BERTINI-PREIS 2017 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - epub @ SUB HH
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DER BERTINI-PREIS Hinschauen, wenn andere wegsehen. Sich einmischen, wenn andere schweigen. Erinnern, wenn andere vergessen. Eingreifen, wenn andere sich wegdrehen. Unbequem sein, wenn andere sich anpassen. IMPRESSUM Herausgeber BERTINI-Preis e.V. Redaktion Ulrike Esterer, Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf Texte Ann-Britt Petersen, Hans-Juergen Fink, Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf Gestaltung Carsten Thun Fotos Carsten Thun, ZDF/ Renate Schäfer Druck Druckerei in St. Pauli Anschrift Behörde für Schule und Berufsbildung, Hamburger Straße 31, 22083 Hamburg andreas.kuschnereit@bsb.hamburg.de © Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion www.bertini-preis.de
EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, Am 20. März 2018, dem 95. Geburtstag von Ralph Giordano, veranstaltete das Ernst Deutsch am 27. Januar 2018 erhielten 94 junge Menschen Theater in Kooperation mit dem BERTINI- den BERTINI-Preis. Es war die 20. Preisverlei- PREIS e.V. zum zweiten Mal eine Lesung zu dem hung. Olaf Scholz, noch als Erster Bürgermeister Hörbuch »Die Bertinis« (S. 24). Die ausgewähl- der Freien und Hansestadt Hamburg, hob in sei- ten Szenen vermittelten dem überwiegend jun- ner Festrede hervor, BERTINI-Preisträger hätten gen Publikum, wie sich Diskriminierung, Rassis- »den Blick auf Hamburg erweitert und ihn teil- mus und Völkerhass im Dritten Reich angefühlt weise korrigiert«. haben könnten. Einen eindrucksvollen Beleg dafür bieten die Zu Ehren Ralph Giordanos wurde am fünf mit dem BERTINI-Preis 2017 ausgezeichne- 14. November 2017 der in unmittelbarer Nähe ten Projekte, über die auf den folgenden Seiten zum Barmbeker Bahnhof vor den Gebäuden berichtet wird. Sie widmen sich der Spurensuche, Fuhlsbüttler Straße 92-106 gelegene Platz als machen vergangenes Unrecht filmisch, als Thea- »Piazzetta-Ralph-Giordano« eingeweiht. Der terstück oder mit szenischen Lesungen öffentlich 1923 in Barmbek geborene Ralph Giordano und fordern zur Auseinandersetzung mit der hat bis zum Sommer 1934 nur wenige hundert Gewalt von Menschen gegen Menschen in der Meter von diesem Platz entfernt gelebt. Bei der Geschichte dieser Stadt auf. Sie laden ein zum feierlichen Einweihung betonte Kultursenator Dialog über Rassismus, Radikalisierung, Gleich- Dr. Carsten Brosda: »Es ist uns eine Ehre, mit berechtigung und Identität von jungen Menschen der Piazzetta-Ralph-Giordano im Herzen Barm- und sie rufen unter dem Motto »Wir sind alle beks einen Ort zu schaffen, der künftig an diesen Menschen auf derselben Welt« musikalisch per großen Demokraten und Hamburger erinnern Videoclip gegen Vorurteile und Ausgrenzung auf. wird« (S. 27). Hinter den preisgekrönten Schülerprojekten Ein Querschnitt dessen, wofür und an wen der stehen oftmals passionierte Lehrkräfte, die ihre BERTINI-Preis seit 1999 vergeben worden ist, Schülerinnen und Schüler inspirieren, motivie- findet sich auf den Seiten 28 bis 31. Die Bei- ren und über den Unterricht hinaus unterstüt- spiele spiegeln das breite Spektrum der Initia- zen. Vier von ihnen, die insgesamt 19 mit dem tiven und Projekte wider, mit denen sich junge BERTINI-Preis ausgezeichnete Projekte betreut Hamburgerinnen und Hamburger gegen das Ver- haben, wurden im Rahmen der Jubiläumsveran- gessen, gegen Gewalt, für ein gleichberechtigtes staltung für ihr außergewöhnliches Engagement Miteinander eingesetzt haben. gewürdigt (S. 20). Das Forum, das der BERTINI-Preis e.V. ihnen Vor vier Jahren startete der BERTINI-Preis e.V. dafür bietet, wäre ohne das Engagement sei- die Aktion »Mut im Netz«. Und zum vierten Mal ner Förderer nicht denkbar. 29 Förderer sind es gestalteten Schülerinnen und Schüler des Profil- heute. Wer mit welchen Beweggründen die all- kurses »Mediengesellschaft« am Kurt-Körber- jährliche Verleihung möglich macht, ist auf den Gymnasium im Juni 2018 einen »BERTINI-Tag«, Seiten 34 bis 37 nachzulesen. diesmal unter der Fragestellung: »Die ‚verlore- Der BERTINI-Preis findet seine Fortset- ne‘ Generation – lassen wir uns wirklich vom zung mit der Ausschreibung für das Jahr 2018 Netz manipulieren?«, erstmalig in Kooperation (S. 38). Wir freuen uns darauf, im Rahmen der mit der Stadtteilschule Öjendorf (S. 22). 21. Verleihung des BERTINI-Preises am 27. Ja- Sechs Bewerbungen um den BERTINI-Preis nuar 2019 im Ernst Deutsch Theater junge Men- 2017, die im Rahmen der langjährigen Koope- schen auf der Bühne begrüßen zu dürfen, die die rationspartnerschaft an den bundesweiten Wett- Botschaft, die der Preis sendet, aufgegriffen und bewerb »Demokratisch Handeln« weitergeleitet die Idee, für die er steht, weitergetragen haben: worden waren, wurden von der Jury zur »Lern- »Lasst Euch nicht einschüchtern!« statt Demokratie« eingeladen, die vom 12. bis 15. Juni 2018 in Hamburg stattfand (S. 23). Ihr Redaktionsteam 3
DIE PREISTRÄGER 2017 DIE GESCHICHTE VON WALTER JUNGLEIB Seite 10 Ein Film über eines der Kinder vom Bullenhuser Damm von Merle Lutz und Stela Vitalosova ERINNERUNG AN DAS SCHICKSAL RUSSISCHER KRIEGSGEFANGENER UND ZWANGSARBEITER IN BERGEDORF Seite 12 Ein Projekt von elf Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 8 bis 10 der Stadtteilschule Bergedorf HUMANITY RAP Ein Musikvideo von 56 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Kaiser-Friedrich-Ufer, der Grundschule Seite 14 Rothestraße, der Stadtteilschule Winterhude und der Nelson-Mandela-Schule für ein gleichberechtigtes Miteinander GIRA – GESPRÄCHSRUNDE FÜR INTERRELIGIÖSEN AUSTAUSCH Seite 16 Eine Initiative von vier Schülerinnen und Schülern des Helmut-Schmidt-Gymnasiums REICHSAUSSCHUSSKINDER Seite 18 Ein Theaterprojekt von 17 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Klosterschule 4
INHALT 03 EDITORIAL 04 INHALT 06 VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES 2017 94 Schülerinnen und Schüler wurden für ihr außergewöhnliches Engagement geehrt. AUSGEZEICHNET: 10 DIE GESCHICHTE VON WALTER JUNGLEIB 12 ERINNERUNG AN DAS SCHICKSAL RUSSISCHER KRIEGSGEFANGENER UND ZWANGSARBEITER IN BERGEDORF 14 HUMANITY RAP 16 GIRA – GESPRÄCHSRUNDE FÜR INTERRELIGIÖSEN AUSTAUSCH 18 REICHSAUSSCHUSSKINDER 20 VIER LEHRERINNEN UND LEHRER, DIE INSPIRIEREN, MOTIVIEREN UND UNTERSTÜTZEN 22 MUT IM NETZ: »BERTINI-TAG« AM KURT-KÖRBER-GYMNASIUM Zum vierten Mal veranstalteten Schülerinnen und Schüler einen Projekttag zu Gefahren und Risiken im Internet. 23 BEWÄHRTE KOOPERATION: DER BERTINI-PREIS UND DEMOKRATISCH HANDELN Sechs Bewerbungen um den Bertini-Preis 2017 wurden beim Bundeswettbewerb »Demokratisch Handeln« ausgezeichnet. 24 LESUNG IM ERNST DEUTSCH THEATER Lesung »Die Bertinis« für Schülerinnen und Schüler am Geburtstag von Ralph Giordano 26 DAS HÖRBUCH »DIE BERTINIS« Ralph Giordanos letztes Werk 27 DIE PIAZZETTA-RALPH-GIORDANO Am 14. November 2017 wurde die Piazzetta-Ralph-Giordano feierlich eingeweiht. 28 BERTINI-PREISTRÄGER MISCHEN SICH EIN Insgesamt 119 Gruppen und Einzelpersonen wurden bisher mit dem BERTINI-Preis ausgezeichnet: 19 Beispiele für Engagement und Zivilcourage, die Spuren hinterlassen haben. 32 DEN BERTINI-PREIS FÖRDERN 34 DIE FÖRDERER 38 AUSBLICK 5
VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES 20 JAHRE BERTINI-PREIS: ISABELLA VÉRTES SCHÜTTER BEGRÜSST DIE ÜBER 600 GÄSTE IM ERNST DEUTSCH THEATER ZUR 20. VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES, BEGLEITET VON DER GEBÄRDENDOLMETSCHERIN 2017 Die Intendantin und Vorsitzende des BERTINI- Preis e. V. Isabella Vértes-Schütter begrüßte die über 600 Gäste in »ihrem Haus«, dem Ernst Deutsch Theater. In ihrer Ansprache er- EIN RAP-SONG GEGEN AUSGRENZUNG UND FÜR innerte sie an Ralph Giordano: »Seine Hal- MEHR MENSCHLICHKEIT, EIN INTERRELIGIÖSER tung hat uns Orientierung gegeben und Mut GESPRÄCHSKREIS, EIN FILM SOWIE DOKUMENTATIO- gemacht. Er fehlt uns.« Überdies würdigte die NEN UND SZENISCHE LESUNGEN ÜBER DAS SCHICK- Intendantin den Pädagogen Michael Magun- SAL JÜDISCHER KINDER UND DAS UNRECHT AN na. Er hatte den Preis initiiert, nachdem er RUSSISCHEN ZWANGSARBEITERN WÄHREND DER NS- mit seinen damaligen Schülerinnen und Schü- ZEIT: DAS SIND DIE FÜNF INSPIRIERENDEN PROJEKTE lern den Spuren der Bertinis nachgegangen HAMBURGER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER, DIE VON war. DER JURY FÜR DIE AUSZEICHNUNG MIT DEM BERTINI- PREIS AUSGEWÄHLT WURDEN. IM RAHMEN DES Welchen Stellenwert der BERTINI-Preis für INZWISCHEN TRADITIONELLEN FESTAKTES IM ERNST die Stadt Hamburg in den zwanzig Jahren DEUTSCH THEATER ERHIELTEN DIE ENGAGIERTEN seines Bestehens gewonnen hat, hob auch JUGENDLICHEN AM 27. JANUAR 2018 DEN BERTINI- der im Januar noch amtierende Erste Bür- PREIS 2017, DER ZUM 20. MAL VERLIEHEN WURDE. germeister der Freien und Hansestadt Ham- 6 burg Olaf Scholz in seiner Festrede hervor.
Die BERTINI-Preisträger hätten »den Blick auf Hamburg erweitert und ihn teilweise kor- rigiert«, sagte er. Denn sie hätten Biografien und Stadtgeschichte recherchiert und Erinne- rungen von Zeitzeugen dokumentiert. Sie sei- en »gegen alte und neue Formen des Rechts- radikalismus aufgestanden«. Er betonte, dass gerade an diesem Tag, an dem die Rote Armee vor 73 Jahren das Konzentrationslager Ausch- witz befreit habe, die Menschheitsverbrechen unter den Nationalsozialisten nicht vergessen werden dürften. »Unsere Verantwortung für Auschwitz bleibt. Jede Generation muss sich VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN: HAMBURGS ERSTER BÜRGERMEISTER ihr stellen.« Und auf die Zukunft bezogen füg- OLAF SCHOLZ BETONT IN SEINER JUBILÄUMSANSPRACHE, DASS DER BERTINI- te Scholz hinzu: Man müsse sich damit ausein- PREIS DEN BLICK AUF HAMBURG ERWEITERT HABE. andersetzen, wie die NS-Vergangenheit einer In einem berührenden Film erinnerten die Einwanderungsgesellschaft vermittelt werden Schülerinnen Merle Lutz und Stela Vitalosova könne. Wer zu uns komme und hier bleibe, an das Schicksal des zwölfjährigen Walter müsse sich mit der besonderen deutschen Jungleib, der zu den ermordeten Kindern vom Geschichte auseinandersetzen. »Das gehört Bullenhuser Damm gehörte. »Ein Film von dazu, wenn man dazugehört«, so Scholz. schlichter, schnörkelloser Klarheit und gerade deshalb so beeindruckend«, begründete Insa Dass viele der jungen Preisträgerinnen und Gall, Lokalchefin vom Hamburger Abend- Preisträger, die zum Teil aus Migrationsfami- blatt, in ihrer Laudatio das Votum der Jury. lien kommen, dieses Gebot bereits umgesetzt haben, wurde im zweiten Teil der Veranstal- Elf Schülerinnen und Schüler der Stadtteil- tung deutlich, der engagiert und zugewandt schule Bergedorf waren den Spuren ehemaliger von NDR-Moderatorin Julia-Niharika Sen russischer Kriegsgefangener nachgegangen, an moderiert wurde. In kurzen Einspielfilmen die mehr als 600 Gedenksteine auf dem Rus- der NDR-Mitarbeiter Christian Becker und sischen Ehrenfriedhof in Bergedorf erinnern. Christian Mangels wurden die Projekte prä- Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbei- gnant vorgestellt. Anschließend bat die Mo- ter mussten im damaligen KZ Neuengam- deratorin die Preisträgergruppen und ihre me oder in Bergedorfer Betrieben Schwerst- Laudatoren auf die Bühne. arbeit leisten, viele starben entkräftet. 7
01 DAS SCHICKSAL VON WALTER JUNGLEIB 02 ERINNERUNG AN DAS SCHICKSAL 03 HUMANITY RAP Ein Film über eines der Kinder vom Bullenhuser Damm RUSSISCHER KRIEGSGEFANGENER IN Ein Musikvideo für ein von Merle Lutz und Stela Vitalosova BERGEDORF Ein Projekt von elf Schülerinnen und gleichberechtigtes Mit- PATIN: Insa Gall Schülern der Stadtteilschule Bergedorf einander von Schülerinnen PATIN: Isa Lübbers und Schülern aus drei Hamburger Schulen PATIN: Heidi Melis »Das Projektteam wollte das Vergessen auf- halten«, resümierte Laudatorin Isa Lübbers, Pröbstin im Kirchenkreis Hamburg-Ost. Die Jugendlichen sprachen mit Zeitzeu- gen, wandten sich an Betriebe, die damals von der Hamburger Volksbank die Preisträge- Zwangsarbeiter beschäftigten, und unter- rinnen und Preisträger, die ihren Beitrag ge- suchten die Rolle der Kirche in jener Zeit. textet, choreografiert und produziert hatten. Isa Lübbers: »Diese Art der Aneignung von Schicksalen hat etwas in euch verändert. Und Sind Freundschaften über kulturelle Grenzen ihr habt es nicht für euch behalten, sondern hinweg möglich? Diese Frage war für vier Ab- anderen in szenischen Lesungen in Erinne- solventen des Helmut-Schmidt-Gymnasiums rung gebracht.« in Wilhelmsburg Motivation genug, die inter- religiöse Gesprächsrunde GIRA ins Leben zu 30 Siebtklässlerinnen und Siebtklässler des rufen – mit Lehrkräften, Schülerinnen und Gymnasiums Kaiser-Friedrich-Ufer konzi- Schülern sowie interessierten Freundinnen pierten zusammen mit Kindern einer Inter- und Freunden, die sich einmal im Monat tref- nationalen Vorbereitungsklasse und einer fen. Dies sei ein Forum, auf dem »alle alles syrischen Flüchtlingsfamilie ein mitreißendes sagen dürfen«, hob Laudatorin Dr. Sabine Musikvideo gegen Vorurteile und Ausgren- Bamberger-Stemmann, Leiterin der Landes- zung. »Musik baut Brücken. Der ,Humanity zentrale für politische Bildung, hervor. Hier Rap‘ der Kinder und Jugendlichen zwischen fühle sich niemand beleidigt und niemand sechs und 19 Jahren transportiert diese Bot- könne einen anderen verletzen. Man disku- 8 schaft sehr eindrucksvoll«, lobte Heidi Melis tiere auf Augenhöhe.
