des bestehenden           und mehr. Ohne ein Wort zu
 Archivs bei der Konstruktion           sagen, scheinen die Empath*in-
 eines kollektiven Gedächtnisses        nen – indem sie Dinge anein-
 und des Blicks auf die „Ande-          ander weitergeben, indem sie
 ren“ zu untersuchen.                   fühlen, berühren, riechen und
                                        empfinden – in Kommunikation
Mehr als hundert Jahre nach             mit einem Anderswo zu treten
der Veröffentlichung des Briefs         und zeitüberspannende Verbin-      Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019
folgen drei Protagonist*innen,          dungen zu finden. Sie scheinen
von der Künstlerin als „Em­             genau die Beziehungen zu er-
path*innen“ bezeichnet (es              leben, welche das gewaltvolle
handelt sich um Menschen, die           Archiv beharrlich einzudämmen,
stark Empathie empfinden, die           zum Schweigen zu bringen und
Gefühle anderer nachvollzie-            auszulöschen versucht. Und
hen können), den Spuren von             sobald die Empath*innen den
Yaarboley Domeïs Leben. Sie             Archivraum verlassen, ge-
brechen in ein Archiv ein, um           schieht etwas Mysteriöses: eine
deren Geschichte zu ergründen,          Schublade öffnet sich, ein Bild
die in Bruchstücken erzählt wird        erscheint auf der Wand … das
und sie heimzusuchen scheint.           Archiv selbst scheint nun heim-
Mit Handschuhen und schwar-             gesucht zu sein.
zer Kleidung ausgestattet gehen
sie mit langsamen Schritten
durch die Gänge des Archivs,
schieben dessen schwere Türen
auf und ziehen Schubladen he­
raus. Anschließend versammeln

Siehe auch die Werkbeschreibungen von:
Yaarborley Domeïs Brief, 2021, S. 42–43
To let them know what we think about them, 2021, S. 12–13
20    Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                    21     Belinda Kazeem-Kamiński          Werkbeschreibungen

 IN REMEMBRANCE TO THE MAN WHO
 BECAME ETCHED INTO HISTORY AS
„DER ASCHANTI AN DER AKADEMIE“, 2021
Druck auf Hartschaumplatte, Holzsockel, Holzhocker, Vorhang,
Kaurimuscheln

Dieses Werk ist einem Schwar-          der durch die beiden vermeint-
zen Modell gewidmet, das im            lich gegensätzlichen Körper und
Zeichensaal der Akademie der           ihre Eigenschaften vermittelt
bildenden Künste Wien vor              werden soll. Die Verortung dieser
einer Gruppe von (männlichen)          Szene innerhalb der institutio-
Kunststudierenden posierte. Er         nellen Kunstwelt unterstreicht
erscheint zusammen mit einem           die historische Verstrickung
anderen Modell, einem weißen           akademischer und kultureller
Mann, auf einer Lithografie von        Institutionen in Praktiken der
Franz Wolf aus dem Jahr 1833,          Unterwerfung, Objektifizierung
entstanden nach einer Zeich-           und Ausbeutung von Menschen
nung von Johann Nepomuk                im Kontext von Versklavung und
Hoechle. Beide Männer sind bei-        Kolonialismus sowie deren Fort-
nahe vollständig nackt und tre-        dauern in der Gegenwart.
ten auf einer Tribüne in Erschei-
nung, die vor dem Hintergrund          Das Wechselspiel der Blicke der
drapierter Vorhänge errichtet          Kunststudierenden zeigt, wie
ist. Die Requisiten, welche nur        rassistische Dichotomien zum
zu dem Schwarzen Modell zu ge-         Spektakel gemacht werden –
hören scheinen, unterstreichen         nicht nur durch den Aufbau
den eigentlichen ideologischen         des Bildes, sondern auch durch
Zweck des Settings. Die Pfeile im      die Betitelung der Lithografie
Köcher sowie eine Keule, Kauri­        sowie der Blattserie, in der diese
muscheln und etwas, das eine           publiziert wurde: Der Aschanti
Kalebasse sein könnte, runden          an der Universität der Bildenden
die Inszenierung des Schwarzen         Künste Wien (Lithografie) und
Modells als perfektem „Anderen“        Heft 9 des Journal Pittoresque:
ab. Eine solche Darstellung för-       Mahlerische Darstellungen der
dert den Diskurs um die angeb-         neuesten merkwürdigsten Be-
liche „Wildheit“ und „Primitivität“    gebenheiten und Erscheinungen
der „Anderen“ im Gegensatz zur         im Leben.
westlichen „Zivilisation“. Das
gesamte Setting zielt weniger          Aschanti ist die deutsche Be-
darauf ab, Kunststudierenden           zeichnung für Asante, die sich
das Zeichnen von Körpern bei-          auf die Bevölkerung des Asan-        Belinda Kazeem-Kamiński, In Remembrance to the Man Who Became Etched
zubringen, als darauf, die Idee        te-Königreichs bezieht. In der       into History as „Der Aschanti an der Akademie“ (Installationsansicht, Detail),
eines fundamentalen zivilisato-        österreichischen Umgangsspra-        2021
rischen Unterschieds zwischen          che ist „Aschantinuss“ auch eine
den Abgebildeten zu festigen,          Bezeichnung für Erdnuss.
22     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                 23     Belinda Kazeem-Kamiński      Werkbeschreibungen

