Belinda Kazeem -Kamiński - kunst halle wien - Kunsthalle Wien
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
2 Belinda Kazeem-Kamiński Fleshbacks (Videostills), 2021 5 EINFÜHRUNG WERKBESCHREIBUNGEN 10 In Search of Red, Black, and Green 12 To let them know what we think about them 14 Schebestas Schatten 16 Fleshbacks 18 The Letter 20 In Remembrance to the Man Who Became Etched into History as „Der Aschanti an der Akademie“ 22 In Remembrance to the Man Who Became Known as Angelo Soliman, (Ante Mortem) I & (Post Mortem) II 24 You are awaited, but never as equals 26 Ashantee, edited 34 Ashantee, edited & annotated 36 Strike a Pose & In Remembrance to Ella Williams 38 Unearthing. In Conversation 42 Yaarborley Domeïs Brief 32 AUSSTELLUNGSPLAN 44 INTERVIEW: BELINDA KAZEEM-KAMIŃSKI IM GESPRÄCH MIT ANNE FAUCHERET 56 BIOGRAFIE 58 VERANSTALTUNGS- UND VERMITTLUNGSPROGRAMM
5 Belinda Kazeem-Kamiński Einführung Einführung Die Kunsthalle Wien widmet den in Wien lebenden Künstlerinnen* Ana Hoffner ex-Prvulovic* und Belinda Kazeem-Kamiński zwei Einzelausstellungen, die vom 22. Oktober 2021 bis zum 6. Februar 2022 gleichzeitig in der oberen Halle der Kunsthalle Wien Muse- umsquartier zu sehen sind. Unsere Einladung an Ana Hoffner ex-Prvulovic* und Belinda Kazeem-Kamiński folgt dem Grundsatz der Kunsthalle Wien, Künst- lerinnen* zu zeigen, die das Erbe von Imperialismus, Kolonialismus und Versklavung hinterfragen und in ihren Praktiken Rassismus und Heteronormativität als politische Instrumente betrachten, die historisch entwickelt wurden (und bis heute verwendet werden), um bestimmte Gebiete und bestimmte Körper zu unterwerfen und auszubeuten. Die beiden Einzelausstellungen finden gleichzeitig in der oberen Halle statt, sind jedoch durch zwei verschiedene Eingänge zugäng- lich und durch eine Trennwand separiert. Der Ort, die Architektur und die Dramaturgie wurden dazu entwickelt, die ungeteilte Auf- merksamkeit auf die jeweilige künstlerische Praxis zu lenken, dem Publikum jedoch zugleich die Gelegenheit zu bieten, sich zwischen diesen beiden Universen hin- und herzubewegen und ausgewählte Momente der Begegnung zu ermöglichen. Die Einladung der beiden Künstlerinnen* zu Einzelausstellungen in der Kunsthalle Wien geht auf das Jahr 2019 zurück, und die Aus- stellungen waren ursprünglich für das Frühjahr 2020 geplant. Doch aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde dieses Vorhaben zweimal verschoben. Einerseits hat diese lange Vorbereitungszeit neue Entwicklungen ermöglicht; andererseits waren die Künstlerinnen* gezwungen, mit dem unvorhersehbaren Rhythmus und der (kon- tinuierlichen) Überarbeitung des Projekts umzugehen. Die finalen Ausstellungen sind das Ergebnis eines intensiven Dialogs, einer ständigen Selbstreflexion und teils auch von Kompromissen. Die beiden Präsentationen umfassen sowohl bereits bestehende, für die Räume der Kunsthalle Wien neu interpretierte und bearbeitete Werke als auch Neuproduktionen, die eigens für diesen Anlass ent- standen sind. Belinda Kazeem-Kamiński schafft in ihren Arbeiten – seien es Fotoserien, Filme oder Installationen – Raum für Begegnungen,
6 Belinda Kazeem-Kamiński Einführung 7 Belinda Kazeem-Kamiński Einführung sie widmen sich ernsthaft ihrer politischen Aufgabe, Bedingungen zu stellen und die – realen und imaginierten – Räume zu schaffen, um die Vergangenheit zu bearbeiten, die Zukunft zu erfinden und die Gegenwart in ihrem jetzigen Zustand aufzulösen. Die Werke von Ana Hoffner ex-Prvulovic* sind multimediale In- stallationen, die Film, Fotografie, Objekte und Text miteinander verbinden. Die Künstlerin* beschäftigt sich eingehend mit der Fa- brikation von Geschichte, Erinnerung und Subjektivität, wobei sie* unterstreicht, dass bei diesen Prozessen das Unbewusste am Werk ist. Entlang welcher Linien von Herrschaft und Ausschluss finden solche Prozesse statt? Welche Geschichten und Praktiken werden weggewischt und ausradiert? Wie könnten wir die misogynen und rassistischen Vorurteile entschärfen, die in offizielle (westliche) Ge- schichten und Darstellungen eingebettet sind? In der Ausstellung erzählt die Künstlerin* Geschichten von Queerness als Überlebens- strategie, von non-alignment als Ethik (und nicht nur als Geopolitik) und von Familie als Raum für selbstgewählte Verwandtschaft. Sie* inszeniert Momente der Subversion, der Krise und des Widerstands und versucht so herauszufinden, wie ein zeitgenössisches Subjekt verborgene Geschichten ausgraben und sich aneignen kann, um kulturellen, gesellschaftlichen und psychologischen Zuschreibun- Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostill), 2017 gen zu entkommen. In ihrer* eingehenden Untersuchung der Rolle von schmutzigem Kapital bei der Finanzierung von Kunstinstitu- tionen hinterfragt die Künstlerin* zudem in einer selbstreflexiven Gespräche und gelegentlich auch Auseinandersetzungen zwischen Bewegung, inwiefern das Kunstfeld in der Lage ist, minoritäre Alter- ihr und dem Publikum, vor allem jedoch zwischen ihr und den nativen und unangepasste Denkweisen zu begrüßen, zu fördern und Menschen, die ihre Arbeiten, ihre Erinnerungen und ihre Vorstellun- für sie einzustehen. gen beleben: jene, die zum Verschwinden gebracht wurden und die verstorben sind, jene, die hier sind, und jene, die kommen werden. Da wir in einem Land verortet sind, in dem der (wissenschaftliche) Die Künstlerin verknüpft kritische Schwarze feministische Theorie, Kolonialismus kaum diskutiert wird, in dem die „weiße Unschuld“ konzeptuelle visuelle Strategien und fiktionale Narration (ein- (Gloria Wekker) ein unhinterfragtes gesellschaftliches Paradigma schließlich Science-Fiction), und erforscht verschiedene Methoden, ist und in dem die historische Migration und kulturelle Kreolisierung um über Zeiten und Räume hinweg zu kommunizieren. Sie unter- immer noch zugunsten der Vorstellung von einer einzigartigen, zieht Blickregimes einer kritischen Untersuchung und dekodiert den ausschließlichen Verankerung im Westen ausgeblendet werden, rassistischen kulturellen Apparat, der dem fortdauernden System erschien es uns wichtig, diese beiden Künstlerinnen* zu präsentie- der Unterjochung und Ausbeutung Schwarzer Leben zugrunde liegt; ren, die in Wien leben und international tätig sind. Beide erforschen gleichzeitig überwindet sie die Gewalt, die in Archiven, in Museen unermüdlich rassistische Blickregime und Praktiken des Fremd und in Büchern enthalten ist, indem sie Wege des gegenseitigen machens, und beide nutzen ästhetische Strategien des Widerstands. Austauschs, der Fürsorge und des Imaginierens erschließt. Belinda Gleichzeitig spricht jede der Künstlerinnen* aus einer unterschied- Kazeem-Kamińskis Kunstwerke wählen stets Minimalismus statt lich verorteten Perspektive, die auf unterschiedlichen Erfahrungen Opulenz, Verstreuung statt Monumentalität, Flüchtigkeit statt Fi- beruht, was in zwei eigenständigen Praktiken resultiert. xierung und Offenheit statt Geschlossenheit, und sie begrüßen Lü- cken und Leerstellen. Sie befinden sich in einem ständigen Prozess, — Anne Faucheret in ständiger Selbstreflexion, „in the wake“ (Christina Sharpe), und Kuratorin
