Geschichte der Evangelischen in Troisdorf - EVANGELISCHE KIRCHENGEMEINDE TROISDORF - Evangelisch in Troisdorf
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E VA N G E L I S C H E K I R C H E N G E M E I N D E T R O I S D O R F NACHRICHTEN & TERMINE KOM PASS Geschichte der Evangelischen in Troisdorf Artikelserie 2017/18
K O M PA S S Ausgabe 671 -- Januar bis März 2017 Nachrichten und Termine Reformation im Troisdorfer Raum Reformation im Troisdorfer Raum von Pfarrer Ingo Zöllich „Ist willich, sich nach [seiner] kei[serlichen] In allen Orten gab es nach 1609 Veränderungen. In Ma[jestä]t Interim zu halten“, heißt es in einer dem Jahr starb Herzog Johann Wilhelm, Sohn Wil- Akte aus dem Jahr 1550 über den Troisdorfer helms V., kinderlos. Die Herrschaft wurde nun offi- Pfarrer Johannes Irlermann. Diese Notiz ist der ziell von Graf Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neu- älteste Beleg dafür, dass die seit 1517 von Witten- burg und von Kurfürst Johann Sigismund von berg und Zürich ausgehende reformatorische Brandenburg gemeinsam ausgeübt. Beide sagten Bewegung auch Einfluss auf das kirchliche Leben zu, weiterhin alle drei Konfessionen im Land dul- im Troisdorfer Raum hatte. Und sie zeigt eine den zu wollen. Beide waren zunächst Lutheraner, Besonderheit unseres Gebiets gegenüber anderen wechselten aber 1613/14 die Religion: Johann Teilen Deutschlands. Die meisten Fürsten und Sigismund wurde reformiert, Wolfgang Wilhelm freien Reichsstädte hatten nämlich für die Kirche katholisch. Faktisch teilten sie die Herzogtümer auf ihrem Territorium klar entschieden, ob sie „alt- untereinander auf: Kleve (mit den Grafschaften gläubig“ (also römisch-katholisch) bleiben oder Mark und Ravensberg) wurde brandenburgisch, sich auf „lutherische“ oder „reformierte“ („calvini- Jülich und Berg gingen an Pfalz-Neuburg, wobei in stische“) Weise reformieren sollte. Die Herzöge den Regierungen jeweils auch Räte der anderen von Berg, zu deren Gebiet die Gegend um Troisdorf Seite saßen. Für den Troisdorfer Raum als Teil des damals gehörte, verfolgten jedoch einen vermitteln- Herzogtums Berg bedeutete das: Offiziell waren den Weg und tolerierten alle drei Konfessionen. alle drei Konfessionen zugelassen, was vor allem 1547/48 hatte der Kaiser den reformatorischen Län- die Reformierten zu neuen Gemeindegründungen dern im Reich nun ein „Interim“ aufgezwungen, (Troisdorf, Bergheim, Sieglar, Spich) nutzten. Her- demzufolge die Kirche auf ihrem Territorium vor- zog Wolfgang Wilhelm war aber katholisch und läufig wieder weitgehend dem römisch-katholi- versuchte, die lutherischen und reformierten schen Ritus folgen sollte; bloß bereits geschlossene Gemeinden zu verdrängen. Die brandenburgischen Priesterehen blieben gültig, und beim Abendmahl Räte in der bergischen Regierung fungierten als durfte nicht nur das Brot, sondern auch der Wein eine Art Schutzmacht für die reformatorischen ausgegeben werden. In Gebieten, die katholisch Gemeinden. Wie wir schon bei der Reformations- geblieben waren, sollte es hingegen vollständig geschichte von Altenrath sehen werden, konnte es beim katholischen Ritus bleiben. Wilhelm V., Her- dabei zu heftigen Auseinandersetzungen kommen. zog von Jülich, Kleve und Berg, ließ das Interim in seinen Gebieten einführen, obwohl er offiziell katholisch geblieben war. Pfarrer Irlermann folgte nun also seinem Herzog und wollte das Interim auch in Troisdorf einführen. In der Akte heißt es dann weiter, dass man ihm eine entsprechende Got- tesdienstordnung besorgen sollte. Ob das gesche- hen ist, ob Irlermann das Interim eingeführt hat und ob die Troisdorfer Gemeinde also schon kurz nach 1550 Abendmahl mit Brot und Wein gefeiert hat – darüber liegen uns leider keine Quellen vor. Ab den 1570er Jahren sind dann aber