04 GIRA – GESPRÄCHSRUNDE FÜR 05 REICHSAUSSCHUSSKINDER INTERRELIGIÖSEN AUSTAUSCH Ein Theaterprojekt von 17 Schülerinnen Eine Initiative von ehemaligen Abiturientinnen und und Schülern des Gymnasiums Klosterschule Abiturienten des Helmut-Schmidt-Gymnasiums PATE: Ulrich Mumm PATIN: Dr. Sabine Bamberger-Stemmann Pate Ulrich Mumm von der BürgerStiftung Sabine Hansen und Klaus Möller haben ins- Hamburg ehrte schließlich das Theaterprojekt gesamt 19 Projekte begleitet, die später mit »Reichsausschusskinder«, in dessen Rahmen dem BERTINI-Preis ausgezeichnet wurden. 17 Schülerinnen und Schüler des Gymnasi- Spontan präsentierten die Siebt-klässlerinnen ums Klosterschule die Morde an behinderten und Siebtklässler des Gymnasiums Kaiser- Kindern durch NS-Ärzte in den Fokus genom- Friedrich-Ufer auf Wunsch des Publikums den men hatten. Ulrich Mumm führte aus: »Die mitreißenden Refrain ihres »Humanity Raps« Jugendlichen haben sich intensiv mit den his- auf Deutsch und Arabisch – ein überzeugen- torischen Tatsachen, den Abläufen und einzel- des Symbol des Miteinanders und konkret nen Personen beschäftigt.« In eindringlichen gelebter Völkerverständigung. Szenen habe der Theaterkurs die Zuschauer erreicht und erschüttert. »Dieses großartige Den musikalischen Rahmen der 20. Preis- Projekt enthält auch einen ethischen Impuls verleihung gestaltete die fünfköpfige Band für uns und wirft aktuelle Fragen auf. Auch »BIAS JAM« mit Marissa Cihan (Vocals), deswegen ist es so überzeugend.« Birk Reimann (Bass & Backing-Vocals), Geehrt wurden bei diesem 20-jährigen Jubilä- Daniel Kröger (Keyboards & Backing-Vo- um auch vier Lehrkräfte, die BERTINI-Preis- cals), Felix Oppermann (Guitar) und Jacob träger bei der Durchführung ihrer Projekte Wagener (Drums). unterstützt hatten: Olaf Bublay, Cläre Bordes, 9
DIE KINDER VOM BULLENHUSER DAMM – DIE GESCHICHTE VON WALTER JUNGLEIB Die beiden Schülerinnen Merle Lutz (15) vom Gymnasium Klosterschule und Stela Vitalosova (16) vom Gymnasium Süderelbe produzierten während der Sommerferien einen Kurzfilm über das Leben von Walter Jungleib. Er war eines von 20 Kindern, die 1945 kurz vor Kriegende im Schulgebäude am Bullenhuser Damm von den Nazis ermordet wurden. IN EUREM VIERMINÜTIGEN FILM ERZÄHLT IHR DIE Frankreich, Italien, Holland und ein Junge GESCHICHTE EINES JUNGEN, DER MIT 19 WEITEREN aus der Slowakei. Das war Walter Jungleib. KINDERN 1945 AM BULLENHUSER DAMM VON DEN Ich stamme selber aus der Slowakei, deshalb NAZIS ERMORDET WURDE. WIE SEID IHR AUF DIESES hat mich das Schicksal des Jungen besonders THEMA GESTOSSEN? interessiert. Ein weiterer Grund war, dass sei- Merle: Ich interessiere mich sehr für Geschich- ne Schwester, die die Deportation und den te und hatte in einer Ausstellung in unserer Krieg überlebt hat, heute in Israel lebt und Schule, dem Gymnasium Klosterschule, schon erst vor zwei Jahren erfahren hat, dass ihr etwas über die Ermordung der Kinder am Bul- Bruder in der Schule am Bullenhuser Damm lenhuser Damm erfahren. Um die medizini- ermordet worden ist. Das ging uns sehr nahe. schen Versuche an ihnen zu vertuschen, hatten die Nazis sie 1945 im Schulgebäude am Bul- WELCHE INFORMATIONEN HABT IHR ÜBER WALTER lenhuser Damm erhängt. Über dieses Thema JUNGLEIB ZUSAMMENGETRAGEN? wollte ich mehr wissen. In den Ferien nahm ich Merle: Walter Jungleib lebte mit seiner zwei an einem Workshop zu einem Geschichtswett- Jahre älteren Schwester Grete und seinen El- bewerb von Hamburg Memory teil. Dort lernte tern in der Slowakei. Er wuchs im jüdischen ich in der Filmgruppe Stela kennen. Sie interes- Glauben auf. Als er zehn Jahre alt war, muss- sierte sich auch für die Geschichte der Kinder ten er und seine Familie vor den Nazis flie- vom Bullenhuser Damm und wir beschlossen, hen. Aber sie entkamen ihnen nicht. Sie wur- gemeinsam einen Film darüber zu drehen. den erst in ein Durchgangslager und dann ins KZ Auschwitz deportiert. Dort trennte man die Familie. Der Junge kam in das KZ Neu- engamme und wurde dort einer Gruppe von 20 Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren zugeteilt. An diesen Kindern machte ein Arzt medizinische Versuche, von denen die Kinder krank wurden. DEN ERSTEN TEIL DER GESCHICHTE ERZÄHLT IHR IN EUREM FILM IN DER ICH-FORM, WARUM? Stela: Alles, was Walter Jungleib erlebt hat, er- zählen wir aus seiner Sicht. Wir wollten unsere GEMEINSAM ERINNERN: MERLE UND STELA DREHTEN EINEN FILM ÜBER WALTER Zuschauer so direkt ansprechen. Der Bericht JUNGLEIB, EINES DER ERMORDETETN KINDER VOM BULLENHUSER DAMM. in der Ich-Perspektive endet mit der Beschrei- UND WARUM HABT IHR EUCH FÜR DEN ZWÖLFJÄHRI- bung, dass alle Kinder kurz vor Kriegsende in GEN WALTER JUNGLEIB ENTSCHIEDEN? den Keller des Schulgebäudes am Bullenhuser Stela: Bei der Recherche auf der Internetsei- Damm gebracht wurden. Dann wird ein Text te der »Vereinigung Kinder vom Bullenhuser eingeblendet, der darüber informiert, dass Damm« sind die Namen der 20 ermordeten die Kinder dort in der Nacht vom 20. auf den 10 Kinder aufgeführt. Sie kamen aus Polen, 21. April 1945 ermordet wurden. Wie es dann
weiterging, berichten wir im zweiten Teil des aufgenommen und dann zum Ton die passen- Films in der Erzähler-Perspektive, dort fas- den Bilder gestellt. Am kompliziertesten war sen wir verschiedene Fakten zusammen. Die das Aufnehmen und sich dabei voll zu kon- Mutter und die Schwester von Walter hatten zentrieren. Etwas länger hat auch das Schnei- den Holocaust überlebt und suchten nach den gedauert. Wir hatten vorher noch nie ei- dem Krieg nach Walter. Weil sie nichts über nen Film produziert, sondern das erst in dem ihn finden konnten, dachten sie, er sei auf Ferien-Workshop gelernt und angewendet. einem Todesmarsch ums Leben gekommen. Innerhalb einer Woche war er dann fertig. Wir Doch Bella Reichenbaum, deren Ehemann haben ihn bei dem Wettbewerb von Hamburg ebenfalls einen Bruder in dem Schulgebäude Memory eingereicht, wo wir in der Kategorie am Bullenhuser Damm verloren hatte, fand Film auch einen Preis gewonnen haben. einen Hinweis auf Walter und nahm mit sei- ner Schwester Kontakt auf. So erfuhr Grete, WAS IST EURE WICHTIGSTE BOTSCHAFT? was mit Walter tatsächlich geschehen war. Merle: Das Thema hat uns selbst sehr ange- sprochen, und ich finde es wichtig, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Es ist so grau- sam, was den Kindern passiert ist. Und dass sie so jung sterben mussten, nur weil sie aus dem Ausland stammten und eine andere Re- ligion hatten. Wir wollten zeigen, was damals passiert ist, damit mehr Menschen davon er- fahren. SPUREN NACHGEHEN: MERLE UND STELA RECHERCHIEREN IN DER GEDENKSTÄTTE AM BULLENHUSER DAMM HATTET IHR KONTAKT ZU IHR? Merle: Nicht direkt, aber sie hat unseren Film gesehen. Weil wir ja die Erlaubnis für die von uns verwendeten Bilder einholen mussten, hatten wir uns an die Vereinigung »Kinder vom Bullenhuser Damm e.V.