10 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 11 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen Belinda Kazeem-Kamiński, In Search of Red, Black, and Green, 2021 IN SEARCH OF RED, BLACK, AND GREEN, 2021 als Panafrikanische Flagge, unvollendetes Projekt“, wie die 3 C-Drucke auf Aludibond, je 80 x 119,3 cm Black Liberation Flag und Afri- afroamerikanische Denkerin und can-American Flag bezeichnet – Theoretikerin Saidiya Hartman Die Protagonist*in der dreiteili- Hintergründen: Rot, Schwarz mehrere Namen, die sich alle schreibt. Aus diesem Grund gen Fotoserie In Search of Red, und Grün. Die Farbkombination auf ein Symbol der Befreiung unterstreicht Belinda Kazeem- Black, and Green (2021) hält mag als visueller Code gelesen Schwarzer Menschen beziehen. Kamińskis Arbeit die dringende Ausschau nach einer Sache, die werden – eine Erinnerung an die Notwendigkeit, an dem festzu- sich außerhalb des Bildes befin- Flaggen einiger afrikanischer Auf verschlüsselte Weise kom- halten, was emanzipatorische det – etwas, das über den Blick Nationalstaaten, die im Zuge men diese drei Farben zum Ein- und befreiende Schwarze Pro- der Betrachtenden hinausgeht der Dekolonisierung gegründet satz; als kraftvolle Erinnerung jekte angetrieben hat und immer und für das Publikum nicht er- wurden. Die dreifarbige Flagge, an die Befreiungskämpfe der noch antreibt: das Beharren sichtlich ist. Das Modell nimmt bestehend aus gleich langen afrikanischen Diaspora sowie für darauf, Freiheit zu imaginieren, in den drei Fotografien jeweils horizontalen Streifen im selben die Freiheit Schwarzer Men- zu praktizieren und demnach zu fast dieselbe Position ein, Rot, Schwarz und Grün (von schen im Allgemeinen. Diese leben, was es bedeuten würde, jedoch stets mit andersfarbigen oben nach unten), wird ebenso Freiheit ist noch immer „ein wirklich frei zu sein.
12 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 13 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen TO LET THEM KNOW WHAT WE THINK ABOUT THEM, aus dem Projekt VOIDS, 2021 3 Textilflaggen, je 90 x 120 cm Voids (2017–2021) besteht aus mehreren Werken in einem breiten Spektrum von Medien und widmet sich den heimsuchenden Erinne- rungen einer Gruppe westafrikanischer Darsteller*innen, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien gebracht wurden. Die visuellen und konzeptuellen Strategien des Projekts widerstehen der Versuchung, die „Lücken [des Archivs] zu füllen“ (Saidiya Hartman) oder die historischen Zwischenräume des dominanten (nationalen) Nar- rativs zu schließen. Stattdessen konzentriert sich das Projekt auf die Heimsuchungen des Kolonialismus und verhandelt andauernde Vergangenheiten. Yaarborley Domeï war eine der Zeremonialflaggen anknüpft. westafrikanischen Darsteller*in- Asafos – übersetzt bedeutet nen, die 1896–1897 nach Europa Asafo „das Kriegsvolk“, von sa gebracht wurden, um Teil der (Krieg) und fo (Volk) – waren Ausstellungen über indigene traditionelle Krieger*innen- Volksgruppen aus Afrika zu organisationen, die sich um die sein. Während ihres Aufenthalts Verteidigung und das Wohl- im Wiener Prater verfasste sie ergehen ihrer Gemeinschaften einen Brief, der in der Zeitung kümmerten. Jede Asafo hatte Belinda Kazeem-Kamiński in Zusammenarbeit mit Baba Issaka, Wiener Caricaturen veröffent- ihren eigenen Namen, ihre eige- To let them know what we think about them, 2021 licht wurde. Yaarborley Domeï ne Nummer, eigene Insignien, betont darin ihre Absicht, der einen eigenen Schrein und eine zu finden sind. Belinda Kazeem- und ursprünglich die deutsche Wiener Bevölkerung mitzuteilen, Flagge. Darüber hinaus wurden Kamiński hat sich hierbei für drei Übersetzung für „Asante“ ist, was sie über sie denkt. Davon allen Mitgliedern klar definierte szenische Motive entschieden: also für das Volk des Asante- ist auch der Titel dieses Werkes Rollen zugeteilt. Asafo-Flaggen ein Porträt eines Mädchens nach Königreichs in der Region, wo inspiriert – von einer Zeile im waren nicht nur die Symbole einer Fotografie, vermutlich von sich das heutige Ghana befindet. Brief, die lautet: „I am writing ihrer Gemeinschaften, sondern Peter Altenberg, eine Hand, die Der Sankofa-Vogel bildet ein all of this to you, so you tell the auch eine visuelle Metapher für einen Sankofa-Vogel hält, und zentrales Symbol in der afrikani- white people what I think about das, war ihre Mitglieder mitei eine andere Hand, die eine (gol- schen Diaspora. Auf seinem Weg them“ (Ich schreibe Ihnen das nander verband, sei es ein histo- dene) Erdnuss hält. Die Erdnuss in die Zukunft – manchmal mit alles, damit Sie den weißen risches Ereignis, ein Gründungs- – eine Pflanze, deren Geschich- einem Ei im Schnabel – blickt Menschen mitteilen, was ich moment oder ein Aphorismus. te sich mit der Geschichte der er zurück, um das Vergangene über sie denke). Die Installation Die Flaggen in der Ausstellung Versklavung überschneidet – nicht zu vergessen, um sich besteht aus drei Asafo-Flaggen, wurden zu diesem Zweck ge- bezieht sich hier auch auf das immer daran zu erinnern, was die Belinda Kazeem-Kamiński schaffen, nämlich als Geden- österreichische Wort „Aschanti“, vorher war, und um eine Zukunft zusammen mit dem renommier- ken an jene westafrikanischen das für Erdnüsse verwendet wird aufzubauen. ten ghanaischen Flaggenma- Darsteller*innen, die nach Wien cher Baba Issako entworfen hat, gebracht wurden. Sie gehen Siehe auch die Werkbeschreibungen von: der an die Tradition der Herstel- somit über jene kolonialen Dar- Yaarborley Domeïs Brief, 2021, S. 42–43 lung von textilen Gedenk- und stellungen hinaus, die im Archiv The Letter, 2019, S. 18–19
14 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 15 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen SCHEBESTAS SCHATTEN, 2017/2021 3 digitale C-Prints auf Papier, je 9 x 13 cm Schebestas Schatten (2017/ westliche rassistische Kolonial- 2021) besteht aus drei Schwarz- narrativ nährte. Diesen Zielen Weiß-Fotografien im Post- folgend, zeigen die Fotos den kartenformat, welche sich in Fotografen selbst nur in gerin- einem Schaukasten befinden gerem Maß. Paul Schebesta war und jeweils zum Teil mit einer sich wahrscheinlich des Vorteils blauen, gelben oder roten Farb- seiner Abwesenheit bewusst. fläche abgedeckt sind. Auf den Diese ermöglichte es ihm, als unbedeckten Stellen der Origi- eine Art unsichtbarer Schöpfer nalfotos sind einige Schatten in Erscheinung zu treten. Auf ei- sichtbar, die auf die Körper und nigen wenigen Fotos ist er aber die Kleidung der fotografierten zu sehen, oder zumindest sein Personen geworfen werden; so Schatten. Es sind genau diese zeichnet sich der verschwom- Fotos, die Belinda Kazeem- mene Umriss eines Doppelhuts Kamiński in ihr Werk aufgenom- ab – eigentlich sind es zwei men hat. Durch ihre Entschei- übereinander gestapelte Hüte. dung, sich auf ein kleines, aber grundlegendes Detail zu Der Schatten scheint die unbe- konzentrieren, nämlich auf den absichtigte Signatur vom Autor Schatten, den der Hut/die Hüte des Fotos zu sein, Paul Sche- und der Körper des kolonialen besta (1887–1968). Tatsächlich Fotografen werfen, verwandelt befinden sich im Archiv der die Künstlerin das Unsichtbare Österreichischen Nationalbiblio- in das Sichtbare und vice versa: thek Hunderte von Fotografien, Der unsichtbare Autor wird Belinda Kazeem-Kamiński, Schebestas Schatten, 2017/2021 die dem österreichisch-tsche- sichtbar gemacht, während die chischen Missionar, Autor, hypervisibilisierten und unter- Pädagogen und Ethnografen worfenen Modelle durch ihre zugeschrieben werden. Es vorübergehende Unsichtbarkeit sind Fotos, die er vermutlich Schutz erhalten. von seinen Reisen in die heu- tige Demokratische Republik Kongo mitgebracht hat. Gezeigt werden größtenteils Menschen, denen er begegnete, die er be- obachtete und in inszenierten Szenen ablichtete, um sie als die Verkörperung des „Anderen“ darzustellen, was letztlich das Dieses Werk ist eine Vorstudie für Unearthing. In Conversation, 2017. Siehe die Werkbeschreibung auf S. 38–41.