reformatori- sche Gemeinden auf dem Gebiet der heutigen Stadt Troisdorf nachgewiesen. Ob eine Gemeinde luthe- risch oder reformiert wurde, lag am Pfarrer, d.h. am Inhaber der örtlichen Pfarrstelle. Er entschied, auf welche Weise in der Pfarrkirche Gottesdienst gefeiert wurde; die Gemeindeglieder machten ein- fach mit. Einzig im Ort Troisdorf gab es für kurze Zeit eine reformierte Hausgemeinde neben der katholischen bzw. lutherischen Pfarrgemeinde. Die Reformationsgeschichte verlief in den alten Orten im Troisdorfer Raum (Altenrath, Troisdorf, Sieglar, Bergheim und die Herrenhäuser „im Spich“) unter- schiedlich, auch wenn es Überschneidungen gibt. Irmgard Hantsche, Atlas zur Geschichte des Niederrheins, 5. Aufl. 2004, S. 73. 2
K O M PA S S Ausgabe 671 -- Januar bis März 2017 Reformation im Troisdorfer Raum NACHRICHTEN & TERMINE Altenrath 1572 musste Pfarrer Wessel von Solingen seine Pfarrstelle in Menden verlassen, weil er dort „Neuerungen“ Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg einführen wollte. Er ging nach Altenrath und begann dort, Gottesdienst Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm nach lutherischer Ordnung zu feiern. Auf ihn folgte 1577 Gerhard Emmerich, der 36 Jahre lang als andersetzung erschossen. Die Pfarrstelle wurde lutherischer Pfarrer in Altenrath wirkte. Altenrath aber dann entweder mit einem Katholiken oder mit gehörte innerhalb des Herzogtums Berg zum Amt einem Lutheraner besetzt. Wahrscheinlicher ist, Porz, dem mit Georg von Heiden ein Reformierter dass zunächst ein lutherischer Pfarrer die Pfarrstelle als Amtmann vorstand. Als Pfarrer Emmerich 1613 übernahm, denn in den Quellen aus 1613 ist nir- starb, behauptete von Heiden, er habe das Recht, gendwo von einer katholischen Partei die Rede. Für einen neuen Pfarrer vorzuschlagen, und ließ durch 1622 heißt es dann, Pfarrer Arnold Morenhofen seinen Rittmeister den reformierten Prediger Ste- habe „den gottesdienst zu aldenraht auff romisch phanus in die Pfarrstelle einführen. Der Inspektor catholisch Wider angefangen“. (wir sagen heute: Superintendent) der lutherischen Gemeinden im Amt Porz beauftragte jedoch den Troisdorf Volberger Pfarrer, die Vakanzvertretung zu über- nehmen, zumal die Gemeinde weiterhin lutheri- In Troisdorf konvertierte 1573 Pfarrer Wilhelm von schen Gottesdienst wünschte. Das Luthertum habe Merode, der Nachfolger des eingangs genannten doch seit „30 und 40 Jahren“ hier „florirt“ und sei Johannes Irlermann, zum Luthertum. Von Merode „in öffentlichem shwang gewesen“! Eines Sonn- musste den Ort allerdings noch im selben Jahr ver- tags hinderte dann der Rittmeister den Volberger lassen, weil der Siegburger Abt seinen antireforma- Pfarrer, in der Kirche zu predigen. Daraufhin for- torischen Einfluss geltend machte. Ab 1597 wirkte derten beide Seiten in Düsseldorf – dem Sitz der dann Leonard Wolter als Pfarrer in Troisdorf. Er bergischen Regierung – bewaffnete Hilfe an, so blieb zunächst katholisch, hegte aber offensichtlich dass sich schließlich 12 brandenburgische Reiter Sympathien gegenüber dem Luthertum. Das wollte auf Seiten des Rittmeisters und 14 pfalzgräfliche Amtmann Georg von Heiden, der sich schon in Reiter auf Seiten der Gemeinde gegenüberstanden. Altenrath in die Kirchengeschicke eingemischt hat- Ein pfalzgräflicher Diener wurde bei der Ausein- te, 1614 nutzen, um einen reformierten Prediger in 3