                                                                          Belinda Kazeem-Kamiński, In Remembrance to the Man Who Became Known
IN REMEMBRANCE TO THE MAN WHO BECAME                                      as Angelo Soliman, (Ante Mortem) I & (Post Mortem) II, 2015
KNOWN AS ANGELO SOLIMAN, (ANTE MORTEM) I
AND (POST MORTEM) II (2015)
2 C-Prints, gerahmt, je 47,6 x 71 cm                                      wurden. Der objektifizierte         oder Restaurator*in heraufbe-
                                                                          Mensch ist abwesend, während        schwören. Durch das Erzeugen
Die zweiteilige Fotoarbeit In          aufgrund eines Schlaganfalls,      die Werkzeuge seiner einsti-        eines „Rahmens innerhalb eines
Remembrance to the Man Who             wurde sein Körper ausgestopft      gen Objektifizierung bestehen       Rahmens“ betont das Werk die
Became Known as Angelo Soli-           und daraufhin ausgestellt.         bleiben und zum Gegenstand          Wesenheit des Museumsappa-
man, (Ante Mortem) I and (Post                                            einer künstlerischen Auseinan-      rates und seine unerbittliche
Mortem) II (2015) befasst sich         Belinda Kazeem-Kamiński rückt      dersetzung werden. So gelingt       Logik, zu sammeln, zu bewahren
mit der musealen Zurschaustel-         jene Gegenstände in den Fokus,     es Belinda Kazeem-Kamiński,         und auszustellen. Darüber hinaus
lung des Leichnams von Angelo          die Soliman zugeschrieben wur-     dem voyeuristischen Zwang und       setzt sich die Künstlerin mit dem
Soliman (Geburtsdatum un-              den – einen Turban, pyramiden-     den rassistischen Vorurteilen,      gesamten Ausstellungskom-
bekannt – 1790) – einer histori-       förmige Objekte, einen metalle-    von denen (westliche, ethno-        plex auseinander, insbesondere
schen Figur des 18. Jahrhunderts       nen Löwen sowie rote, blaue und    grafische) museale Darstellungs-    mit dessen Verflechtung in und
in Wien – im ehemaligen k.u.k.         weiße Federn. Es handelt sich um   formen geprägt sind, zu wider-      Funktion betreffend der Auf-
Hof- und Naturalienmuseum.             Gegenstände, die zu seinen Leb-    sprechen. Das Diptychon zeigt       rechterhaltung grundlegender
Vom afrikanischen Kontinent            zeiten (ante mortem) sowie auch    jedoch nicht nur die Schaukästen    Zweiteilungen der westlichen
entführt und versklavt, stand der      nach seinem Tod (post mortem)      mit Solimans Requisiten; auf bei-   Ideologie: hier/dort, wir/die An-
Mann, der als Angelo Soliman           seiner Objektifizierung dienten.   den Fotografien sind auch zwei      deren, das Bekannte/das Frem-
bekannt wurde, schließlich im          Sie wurden von der Künstlerin      Arme mit weißen Handschuhen         de, Kultur/Natur. Sie hinterfragt
Dienste des Fürsten von Liech-         auf einem roten Samthintergrund    und schwarzen Ärmeln zu sehen,      skopische Regime und kommt
tenstein. Unmittelbar nach             angebracht, nummeriert und         welche die Schaukästen umfas-       zu dem Schluss, dass der Blick
seinem Tod, sehr wahrscheinlich        beschriftet, bevor sie gerahmt     sen und die Figur der Wächter*in    niemals unschuldig ist.
24     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                 25     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen

YOU ARE AWAITED, BUT NEVER AS EQUALS,
aus dem Projekt VOIDS, 2021
Diashow, 26 Schwarz-Weiß-Dias, Maße variabel

You are awaited, but never as          Publikums zeigt, verhindert sie
equals (2021) bedient sich eines       die Reproduktion des ursprüng-
Mediums, das an den akade-             lichen visuellen Erlebnisses und
mischen Kontext erinnert, und          entschärft somit den panopti-
zwar der Diashow. Das Werk             schen, objektifizierenden und
zoomt in das Bild einer Post-          gewalttätigen weißen Blick auf
karte hinein, zersetzt es und legt     Schwarze Körper. Zudem unter-
somit die ihm zugrunde liegen-         streicht sie das Ausmaß, in dem
de Gewalt offen. Die Postkarte         eine von Rassismus geprägte
zeigt die Ankunft einer Gruppe         Ideologie sich in einer unüber-
Westafrikaner*innen in Wien            schaubaren Anzahl weißer
im Jahr 1896. Bei der Schiffs-         Menschen festgeschrieben hat,
ankunft der Gruppe nach einem          weitergetragen wurde und wird.
Auftritt in Budapest wurde sie
von hunderten (weißen) Men-
schen „willkommen“ geheißen.
Die Gruppe wurde von der
Menschenmenge angestarrt, es
wurde auf sie gezeigt und sie
wurden mit Blicken und Gesten
förmlich auseinandergenom-
men. Die Komposition der Foto-
grafie – und die Tatsache, dass
diese überhaupt als Postkarte
gedruckt wurde – unterstreicht
den Gegensatz zwischen dem,
was als Norm gilt, und seinem
Pendant, dem „Anderen“. Auch
die Art und Weise, wie Schwar-
ze Körper objektifiziert werden
und wie deren „Andersartigkeit“
zum Spektakel gemacht wird,
zeigt die Fotografie. Indem die
Künstlerin nur vergrößerte und
entmaterialisierte Ausschnit-
te der Blicke und Gesten des