16 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 17 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen FLESHBACKS, aus dem Projekt VOIDS, 2021 3 Videoprojektionen, Farbe und Ton, 4:3, insgesamt 6 min Fleshbacks (2021) ist ein drei- getroffene Unterscheidung teiliger Kommentar zu The zwischen „body“ (Körper) und Letter (2019). Die Protago- „flesh“ (Leib), wobei das körper- nist*innen des Films werden liche Regime nur freien oder in verschiedenen städtischen befreiten Subjektpositionen Settings gezeigt. Es handelt zugestanden wird. Diese können sich nicht um die gleichen Dar- bestimmen, auf welche Art und stellenden wie in The Letter, Weise Bedeutung aus ihnen dennoch offenbart sich eine abgeleitet und ihnen auferlegt gewisse Verbindung durch wird. Hingegen wird „Leib“ zur die Gegenstände, die von den Bezeichnung Schwarzer Körper Darstellenden in Fleshbacks verwendet, welche in der Folge verwendet werden (ein Vergrö- des Versklavungshandels und ßerungsglas sowie Werkzeuge seiner „zu Leibe machenden“ für Restaurator*innen), ebenso Gewalt nur als Körperfragmente wie durch die schwarzen Over- oder als eine Masse an Leibern alls, die sie tragen. Im Laufe des wahrgenommen werden. So Films tritt ein Wandel ein. Die schreibt Hortense Spillers: „Vor Darstellenden beginnen, sich dem ‚Körper‘ existiert der ‚Leib‘. in der Stadt zu bewegen – sie […] Denken wir an den ‚Leib‘ als steigen Treppen hinauf, laufen primäre Erzählung, so denken bergauf, klettern auf Leitern – wir auch an seine Verbrennung, sie folgen einem Gefühl, einem Teilung und Zerrissenheit – wir Ruf, der sie in eine Zone führt, in denken an Leiber, die an die der die Grenzen zwischen Wien Klüsen des Schiffes gefesselt und Accra, zwischen damals wurden oder über Bord fielen, und heute, zwischen dem Hier entkamen.“ (Mama’s Baby, und dem Dort verschwimmen Papa’s Maybe: An American und schließlich überholt sind. Grammar, 1987, S. 67; Über- setzung: Daphne Nechyba). Der Der Titel Fleshbacks bezeichnet Leib ist der Schauplatz für Ge- ein Wort, das Belinda Kazeem- walt, aber auch für eine neue Art Kamiński geschaffen hat – eine von Beziehung. Verschmelzung der Wörter „flashback“, einer Rückblende in einem Roman oder einem Film, und „flesh“ (Leib). Die Künst- lerin stützt sich hier auf die von der afroamerikanischen Wissen- schaftlerin Hortense Spillers Siehe auch die Werkbeschreibung von The Letter, 2019, S. 18–19. Belinda Kazeem-Kamiński, Fleshbacks (Videostills), 2021
18 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 19 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen THE LETTER, aus dem Projekt VOIDS, 2019 Videoprojektion, Farbe und Ton, 16:9, 18 min Als Inspiration für dieses Werk sie sich, um ein Ritual durchzu- dient ein offener Brief, welcher führen, bei dem sie auf einem 1896 von Yaarborley Domeï – ei- Tisch kleine Schätze in Raum ner Frau aus Westafrika, welche und Zeit arrangieren, die sie im Rahmen einer sogenannten mitgebracht zu haben scheinen. Völkerschau ausgestellt wurde – Eine goldene Schere in der Form verfasst und in der Zeitung eines Vogels, goldene Erdnüs- Wiener Caricaturen veröffent- se, rote Kerzen, Kristalle, ein licht wurde. Das Video erzählt pinkfarbenes Feuerzeug, ein Domeïs Geschichte auf spekula- mit Anmerkungen versehenes tive und futuristische Weise neu, Buch, Stücke eines Waxstoffes um die Macht des bestehenden und mehr. Ohne ein Wort zu Archivs bei der Konstruktion sagen, scheinen die Empath*in- eines kollektiven Gedächtnisses nen – indem sie Dinge anein- und des Blicks auf die „Ande- ander weitergeben, indem sie ren“ zu untersuchen. fühlen, berühren, riechen und empfinden – in Kommunikation Mehr als hundert Jahre nach mit einem Anderswo zu treten der Veröffentlichung des Briefs und zeitüberspannende Verbin- Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019 folgen drei Protagonist*innen, dungen zu finden. Sie scheinen von der Künstlerin als „Em genau die Beziehungen zu er- path*innen“ bezeichnet (es leben, welche das gewaltvolle handelt sich um Menschen, die Archiv beharrlich einzudämmen, stark Empathie empfinden, die zum Schweigen zu bringen und Gefühle anderer nachvollzie- auszulöschen versucht. Und hen können), den Spuren von sobald die Empath*innen den Yaarboley Domeïs Leben. Sie Archivraum verlassen, ge- brechen in ein Archiv ein, um schieht etwas Mysteriöses: eine deren Geschichte zu ergründen, Schublade öffnet sich, ein Bild die in Bruchstücken erzählt wird erscheint auf der Wand … das und sie heimzusuchen scheint. Archiv selbst scheint nun heim- Mit Handschuhen und schwar- gesucht zu sein. zer Kleidung ausgestattet gehen sie mit langsamen Schritten durch die Gänge des Archivs, schieben dessen schwere Türen auf und ziehen Schubladen he raus. Anschließend versammeln Siehe auch die Werkbeschreibungen von: Yaarborley Domeïs Brief, 2021, S. 42–43 To let them know what we think about them, 2021, S. 12–13