K O M PA S S Ausgabe 671 -- Januar bis März 2017 Reformation im Troisdorfer Raum NACHRICHTEN & TERMINE die Pfarrstelle zu setzen. Spätestens seit 1611 gab es Bergheim nämlich in Troisdorf neben der Pfarrgemeinde eine reformierte Hausgemeinde. Prediger war Gerhard Eine reformierte Gemeinde ist in Bergheim ab 1616 Lontzius. Von Heiden gab nun Lontzius als luthe- nachweisbar. 1617 wurde Petrus Vasarius Pfarrer in risch aus und präsentierte ihn dem alternden Pfarrer Bergheim. Er war zuvor an anderem Ort als katho- Wolter als Nachfolger. In einem zeitgenössischen lischer Priester tätig gewesen, führte aber nun in der Bericht heißt es: „Zu Droßdorff hatt Amtmann hey- Bergheimer Kirche reformierten Gottesdienst ein. den Vnd Vogt Zu Droßdorf den alten pastor bered, Zeitweilig wirkte er auch in Sieglar, um den vielbe- daß sein heydens paedagogus vnd haußprediger schäftigten Inspektor Deisman zu vertreten. 1622 Augustanae Confessionis [also lutherisch] were, wurde wieder ein Katholik Pfarrer in Bergheim. derwowegen er demselben resignirt [d.h. für ihn Die reformierte Gemeinde gab es nicht mehr. Vasa- abtreten möge] da doch die Lutherishe Religion rius selbst konvertierte später zum Katholizismus Zuvor alda im shweng gewesen.“ Für kurze Zeit zurück. Er scheint sich ohnehin in seiner Gottes- hielt Lontzius dann wohl tatsächlich reformierten dienstpraxis zwischen den Konfessionen bewegt zu Gottesdienst in der Troisdorfer Pfarrkirche, denn haben. Die reformierte Synode warf ihm jedenfalls 1615 musste Wolter Paramente und kultische Gerä- wiederholt vor, er würde beim Abendmahl Hostien te neu beschaffen, die die Reformierten für ihren anstatt normalen Brotes verwenden, und dies sei Gottesdienst nicht gebraucht hatten. Leonard Wol- „contra Christi institutionem“, also anders, als ter konvertierte 1615 noch selbst zum Luthertum Christus es gemacht hatte. und führte den lutherischen Gottesdienst in der In den Jahren 1621/22 gab es für kurze Zeit zusätz- Pfarrkirche ein, ehe er 1616 starb. Sein Nachfolger lich eine Art reformierter Militärpfarrstelle in Berg- war wieder ein Katholik. Die reformierte Synode heim. Niederländische Truppen hatten die in der des Herzogtums Berg machte Prediger Lontzius Siegmündung gelegene Insel „Pfaffenmütz“ zu nach diesem Vorfall schwere Vorwürfe. Es sollte einer Festung ausgebaut und dort Jeremias Lintzius „ein scharf Schreiben im Nahmen des Synodi“ als reformierten Pfarrer engagiert. Die Festung abgehen, weil er mit seinem vorgetäuschten Luther- wurde aber schon 1622 von den Spaniern belagert tum das reformierte Predigtamt in Verruf gebracht und 1623 eingenommen, womit auch das refor- habe. Lontzius scheint Troisdorf dann verlassen zu mierte Pfarramt dort entfiel. haben. Jedenfalls wechselte 1616 der reformierte Prediger Georgius Wilkius von Monheim nach Tro- isdorf, weil ihn die Monheimer Gemeinde nicht Herrenhäuser Rott, Broich mehr versorgen konnte. In Troisdorf wurde er noch und Spich im selben Jahr von spanischen Soldaten misshan- delt. Die Spanier waren wegen des Unabhängig- Herzog Wolfgang Wilhelm hatte mit seiner Gegen- keitskrieges der Niederlande (1568-1648) im reformation, unterstützt durch spanisches Militär, Rheinland und unterstützten nun bei gelegentlichen im Troisdorfer Raum vollen Erfolg. 1622 gab es Auseinandersetzungen der „gemeinsam“ regieren- hier keine lutherische oder reformierte Ortsgemein- den Herzöge in Jülich-Kleve-Berg den Pfalzgrafen de mehr. Dafür melden die Quellen ab dieser Zeit Wolfgang Wilhelm. Mit militärischem Druck reformatorische Gottesdienste auf den Herrenhäu- beförderten sie auch seinen Kampf gegen die refor- sern Rott, Broich und Spich. Die Freiherren genos- matorischen Gemeinden. In Troisdorf hatten sie sen dem Landesherrn gegenüber eine gewisse Erfolg. Von den Spaniern überfallen, floh Wilkius Unabhängigkeit, die sie auch für religiöse Freiheit nach Lülsdorf. Damit enden die Nachrichten über zu nutzen wussten. Leider widersprechen sich die die reformierte Gemeinde Troisdorf. alten Berichte darin, wann auf welchem Haus Got- tesdienst welcher Konfession (lutherisch oder Sieglar reformiert) gehalten wurde. Klar ist aber, dass die Der genannte Troisdorfer