« gewandt, denn WELCHE ERKENNTNISSE HABT IHR FÜR EUCH von dort stammen viele Fotos in unserem Film. AUS DIESEM PROJEKT MITGENOMMEN? Weil es so ein sensibles Thema ist, wollten sie Merle: Es ist schon erstaunlich, was man in- den Film gern Walters Schwester Grete Ham- nerhalb einer Woche alles schaffen kann. Als burg, die heute mit ihrer Familie in Tel Aviv der Film fertig war, war das ein gutes Gefühl. lebt, zeigen. Wir bekamen dann die Rückmel- Stela: Es hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, dung, dass sie sehr gerührt und mit dem Film sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. einverstanden war. Und der Verein war auch Und sich zu engagieren, besonders wenn Din- überzeugt von unserer Arbeit und schlug un- ge noch ungeklärt sind. ser Projekt für den BERTINI-Preis vor. Weitere Infos zum Thema: WWW.KINDER-VOM-BULLENHUSER-DAMM.DE WAS WAR DAS SCHWIERIGSTE Film: BEIM ERSTELLEN DES FILMS? WWW.HAMBURG-MEMORY.DE/FILM/2017-06/DIE- Stela: Wir haben erst den Text geschrieben, GESCHICHTE-VON-WALTER-JUNGLEIB/ ihn anschließend mit einem Audiorekorder 11
ERINNERN AN DIE SCHICKSALE RUSSISCHER ZWANGSARBEITER IN BERGEDORF 11 Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule Bergedorf gingen der Frage nach, wie Zwangsarbeiter während der NS-Zeit behandelt wurden. Sie erstellten eine Dokumentation und brachten das Thema in die Öffentlichkeit. ZWISCHEN 1939 UND 1945 LIESSEN DIE NATIONALSO- bewerb des Bundespräsidenten und der Ham- ZIALISTEN ALLEIN IM RAUM HAMBURG ETWA EINE burger Körber-Stiftung mit dem Thema »Gott HALBE MILLION KRIEGSGEFANGENE UND ZWANGS- und die Welt. Religion macht Geschichte«. Er ARBEITER UNTER UNMENSCHLICHEN BEDINGUN- gab den Jugendlichen den Impuls, ihre eigene GEN ARBEITEN. MENSCHEN AUS RUSSLAND, POLEN Forschungsfrage zu entwickeln. ODER FRANKREICH WAREN GRÖSSTENTEILS IM KZ Unter der Fragestellung: »Waren alle Zwangs- NEUENGAMME INTERNIERT UND MUSSTEN HIER WIE arbeiter und Kriegsgefangenen während des AUCH IN KLEINEN UND GROSSEN BETRIEBEN AU- 2. Weltkriegs in Bergedorf von Gott und der SSERHALB SCHWER ARBEITEN. VIELE KAMEN DABEI Welt verlassen?« suchten sie nach historischen UMS LEBEN, STARBEN INFOLGE VON ENTKRÄFTUNG Quellen und Zeitzeugen. Mit Unterstützung UND UNTERERNÄHRUNG ODER WEIL SIE VON DEN ihrer Tutorin, der ehemaligen Lehrerin Gerda NAZIS ERMORDET WURDEN. AUF DEM RUSSISCHEN Schmidt, und weiteren Helfern wie der Biblio- EHRENFRIEDHOF IN BERGEDORF ERINNERN HEUTE thekarin der Schulbibliothek Katrin Jürgens 652 GEDENKSTEINE AN RUSSISCHE SOLDATEN UND trugen sie Informationen aus Büchern und KRIEGSGEFANGENE. Zeitungsberichten zusammen und befragten Zeitzeugen. Sie informierten sich in der KZ- Elf Schülerinnen und Schüler der Jahrgangs- Gedenkstätte Neuengamme, insbesondere in stufen 8 bis 10 an der Stadtteilschule Berge- Gesprächen mit Pastor Hanno Billerbeck von dorf befassten sich in einer Geschichtswerk- der Gedenkstätte, und sie sprachen mit Pasto- statt intensiv mit den Schicksalen russischer rin Doris Spinger aus der Kirchengemeinde St. Zwangsarbeiter. »Wir hatten schon an dem Johannis in Neuengamme. Zudem konnten sie Projekt ‚Kriegskinder‘ des Volksbundes Deut- in der Gedenkstätte Neuengamme Sterbeur- kunden von Zwangsarbeitern einsehen. »Mit den Biografien von drei Zwangsarbeitern ha- ben wir uns intensiver beschäftigt«, erläutert Lucy Keil (16). Um Näheres über die Situation der Zwangs- arbeiter zu erfahren, kontaktierten die Schü- lerinnen und Schüler die heute noch existie- rende Firma Bentin, für die nachweislich 40 Zwangsarbeiter gearbeitet hatten, darunter auch die beiden an Unterernährung verstor- NACHFORSCHEN: MARLA MILLER GANZ LINKS MIT WEITEREN benen Männer. »Doch das Gespräch mit dem SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN ZU SEHEN. Geschäftsführer war nicht so ergiebig«, er- sche Kriegsgräberfürsorge e.V. teilgenommen zählt Lucy. Die Firma ist inzwischen verkauft und dafür Kontakte zu Zeitzeugen geknüpft«, worden, einen Kontakt zu dem früheren Be- berichtet Hannes Jungclaus (13). Eine weite- sitzer Emil Bentin wollte der Geschäftsführer re Motivation für die Spurensuche war der für nicht herstellen. Die Schülerinnen und Schü- 12 2016/17 ausgeschriebene 25. Geschichtswett- ler fühlten sich abgewimmelt. »Inzwischen
ist ein Brief von Julia Bentin, der Tochter des laut Totenschein an Herz-Kreislauf-Versagen. früheren Besitzers, eingetroffen, die unsere Die beiden anderen, die für das Betonwerk Recherche kritisiert, sich aber mit uns tref- Bentin in Lohbrügge gearbeitet hatten, star- fen will«, sagt Lucy. Die Schülerinnen und ben an Unterernährung. Schüler trafen andere Zeitzeugen, etwa An- gehörige aus kleineren Familienbetrieben, die In ihrer Dokumentation kommen die Schüle- Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. »Meist rinnen und Schüler u dem Ergebnis, dass die hatten sie dort bessere Arbeitsbedingungen, Zwangsarbeiter sich »von Gott und der Welt wurden besser mit Essen versorgt, manche so- verlassen« fühlen mussten. Nachdem sie ihre gar wie ein Familienmitglied aufgenommen«, Ergebnisse beim Wettbewerb eingereicht hat- berichtet Lara Jahncke (15). Aber auch dort ten und Hamburger Landessieger geworden wurde ihre Arbeitskraft ausgenutzt. waren, war ihre Arbeit noch nicht beendet. »Wir wollten das Unrecht an den Zwangsar- Ihre Ergebnisse bündelten die 13- bis 16-jäh- beitern auch in die Öffentlichkeit bringen und rigen Schülerinnen und Schüler in einer möglichst viele Menschen darauf aufmerk- Dokumentation, in der die Situation von sam machen«, sagt Marla Miller (16). DOKUMENTE AUSWERTEN: ALYSSA UND HANNES SICHTEN ÖFFENTLICH MACHEN: LUCY KEIL IST ES WICHTIG, DIE DIGITALISIERTEN STERBEURKUNDEN ÜBER VERGANGENES UNRECHT AUFZUKLÄREN Zwangsarbeitern aus Polen, Frankreich, Bel- Und so trugen die Schülerinnen und Schüler gien und der Sowjetunion während der NS- am 8. Mai 2017, dem Gedenktag anläss- Zeit, insbesondere in Bergedorf, dargestellt lich des Endes des 2. Weltkrieges, Texte über wird. Sie gingen der Frage nach, wie sich die Zwangsarbeiter auf dem Ohlsdorfer Friedhof Kirche in der NS-Zeit verhielt, und stellten vor und führten russische Austauschschülerin- fest, dass es nur sehr wenige Pastoren gab, die nen und -schüler über den Russischen Solda- sich gegen die Nazis stellten. Einer dieser Pas- tenfriedhof in Bergedorf. Sie erarbeiteten sze- toren war Fritz Schade aus Hamburg-Och- nische Lesungen, in denen sie Zwangsarbeiter senwerder. »Er half den Zwangsarbeitern, wo und deren »Chefs« zu Wort kommen ließen. er nur konnte«, berichtet Hannes. Die Schü- »Wir wollten damit zur Diskussion darüber lerinnen und Schüler hatten mit seinem Sohn anregen, wo Schuld anfängt und aufhört«, gesprochen. In einem weiteren Kapitel stellen erklärt Emilia Waterstradt (15). Die Schü- die Jugendlichen die Biografien der drei russi- lerinnen und Schüler trugen ihre Lesungen schen Zwangsarbeiter vor, deren Namen sie während der »Woche des Gedenkens« in Ber- auf den Sterbeurkunden und auf den Grab- gedorf im November 2017 an verschiedenen steinen des Russischen Ehrenfriedhofs gefun- Orten vor. Und sie erinnerten am Volkstrau- den hatten. Sie alle starben jung und nach ertag auf dem Russischen Soldatenfriedhof nur kurzer Zeit in der Gefangenschaft. Einer mit szenischen Lesungen aus den Biografien von ihnen hatte im KZ gearbeitet und starb an die Zwangsarbeiter. 13