20 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 21 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen IN REMEMBRANCE TO THE MAN WHO BECAME ETCHED INTO HISTORY AS „DER ASCHANTI AN DER AKADEMIE“, 2021 Druck auf Hartschaumplatte, Holzsockel, Holzhocker, Vorhang, Kaurimuscheln Dieses Werk ist einem Schwar- der durch die beiden vermeint- zen Modell gewidmet, das im lich gegensätzlichen Körper und Zeichensaal der Akademie der ihre Eigenschaften vermittelt bildenden Künste Wien vor werden soll. Die Verortung dieser einer Gruppe von (männlichen) Szene innerhalb der institutio- Kunststudierenden posierte. Er nellen Kunstwelt unterstreicht erscheint zusammen mit einem die historische Verstrickung anderen Modell, einem weißen akademischer und kultureller Mann, auf einer Lithografie von Institutionen in Praktiken der Franz Wolf aus dem Jahr 1833, Unterwerfung, Objektifizierung entstanden nach einer Zeich- und Ausbeutung von Menschen nung von Johann Nepomuk im Kontext von Versklavung und Hoechle. Beide Männer sind bei- Kolonialismus sowie deren Fort- nahe vollständig nackt und tre- dauern in der Gegenwart. ten auf einer Tribüne in Erschei- nung, die vor dem Hintergrund Das Wechselspiel der Blicke der drapierter Vorhänge errichtet Kunststudierenden zeigt, wie ist. Die Requisiten, welche nur rassistische Dichotomien zum zu dem Schwarzen Modell zu ge- Spektakel gemacht werden – hören scheinen, unterstreichen nicht nur durch den Aufbau den eigentlichen ideologischen des Bildes, sondern auch durch Zweck des Settings. Die Pfeile im die Betitelung der Lithografie Köcher sowie eine Keule, Kauri sowie der Blattserie, in der diese muscheln und etwas, das eine publiziert wurde: Der Aschanti Kalebasse sein könnte, runden an der Universität der Bildenden die Inszenierung des Schwarzen Künste Wien (Lithografie) und Modells als perfektem „Anderen“ Heft 9 des Journal Pittoresque: ab. Eine solche Darstellung för- Mahlerische Darstellungen der dert den Diskurs um die angeb- neuesten merkwürdigsten Be- liche „Wildheit“ und „Primitivität“ gebenheiten und Erscheinungen der „Anderen“ im Gegensatz zur im Leben. westlichen „Zivilisation“. Das gesamte Setting zielt weniger Aschanti ist die deutsche Be- darauf ab, Kunststudierenden zeichnung für Asante, die sich das Zeichnen von Körpern bei- auf die Bevölkerung des Asan- Belinda Kazeem-Kamiński, In Remembrance to the Man Who Became Etched zubringen, als darauf, die Idee te-Königreichs bezieht. In der into History as „Der Aschanti an der Akademie“ (Installationsansicht, Detail), eines fundamentalen zivilisato- österreichischen Umgangsspra- 2021 rischen Unterschieds zwischen che ist „Aschantinuss“ auch eine den Abgebildeten zu festigen, Bezeichnung für Erdnuss.
22 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 23 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen Belinda Kazeem-Kamiński, In Remembrance to the Man Who Became Known IN REMEMBRANCE TO THE MAN WHO BECAME as Angelo Soliman, (Ante Mortem) I & (Post Mortem) II, 2015 KNOWN AS ANGELO SOLIMAN, (ANTE MORTEM) I AND (POST MORTEM) II (2015) 2 C-Prints, gerahmt, je 47,6 x 71 cm wurden. Der objektifizierte oder Restaurator*in heraufbe- Mensch ist abwesend, während schwören. Durch das Erzeugen Die zweiteilige Fotoarbeit In aufgrund eines Schlaganfalls, die Werkzeuge seiner einsti- eines „Rahmens innerhalb eines Remembrance to the Man Who wurde sein Körper ausgestopft gen Objektifizierung bestehen Rahmens“ betont das Werk die Became Known as Angelo Soli- und daraufhin ausgestellt. bleiben und zum Gegenstand Wesenheit des Museumsappa- man, (Ante Mortem) I and (Post einer künstlerischen Auseinan- rates und seine unerbittliche Mortem) II (2015) befasst sich Belinda Kazeem-Kamiński rückt dersetzung werden. So gelingt Logik, zu sammeln, zu bewahren mit der musealen Zurschaustel- jene Gegenstände in den Fokus, es Belinda Kazeem-Kamiński, und auszustellen. Darüber hinaus lung des Leichnams von Angelo die Soliman zugeschrieben wur- dem voyeuristischen Zwang und setzt sich die Künstlerin mit dem Soliman (Geburtsdatum un- den – einen Turban, pyramiden- den rassistischen Vorurteilen, gesamten Ausstellungskom- bekannt – 1790) – einer histori- förmige Objekte, einen metalle- von denen (westliche, ethno- plex auseinander, insbesondere schen Figur des 18. Jahrhunderts nen Löwen sowie rote, blaue und grafische) museale Darstellungs- mit dessen Verflechtung in und in Wien – im ehemaligen k.u.k. weiße Federn. Es handelt sich um formen geprägt sind, zu wider- Funktion betreffend der Auf- Hof- und Naturalienmuseum. Gegenstände, die zu seinen Leb- sprechen. Das Diptychon zeigt rechterhaltung grundlegender Vom afrikanischen Kontinent zeiten (ante mortem) sowie auch jedoch nicht nur die Schaukästen Zweiteilungen der westlichen entführt und versklavt, stand der nach seinem Tod (post mortem) mit Solimans Requisiten; auf bei- Ideologie: hier/dort, wir/die An- Mann, der als Angelo Soliman seiner Objektifizierung dienten. den Fotografien sind auch zwei deren, das Bekannte/das Frem- bekannt wurde, schließlich im Sie wurden von der Künstlerin Arme mit weißen Handschuhen de, Kultur/Natur. Sie hinterfragt Dienste des Fürsten von Liech- auf einem roten Samthintergrund und schwarzen Ärmeln zu sehen, skopische Regime und kommt tenstein. Unmittelbar nach angebracht, nummeriert und welche die Schaukästen umfas- zu dem Schluss, dass der Blick seinem Tod, sehr wahrscheinlich beschriftet, bevor sie gerahmt sen und die Figur der Wächter*in niemals unschuldig ist.