Pfarrer Leonard Wolter war auch für Sieglar zuständig. Als er 1615 zum Luthertum konvertierte, wurde also auch in der Sie- glarer Pfarrkirche lutherischer Gottesdienst einge- führt. Auf Wolter folgte, wie in Troisdorf, 1616 ein Katholik in der Pfarrstelle, doch übernahmen 1617 die Reformierten die Sieglarer Kirche. Ihr Pfarrer Michael Deisman wurde bald darauf sogar Inspek- tor der reformierten Classis Mülheim, also des Kir- chenkreises Mülheim am Rhein, heute Köln-Mül- heim. Deisman war damit der erste aus dem Gebiet des heutigen Troisdorf kommende Superintendent. 1622 bekam Sieglar wieder einen katholischen Pfarrer. Die reformierte Gemeinde hörte auf zu exi- stieren. Haus Rott (Foto: Marc Eickelmann / wikipedia.de) 4
K O M PA S S Ausgabe 671 -- Januar bis März 2017 Reformation im Troisdorfer Raum NACHRICHTEN & TERMINE Bergheim und Müllekoven aus nach Spich zum Gottesdienst unterwegs waren. Prediger Wurm beschimpfte er als „Hund“ und warf einen Beglei- ter nieder, dann befahl er einem Diener, auf die beiden zu schie- ßen. Als der nicht gehorchte, nahm Schenk selbst das „rohr“ und zielte auf die beiden, wobei „nur durch sonderlich schik- kung Gottes das pulver abge- brennet, aber nit loß gangen.“ Nach diesem Vorfall forderte die Synode die Spicher Gemein- de auf, dem Pfarrer für seine Wege von und nach Oberkassel Haus Broich (Foto: Elke Wetzig / wikipedia.de) ein Pferd oder wenigstens einen Sieglarer Lutheraner nach Tod ihres Pfarrers Wolter Gefährten zur Verfügung zu stellen. Ein letztes Mal 1616 auf einem der Häuser lutherischen Gottes- hören wir 1693 von reformiertem Gottesdienst auf dienst und später ab 1622 die Sieglarer und Berg- Haus Spich. 1695 schied Adam Wurm aus der heimer Reformierten auf einem oder mehreren der Oberkasseler Pfarrstelle aus; sein Nachfolger setzte Häuser reformierten Gottesdienst feiern konnten. die Gottesdienste in Spich nicht fort. Für mehr als Konkret hielten 1622 Christian Klee, reformierter 100 Jahre gab es nun keinen evangelischen Gottes- Pfarrer aus Drabenderhöhe, und ein Mülheimer dienst auf dem Gebiet der heutigen Stadt Troisdorf Kollege (wahrscheinlich Peter Wirtz), im wöchent- mehr. lichen Wechsel reformierten Gottesdienst auf Haus Broich. Für die Mitte des 17. Jahrhunderts ist dann Was wurde aus den reformierter Gottesdienst auf den Häusern Broich und Rott durch den Oberkasseler Pfarrer Isaak Evangelischen? Jacobi belegt. Sein Nachfolger wurde 1662 Adolf Sozialgeschichtliche Untersuchungen über das Beckmann. Im selben Jahr verhandelte die refor- 16./17. Jahrhundert haben gezeigt, dass die Konfes- mierte Synode eine „Mißhelligkeit zwischen den sionsfrage für die Menschen weniger wichtig war Gemeinden zu Obercassel und im Spich“, wer als das Zusammenleben im Dorf oder wirtschaftli- wann Anrecht auf eine Predigt des Pfarrers habe. che Angelegenheiten. So gingen Reformierte trotz Vereinbart wurde, dass Beckmann stets zwei Sonn- gegenteiliger Ermahnungen der Synode zu Beerdi- tage in Oberkassel Gottesdienst hielt, den nächsten gungen katholischer Nachbarn, und Katholiken dann in Spich; außerdem sollte er zusätzlich an den taten trotz kirchlichen Verbots auf dem reformier- Feiertagen, die auf einen Wochentag fielen, in ten Adelshaus Broich Dienst. Die meisten folgten Spich Dienst tun, und im nächsten Jahr sollte es einfach der Konfession ihres Ortspfarrers, und der umgekehrt sein. Beckmann blieb bis 1675 in Ober- war nun, Ende des 17. Jahrhunderts, überall katho- kassel und auf den Häusern Rott, Broich und Spich, lisch. Immerhin berichten die Quellen noch von wobei den Quellen weiterhin nicht zu entnehmen einigen wenigen Familien im Troisdorfer Raum, ist, wie sich seine Gottesdienste auf diese Häuser die evangelisch blieben. In Altenrath gab es 1671 verteilten. 