RAPPEN FÜR MEHR MENSCHLICHKEIT Die Klasse 7b des Gymnasiums Kaiser-Friedrich-Ufer nahm gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern einer Internationalen Vorbereitungsklasse und weiteren Freunden ein Musikvideo auf. Botschaft ist die klangvoll in Szene gesetzte Aufforderung, Vorurteile und Ausgrenzung zu überwinden. »WIR WOLLTEN MAL WAS MIT EINER MESSAGE MA- Thema lag es auf der Hand, die Schülerinnen CHEN UND ALLES AUFSCHREIBEN, WAS BESSER SEIN und Schüler der damaligen Internationalen SOLL IN DER WELT«, SAGT JONAS (12). DER SCHÜ- Vorbereitungsklasse, die inzwischen Regel- LER DES GYMNASIUMS KAISER-FRIEDRICH-UFER IN klassen besuchen, mit einzubeziehen. EIMSBÜTTEL IST EINER VON 30 SCHÜLERINNEN UND Zu den Kindern und Jugendlichen aus Flücht- SCHÜLERN AUS DER KLASSE 7B, DIE GEMEINSAM lings- und Einwandererfamilien, die aus so MIT SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN EINER INTER- verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Sy- NATIONALEN VORBEREITUNGSKLASSE (IVK) EIN rien, Bosnien, Kroatien, Estland, China oder MUSIKVIDEO MIT EIGENEM SONG KONZIPIERT UND Vietnam stammen, hatten einige Schülerin- AUFGENOMMEN HABEN. IN IHREM SONG RUFEN SIE nen und Schüler schon einen guten Kontakt. ZU MEHR MENSCHLICHKEIT AUF UND WENDEN SICH So war es nicht schwer, sie zum Mitmachen GEGEN VORURTEILE UND AUSGRENZUNG. Und so zu motivieren. »Wir fanden das sehr passend sind in dem Video ebenso fröhlich wie nach- zu zeigen, dass wir ja auch mit verschiedenen denklich rappende Kinder und Jugendliche zu Kulturen zusammenleben«, sagt Milli (13). sehen. Sie stammen aus verschiedenen Kul- Da die IVK-Kinder und -Jugendlichen noch turen, aber sie haben eine gemeinsame Bot- dabei waren, Deutsch zu lernen, fanden die schaft. »Hey, ganz egal, wer du bist oder was Schülerinnen und Schüler auch für diejenigen, dir gefällt: Eigentlich ist nur wichtig, dass man die die Sprache noch nicht so gut beherrsch- zueinander hält«, lautet ein Vers ihres Liedes. ten, eine Lösung: »Wer noch Schwierigkeiten Er soll deutlich machen, »dass wir alle gut bei der Aussprache hatte, konnte auch ein- miteinander leben können und dass alle Men- fach nur mittanzen«, erklärt Milli. Und auch schen gleichberechtigt sind«, erklärt Jonas. besondere Fähigkeiten wurden gewürdigt: RAPPEN FÜR MEHR »Ein Junge hatte den Beatbox ziemlich gut MENSCHLICHKEIT: drauf, der hat den Grundrhythmus gemacht«, MUSIKPÄDAGOGIN berichtet Bennet. URSULA RICHTER Bevor es an die Aufnahme des Videos ging, BEI EINER PROBE MIT mussten erst einmal Inhalte und Melodie er- IHREN SCHÜLERINNEN dacht werden. Um den Songtext zu schreiben, UND SCHÜLERN. sammelten die Schülerinnen und Schüler der »Textgruppe« alles, was sie aktuell gerade beschäftigte und erschütterte. Das waren im vergangenen Jahr etwa die von US- Präsident Donald Trump ausgerufene Abschottungs- Auf die Idee zu ihrem »Humanity Rap« ka- politik für sein Land, die rechten Sprüche von men die Siebtklässler anlässlich der 125-Jahr- AfD-Politikern, die Ausgrenzung von Flücht- Feier ihrer Schule. »Wir hatten schon einmal lingen und Obdachlosen. Nach dem Brain- ein Video gedreht, da ging es um das Leit- storming und ersten Textzeilen entstanden bild unserer Schule. Jetzt wollten wir etwas dann Strophen mit Passagen wie: »Magst du zu Menschenrechten und Gerechtigkeit ma- Döner oder Eis, bist du schwarz oder weiß? – 14 chen«, berichtet Bennet (12). Bei diesem Hast du überm Kopf ein Dach? Oder liegst du
draußen wach?« – »Darfst du deine Meinung Da werden etwa zwei Kinder von einer Fuß- sagen? Oder wirst du dann geschlagen?« ball spielenden Gruppe auf dem Schulhof Egal, in welcher Situation sich die Menschen ausgeschlossen. Im Text heißt es dann: »Schau befinden, im Refrain kommen die Schülerin- nicht weg, schau dir an, wie man was verän- nen und Schüler zu dem Schluss: »Hey, ganz dern kann! Gerade hier, auch bei dir, steht der egal, wer du bist oder was dir gefällt: Wir sind Flüchtling vor der Tür.« – »Sag nicht nein, sei alle Menschen auf derselben Welt.« kein Schwein, lass ihn einfach zu dir rein! Ist Während die Texte entstanden, entwickelte dein Haus auch zu klein, lass ihn in dein Herz die »Melodiegruppe« die Akkorde dazu. Ei- hinein!« Und dann dürfen die beiden Kinder nige Schülerinnen und Schüler spielen selbst auf dem Schulhof schließlich mitspielen. Auch In strumente und so wurden für den Song auf die unterschiedliche Herkunft der Kinder auch Klavier, Saxofon, Gitarre und Trompe- und Jugendlichen geht das Video ein. Weil vie- te aufgenommen. »Die Tonaufnahmen haben le arabisch sprechende Kinder bei dem Song wir in einem kleinen privaten Tonstudio eines mitgemacht haben, entschied die Klasse spon- ehemaligen Schülers unserer Schule gemacht«, tan, den Refrain zum Schluss auch einmal auf berichtet Matilda H. (13). Und weil sie für ihr Arabisch zu wiederholen. »Wir hatten ein Musikvideo auch passende Kulissen brauchten, syrisches Mädchen dabei, das uns die richti- überlegten sich die Schülerinnen und Schüler, ge Aussprache der arabischen Wörter beige- an welchen Orten in Hamburg die einzelnen bracht hat«, erzählt Milli. MUSIKALISCH ÜBERZEUGEN: 56 SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER ÜBEN FÜR DEN HUMANITY RAP. Szenen am besten gedreht werden konnten. Weil die Schülerinnen und Schüler mit ihrem »Eine Szene haben wir vor der Elbphilharmo- Song möglichst viele Menschen erreichen nie gedreht, weil es ein internationaler Platz wollten, stellten sie ihren »Humanity Rap« ist, wo sich viele Leute begegnen und viele auf YouTube. Mit großem Erfolg: »Bislang Touristen sind«, erläutert Matilda L. (12). An- haben schon über 2800 Nutzer das Video dere Szenen entstanden am Altonaer Balkon, angeklickt«, berichtet Jonas begeistert. Rie- auf dem Schulhof oder vor einem syrischen sig war auch die Freude, als die Schülerin- Restaurant im Stadtteil. »Es sollten Orte sein, nen und Schüler erfuhren, dass ihr Projekt wo man Gemeinschaft zeigen kann«, erklärt mit dem BERTINI-Preis ausgezeichnet wird. Milli. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich »Wir haben intensiv diskutiert, wofür wir das alle Aufgaben vorher gut überlegt, etwa auch Preisgeld ausgeben wollen«, sagt Jonas. Die angefragt, ob sie an Plätzen wie der Elbphil- Klasse beschloss schließlich, einen Teil des harmonie drehen dürfen. »Sie haben alles völ- Preisgeldes für bedürftige Kinder zu spenden. lig selbständig geplant und umgesetzt«, betont »Wir haben gemerkt: Obwohl wir noch nicht Klassenlehrerin Ursula Richter. wählen dürfen, können wir dennoch etwas In einigen Video-Sequenzen wird über Aus- bewirken«, ist Matilda L. überzeugt. grenzung und deren Überwindung nicht nur Video unter: gesungen, sondern sie wird auch dargestellt: WWW.YOUTUBE.COMWATCH?V=JPWZKT5CFAI 15