24 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 25 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen YOU ARE AWAITED, BUT NEVER AS EQUALS, aus dem Projekt VOIDS, 2021 Diashow, 26 Schwarz-Weiß-Dias, Maße variabel You are awaited, but never as Publikums zeigt, verhindert sie equals (2021) bedient sich eines die Reproduktion des ursprüng- Mediums, das an den akade- lichen visuellen Erlebnisses und mischen Kontext erinnert, und entschärft somit den panopti- zwar der Diashow. Das Werk schen, objektifizierenden und zoomt in das Bild einer Post- gewalttätigen weißen Blick auf karte hinein, zersetzt es und legt Schwarze Körper. Zudem unter- somit die ihm zugrunde liegen- streicht sie das Ausmaß, in dem de Gewalt offen. Die Postkarte eine von Rassismus geprägte zeigt die Ankunft einer Gruppe Ideologie sich in einer unüber- Westafrikaner*innen in Wien schaubaren Anzahl weißer im Jahr 1896. Bei der Schiffs- Menschen festgeschrieben hat, ankunft der Gruppe nach einem weitergetragen wurde und wird. Auftritt in Budapest wurde sie von hunderten (weißen) Men- schen „willkommen“ geheißen. Die Gruppe wurde von der Menschenmenge angestarrt, es wurde auf sie gezeigt und sie wurden mit Blicken und Gesten förmlich auseinandergenom- men. Die Komposition der Foto- grafie – und die Tatsache, dass diese überhaupt als Postkarte gedruckt wurde – unterstreicht den Gegensatz zwischen dem, was als Norm gilt, und seinem Pendant, dem „Anderen“. Auch die Art und Weise, wie Schwar- ze Körper objektifiziert werden und wie deren „Andersartigkeit“ zum Spektakel gemacht wird, zeigt die Fotografie. Indem die Künstlerin nur vergrößerte und entmaterialisierte Ausschnit- te der Blicke und Gesten des Siehe auch die Werkbeschreibungen von: Yaarborley Domeïs Brief, 2021, S. 42–43 The Letter, 2019, S. 18–19 Schebestas Schatten, 2017/2021, S. 14–15 Belinda Kazeem-Kamiński, You are awaited, but never as equals Unearthing. In Conversation, 2017, S. 38–41 (Auszüge aus Diashow), 2021
26 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 27 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen ASHANTEE, EDITED, aus dem Projekt VOIDS, 2017–2021 Künstler*innenbuch, Auflage: 15 + 1 Ashantee, edited (2017–2021) und typografische (An)Zeichen, sowie Ashantee, edited and an- die Peter Altenbergs Verwei- notated (2021) sind das Resultat gerung hinsichtlich jeglicher einer lang anhaltenden Ausein- Positionierung zu dem Geschrie- andersetzung der Künstlerin mit benen aufzeigen. In etwa seine einem Buch des österreichischen Verwendung der dritten Person, Autors Peter Altenberg (1859– wenn er von sich selbst spricht 1919). Unter dem Titel Ashantee („Sir Peter“), sowie seine wieder- beschreibt Peter Altenberg seine holte Verwendung von „—“ und wiederholten Beobachtungen „— — —“. Die Künstlerin interpre- und Kommunikationsversuche tiert diese Symbole als Unterbre- mit den westafrikanischen Dar- chungen, Pausen, Zögern oder steller*innen, welche im heutigen Ellipsen in der Erzählung, wes- Wiener Prater, vormals bekannt halb sie den Entschluss fasste, als Tiergarten am Schüttl, auftra- bereits vorhandene Leerstellen ten. Entgegen der allzu häufigen zu erweitern, indem sie alle mit Wahrnehmung von Peter Alten- Rassismus und Sexismus unter- bergs Schriften als einem ersten legten Sätze und Passagen aus Schritt zur Kritik an der Objek- dem Text entfernte. In der ersten Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited tifizierung afrikanischer Men- Version kratzte Belinda Kazeem- (Auszug aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021 schen im kolonialen System zeigt Kamiński die Buchstaben hän- Belinda Kazeem-Kamiński, dass disch weg. Für die Gestaltung Peter Altenbergs von tiefgrei- eines Künstler*innenbuchs in fender Ignoranz, rassistischen Zusammenarbeit mit der Kunst Vorurteilen und pädophilen pädagogin Renate Höllwart Tendenzen geprägter Text weder entfernte die Künstlerin Peter Al- den von ihm beschriebenen tenbergs Worte digital. So gelang den Darsteller*innen gespro- überarbeitete Version von Peter Menschen eine Stimme verleiht es ihr, sich von dem zu lösen, was chen wurde – Ga (eine Sprache, Altenbergs Ashantee (1897), die noch dass peter Altenberg selbst ihr die Sicht versperrte – der ge- die Peter Altenberg in seinem (entsprechend dem ursprüng- frei von rassistischen und exoti- walttätige Blick und die Stimme Buch zu transkribieren versuch- lichen Layout) mit Leerstellen sierenden Vorannahmen und Ste- des europäischen männlichen te und die von zeitgenössischen versehen ist. Die Doppelseiten reotypen war. Stattdessen ma- Schriftstellers und Kolonisators. Kommentator*innen oft als Fan- des Buches sind in der Arbeit nifestiert sich in dem Text eine Und sie schuf Platz für etwas tasiesprache missverstanden Ashantee, edited & annotated voyeuristische Distanz und eine anderes: Worte mit Informations- wurde) – sowie eine Adresse in (2021) ausgestellt. Das voll- von Dandyismus gekennzeichne- gehalt, welche die Künstlerin Accra. ständige Künstler*innenbuch te kritische Haltung gegenüber möglicherweise zu weiteren ist im Kunsthalle Wien Shop im dem Wiener Bürger*innentum Auskünften über die westafrika- Belinda Kazeem-Kamińskis Museumsquartier zu sehen. des 19. Jahrhunderts. nischen Darsteller*innen führen Künstler*innenbuch ist eine würden. Dabei offenbarten sich Die Künstlerin legte ein besonde- weiterführende Verbindungen, Siehe auch die Werkbeschreibung für Ashantee, edited & annotated, 2021, res Augenmerk auf sprachliche wie etwa die Sprache, die von S. 34.
28 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 29 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited (Auszüge aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021
30 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 31 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited (Auszüge aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021
32 Belinda Kazeem-Kamiński Ausstellungsplan Ana Hoffner ex-Prvulovic* EINGANG EINGANG Belinda Kazeem-Kamiński Belinda Kazeem-Kamiński Ana Hoffner ex-Prvulovic* (Weitere Informationen zu diesen Werken: s. Ausstellungsguide „Ana Hoffner ex-Prvulovic*“) 1 In Search of Red, Black, 6 In Remembrance to 10 Strike a Pose, 2017–2021, 1 After the Transformation, 8 Private View 12 Speech Objects #1, #2, and Green, 2021 the Man Who Became & In Remembrance to 2013 – Special Gift, 2019 #3, and #4, 2018–2021 S. 10–11 Etched into History as Ella Williams, 2021 „Der Aschanti an der S. 36 2 Future Anterior – 9 Private View 13 Духовна 2 To let them know what Akademie“, 2021 Illustrations of War, 2013 – Silent Weapon, 2018 Деколонизација we think about them, S. 20–21 11 Unearthing. In (Spiritual Decolonization) 2021 Conversation, 2017 3 Fifty-One Pieces 10 Non-aligned Relatives, – Part I, 2021 S. 12–13 7 In Remembrance to the S. 38–41 – Believing in Art, 2016 2021 Man Who Became Known 14 The Bacha Posh Project, 3 Schebestas Schatten, as Angelo Soliman, 4 Freud Film, 2017/2021 11 (from left to right) 2016/2021 2017/2021 (Ante Mortem) I & Außerhalb des Simultaneous Contrast, S. 14–15 (Post Mortem) II, 2015 Ausstellungsraums: 5 Private View 2018 15 Active Intolerance S. 22–23 – Blue Blood, 2021 The Queer Family Album, – Part II, 2021 4 Fleshbacks, 2021 Ashantee, edited, 2018 S. 16–17 8 You are awaited, but 2017–2021 6 Private View Disavowals or Cancelled never as equals, 2021 S. 26–31 – Modern Members, 2021 Confessions, 2016 Außerhalb des 5 The Letter, 2019 S. 24–25 (Kunsthalle Wien Shop) Double Still Lives, 2016 Ausstellungsraums: S. 18–19 7 Private View – Big Safari, 9 Ashantee, edited & Yaarborley Domeïs Brief, 2021 2021 Active Intolerance – Part I, annotated, 2021 S. 42–43 2021 (Museumsquartier, S. 34 (in der Tageszeitung Eingang Halle E+G) Der Standard)
34 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 35 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen ASHANTEE, EDITED & ANNOTATED, aus dem Projekt VOIDS, 2021 Drucke auf Papier, je 84,1 x 59,4 cm, Maße variabel In Ashantee, edited & annota- ted (2021) überträgt Belinda Kazeem-Kamiński ihre Eingriffe in Peter Altenbergs Buch in den dreidimensionalen Raum. Die Buchseiten wurden im Poster- format ausgedruckt und direkt an die Wand geklebt. Sie bilden die erste Schicht einer Installati- on, die im Laufe der Ausstellung wachsen wird; die Künstlerin wird weitere Fragmente, wie etwa Fotografien, Bilder und Texte, hinzufügen, welche die erste Schicht des Kunstwerkes ergänzen, überlagern und sogar zunichtemachen werden. Belinda Kazeem-Kamiński, Ashantee, edited (Auszug aus dem Künstler*innenbuch), 2017–2021 Siehe auch die Werkbeschreibung von Ashantee, edited, 2017–2021, S. 26–31.