1681 beklagte sich die Spicher Gemein- noch vier lutherische Familien. An „normalen“ de auf der reformierten Synode, ihr ehemaliger Sonntagen besuchten sie die katholische Messe vor Pfarrer Beckmann habe Spenden veruntreut; die Ort; doch zu hohen Feiertagen gingen sie in die Synode forderte ihn zur Erstattung der Spenden lutherischen Gottesdienste in Volberg oder Hon- auf, was er aber nur in geringem Umfang tat. Nach- rath. Sollten Ende des 17. Jahrhunderts noch Refor- dem seine neue Gemeinde Dhünn eine ähnliche mierte im Raum Bergheim oder Spich verblieben Veruntreuung aufgedeckt hatte, entzog die Synode sein, so werden sie sich wahrscheinlich zur Ober- Beckmann das Pfarramt. Seine Nachfolger in Ober- kassel, Andreas Clausberg (1675-1680) und Adam kasseler Gemeinde gehalten haben. Wurm (1680-1695), wirkten von den drei Herren- häusern nur noch auf Haus Spich. Das Oberkasseler Literatur: Presbyterium wollte Wurm nicht mehr nach Spich Ehrenpreis, Stefan: „Wir sind mit blutigen Köpfen davonge- lassen, obwohl er nur noch jeden sechsten Sonntag laufen...“ Lokale Konfessionskonflikte im Herzogtum Berg dort Dienst tat, doch er ließ die Spicher Gemeinde 1550-1700, Bochum: Dr. Winkler, 1993. nicht im Stich. Haus Rott war inzwischen im Besitz Schulte, Helmut: Haus Broich, Haus Spich und die Refor- mation im Troisdorfer Raum, in: Troisdorfer Jahreshefte des gegenreformatorisch gesinnten Junkers Schenk III/1973, 31-92. von Rott und Unterbach. Osterdienstag 1687 ver- Alle Zitate meines Artikels sind im Aufsatz von Helmut folgte Schenk die Reformierten, die von Mondorf, Schulte nachgewiesen. 5
K O M PA S S Ausgabe 672 -- April bis Mai 2017 NACHRICHTEN & TERMINE Reformation in Troisdorf Kirche zwischen Hochöfen und Gleisen Die Entstehung der evangelischen Kirchengemeinde in Troisdorf (1815-1910) von Walter Neumann und der Arbeitsgruppe „Geschichte der Evangelischen in Troisdorf“ Ende des 17. Jahrhunderts hörten die letzten evangelischen Gottesdienste auf dem Gebiet der heutigen Stadt Troisdorf auf. Nur wenige evange- lische Familien haben sich das 18. Jahrhundert über hier gehalten. Infolge der Befreiungskriege gegen Napoleon wurde das Rheinland 1815 preu- ßisch. Vermutlich waren preußische Beamte die ersten Evangelischen, die nun hier Fuß fassten. 1840 sind für die Kommunalgemeinde Sieglar zwei evangelische Haushalte belegt, für Troisdorf nur einer.1 Namhafte evangelische Bevölkerung zog erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu, als Emil Langen die Friedrich-Wilhelms-Hütte zu einem stattlichen Industriebetrieb ausbaute. 1910 erschien eine erste „Geschichte der evangeli- schen Gemeinde Troisdorf“. Ihr Verfasser war Walter Neumann, der erste Pfarrer dieser Gemein- de. Der Text ist eine eindrückliche Quelle über die Ereignisse im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Walter Neumann Deshalb drucken wir hier Neumanns Geschichte in Auszügen ab. Wo uns Erläuterungen nötig genden Jahren Werkmeister Rick, Wiegemeister schienen, haben wir Anmerkungen eingefügt. Löhe, Bürobeamter Unterberg, die Walzmeister Quelle: UB Köln Jüngst und Kurz, die Drehermeister Biederbeck „Als erster Evangelischer ließ sich Fabrikbesitzer und Minder, die Puddler Friedr. Wilh. Kraus, Stauf Langen aus Cöln 18482 zu Friedrich-Wilhelms- und Ottlinghaus u. a. m.3 Hütte nieder. Er erwarb von Herrn Windgassen den Zum Gottesdienst war man zunächst auf den unbe- dort vorhandenen Hochofen und eröffnete das quemen Besuch der Kirche der Irrenanstalt auf dem Eisenwerk Friedrich-Wilhelms-Hütte mit einem fast eine Stunde entfernten Michaelsberge zu Sieg- Puddelofen. Als Puddelmeister kam Kaspar Menz- burg angewiesen.4 Da war es sehr dankenswert, daß ler dorthin. Derselbe gründete nebenbei in Trois- 1864 von Generaldirektor Langen in dem heute dorf ein Kaufwarengeschäft [...]