Siehe auch die Werkbeschreibungen von:
Yaarborley Domeïs Brief, 2021, S. 42–43
The Letter, 2019, S. 18–19
Schebestas Schatten, 2017/2021, S. 14–15                                  Belinda Kazeem-Kamiński, You are awaited, but never as equals
Unearthing. In Conversation, 2017, S. 38–41                               (Auszüge aus Diashow), 2021
26     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen                   27     Belinda Kazeem-Kamiński        Werkbeschreibungen

ASHANTEE, EDITED,
aus dem Projekt VOIDS, 2017–2021
Künstler*innenbuch, Auflage: 15 + 1

Ashantee, edited (2017–2021)          und typografische (An)Zeichen,
sowie Ashantee, edited and an-        die Peter Altenbergs Verwei-
notated (2021) sind das Resultat      gerung hinsichtlich jeglicher
einer lang anhaltenden Ausein-        Positionierung zu dem Geschrie-
andersetzung der Künstlerin mit       benen aufzeigen. In etwa seine
einem Buch des österreichischen       Verwendung der dritten Person,
Autors Peter Altenberg (1859–         wenn er von sich selbst spricht
1919). Unter dem Titel Ashantee       („Sir Peter“), sowie seine wieder-
beschreibt Peter Altenberg seine      holte Verwendung von „—“ und
wiederholten Beobachtungen            „— — —“. Die Künstlerin interpre-
und Kommunikationsversuche            tiert diese Symbole als Unterbre-
mit den westafrikanischen Dar-        chungen, Pausen, Zögern oder
steller*innen, welche im heutigen     Ellipsen in der Erzählung, wes-
Wiener Prater, vormals bekannt        halb sie den Entschluss fasste,
als Tiergarten am Schüttl, auftra-    bereits vorhandene Leerstellen
ten. Entgegen der allzu häufigen      zu erweitern, indem sie alle mit
Wahrnehmung von Peter Alten-          Rassismus und Sexismus unter-
bergs Schriften als einem ersten      legten Sätze und Passagen aus
Schritt zur Kritik an der Objek-      dem Text entfernte. In der ersten    Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited
tifizierung afrikanischer Men-        Version kratzte Belinda Kazeem-      (Auszug aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021
schen im kolonialen System zeigt      Kamiński die Buchstaben hän-
­Belinda Kazeem-Kamiński, dass        disch weg. Für die Gestaltung
 Peter Altenbergs von tiefgrei-       eines Künstler*innenbuchs in
 fender Ignoranz, rassistischen       Zusammenarbeit mit der Kunst­
 Vorurteilen und pädophilen           pädagogin Renate Höllwart
 Tendenzen geprägter Text weder       entfernte die Künstlerin Peter Al-
 den von ihm beschriebenen            tenbergs Worte digital. So gelang    den Darsteller*innen gespro-          überarbeitete Version von Peter
 Menschen eine Stimme verleiht        es ihr, sich von dem zu lösen, was   chen wurde – Ga (eine Sprache,        Altenbergs Ashantee (1897), die
 noch dass peter Altenberg selbst     ihr die Sicht versperrte – der ge-   die Peter Altenberg in seinem         (entsprechend dem ursprüng-
 frei von rassistischen und exoti-    walttätige Blick und die Stimme      Buch zu transkribieren versuch-       lichen Layout) mit Leerstellen
 sierenden Vorannahmen und Ste-       des europäischen männlichen          te und die von zeitgenössischen       versehen ist. Die Doppelseiten
 reotypen war. Stattdessen ma-        Schriftstellers und Kolonisators.    Kommentator*innen oft als Fan-        des Buches sind in der Arbeit
 nifestiert sich in dem Text eine     Und sie schuf Platz für etwas        tasiesprache missverstanden           Ashantee, edited & annotated
 voyeuristische Distanz und eine      anderes: Worte mit Informations-     wurde) – sowie eine Adresse in        (2021) ausgestellt. Das voll-
 von Dandyismus gekennzeichne-        gehalt, welche die Künstlerin        Accra.                                ständige Künstler*innenbuch
 te kritische Haltung gegenüber       möglicherweise zu weiteren                                                 ist im Kunsthalle Wien Shop im
 dem Wiener Bürger*innentum           Auskünften über die westafrika-      Belinda Kazeem-Kamińskis              Museumsquartier zu sehen.
 des 19. Jahrhunderts.                nischen Darsteller*innen führen      Künstler*innenbuch ist eine
                                      würden. Dabei offenbarten sich
Die Künstlerin legte ein besonde-     weiterführende Verbindungen,         Siehe auch die Werkbeschreibung für Ashantee, edited & annotated, 2021,
res Augenmerk auf sprachliche         wie etwa die Sprache, die von        S. 34.
28   Belinda Kazeem-Kamiński   Werkbeschreibungen   29    Belinda Kazeem-Kamiński       Werkbeschreibungen

                                                    Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited
                                                    (Auszüge aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021
30   Belinda Kazeem-Kamiński   Werkbeschreibungen   31    Belinda Kazeem-Kamiński       Werkbeschreibungen

                                                    Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited
                                                    (Auszüge aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021
32     Belinda Kazeem-Kamiński        Ausstellungsplan

                                                                                                                                                             Ana Hoffner ex-Prvulovic*
                                                                                                                                                             EINGANG

                                                                                                                                                             EINGANG
                                                                                                                                                             Belinda Kazeem-Kamiński

Belinda Kazeem-Kamiński                                                                       Ana Hoffner ex-Prvulovic*      (Weitere Informationen zu diesen Werken: s. Ausstellungsguide „Ana Hoffner ex-Prvulovic*“)