36 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 37 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen STRIKE A POSE (2017–2021) & IN REMEMBRANCE TO ELLA WILLIAMS (2021) 8 digitale C-Drucke auf Papier, Metallständer, 255 cm hoch, 160 cm Durchmesser In der Fotoinstallation Strike a Abomah the African Giantess Pose (2017–2021) hängen sechs bekannt wurde. Die Darstellerin Fotografien von einer Metall- tourte Ende des 19. und Anfang struktur, während zwei weitere des 20. Jahrhunderts durch Porträts (mit eigenem Titel: In ganz Europa. Die von ihr ein- Remembrance to Ella Williams, genommene Pose symbolisiert 2021) an der Wand angebracht keineswegs eine ermächtigende sind. Das Werk reflektiert Geste, sondern bewies nur das eine bestimmte Pose, die der gut durchdachte, systemati- Künstlerin bei ihrer Recherche sche und perverse Vorhaben, mehrmals begegnet ist, näm- Schwarze Körper als „Andere“ lich der ausgestreckte Arm zu konstruieren (auf Englisch: (hauptsächlich war es der Arm Othering), und zwar mit allen des Ethnografen, aber auch der verfügbaren Mitteln. Belinda Arm der Darstellerin). Die Pose Kazeem-Kamińskis Werk zeigt symbolisiert ein kolonialisti- Ella Williams nicht in ihrer in- sches Repräsentationssystem, szenierten Position, sondern welches auf der Klassifizierung, bringt die Darstellerin – in einer Unterwerfung und Objektifizie- Geste sanfter (und transforma- Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostill), 2017 rung von Menschen beruht, und tiver) Fürsorge – zurück in eine ist somit ein Symbol für unglei- Ruheposition. che Beziehungen und Macht- gefälle. Durch die Intervention der Künstlerin, die als „Andere“ dargestellten Personen mit Farbflächen zu bedecken, beto- nen die vom Display hängenden Fotografien nun die Haltung des Ethnografen; ursprünglich war dieser neben den anderen Per- sonen als übertrieben groß ab- gebildet, doch jetzt zeigt seine autoritative Geste ins Leere. An der Wand neben der Metall- struktur hängt ein ausgeschnit- tenes, mit Gelenken versehenes fotografisches Porträt von Ella Williams, einer afroamerika- nischen Darstellerin, die als
38 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 39 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen UNEARTHING. IN CONVERSATION, 2017 Videoprojektion, Farbe und Ton, 16:9, 13 min In der Videoprojektion Unearth in der ersten Zeile des Videos: ing. In Conversation (2017) tritt „Dies ist in Erinnerung an alle, Belinda Kazeem-Kamiński auf die noch kommen werden.“ Der einer Bühne vor einem leeren Blick in die Vergangenheit er- Saal auf. An einem Tisch sitzend möglicht es, nach einer anderen nimmt sie einige Fotos aus Zukunft Ausschau zu halten und Kartonschachteln heraus. Es von einer anderen Gegenwart handelt sich um Porträts vom zu träumen. Und zwar von einer Anfang des 20. Jahrhunderts, Gegenwart, welche im positi- welche den österreichisch- ven Sinne von den Fehlern ihrer tschechischen Ethnografen, Vergangenheit „heimgesucht“ Missionar, Autor und Pädagogen wurde und dadurch in der Lage Paul Schebesta abbilden, wäh- ist, sich auf eine Zukunft vorzu- rend er mit Menschen aus dem bereiten, die von dem Trauma damaligen belgischen Kongo befreit ist, ständig als „Andere“ (der heutigen Demokratischen konstruiert werden. In dem Werk Republik Kongo) posiert. Die Bil- geht es darum, künstlerische der sind jedoch nicht in ihrer ur- und diskursive Methoden zu fin- sprünglichen Form zu sehen: die den und Strategien der Reprä- Künstlerin hat verschiedenste sentation sowie Strukturen des visuelle Strategien angewandt, Sehens neu zu konfigurieren, Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostill), 2017 um die Gewalt der Bilder zu um- um sie von der ihnen inhärenten gehen und den voyeuristischen Gewalt loszulösen. Blick zu verhindern. Während sie die Fotos bewegt, spricht Unearthing. In Conversation die Künstlerin mit den abgebil- wurde auf österreichischen deten Menschen und versucht, sowie internationalen Festivals über den rassistischen Filter vorgeführt, u.a. bei: Diagona- des kolonialen Archivs hinaus zu le in Graz; International Film kommunizieren. Sie wendet sich Festival in Rotterdam, Nieder- auch an uns – das abwesende landen; Vancouver Film Festival, Publikum, dessen Blick ebenso Kanada; European Media Art niemals unschuldig sein kann. Festival in Osnabrück, Deutsch- Belinda Kazeem-Kamiński hin- land; Africa in Motion Film terfragt gleich mehrere Facet- Festival in Glasgow, Vereinigtes ten des kolonialen Erbes, wie es Königreich. Der Film wird von eine dominierende Geschichts- sixpackfilm vertrieben und ist schreibung geschaffen und Teil der Sammlung des mumok – einen voyeuristischen Blick er- Museum moderner Kunst Stif- zeugt hat. So sagt die Künstlerin tung Ludwig Wien. Siehe auch die Werkbeschreibung von Schebestas Schatten, 2017/2021, S. 14–15.