. Anfangs der 50er vom Volksmund ‚Kaserne‘ genannten Gebäude ein Jahre zogen weitere Evangelische zu: Prokurist Betsaal eingerichtet wurde.5 Dort haben die Pfarrer Gustorff, der später Direktor der Bröltalbahn wur- Werner, Leipoldt, Garshagen und Siller von Sieg- de; Betriebsleiter Kutscher von Braunschweig; burg jeden zweiten Sonntag vormittags Gottes- 1856 Modellschreinermeister Marquardt und dienst gehalten, zuweilen auch Bibelstunden Modellschreiner Grosse, beide von Karlsruhe; 1860 abends in der Woche. Unter Langens Nachfolger, Maschinenmeister Spengler, 1862 Schmiedemei- Gen.-Dir. Rosenbaum, wurde die Benutzung des ster Neumann, beide von Braunschweig; in den fol- Betsaals auch den Katholiken gestattet. Auch unter 1 Für Sieglar: Wilhelm Skorsky, Telegrafist auf dem Telegrafenberg, und Christian Schmidt, Verwalter der Alaunhütte Spich. Für Troisdorf: Rentmeister Mitsdörffer in Haus Wissem. Vgl. Schulte, 5f. 2 Tatsächlich kaufte Johann Jacob Langen die Hütte 1844; sein Sohn Emil zog bereits 1845 in die Direktorenvilla ein und wurde 1847 Hüttendirektor (vgl. Dederichs, 31-39). 3 Bis 1896 ziehen ca. 35 evangelische (Fach-)Arbeiter zu. Vgl. Schulte, Kirche, 7. 4 Das Gebiet des heutigen Troisdorf (außer Altenrath, das in diesem Artikel nicht näher betrachtet werden kann) gehörte zur Evangelischen Kirchengemeinde Siegburg, die das gesamte untere Siegtal von Hennef bis zur Mündung in den Rhein umfasste. In Siegburg hatte die französische Verwaltung die Benediktinerabtei auf dem Michaelsberg 1803 auf gehoben. Die Preußen richteten dort 1825 die erste rheinische „Irrenanstalt“ ein. Die Abteikirche wurde ab 1829 sowohl für katholische als auch für evangelische Gottesdienste genutzt. 5 Bei der „Kaserne“, dem „Ledigenwohnheim“ der Hütte, handelt es sich um das Gebäude Louis-Mannstaedt-Straße 21 (vgl. Schulte, Schule, 40). Nach Dederichs, 76, richtete Langen den Betsaal bereits 1856 ein. 6
K O M PA S S Ausgabe 672 -- April bis Mai 2017 Reformation in Troisdorf NACHRICHTEN & TERMINE Panorama der Friedrich-Wilhelms-Hütte (Archiv der Mannstaedt GmbH) Rosenbaums Nachfolger, Gen.-Dir. Hethey, Er ist als erster evangelischer Lehrer nach Trois- bestand dieser Betsaal noch. Als aber 1877 die dorf übergesiedelt und hat an der daselbst am 24. evangelische Gemeinde Siegburg eine eigene April 1900 eröffneten zweiklassigen evangeli- Kirche erhalten hatte, hörten die evangelischen schen Schule noch fünf Jahre gewirkt, bis er [...] Gottesdienste zu Friedrich-Wilhelms-Hütte auf einer Grippe erlag. [...] – die katholischen bestanden noch eine Zeitlang. Die evangelischen Kinder zu Friedrich-Wilhelms- Nun aber boten die Familien Löhe und Jüngst Hütte erhielten, nachdem sie von Ostern 1900 bis [...] die Hand dazu, daß ein Missionar aus Bonn Ostern 1904 die Schule zu Troisdorf besucht hat- zur Abhaltung von Bibelstunden in ihren Woh- ten, am 12. April 1904 eine eigene Klasse in dem nungen einige Male an Wochenabenden herüber- neuerbauten Schulhause zu Friedrich-Wilhelms- kam.6 Doch hörten die Bibelstunden bald wieder Hütte an der Eisenbahnbrücke.8 [...] auf. [...] Ein Sohn der Familie Jüngst, Philipp Jüngst, der als Schlosser zu Troisdorf wohnte, Wiedereinrichtung von fühlte sich berufen, im besonderen Dienst seines Gottesdiensten Herrn nach Ostafrika hinauszuziehen. Er befuhr drei Jahre als Missionsbootsführer auf dem Petro- Als die zunehmende Zahl der Evangelischen in und leum-Motorboot Raghea den Tana. 1900 kehrte er um Troisdorf über 600 betrug,9 richtete die Gemein- nach Troisdorf zurück mit den Keimen einer de Siegburg 1895 in einem kleinen Häuschen neben Krankheit, der er am 16. November 1903 erlegen der katholischen Schule an der Kirchstraße10 beson- ist. Im friedvollen Glauben an seinen Heiland ist er deren 14tägigen