KENNENLERNEN 4 AUF AUGENHÖHE Absolventen des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg organisieren monatliche Gesprächsrunden für den interreligiösen, politischen und kulturellen Austausch. Sie fördern damit Toleranz und Weltoffenheit von Lernenden und Lehrenden an ihrer ehemaligen Schule. SIE REDEN ÜBER DIE RADIKALISIERUNG VON um sich dem IS anzuschließen, es waren auch JUGENDLICHEN, ÜBER DIE GLEICHBERECHTIGUNG Jugendliche aus dem Stadtteil Wilhelmsburg VON MÄNNERN UND FRAUEN, ÜBER RASSISMUS, dabei«, berichtet Besa. Das bestürzte sie FREUNDSCHAFT ODER IDENTITÄT. EINMAL IM MONAT und ihre Mitschülerinnen. »Wir wollten nicht GEHT ES BEI DEN »GESPRÄCHSRUNDEN FÜR INTER- einfach zusehen, wie Jugendliche verführt RELIGIÖSEN AUSTAUSCH«, KURZ: GIRA, UM RELIGI- werden zu einer Radikalität, die nichts mit ÖSE, POLITISCHE ODER KULTURELLE THEMEN. DANN unserer Religion zu tun hat«, sagt Nurhayat, SIND INTERESSIERTE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER, die Muslima ist. Zu dem Bedürfnis, etwas da- DEREN FREUNDE SOWIE INTERESSIERTE LEHRKRÄFTE gegen tun zu müssen, kam der Wunsch von DES HELMUT-SCHMIDT-GYMNASIUMS EINGELADEN, GEMEINSAM MIT DEM GIRA-TEAM ZU DISKUTIEREN. »Es geht dabei um das Kennenlernen von unterschiedlichen Weltanschauungen und Meinungen zu aktuellen Themen«, erklärt Nurhayat Tüncer. Die 21-Jährige ist Absol- ventin des Helmut-Schmidt-Gymnasiums und studiert derzeit Architektur. Sie gehört zum GIRA-Team ebenso wie ihre ehemaligen Mitschülerinnen Besa Bekteshi und Beyza Yilmaz, beide Studentinnen der Sonderpäd- agogik, und der ehemalige Mitschüler Ahmet Kuyucu, der Produktionstechnik und Ma- nagement studiert. »Unser Ziel ist es, mit den Schulleiter Volker Clasing, ein Angebot von DAS GESPRÄCH Gesprächen Akzeptanz und Toleranz unter- Schülern für Schüler zu entwickeln, um die SUCHEN: einander zu fördern«, sagt Nurhayat, »denn Jugendlichen besser bei dem zu erreichen, IN DER GESPRÄCHS nur wer sich kennenlernt und etwas über den was sie umtreibt. Über die Religionslehrerin RUNDE FÜR anderen weiß, kann ihm ohne Vorurteile be- Beatrix Teucher und den Politiklehrer Meh- INTERRELIGIÖSEN gegnen.« Jugendliche wie Erwachsene sollen met Ali Nacarli wurde diese Idee an die Vier AUSTAUSCH »für die Vielfalt der verschiedenen Ansichten herangetragen. Das gab den Anstoß. »Wir ha- BEGEGNEN SICH DIE sensibilisiert werden, aber auch Gemeinsam- ben konkret überlegt, was wir machen kön- TEILNEHMERINNEN keiten erkennen und Misstrauen ausräumen«, nen, und entschieden uns für die Form der UND TEILNEHMER ergänzt Besa Bekteshi (21). Gesprächsrunde«, berichtet Besa. Die ers- RESPEKTVOLL AUF te GIRA-Veranstaltung fand 2016 statt, als AUGENHÖHE. Die Idee für den Gedanken- und Meinungs- die vier Schülerinnen und Schüler ihr Abitur austausch entwickelte sich unter den jungen schon in der Tasche hatten. Ihr Vorhaben war Leuten schon während ihrer Schulzeit am ihnen aber so wichtig, dass sie ihrer Schule Helmut-Schmidt-Gymnasium. »2014 gab es treu blieben und seither regelmäßig monatli- 16 so viele Jugendliche, die nach Syrien gingen, che GIRA-Treffen anbieten.
Die Runden finden im Bildungszentrum »Tor So fragte eine Lehrerin beispielsweise, war- zur Welt« statt. Bei Kaffee und Kuchen wer- um muslimische Frauen Kopftuch tragen, und den an einem Nachmittag im Monat zwei muslimische Teilnehmerinnen berichteten von Stunden lang Informationen und Ansichten ihren eigenen Beweggründen. ausgetauscht und diskutiert. »Wir sind sehr Auch die Themenvielfalt ist dem GIRA-Team glücklich, dass uns die Leiterin Theda von wichtig. »Weil viele muslimische Schüler an Kalben die Räume des dortigen Inselcafés der Schule sind, wollten wir auch etwas zu dafür zur Verfügung stellt«, sagt Nurhayat. den weniger stark vertretenen Religionen, Um die Veranstaltungen vorzubereiten, trifft dem Christentum und dem Judentum, an- sich das Team ein bis zwei Wochen vorher und bieten«, erklärt Nurhayat. So haben sie als plant das nächste Thema. »Dabei handelt es sogenannte »Specials« zusätzliche Veran- sich um aktuelle Fragestellungen, die das ge- staltungen etwa zu Weihnachten, zum jüdi- sellschaftliche Miteinander in religiöser, kul- schen Pessach-Fest und zum Fastenbrechen tureller oder politischer Hinsicht betreffen«, am Ende des Fastenmonats Ramadan orga- erklärt Nurhayat. Eingebunden in die Vorbe- nisiert. »Bei den Treffen zum Advent und zu reitung ist auch der Islam- und Politikwissen- Weihnachten erzählten die Teilnehmer von schaftler Nadim Gleitsmann, der als Experte ihren persönlichen Feiern, und es war schön bei vielen Themen eine kurze Einführung ge- zu erfahren, wie die religiösen Feiertage tat- ben kann. »Zum Ablauf unserer Veranstaltun- sächlich gelebt werden«, erzählt Nurhayat. gen gehören neben dem Input auch Gruppen- Die Runden seien immer wieder aufschluss- reich, »man hat oft einen ‚Aha-Effekt‘, weil man immer wieder von Dingen erfährt, die man vorher so nicht kannte«, berichtet Besa. Und auch Nurhayat sind die Gesprächsrun- den ans Herz gewachsen. »Die Themen gehen uns nah, weil sie uns selbst angehen, und es macht auch einfach Spaß«, betont sie. Für die Schülerinnen und Schüler, da sind sich beide einig, seien diese Runden ebenfalls ertrag- reich. »Sie können sich politisch informieren, sich mit aktuellen Themen auseinanderset- zen und sie lernen, es auch mal auszuhalten, wenn es andere Meinungen gibt«, erläutert arbeit oder Rollenspiele und abschließende die angehende Pädagogin Besa. Diskussionsrunden. Jeder soll sich eingeladen Der Erfolg spricht für sich. Die Veranstaltun- fühlen, etwas beizutragen, die Begegnungen gen sind gut besucht. »Es kommen mindes- sollen auf Augenhöhe stattfinden«, erläutert tens 15 Besucher, wir hatten auch schon 40 Nurhayat. Teilnehmer«, berichtet Nurhayat. Auch für Das kommt vor allem bei den Schülerinnen die Fortsetzung der Veranstaltungen ist ge- und Schülern gut an. »Sie finden es gut, dass sorgt, wenn die Studierenden berufstätig wer- sie in den Runden gleichberechtigt mit den den und vielleicht weniger Zeit für das Enga- Lehrkräften sind«, stellt Besa fest. Sie und gement haben sollten. Seit vergangenem Jahr ihre Team-Kollegen fungieren bei den Ge- ist das GIRA-Projekt an das Profil Religion sprächen als Moderatoren und schaffen eine und PGW (Politik/Gesellschaft/Wirtschaft) Atmosphäre, bei der »angstfrei, ohne Vorur- angebunden, Schülerinnen und Schüler des teile und mit Respekt vor den anderen Fragen Profils können sich bei GIRA engagieren. gestellt werden können, die man sich sonst Doch solange sie es zeitlich noch schaffen, vielleicht nicht zu fragen traut«, sagt Besa. wollen die vier Studentinnen und Studenten Und die zu direkten Erkenntnissen führen. weitermachen. 17