40 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 41 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen Belinda Kazeem-Kamiński, Unearthing. In Conversation (Videostills), 2017
42 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen 43 Belinda Kazeem-Kamiński Werkbeschreibungen YAARBORLEY DOMEÏS BRIEF, aus dem Projekt VOIDS, 2021 Künstlerischer Beitrag in der Tageszeitung Der Standard Am 18. Oktober 1896 wurde ein Begriffe jemals zu verwenden, offener Brief von Yaarborley und erkennt somit intersektio- Domeï an die Wiener Bevölke- nale, also sich überschneidende, rung in der Zeitschrift Wiener gleichzeitig auftretende Formen Caricaturen veröffentlicht. der Diskriminierung, bevor diese Zusammen mit anderen Men- als soziales Phänomen aner- schen aus der damals von den kannt wurden. Der Brief thema- europäischen Kolonialmächten tisiert nicht nur das, was ihr an- als Goldküste bezeichneten Re- getan wurde. Yaarborley Domeï gion, dem heutigen Ghana, war betont ihre eigene Auslegung Yaarborley Domeï nach Europa des Verhaltens der Besucher*in- gebracht worden, um alltägliche nen sowie ihren Stolz, diesem Aktivitäten, aber auch eingeübte Verhalten Widerstand leisten Gesten in Ausstellungsgeländen zu können, und fordert, nach auszuführen, die von Rassis- Hause nach Accra zurückzu- mus, Exotismus und Voyeuris- kehren. Yaarborley Domeï hebt mus lebten. Die westliche Welt besonders ihre Handlungsfähig- organisierte solche kolonialen keit und ihren Willen hervor, sich Ausstellungen ab der Mitte des auf jede erdenkliche Weise zu Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019 19. bis zur Mitte des 20. Jahr- wehren, beispielsweise durch hunderts. Ausstellungen wie das Kratzen von Besucher*in- diese festigten die Praxis des nen, die ihr zu nahe kamen. Der Othering (der Konstruktion des Brief wurde auf Ga verfasst, von Anderen), durch die die kolonia- ihrem Ehemann Kwaku Domeï, le Expansion aufrechterhalten der auch die Gruppe der Asante- wurde und die damit verbunde- Darsteller*innen leitete, ins ne Ausbeutung bis heute fort- Englische übersetzt und letzt- geschrieben wird. endlich von der Redaktion der Wiener Caricaturen ins Deut- entschied sich die Künstlerin, deshalb als spekulatives Objekt, In ihrem Brief beschreibt Yaar- sche übertragen. Yaarborley Domeïs Brief aus das sie noch mehr entfremdet, borley Domeï die Umstände der dem sogenannten deutschen indem sie den gesamten Über- Ausstellung und wie sie und an- Für diese Arbeit veröffentlicht „Original“ in Ga rückzuüberset- setzungsprozess in der umge- dere Darsteller*innen von dem Belinda Kazeem-Kamiński den zen – eigentlich eine Überset- kehrten Richtung angeht: vom Publikum behandelt und an- Brief von Yaarborley Domeï zung einer Übersetzung. Deutschen ins Englische und gestarrt wurden, wie mit ihnen erneut in einer Tageszeitung. dann wieder zurück in Ga. Am interagiert wurde. Ihre Erzäh- Einige Auszüge aus Domeïs Die Künstlerin ist sich der Un- Ende steht eine Übersetzung lung thematisiert die Gewalt der Brief erscheinen auch in Be- zuverlässigkeit der deutschen einer Übersetzung einer Über- Blicke und des Verhaltens von- linda Kazeem-Kamińskis Werk Fassung als historisches Doku- setzung einer Übersetzung. seiten des Publikums. Sie deutet The Letter (2019), welches ment bewusst und behandelt sie auf präzise Weise auf Rassismus dieses Werk inspiriert und ihm und Sexismus hin, ohne diese seinen Titel verliehen hat. Hier Siehe auch die Werkbeschreibung von The Letter, 2019, auf S. 18–19.
44 Belinda Kazeem-Kamiński Interview 45 Belinda Kazeem-Kamiński Interview INTERVIEW: dieser Zeit in Berlin lebte; und dem bereits genannten Frantz Belinda Fanon, einem Psychiater und Philosophen aus Martinique.1 Dabei gehe ich der Frage nach, was sie in einem Gespräch über den weißen Blick zueinander gesagt hätten, da alle drei Kazeem-Kamiński sich sehr klar über die Funktion dieses Blicks äußerten. Das Schreiben dieses Kapitels, wie auch meine Arbeit mit Archiv- material, basiert auf meinem Interesse, skopische Regime im Gespräch auseinanderzunehmen, zu analysieren und offenzulegen. Es geht nicht um den Blick an sich. Es geht um die Art, wie die Handlung des Schauens mit Wissensproduktion verbunden mit Anne und zu einem mächtigen und gewaltvollen Mittel der Klas- sifizierung wird. Skopische Regime sind strukturell einge- bettet, und doch werden sie unsichtbar gemacht und in der Faucheret Folge normalisiert. Anhand meiner Orchestrierung des Blicks als Strategie, das unsichtbar Gemachte zu zeigen, lässt sich erfassen, wie ich arbeite. Das wird in vielen meiner Arbei- ten deutlich; ich denke da an In Remembrance to the Man Who Became Known as Angelo Soliman, (Ante Mortem) I & Du arbeitest vorwiegend mit Material aus Archiven und Museen, (Post Mortem) II (2015), oder You are awaited, but never as ob Fotografien, Objekte oder Schriftstücke, die als Ausgangs- equals (2021). punkt deiner künstlerischen Forschung dienen. Um es zum Einstieg ganz allgemein zu fassen: Deine Praxis besteht im Finden visueller, auditiver und performativer Strategien, mit Deine Kunstwerke widersetzen sich der Fixierung und Monu- denen du die Auslöschung von Erinnerungen in der dominanten mentalität, sie beziehen Freiräume und Lücken ein und sind of- Geschichtsschreibung, das Fortdauern von Versklavung und Ko- fen dafür, ständig weiterentwickelt, neu gelesen und umgestal- lonialismus in heutigen sozialen Strukturen und den in Blickregi- tet zu werden. Sie liefern kritische Inhalte und öffnen zugleich men eingeschriebenen Rassismus angehst und ihnen entgegen- Räume für das Unbekannte, anstatt einen pädagogischen oder trittst. Kannst du etwas zu deiner Arbeit mit dem Blick sagen? didaktischen Weg einzuschlagen. Könntest du diesen Ansatz der Offenheit und den fortwährenden Prozess der Überarbei- Ich sehe mich als eine Person, die schon in früher Jugend tung erläutern? Beobachterin war. Ich bin nicht die einzige Schwarze Künst- lerin und Autorin, die darauf hinweist, dass es zwischen dem Deine Formulierung gefällt mir. So habe ich es eigentlich Umstand, zum Objekt des weißen Blicks gemacht zu werden, noch nie gesehen – dass ich mich in einem fortwährenden und dem aus der Beobachtung skopischer Regime gewon- Prozess der Überarbeitung befinde –, aber es ist total stim- nenen Wissen eine Verbindung gibt. Michele Wallace, Frantz mig. Ich habe schon erwähnt, dass das Schreiben meiner Fanon, James Baldwin, May Ayim und viele andere sind hier Dissertation auch eine Art der Wiederbegegnung mit meinen zu nennen. In meiner Dissertation – auf die ich in diesem früheren Arbeiten war, besonders mit den Filmen Unearth- Gespräch wahrscheinlich noch öfter zurückkommen werde, ing. In Conversation (2017) und The Letter (2019). Jetzt, weil die Arbeit daran für den Prozess der Entwicklung und nach Abschluss der Arbeit an Fleshbacks (2021), den drei das Überdenken einiger in dieser Ausstellung versammel- filmischen Kommentaren zu The Letter, kann ich es kaum ter Kunstwerke prägend war – lade ich an einem gewissen erwarten, wieder zu schreiben. Viele Verbindungen – zu Ar- Punkt weitere Stimmen und Erfahrungen ein: nämlich von beiten anderer Künstler*innen, zu Texten und Geschichten –, Yaarborley Domeï, einer der westafrikanischen Performer*in- die ich nicht vorhergesehen hatte, haben sich aufgetan. Es nen, die 1896–1897 in Wien waren; Kwassi Bruce, einem macht mir Freude, wie meine Arbeiten mich immer wieder togolesisch-deutschen Musiker und Unternehmer, der zu überraschen.