Gottesdienst ein. Dieser sogenannte heimgegangen. ‚Betsaal‘ bestand [...] aus zwei hintereinanderlie- genden kleinen Zimmerchen, die durch eine Tür Die Schule miteinander verbunden 8 m lang, 3 m breit und 2¼ m hoch waren. Ein Duzend einfache Lehnbänke, ein Neben den Gottesdiensten und Bibelstunden Harmonium, ein schlechter Tisch, bloß mit einem erscheint in dieser Zeit als Pfleger evangelischen weißen Tischtuch bedeckt, nichts als die Bibel Glaubenslebens zu Friedrich-Wilhelms-Hütte die drauf: das war die ganze Ausstattung! ... In diesem Schule, welche, am 10. August 1861 als evangeli- ‚Betsaal‘ gingen Karfreitag 1897 131 Gemeinde- sche Schule privaten Charakters, deren Besuch glieder zum Abendmahl! auch katholischen Kindern gestattet war, ins Als ein bemerkbarer Fortschritt wurde es empfun- Leben gerufen, am 10. März 1866 zu einer öffent- den, als am 1. Mai 1897 ein anderer Betsaal bezogen lichen Schule erhoben war.7 [...] [Von 1879] bis werden konnte in dem an der damaligen Frankfurter zum Eingehen der Schule am 11. April 1900 jetzigen Cölner Straße gelegenen, jetzt die Nummer [wirkte hier] Lehrer Klees, welcher in jenen Jah- 126 tragenden Hause[...,] ein einheitlicher, 8 m lan- ren der eigentliche Träger des Vertrauens der ger, 4 m breiter, 2¾ m hoher Raum [...]. [...] 6½ Jah- Gemeindeglieder war. re lang ist dieser zweite Betsaal benutzt worden. 6 Schulte, Kirche, 8, spricht von „methodistische[n] Aktivitäten“. 7 Diese Schule befand sich zunächst ebenfalls in der „Kaserne“, ab 1873 im sog. „Werheitschen Tanzsaal“. Vgl. Schulte, Schule, 40f. 8 Das Schulgebäude lag auf dem Gelände der heutigen Müll-Umladestation. 9 Neben der Friedrich-Wilhelms-Hütte zogen vor allem die Sprengstofffabrik (Rheinisch-Westfälische-Sprengstoff- Actien-Gesellschaft, später „Dynamit Nobel“) und die Eisenbahn evangelische Arbeiter mit ihren Familien an. 10 Heute steht dort das „Forum“. 7
K O M PA S S Ausgabe 672 -- April bis Mai 2017 NACHRICHTEN & TERMINE Reformation in Troisdorf Der Kirchbau liche sich mit regerem Sinn und größerem Ernst an den theologischen Forschungen beteiligt als es Unter dem 1. August 1896 hatte das Kgl. Konsis- ohne das der Fall sein würde. Kurz, unsere Kirche torium den Provinzial-Pfarrvikar Neumann nach ist mehr als andere in die Geistesbewegung unserer Troisdorf entsandt. Seitdem wurde jeden Sonn- Tage hineingestellt. [...]‘ und Feiertag Gottesdienst gehalten. An den hohen Feiertagen fand zeitweise der Enge des Raums wegen doppelter Gottesdienst statt. Auch wurden seitdem die Katechumenen und Konfirmanden, welche bis dahin noch immer zum Unterricht hat- ten nach Siegburg gehen müssen, im Bezirk der Gemeinde selbst unterrichtet – zeitweilig in der Schule zu Friedrich-Wilhelms-Hütte, zeitweilig im Betsaal. Auch wurden die Sammlungen zur Erbauung einer Kirche, welche schon begonnen hatten, geregelt. [...] Doch würden wir, wären wir auf unsere eigene Kraft angewiesen geblieben, noch heutigestags ohne Kirche sein! Aber wie ist uns geholfen wor- den! Wie man Troisdorf als der bedürftigsten Gemeinde eine erkannte und demgemäß sie die evangelische Bruderliebe in ganz besonderem Maße erfahren ließ, geht aus der langen Reihe von Unterstützungen hervor, die uns zugewandt worden sind. [...] Während so die Mittel für den Kirchbau beschafft wurden, wurde zur Ausführung desselben geschrit- ten. Ein Bauplatz in recht günstiger Lage war schon Troisdorfer Kirche bei der Einweihung 1895 von der Muttergemeinde Siegburg [...] erwor- ben worden. Dank der Bemühungen des Herrn Die Errichtung einer Superintendenten Stursberg konnte die Grundstein- selbständigen evangelischen legung [...] am 4. Oktober [1901] vollzogen wer- Kirchengemeinde zu Troisdorf den. [...] Nach zweijähriger Bautätigkeit unter der Leitung Die Gemeinde wuchs