1    In Search of Red, Black,    6   In Remembrance to        10 Strike a Pose, 2017–2021,    1   After the Transformation,          8   Private View                           12 Speech Objects #1, #2,
     and Green, 2021                 the Man Who Became          & In Remembrance to              2013                                   – Special Gift, 2019                      #3, and #4, 2018–2021
     S. 10–11                        Etched into History as      Ella Williams, 2021
                                     „Der Aschanti an der        S. 36                        2   Future Anterior –                 9    Private View                           13 Духовна
2    To let them know what           Akademie“, 2021                                              Illustrations of War, 2013             – Silent Weapon, 2018                     Деколонизација
     we think about them,            S. 20–21                 11   Unearthing. In                                                                                                  (Spiritual Decolonization)
     2021                                                          Conversation, 2017         3   Fifty-One Pieces                  10 Non-aligned Relatives,                      – Part I, 2021
     S. 12–13                    7   In Remembrance to the         S. 38–41                       – Believing in Art, 2016             2021
                                     Man Who Became Known                                                                                                                       14 The Bacha Posh Project,
3    Schebestas Schatten,            as Angelo Soliman,                                       4   Freud Film, 2017/2021             11   (from left to right)                      2016/2021
     2017/2021                       (Ante Mortem) I &        Außerhalb des                                                              Simultaneous Contrast,
     S. 14–15                        (Post Mortem) II, 2015   Ausstellungsraums:              5   Private View                           2018                                   15 Active Intolerance
                                     S. 22–23                                                     – Blue Blood, 2021                     The Queer Family Album,                   – Part II, 2021
4    Fleshbacks, 2021                                         Ashantee, edited,                                                          2018
     S. 16–17                    8   You are awaited, but     2017–2021                       6   Private View                           Disavowals or Cancelled
                                     never as equals, 2021    S. 26–31                            – Modern Members, 2021                 Confessions, 2016                     Außerhalb des
5    The Letter, 2019                S. 24–25                 (Kunsthalle Wien Shop)                                                     Double Still Lives, 2016              Ausstellungsraums:
     S. 18–19                                                                                 7   Private View – Big Safari,
                                 9   Ashantee, edited &       Yaarborley Domeïs Brief, 2021       2021                                                                         Active Intolerance – Part I,
                                     annotated, 2021          S. 42–43                                                                                                         2021 (Museumsquartier,
                                     S. 34                    (in der Tageszeitung                                                                                             Eingang Halle E+G)
                                                              Der Standard)
34     Belinda Kazeem-Kamiński          Werkbeschreibungen         35    Belinda Kazeem-Kamiński       Werkbeschreibungen

ASHANTEE, EDITED & ANNOTATED,
aus dem Projekt VOIDS, 2021
Drucke auf Papier, je 84,1 x 59,4 cm, Maße variabel

In Ashantee, edited & annota-
ted (2021) überträgt Belinda
Kazeem-Kamiński ihre Eingriffe
in Peter Altenbergs Buch in den
dreidimensionalen Raum. Die
Buchseiten wurden im Poster-
format ausgedruckt und direkt
an die Wand geklebt. Sie bilden
die erste Schicht einer Installati-
on, die im Laufe der Ausstellung
wachsen wird; die Künstlerin
wird weitere Fragmente, wie
etwa Fotografien, Bilder und
Texte, hinzufügen, welche die
erste Schicht des Kunstwerkes
ergänzen, überlagern und sogar
zunichtemachen werden.

                                                                   Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited
                                                                   (Auszug aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021

Siehe auch die Werkbeschreibung von Ashantee, edited, 2017–2021,
S. 26–31.
36     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                    37     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen

STRIKE A POSE (2017–2021)
& IN REMEMBRANCE TO ELLA WILLIAMS (2021)
8 digitale C-Drucke auf Papier, Metallständer, 255 cm hoch,
160 cm Durchmesser

In der Fotoinstallation Strike a        Abomah the African Giantess
Pose (2017–2021) hängen sechs           bekannt wurde. Die Darstellerin
Fotografien von einer Metall-           tourte Ende des 19. und Anfang
struktur, während zwei weitere          des 20. Jahrhunderts durch
Porträts (mit eigenem Titel: In         ganz Europa. Die von ihr ein-
Remembrance to Ella Williams,           genommene Pose symbolisiert
2021) an der Wand angebracht            keineswegs eine ermächtigende
sind. Das Werk reflektiert              Geste, sondern bewies nur das
eine bestimmte Pose, die der            gut durchdachte, systemati-
Künstlerin bei ihrer Recherche          sche und perverse Vorhaben,
mehrmals begegnet ist, näm-             Schwarze Körper als „Andere“
lich der ausgestreckte Arm              zu konstruieren (auf Englisch:
(hauptsächlich war es der Arm           Othering), und zwar mit allen
des Ethnografen, aber auch der          verfügbaren Mitteln. Belinda
Arm der Darstellerin). Die Pose         Kazeem-Kamińskis Werk zeigt
symbolisiert ein kolonialisti-          Ella Williams nicht in ihrer in-
sches Repräsentationssystem,            szenierten Position, sondern
welches auf der Klassifizierung,        bringt die Darstellerin – in einer
Unterwerfung und Objektifizie-          Geste sanfter (und transforma-       Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostill), 2017
rung von Menschen beruht, und           tiver) Fürsorge – zurück in eine
ist somit ein Symbol für unglei-        Ruheposition.
che Beziehungen und Macht-
gefälle. Durch die Intervention
der Künstlerin, die als „Andere“
dargestellten Personen mit
Farbflächen zu bedecken, beto-
nen die vom Display hängenden
Fotografien nun die Haltung des
Ethnografen; ursprünglich war
dieser neben den anderen Per-
sonen als übertrieben groß ab-
gebildet, doch jetzt zeigt seine
autoritative Geste ins Leere.