46 Belinda Kazeem-Kamiński Interview 47 Belinda Kazeem-Kamiński Interview Meist beginne ich schreibend an einem neuen Projekt zu GESCHICHTE, die weiße Monologe bevorzugt. Was mich arbeiten. Dabei entsteht beispielsweise ein Text, in dem ich mehr interessiert, ist, Räume für das Unbekannte zu öffnen meinen Drang reflektiere, etwas Bestimmtes zu tun. Das und bei dem zu bleiben, was uns begegnet, wenn wir gerade kann ein genaues Konzept sein oder eine lose Sammlung von nicht versuchen, das Erfahrene unmittelbar zu verbalisieren Wörtern. Manchmal ist der Text schon das Werk, aber oft und festzunageln. setze ich das, was ich tun möchte, in einem anderen Medium um. Da ich am Ergebnis und am Prozess gleichermaßen inte- ressiert bin, verwende ich das Schreiben dazu, meine Ideen In deinen Arbeiten beschäftigst du dich nicht nur mit dieser nochmals Revue passieren zu lassen. Das führt manchmal Welt, sondern schaffst auch Bedingungen für andere mögliche zur Eröffnung eines weiteren Überarbeitungsdurchgangs. Welten. Deine Praxis ist ein vielschichtiges Gespräch und auch Dann gehe ich zu meinem Werk, zum Beispiel einer Collage, ein polyphones Narrativ – ein „kritisches Fabulieren“, wie es die zurück und mache es neu. Ich bringe kleine Veränderungen Kulturtheoretikerin Saidiya Hartman nennt. Was bedeutet für an oder verwerfe es komplett und fange von vorne an. So dich die Praxis des kritischen Fabulierens? mache ich endlos weiter, wenn die jeweilige Arbeit das ver- langt. Zwischen den Überarbeitungsdurchgängen liegen viel- Inzwischen ist wohl klar geworden, dass Schreiben ein leicht Wochen, Monate oder sogar Jahre. Manche Arbeiten grundlegender Teil meiner Praxis ist. Ich betrachte das rufen nach Neubearbeitung; sie wollen aktualisiert werden. Schreiben als mein zentrales Medium. Daraus entspringen Und ich bin offen dafür, mich dabei im Kreis zu bewegen mein Denken und meine Bedeutungskonstruktion sowie und auf neuerliche Aktualisierungen einzulassen. Zu Beginn die Prozesse der Vorstellung und des Wiederaufgreifens. meiner Befassung mit Avery Gordons Begriff „haunting“ für Saidiya Hartman präsentiert kritisches Fabulieren als die Art und Weise, wie gewaltvolle Vergangenheiten sich bemerkbar machen, stand ich stark unter dem Eindruck vom Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019 Bild des Gespensts.2 Aber beim Schreiben meiner Disserta- tion und erneuten Nachdenken über Unearthing. In Conver- sation verstand ich, dass es mir den Blick auf wesentliche Einsichten versperrt hatte, mir jene, die vor uns da waren, als Gespenster vorzustellen. Ein paar Wochen darauf stieß ich über eine kleine Fußnote in einem Text von Nicola Lauré al-Samarai auf den Begriff „Heim-Suchung“.3 Heim-Suchung ist eine deutsche Übersetzung von „haunting“, darin steckt jedoch auch „nach einem Zuhause suchen“, was ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Zwischen „haunting“ und dem Ent- decken von Heim-Suchung lagen Jahre der Überarbeitung und aktive, aber auch unbewusste Denkprozesse während der Befassung mit anderen Projekten. Da sich meine Praxis in dieser Richtung entwickelt hat, habe ich auch gelernt, mich mit der Tatsache anzufreunden, dass ich nichts je vollständig weiß; was ich zu wissen glaube, ist immer nur eine Momentaufnahme. Außerdem erinnere ich mich immer wieder daran, dass der Wille, etwas zu wissen, sehr stark mit einem Wunsch nach Kontrolle verbunden ist, und meist auch mit dem Wunsch nach Eroberung. Ich bin nicht daran interessiert, in Sicherheiten zu investieren. Allzu oft sind sie nur Dichotomien in anderem Gewand oder lineare
48 Belinda Kazeem-Kamiński Interview 49 Belinda Kazeem-Kamiński Interview Schreibstrategie und -praxis, die eng mit Schwarzer diaspo- rischer Erfahrung verbunden ist. Es ist eine Gegenstrate- gie, um das zu konfrontieren, was uns ein auf Genozid und Enteignung aufgebautes Archiv zu sagen erlaubt, wenn wir der Täuschung glauben wollen, dass wir uns an das halten müssen, was dort dokumentiert ist.4 Ich betone das an die- ser Stelle, weil der Kontext des Genozids allzu oft übersehen wird, wodurch es zur wiederholten Unsichtbarmachung und zu starken Vereinfachung eines an sich komplexen Gebiets kommt, was schlussendlich zur Aufrechterhaltung systemi- scher Gewalt führt. In meiner Praxis interessiere ich mich sehr für das, was viele, und früher auch ich, als die Lücken des Archivs sehen. Aber ich habe inzwischen festgestellt, dass diese Lücken nicht unbedingt leer sind; denn eigentlich schaffen sie Möglichkeiten. Rückblickend würde ich sagen, dass ich schon eine ganze Weile kritisches Fabulieren praktiziere, ohne dass ich ein Wort oder eine Bezeichnung für meine Art des Schreibens hatte. Der Text „I am many“, den ich 2012 für den von Jo Schmeiser herausgegebenen Band Con- Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Videostill), 2019 zepte: Neue Fassungen politischen Denkens geschrieben hatte, war mein erster Versuch in dieser Richtung.5 Dieser Text hat sich als sehr wichtig für das Verstehen meiner Zu Beginn sah ich meine Arbeit hauptsächlich im Rahmen Praxis herausgestellt. Ich denke etwa an Methoden der von Erinnerungspolitik und Repräsentationskritik, aber nach Schichtung, der kreisenden Bewegungen, des Hereinholens dem Verfassen von Unearthing. In Conversation, den Live- von anderen in meine Arbeit. Performances und dem geistigen Ankommen beim letzten Wort, haunting, kam etwas in Bewegung. Am Ende bleibt für mich, in Avery Gordons Worten, das unlösbare Dilemma Das Einbeziehen von anderen in deine Arbeit bedeutet nicht – „haunting as a something-to-be-done“ (Heimsuchung nur, von anderen begleitet zu werden und ihren Stimmen und zeigt, dass etwas zu tun ist) – und es gibt nichts anderes Gedanken zuzuhören, nicht nur, ihren Geschichten gegenüber zu tun, als dieser Heimsuchung zu folgen.6 Jedenfalls habe aufmerksam zu sein, sondern auch das Eintreten in einen Raum ich das aus diesem Prozess mitgenommen. Die Dialoge, auf der gegenseitigen Fürsorge und des gemeinsamen Handelns. die ich mich in der Performance und später im Film einließ, Die Kulturwissenschaftlerin und Black-Studies-Theoretikerin basierten auf dieser Idee des „haunting as a something-to- Christina Sharpe sieht „Wake Work“ als affektive und ästheti- be-done“. Sie führten gewissermaßen zu neuerlicher Akti- sche Arbeit im Versuch, „in the wake“, also den Nachwirkungen, vierung. Ich erkannte, dass es neben der Kritik auch Affekte von Versklavung, Gewalt und Enteignung zu leben. Laut Sharpe gab, die mich zu bestimmten Entscheidungen führten, und ist das affektive Register (das heißt, ein Register des Lesens vor allem, dass die Arbeit nicht nur von mir durchgeführt und Wahrnehmens über einen gegebenen Rahmen hinaus) not- wurde und wird; ich schreibe zwar das Drehbuch und schaffe wendig, um die Grundlage einer besseren Geschichte, besserer den Raum, aber wenn ich tatsächlich in Dialog trete, gibt es Gegenwarten, besserer Zukünfte zu schaffen, anders gesagt: Momente, über die ich keine Kontrolle habe. Ich denke, dass für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Sorge zu tragen. ich dadurch langsam zu einer Perspektive auf meine Arbeit Wie beziehst du dich auf die Begriffe „Wake Work“ und „Black als anzestrale und gemeinschaftliche Praxis kam. Eine Praxis, Care“ in deiner künstlerischen Praxis? in der es stark um das Schaffen von Raum und Zeit geht, um
Sie können auch lesen