THEATERSTÜCK REICHSAUSSCHUSSKINDER SYSTEMATISCHE KINDERMORDE IN ZWEI HAMBURGER KLINIKEN 17 Schülerinnen und Schüler des was darüber hört«, sagt Soraya Dräger (16). Theaterkurses am Gymnasium Klosterschule Als Grundlage ihres Stücks »Reichsausschuss- befassten sich mit der Euthanasie von Kindern kinder« nutzten die Schülerinnen und Schüler während der NS-Zeit. Sie forschten zu dem das Skript von Michael Batz. »Wir haben uns Thema und inszenierten ein an seine Dramaturgie gehalten«, sagt Paul. eindrucksvolles Theaterstück Zudem trafen sie sich mit dem Journalisten Andreas Babel, Autor des Buchs »Kindermor- AUF DER BÜHNE STEHT EIN MÄDCHEN IM WEISSEN de im Krankenhaus«. Es handelt von den Tö- NACHTHEMD. ES WIEGT SICH HIN UND HER, WÄH- tungen im Kinderkrankenhaus Rothenburgs- REND AUS DEM OFF VERSCHIEDENE STIMMEN NACH- ort. Der Autor unterstützte die Schülergruppe EINANDER NÜCHTERNE MITTEILUNGEN VORTRAGEN: bei der Recherche über das Euthanasie-Pro- »TELEGRAMM: SOHN BERND, VERSTORBEN. ERBIT- gramm der Nationalsozialisten. TEN GEBURTSURKUNDE. ANSTALT LANGENHORN.« 1939 begann das NS-Regime mit der syste- – »TELEGRAMM: HELLA, VERSTORBEN. ERBITTEN matischen Ermordung von geistig und kör- RÜCKSPRACHE WEGEN BEERDIGUNG, ANSTALT LAN- perlich behinderten Menschen, die als »un- GENHORN.« – »TELEGRAMM: HELGA, LEIDER VER- wertes Leben« angesehen wurden. Neben STORBEN.« – »TELEGRAMM: INGA, VERSTORBEN.« den Erwachsenen waren auch Tausende von IMMER MEHR NAMEN, IMMER KÜRZER WERDENDE Kindern betroffen. Es wurde ein Reichsaus- TEXTE, MIT DENEN ELTERN ÜBER DEN TOD IHRES schuss gebildet, der »erb- und anlagebeding- KINDES INFORMIERT WERDEN. ES IST DER BEKLEM- te schwere Leiden« wissenschaftlich erfassen MENDE AUFTAKT EINES THEATERSTÜCKS, DAS EIN sollte. »Doch das war ein Scheinausschuss«, GRAUSAMES THEMA ZUM INHALT HAT: DIE SYSTE- weiß Paul. Denn es ging nicht darum, kran- MATISCHEN MORDE AN BEHINDERTEN KINDERN ke Kinder zu beobachten und zu heilen, WÄHREND DER NS-ZEIT. DER THEATERKURS DES 10. sondern herauszufiltern, wer getötet werden JAHRGANGS AM GYMNASIUM KLOSTERSCHULE HAT sollte. »Die Ärzte meldeten Patientendaten DAZU EIN DOKUMENTARISCHES STÜCK INSZENIERT und Gutachter entschieden, ohne die Kinder UND AUF DIE BÜHNE GEBRACHT. gesehen zu haben, wer eine besondere Be- Die Anregung kam von Schüler Paul Veit handlung erhalten sollte«, ergänzt Paul. Die (16). »Ich hatte zum Gedenktag der Holo- Behandlung für die sogenannten Reichsaus- caust-Opfer im Rathaus die szenische Lesung schusskinder bestand aus dem Spritzen einer ‚Reichsausschusskinder‘ von Michael Batz tödlichen Dosis Luminal. »Eine sehr schmerz- gesehen. Darin ging es um die Morde an be- hafte Prozedur, nach der viele Kinder nicht hinderten Kindern im Kinderkrankenhaus sofort starben, sondern sich noch bis zu 48 Langenhorn«, berichtet Paul. Ein Thema, das Stunden quälten«, erklärt Paul. ihn sehr beschäftigte: »Die Euthanasie bei Die Kinder wurden zwischen 1940 und 1945 Erwachsenen war mir bekannt, aber über in sogenannten »Kinderfachabteilungen« in die Kinder-Euthanasie wusste ich wenig«, ganz Deutschland getötet. In Hamburg ge- so der Schüler. Er schlug vor, das Thema im schah das in den Kinderkrankenhäusern in Theaterkurs aufzugreifen. Theaterlehrerin Langenhorn unter dem Mediziner Friedrich Berit Juppenplatz und die Mitschülerinnen Knigge und in Rothenburgsort unter dem Kin- und Mitschüler waren sofort einverstanden. derarzt Wilhelm Bayer. Auch eine Reihe von »Auch mich hat es angesprochen, ich fand es Assistenzärztinnen und Krankenschwestern 18 unfassbar, dass es das gab und man kaum et- waren daran beteiligt.
AUF DIE BÜHNE BRINGEN: DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER DES GYMNASIUMS KLOSTERSCHULE BEREITETEN DAS THEMA "EUTHANASIE AN KINDERN" MIT THEATRALEN MITTELN AUF. In ihrem Stück schauen die Schülerinnen und spieler den Schmerz der Angehörigen heraus, Schüler auf die Täter und lassen sie spre- denen verheimlicht worden war, dass ihre chen. Kein Bühnenbild, kaum Requisiten, Kinder nicht an einer Krankheit oder Ope- die Darsteller sparsam kostümiert, mit Arzt- ration gestorben, sondern ermordet worden kitteln, Schwesterntrachten und die Verwal- waren. tungsbeamten in Anzügen – nichts sollte den Zuschauer ablenken: »Wir wollten, dass sie Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten in das ganze Ausmaß der Aussagen erfassen«, ihrem Stück zum großen Teil mit Originalzi- erläutert Soraya. So verteidigen sich in einer taten, um möglichst authentisch zu sein. »Wir Szene die Ärzte, die nach dem Krieg von der hatten uns auch um Akteneinsicht im Staats- Staatsanwaltschaft wegen Mordes angeklagt, archiv bemüht, aber es hat fast drei Monate aber nicht verurteilt wurden. »Dr. Knigge hat gedauert, bis wir endlich die Erlaubnis er- nachweislich 22 Kinder getötet, wahrschein- hielten – das war ein Monat vor unserer ers- lich sogar mehr. Dr. Bayer brachte etwa 200 ten Aufführung«, sagt Paul. Texte ließen sich Kinder um. Die Ärzte waren überzeugt, dass dann nicht mehr ins Stück einarbeiten, »aber sie nichts Falsches getan haben. Dr. Bayer, das Lesen der Akten half einigen, ihre Rollen der nach dem Krieg als Kinderarzt in Ham- noch besser zu verkörpern«, berichtet Sora- burg weiterarbeitete, fand sogar, er habe ya. Auch wenn die Charaktere unterschied- seine Aufgabe korrekt erfüllt, das Beseitigen lich dargestellt wurden, so waren sie doch alle unwerten Lebens war für ihn kein Mord«, be- mitschuldig. »Es war unser Ziel zu zeigen, richtet Paul. dass nicht nur Einzelne, sondern fast alle mit- In weiteren Szenen treten die Kranken- gemacht haben«, sagt Soraya. Deshalb bau- schwestern auf. Nur ganz wenige haben nicht ten die Schülerinnen und Schüler auch keinen mitgemacht. Die meisten beteuerten, dass Helden in ihr Stück ein, also jemanden, der sie nur ihre Arbeit getan hätten, als sie die sich widersetzte und mit dem man sich als Kinder festhielten, damit die Ärzte die Sprit- Zuschauer hätte identifizieren können. »Wir zen geben konnten. Ihnen wurde gesagt, es wollten zum ehrlichen Nachdenken darüber sei rechtlich in Ordnung, was sie täten. Eben- anregen, was man selber getan hätte«, er- so den Assistenzärztinnen, die die tödlichen klärt Soraya. Spritzen gaben. Einige waren »komplett Diese Konzentration auf das Wesentliche überzeugt von ihrem Handeln, andere äußer- macht das Stück so eindringlich und aussage- ten Skrupel. Aber alle haben versucht, sich kräftig. Das empfanden auch die Zuschauer aus ihrer Schuld herauszureden. Auch von ih- bei der Aufführung in der Klosterschule. »Sie nen wurde keine verurteilt. Einige Ärztinnen waren sehr bewegt, einige hatten rote Au- machten nach dem Krieg noch Karriere«, be- gen«, sagt Soraya. Und viele fanden es sehr richtet Paul. In der Szene mit den Eltern der gut, dass die Schülerinnen und Schüler dieses getöteten Kinder stellen die jungen Schau- Thema aufgegriffen haben. 19