An der Wand neben der Metall-
struktur hängt ein ausgeschnit-
tenes, mit Gelenken versehenes
fotografisches Porträt von Ella
Williams, einer afroamerika-
nischen Darstellerin, die als
38     Belinda Kazeem-Kamiński          Werkbeschreibungen                  39     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen

UNEARTHING. IN CONVERSATION, 2017
Videoprojektion, Farbe und Ton, 16:9, 13 min

In der Videoprojektion Unearth­         in der ersten Zeile des Videos:
ing. In Conversation (2017) tritt       „Dies ist in Erinnerung an alle,
Belinda Kazeem-Kamiński auf             die noch kommen werden.“ Der
einer Bühne vor einem leeren            Blick in die Vergangenheit er-
Saal auf. An einem Tisch sitzend        möglicht es, nach einer anderen
nimmt sie einige Fotos aus              Zukunft Ausschau zu halten und
Kartonschachteln heraus. Es             von einer anderen Gegenwart
handelt sich um Porträts vom            zu träumen. Und zwar von einer
Anfang des 20. Jahrhunderts,            Gegenwart, welche im positi-
welche den österreichisch-              ven Sinne von den Fehlern ihrer
tschechischen Ethnografen,              Vergangenheit „heimgesucht“
Missionar, Autor und Pädagogen          wurde und dadurch in der Lage
Paul Schebesta abbilden, wäh-           ist, sich auf eine Zukunft vorzu-
rend er mit Menschen aus dem            bereiten, die von dem Trauma
damaligen belgischen Kongo              befreit ist, ständig als „Andere“
(der heutigen Demokratischen            konstruiert werden. In dem Werk
Republik Kongo) posiert. Die Bil-       geht es darum, künstlerische
der sind jedoch nicht in ihrer ur-      und diskursive Methoden zu fin-
sprünglichen Form zu sehen: die         den und Strategien der Reprä-
Künstlerin hat verschiedenste           sentation sowie Strukturen des
visuelle Strategien angewandt,          Sehens neu zu konfigurieren,        Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostill), 2017
um die Gewalt der Bilder zu um-         um sie von der ihnen inhärenten
gehen und den voyeuristischen           Gewalt loszulösen.
Blick zu verhindern. Während
sie die Fotos bewegt, spricht           Unearthing. In Conversation
die Künstlerin mit den abgebil-         wurde auf österreichischen
deten Menschen und versucht,            sowie internationalen Festivals
über den rassistischen Filter           vorgeführt, u.a. bei: Diagona-
des kolonialen Archivs hinaus zu        le in Graz; International Film
kommunizieren. Sie wendet sich          Festival in Rotterdam, Nieder-
auch an uns – das abwesende             landen; Vancouver Film Festival,
Publikum, dessen Blick ebenso           ­Kanada; European Media Art
niemals unschuldig sein kann.            Festival in Osnabrück, Deutsch-
Belinda Kazeem-Kamiński hin-             land; Africa in Motion Film
terfragt gleich mehrere Facet-           Festival in Glasgow, Vereinigtes
ten des kolonialen Erbes, wie es         Königreich. Der Film wird von
eine dominierende Geschichts-            sixpackfilm vertrieben und ist
schreibung geschaffen und                Teil der Sammlung des mumok –
einen voyeuristischen Blick er-          Museum moderner Kunst Stif-
zeugt hat. So sagt die Künstlerin        tung Ludwig Wien.

Siehe auch die Werkbeschreibung von Schebestas Schatten, 2017/2021,
S. 14–15.
40   Belinda Kazeem-Kamiński   Werkbeschreibungen   41     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen

                                                    Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostills), 2017
42     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen                   43     Belinda Kazeem-Kamiński         Werkbeschreibungen

YAARBORLEY DOMEÏS BRIEF,
aus dem Projekt VOIDS, 2021
Künstlerischer Beitrag in der Tageszeitung Der Standard

Am 18. Oktober 1896 wurde ein          Begriffe jemals zu verwenden,
offener Brief von Yaarborley           und erkennt somit intersektio-
Domeï an die Wiener Bevölke-           nale, also sich überschneidende,
rung in der Zeitschrift Wiener         gleichzeitig auftretende Formen
Caricaturen veröffentlicht.            der Diskriminierung, bevor diese
Zusammen mit anderen Men-              als soziales Phänomen aner-
schen aus der damals von den           kannt wurden. Der Brief thema-
europäischen Kolonialmächten           tisiert nicht nur das, was ihr an-
als Goldküste bezeichneten Re-         getan wurde. Yaarborley Domeï
gion, dem heutigen Ghana, war          betont ihre eigene Auslegung
Yaarborley Domeï nach Europa           des Verhaltens der Besucher*in-
gebracht worden, um alltägliche        nen sowie ihren Stolz, diesem
Aktivitäten, aber auch eingeübte       Verhalten Widerstand leisten
Gesten in Ausstellungsgeländen         zu können, und fordert, nach
auszuführen, die von Rassis-           Hause nach Accra zurückzu-
mus, Exotismus und Voyeuris-           kehren. Yaarborley Domeï hebt
mus lebten. Die westliche Welt         besonders ihre Handlungsfähig-
organisierte solche kolonialen         keit und ihren Willen hervor, sich
Ausstellungen ab der Mitte des         auf jede erdenkliche Weise zu        Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019
19. bis zur Mitte des 20. Jahr-        wehren, beispielsweise durch
hunderts. Ausstellungen wie            das Kratzen von Besucher*in-
diese festigten die Praxis des         nen, die ihr zu nahe kamen. Der
Othering (der Konstruktion des         Brief wurde auf Ga verfasst, von
Anderen), durch die die kolonia-       ihrem Ehemann Kwaku Domeï,
le Expansion aufrechterhalten          der auch die Gruppe der Asante-­
wurde und die damit verbunde-          Darsteller*innen leitete, ins
ne Ausbeutung bis heute fort-          Englische übersetzt und letzt-
geschrieben wird.                      endlich von der Redaktion der
                                       Wiener Caricaturen ins Deut-         entschied sich die Künstlerin,         deshalb als spekulatives Objekt,
In ihrem Brief beschreibt Yaar-        sche übertragen.                     Yaarborley Domeïs Brief aus            das sie noch mehr entfremdet,
borley Domeï die Umstände der                                               dem sogenannten deutschen              indem sie den gesamten Über-
Ausstellung und wie sie und an-        Für diese Arbeit veröffentlicht      „Original“ in Ga rückzuüberset-        setzungsprozess in der umge-
dere Darsteller*innen von dem          Belinda Kazeem-Kamiński den          zen – eigentlich eine Überset-         kehrten Richtung angeht: vom
Publikum behandelt und an-             Brief von Yaarborley Domeï           zung einer Übersetzung.                Deutschen ins Englische und
gestarrt wurden, wie mit ihnen         erneut in einer Tageszeitung.                                               dann wieder zurück in Ga. Am
interagiert wurde. Ihre Erzäh-         Einige Auszüge aus Domeïs            Die Künstlerin ist sich der Un-        Ende steht eine Übersetzung
lung thematisiert die Gewalt der       Brief erscheinen auch in Be-         zuverlässigkeit der deutschen          einer Übersetzung einer Über-
Blicke und des Verhaltens von-         linda Kazeem-Kamińskis Werk          Fassung als historisches Doku-         setzung einer Übersetzung.
seiten des Publikums. Sie deutet       The Letter (2019), welches           ment bewusst und behandelt sie
auf präzise Weise auf Rassismus        dieses Werk inspiriert und ihm
und Sexismus hin, ohne diese           seinen Titel verliehen hat. Hier     Siehe auch die Werkbeschreibung von The Letter, 2019, auf S. 18–19.
44    Belinda Kazeem-Kamiński      Interview                         45    Belinda Kazeem-Kamiński      Interview

INTERVIEW:                                                                 dieser Zeit in Berlin lebte; und dem bereits genannten Frantz

Belinda
                                                                           Fanon, einem Psychiater und Philosophen aus Martinique.1
                                                                           Dabei gehe ich der Frage nach, was sie in einem Gespräch
                                                                           über den weißen Blick zueinander gesagt hätten, da alle drei

Kazeem-Kamiński
                                                                           sich sehr klar über die Funktion dieses Blicks äußerten. Das
                                                                           Schreiben dieses Kapitels, wie auch meine Arbeit mit Archiv-
                                                                           material, basiert auf meinem Interesse, skopische Regime

im Gespräch
                                                                           auseinanderzunehmen, zu analysieren und offenzulegen. Es
                                                                           geht nicht um den Blick an sich. Es geht um die Art, wie die
                                                                           Handlung des Schauens mit Wissensproduktion verbunden

mit Anne
                                                                           und zu einem mächtigen und gewaltvollen Mittel der Klas-
                                                                           sifizierung wird. Skopische Regime sind strukturell einge-
                                                                           bettet, und doch werden sie unsichtbar gemacht und in der