VIER LEHRKRÄFTE, DIE INSPIRIEREN, MOTIVIEREN UND UNTERSTÜTZEN HINTER DEN PREISGEKRÖNTEN SCHÜLERPROJEKTEN STECKEN OFT PASSIONIERTE LEHRKRÄFTE. SIE IN SPIRIEREN, MOTIVIEREN UND UNTERSTÜTZEN IHRE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER AUCH AUSSERHALB DES UNTERRICHTS. ANLÄSSLICH DER 20. VERLEI- HUNG DES BERTINI-PREISES WURDEN VIER LEHR- KRÄFTE FÜR IHR AUSSERGEWÖHNLICHES ENGAGE- MENT GEWÜRDIGT. »Ein Gespräch mit einem Zeitzeugen bringt so viel wie fünf Stunden Geschichtsunter- richt«, berichtet Klaus Möller. Dem pensio- nierten Englisch- und Geschichtslehrer vom Heisenberg-Gymnasium in Harburg ist es ein Anliegen, über die NS-Verbrechen im Stadt- teil zu informieren. Dafür engagiert er sich in der Initiative »Gedenken in Harburg«, die jährlich die Harburger Gedenktage organi- siert. Die dort auftretenden Zeitzeugen lud Möller auch in seinen Unterricht ein. schen verbunden«, sagt Klaus Möller. Und sie GEWÜRDIGT: Bei einigen seiner Schülerinnen und Schüler brachten deren Schicksale in die Öffentlich- DREI PENSIONIERTE entfachten diese Begegnungen nachhaltiges keit. »Ich freue mich, dass diese Anstrengun- LEHRKRÄFTE UND Interesse. So bei seinem Schüler Frederic gen mit dem BERTINI-Preis gewürdigt wer- EINE SCHULLEITERIN Wünsche. Er traf eine Widerstandskämpferin den, und das in einem so festlichen Rahmen UNTERSTÜTZEN der »Weißen Rose«, Marie-Luise Schultze- wie im Ernst Deutsch Theater.« UND FÖRDERN Jahn, und schrieb über sie. Dafür erhielt er SEIT JAHREN IHRE den BERTINI -Preis 1999. Weitere Projekte Mit Zeitzeugen arbeitete auch die pensio- SCHÜLERINNEN zur Aufarbeitung der NS-Zeit folgten. Neun nierte Pädagogin Cläre Bordes an der Stadt- UND SCHÜLER BEI Mal erhielten Schülerinnen und Schüler teilschule Stellingen. Zwei Mal erhielten ihre PROJEKTEN, DIE MIT des Heisenberg-Gymnasiums den BERTINI- Schülerinnen und Schüler einen Anerken- DEM BERTINI-PREIS Preis. nungspreis. Das Engagement für Bosnien AUSGEZEICHNET führte schließlich zu weiteren BERTINI-Prei- WURDEN. Die Ideen für Projekte kamen von den Ju- sen. Das begann, als die Medien-, Kunst- und gendlichen, berichtet er. Gespräche mit Zeit- Deutschlehrerin 2002 eine 5. Klasse mit dem zeugen eröffneten Zugänge zu Themen wie aus Bosnien stammenden Samir übernahm. Zwangsarbeit in der NS-Zeit, das NS-Eu- Der damals Elfjährige brachte nach den Fe- thanasie-Programm oder die Verfolgung der rien bei seinen Großeltern in Bosnien einen Swing-Jugend. Sie erstellten Dokumentati- selbst gedrehtenVideofilm mit. Der Film zeigte onen, hielten Vorträge und sammelten Geld – sieben Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges 20 für Stolpersteine. »Sie fühlten sich den Men- – noch so viel Armut und Kriegszerstörung,
dass Klassenkameraden und Lehrerin ein die »herausfordernden Auftrittsmöglichkeiten Hilfeprojekt organisierten, das 2004 den wie bei den Theaterfestivals im Ernst Deutsch BERTINI-Preis erhielt. Ein weiterer BERTINI- Theater.« Mit vielen seiner Ehemaligen steht Preis folgte 2011 für einen Austausch mit ei- der Lehrer noch in Kontakt, fünf von ihnen ner Schule in Sarajewo, bei dem Jugendliche wurden professionelle Schauspieler. »Dass ich der Stadtteilschule Stellingen und der Ida- nun selbst für meine Arbeit gewürdigt wurde, Ehre-Schule Zeitzeugen in Bosnien über den hat mich gefreut, auch für alle, die hinter uns Krieg und dessen Folgen befragt hatten. standen – etwa die Kollegen und eine großar- Für Cläre Bordes war das Lernen in Projek- tige Schulleitung«, betont Bublay. ten immer wichtig. »Jugendliche werden sich ihrer Stärken bewusst, setzen sich für die Ge- Mit Theaterprojekten waren auch die von sellschaft ein, entwickeln demokratisches Be- Sabine Hansen, Schulleiterin des Alexander- wusstsein und den Willen zum Mitgestalten«, von-Humboldt-Gymnasiums, betreuten Schü- sagt sie. Die eigene Würdigung sei auch eine lergruppen erfolgreich. Vier Mal wurden sie weitere Auszeichnung für die Schülerinnen mit dem BERTINI-Preis ausgezeichnet. Der und Schüler, »denn sie haben die Projekte ja erste Preis ging 2004 an die Theatergruppe zum Erfolg gebracht«. des Stücks »Hitlerjunge Salomon«, das die Jugendlichen nach der Begegnung mit dem Auf die Behandlung der Zeitgeschichte setzte Zeitzeugen Salomon Perel aufgeführt hat- auch der pensionierte Theater-, Politik- und ten. »Zukunft positiv« (BERTINI-Preis 2008) Sportlehrer Olaf Bublay. Während seiner Zeit thematisiert das Leben mit Aids. In »NET- am Wirtschaftsgymnasium und der Beruf FLAT.« (BERTINI-Preis 2012) geht es um lichen Schule H20 in Steilshoop führte er das Cybermobbing und von Genmanipulation Fach Theater an der Schule ein. Für die vie- und Wunschkindern handelt das Stück »Blut- len zugewanderten Schülerinnen und Schüler druck« (BERTINI-Preis 2014). war das nicht nur eine Chance, ihr Deutsch Die Themen hatten die Schülerinnen und zu verbessern. »Das Theater ermöglicht den Schüler meist selbst gefunden. Dabei erlebte Jugendlichen, Missstände zu fokussieren Sabine Hansen, dass die Jugendlichen ihr Zö- und schauspielerisch öffentlich zu machen«, gern angesichts der anspruchsvollen Themen fasst Olaf Bublay seine Erfahrungen zusam- überwinden konnten. »Sie zu unterstützen men. Viele von ihm geleitete Theaterprojekte war unsere wichtigste Aufgabe, denn den wurden ausgezeichnet, vier davon mit dem meisten fehlte die Erfahrung, ihr Vorhaben BERTINI-Preis. In ihren Stücken griffen die schaffen zu können.« Jugendlichen Themen aus ihrem eigenen kul- Bei ihren Projekten legt die Pädagogin Wert turell vielfältigen Lebensumfeld auf. auf Teamarbeit. »Kollegen und Schüler aus So ging es in dem Stück »Der edelste Teil« Bereichen wie Musik, Kunst oder Multime- (BERTINI-Preis 2000) um Rassismus und den diaarbeit bereichern die Projekte und ge- Umgang mit Flüchtlingen. Das Stück »Hast ben den Jugendlichen eine Vorstellung von du Bock zu tanzen?« (BERTINI-Preis 2004) Teamarbeit.« Durch die Arbeit wachse man thematisiert sexuelle Gewalt gegen Frauen. zusammen, jeder könne seine Begabungen DieVorlage für »Sein im Nichtsein« (BERTINI- einbringen. Motiviert durch das Ziel der Preis 2007) lieferte die Fluchtgeschichte eines Aufführung wurden Durststrecken überwun- Schülers. Und in »Die war nicht so« (BERTINI- den. Am Ende stand »die Freude und der Preis 2012) befassten sich die Schülerinnen Stolz über das gemeinsame Werk«, resümiert und Schüler mit Gewalt in der Partnerschaft Sabine Hansen. Die ihr zugedachte Ehrung und den sogenannten Ehrenmorden. Das The- nahm sie mit Freude für alle, die an den Pro- aterspiel fördere selbstbewusstes Auftreten, jekten mitgewirkt haben, entgegen. stellt Bublay heraus. Die Jugendlichen seien sehr motiviert gewesen, nicht zuletzt durch 21
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