Faucheret
                                                                           Folge normalisiert. Anhand meiner Orchestrierung des Blicks
                                                                           als Strategie, das unsichtbar Gemachte zu zeigen, lässt sich
                                                                           erfassen, wie ich arbeite. Das wird in vielen meiner Arbei-
                                                                           ten deutlich; ich denke da an In Remembrance to the Man
                                                                           Who Became Known as Angelo Soliman, (Ante Mortem) I &
Du arbeitest vorwiegend mit Material aus Archiven und Museen,              (Post Mortem) II (2015), oder You are awaited, but never as
ob Fotografien, Objekte oder Schriftstücke, die als Ausgangs-              equals (2021).
punkt deiner künstlerischen Forschung dienen. Um es zum
Einstieg ganz allgemein zu fassen: Deine Praxis besteht im
Finden visueller, auditiver und performativer Strategien, mit        Deine Kunstwerke widersetzen sich der Fixierung und Monu-
denen du die Auslöschung von Erinnerungen in der dominanten          mentalität, sie beziehen Freiräume und Lücken ein und sind of-
Geschichtsschreibung, das Fortdauern von Versklavung und Ko-         fen dafür, ständig weiterentwickelt, neu gelesen und umgestal-
lonialismus in heutigen sozialen Strukturen und den in Blickregi-    tet zu werden. Sie liefern kritische Inhalte und öffnen zugleich
men eingeschriebenen Rassismus angehst und ihnen entgegen-           Räume für das Unbekannte, anstatt einen pädagogischen oder
trittst. Kannst du etwas zu deiner Arbeit mit dem Blick sagen?       didaktischen Weg einzuschlagen. Könntest du diesen Ansatz
                                                                     der Offenheit und den fortwährenden Prozess der Überarbei-
      Ich sehe mich als eine Person, die schon in früher Jugend      tung erläutern?
      Beobachterin war. Ich bin nicht die einzige Schwarze Künst-
      lerin und Autorin, die darauf hinweist, dass es zwischen dem         Deine Formulierung gefällt mir. So habe ich es eigentlich
      Umstand, zum Objekt des weißen Blicks gemacht zu werden,             noch nie gesehen – dass ich mich in einem fortwährenden
      und dem aus der Beobachtung skopischer Regime gewon-                 Prozess der Überarbeitung befinde –, aber es ist total stim-
      nenen Wissen eine Verbindung gibt. Michele Wallace, Frantz           mig. Ich habe schon erwähnt, dass das Schreiben meiner
      Fanon, James Baldwin, May Ayim und viele andere sind hier            Dissertation auch eine Art der Wiederbegegnung mit meinen
      zu nennen. In meiner Dissertation – auf die ich in diesem            früheren Arbeiten war, besonders mit den Filmen Unearth-
      Gespräch wahrscheinlich noch öfter zurückkommen werde,               ­ing. In Conversation (2017) und The Letter (2019). Jetzt,
      weil die Arbeit daran für den Prozess der Entwicklung und             nach ­Abschluss der Arbeit an Fleshbacks (2021), den drei
      das Überdenken einiger in dieser Ausstellung versammel-               filmischen Kommentaren zu The Letter, kann ich es kaum
      ter Kunstwerke prägend war – lade ich an einem gewissen               er­warten, wieder zu schreiben. Viele Verbindungen – zu Ar-
      Punkt weitere Stimmen und Erfahrungen ein: nämlich von                beiten anderer Künstler*innen, zu Texten und Geschichten –,
      Yaarborley Domeï, einer der westafrikanischen Performer*in-           die ich nicht vorhergesehen hatte, haben sich aufgetan. Es
      nen, die 1896–1897 in Wien waren; Kwassi Bruce, einem                 macht mir Freude, wie meine Arbeiten mich immer wieder
      togolesisch-deutschen Musiker und Unternehmer, der zu                 überraschen.
46   Belinda Kazeem-Kamiński      Interview                            47     Belinda Kazeem-Kamiński         Interview

     Meist beginne ich schreibend an einem neuen Projekt zu                   GESCHICHTE, die weiße Monologe bevorzugt. Was mich
     arbeiten. Dabei entsteht beispielsweise ein Text, in dem ich             mehr interessiert, ist, Räume für das Unbekannte zu öffnen
     meinen Drang reflektiere, etwas Bestimmtes zu tun. Das                   und bei dem zu bleiben, was uns begegnet, wenn wir gerade
     kann ein genaues Konzept sein oder eine lose Sammlung von                nicht versuchen, das Erfahrene unmittelbar zu verbalisieren
     Wörtern. Manchmal ist der Text schon das Werk, aber oft                  und festzunageln.
     setze ich das, was ich tun möchte, in einem anderen Medium
     um. Da ich am Ergebnis und am Prozess gleichermaßen inte-
     ressiert bin, verwende ich das Schreiben dazu, meine Ideen        In deinen Arbeiten beschäftigst du dich nicht nur mit dieser
     nochmals Revue passieren zu lassen. Das führt manchmal            Welt, sondern schaffst auch Bedingungen für andere mögliche
     zur Eröffnung eines weiteren Überarbeitungsdurchgangs.            Welten. Deine Praxis ist ein vielschichtiges Gespräch und auch
     Dann gehe ich zu meinem Werk, zum Beispiel einer Collage,         ein polyphones Narrativ – ein „kritisches Fabulieren“, wie es die
     zurück und mache es neu. Ich bringe kleine Veränderungen          Kulturtheoretikerin Saidiya Hartman nennt. Was bedeutet für
     an oder verwerfe es komplett und fange von vorne an. So           dich die Praxis des kritischen Fabulierens?
     mache ich endlos weiter, wenn die jeweilige Arbeit das ver-
     langt. Zwischen den Überarbeitungsdurchgängen liegen viel-               Inzwischen ist wohl klar geworden, dass Schreiben ein
     leicht Wochen, Monate oder sogar Jahre. Manche Arbeiten                  grundlegender Teil meiner Praxis ist. Ich betrachte das
     rufen nach Neubearbeitung; sie wollen aktualisiert werden.               Schreiben als mein zentrales Medium. Daraus entspringen
     Und ich bin offen dafür, mich dabei im Kreis zu bewegen                  mein Denken und meine Bedeutungskonstruktion sowie
     und auf neuerliche Aktualisierungen einzulassen. Zu Beginn               die Prozesse der Vorstellung und des Wiederaufgreifens.
     meiner Befassung mit Avery Gordons Begriff „haunting“ für                Saidiya Hartman präsentiert kritisches Fabulieren als
     die Art und Weise, wie gewaltvolle Vergangenheiten sich
     bemerkbar machen, stand ich stark unter dem Eindruck vom
                                                                       Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019
     Bild des Gespensts.2 Aber beim Schreiben meiner Disserta-
     tion und erneuten Nachdenken über Unearthing. In Conver-
     sation verstand ich, dass es mir den Blick auf wesentliche
     Einsichten versperrt hatte, mir jene, die vor uns da waren,
     als Gespenster vorzustellen. Ein paar Wochen darauf stieß
     ich über eine kleine Fußnote in einem Text von Nicola Lauré
     al-Samarai auf den Begriff „Heim-Suchung“.3 Heim-Suchung
     ist eine deutsche Übersetzung von „haunting“, darin steckt
     jedoch auch „nach einem Zuhause suchen“, was ganz andere
     Möglichkeiten eröffnet. Zwischen „haunting“ und dem Ent-
     decken von Heim-Suchung lagen Jahre der Überarbeitung
     und aktive, aber auch unbewusste Denkprozesse während
     der Befassung mit anderen Projekten.

     Da sich meine Praxis in dieser Richtung entwickelt hat, habe
     ich auch gelernt, mich mit der Tatsache anzufreunden, dass
     ich nichts je vollständig weiß; was ich zu wissen glaube, ist
     immer nur eine Momentaufnahme. Außerdem erinnere ich
     mich immer wieder daran, dass der Wille, etwas zu wissen,
     sehr stark mit einem Wunsch nach Kontrolle verbunden ist,
     und meist auch mit dem Wunsch nach Eroberung. Ich bin
     nicht daran interessiert, in Sicherheiten zu investieren. Allzu
     oft sind sie nur Dichotomien in anderem Gewand oder lineare
48    Belinda Kazeem-Kamiński      Interview                          49     Belinda Kazeem-Kamiński         Interview

      Schreibstrategie und -praxis, die eng mit Schwarzer diaspo-
      rischer Erfahrung verbunden ist. Es ist eine Gegenstrate-
      gie, um das zu konfrontieren, was uns ein auf Genozid und
      Enteignung aufgebautes Archiv zu sagen erlaubt, wenn wir
      der Täuschung glauben wollen, dass wir uns an das halten
      müssen, was dort dokumentiert ist.4 Ich betone das an die-
      ser Stelle, weil der Kontext des Genozids allzu oft übersehen
      wird, wodurch es zur wiederholten Unsichtbarmachung und
      zu starken Vereinfachung eines an sich komplexen Gebiets
      kommt, was schlussendlich zur Aufrechterhaltung systemi-
      scher Gewalt führt.

      In meiner Praxis interessiere ich mich sehr für das, was
      viele, und früher auch ich, als die Lücken des Archivs sehen.
      Aber ich habe inzwischen festgestellt, dass diese Lücken
      nicht unbedingt leer sind; denn eigentlich schaffen sie
      Möglichkeiten. Rückblickend würde ich sagen, dass ich
      schon eine ganze Weile kritisches Fabulieren praktiziere,
      ohne dass ich ein Wort oder eine Bezeichnung für meine Art
      des Schreibens hatte. Der Text „I am many“, den ich 2012
      für den von Jo Schmeiser herausgegebenen Band Con-              Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019
      zepte: Neue Fassungen politischen Denkens geschrieben
      hatte, war mein erster Versuch in dieser Richtung.5 Dieser
      Text hat sich als sehr wichtig für das Verstehen meiner                Zu Beginn sah ich meine Arbeit hauptsächlich im Rahmen
      Praxis herausgestellt. Ich denke etwa an Methoden der                  von Erinnerungspolitik und Repräsentationskritik, aber nach
      Schichtung, der kreisenden Bewegungen, des Hereinholens                dem Verfassen von Unearthing. In Conversation, den Live-
      von anderen in meine Arbeit.                                           Performances und dem geistigen Ankommen beim letzten
                                                                             Wort, haunting, kam etwas in Bewegung. Am Ende bleibt für
                                                                             mich, in Avery Gordons Worten, das unlösbare Dilemma
Das Einbeziehen von anderen in deine Arbeit bedeutet nicht                   – „haunting as a something-to-be-done“ (Heimsuchung
nur, von anderen begleitet zu werden und ihren Stimmen und                   zeigt, dass etwas zu tun ist) – und es gibt nichts anderes
Gedanken zuzuhören, nicht nur, ihren Geschichten gegenüber                   zu tun, als dieser Heimsuchung zu folgen.6 Jedenfalls habe
aufmerksam zu sein, sondern auch das Eintreten in einen Raum                 ich das aus diesem Prozess mitgenommen. Die Dialoge, auf
der gegenseitigen Fürsorge und des gemeinsamen Handelns.                     die ich mich in der Performance und später im Film einließ,
Die Kulturwissenschaftlerin und Black-Studies-Theoretikerin                  basierten auf dieser Idee des „haunting as a something-to-
Christina Sharpe sieht „Wake Work“ als affektive und ästheti-                be-done“. Sie führten gewissermaßen zu neuerlicher Akti-
sche Arbeit im Versuch, „in the wake“, also den Nachwirkungen,               vierung. Ich erkannte, dass es neben der Kritik auch Affekte
von Versklavung, Gewalt und Enteignung zu leben. Laut Sharpe                 gab, die mich zu bestimmten Entscheidungen führten, und
ist das affektive Register (das heißt, ein Register des Lesens               vor allem, dass die Arbeit nicht nur von mir durchgeführt
und Wahrnehmens über einen gegebenen Rahmen hinaus) not-                     wurde und wird; ich schreibe zwar das Drehbuch und schaffe
wendig, um die Grundlage einer besseren Geschichte, besserer                 den Raum, aber wenn ich tatsächlich in Dialog trete, gibt es
Gegenwarten, besserer Zukünfte zu schaffen, anders gesagt:                   Momente, über die ich keine Kontrolle habe. Ich denke, dass
für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Sorge zu tragen.                ich dadurch langsam zu einer Perspektive auf meine Arbeit
Wie beziehst du dich auf die Begriffe „Wake Work“ und „Black                 als anzestrale und gemeinschaftliche Praxis kam. Eine Praxis,
Care“ in deiner künstlerischen Praxis?                                       in der es stark um das Schaffen von Raum und Zeit geht, um
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