unterdes stetig. Die Zahl der des Architekten Herrn Cornehls zu Elberfeld konn- Gemeindeglieder, welche 1896 etwas über 600 te am 8. November 1903 die Kirche eingeweiht betrug, verdoppelte sich in zehn Jahren. [...] Da die werden. [...] günstige Lage Troisdorfs an der Gabelung zweier Folgende Worte aus dem Abschluß einer Reihe von Haupteisenbahnstrecken ein weiteres Anwachsen Aufsätzen über unsere Kirche, welche der Orts- der evangelischen Bevölkerung sicher erwarten geistliche [d.h. Neumann selbst] im Sommer 1903 ließ, tat das Königliche Konsistorium11 die zur in den Zeitungen der Gegend veröffentlichte, Errichtung einer Pfarrei erforderlichen Schritte. mögen, weil für dieselbe besonders kennzeichnend, [...] auch hier ihre Stelle finden: ‚Wie die Kirche äußer- Unter dem 1. Mai [1906] teilte der Herr Minister lich mehr als andere dem Sturme ausgesetzt ist – der geistlichen Angelegenheiten mit, daß er ‚im denn über unsere Haide fegt der Wind ungehemmt Einverständnisse mit dem Evangelischen Oberkir- dahin – so wird sie es auch geistig sein. Das moder- chenrat die Errichtung einer evangelischen Kir- ne industrielle Leben, das unserem Ort je länger, je chengemeinde und einer Pfarrstelle zu Troisdorf mehr seinen Stempel aufdrücken wird, wird viele genehmige [...]‘.12 [...] In einem Schreiben vom Kirchenfeindschaft in seinem Schoß hegen. Und 15. Mai 1906 brachte der provisorische Kirchen- während manch stille Landkirche jahraus, jahrein vorstand dem Königlichen Konsistorium seine Gotteswort in der fest ausgeprägten Eigentümlich- Dankbarkeit [...] zum Ausdruck. In diesem Schrei- keit ihres Geistlichen hört, wird unsere Kirche vor- ben heißt es unter anderem: ‚Tiefe Dankbarkeit aussichtlich recht viele Geistliche sprechen hören. gegen die staatlichen und kirchlichen Behörden Auch wird die Nähe der Universität wohl immer erfüllt uns [...]. Wir brauchen wohl kaum die Ver- den Einfluß ausüben, daß der ihr zugehörige Geist- sicherung hinzuzufügen, daß die Erinnerung an 11 Das „Konsistorium“ mit Sitz in Koblenz verwaltete die evangelische Kirche in der Rheinprovinz, ähnlich dem heutigen Landeskirchenamt. Ihm übergeordnet war der „Evangelische Oberkirchenrat“ mit Sitz in Berlin, der für die gesamte (alt-) preußische Landeskirche zuständig war. 12 In der Errichtungsurkunde vom 8. Juni 1906 werden die zur Gemeinde gehörenden Ortschaften aufgezählt: „Troisdorf, Friedrich-Wilhelms-Hütte, Aggerdeich, Nieder-Menden, Ober-Menden, Meindorf, Oberlar, Sieglar, Eschmar, Mülleko- ven, Bergheim, Mondorf, Rheidt, Groß-Kriegsdorf, Klein-Kriegsdorf, Rotterhof, Spich, Stockem, Uckendorf, Nieder- cassel und Lülsdorf“. Schulte, Kirche, 28. 8
K O M PA S S Ausgabe 672 -- April bis Mai 2017 Reformation in Troisdorf NACHRICHTEN & TERMINE erstes Gemeindesiegel (Archiv der Ev. KGM) Louis-Mannstaedt-Straße 21 – die „Kaserne“ der Hütte (Foto: Zöllich) die außerordentlich weitgehende Unterstützung Bis dieser Zukunftswunsch Neumanns in Erfüllung auch in ferneren Zeiten noch in der Gemeinde gehen sollte, vergingen allerdings noch etliche Jah- lebendig bleiben [...], sowie daß diese Erinnerung re. Aus der Zeit bis 1910 berichtet er über das uns stets einer der kräftigsten Mahner zur Treue Zitierte hinaus: gegen Thron und Altar sein wird.‘ • Seit 1896 werden „Familienabende“ durchge- Der Sommer 1906 zeigt nun die Gemeinde in leb- führt, ab 1900 durch den „Evangelischen haftester Aufregung. Am 25. Juni wurden [...] 24 Verein“. Repräsentanten gewählt. In der ersten Sitzung der • 1902 wird der „Frauenverein“ gegründet, die Repräsentanten am 13. Juli wurde [...] die Wahl spätere „Frauenhilfe“. von 6 Presbytern vollzogen. [...] • 18.06.1907: Erstmals tagt die (Kreis-)Synode Die größere Gemeindeversammlung wählte am 6. Bonn in der Troisdorfer Kirche. August den ersten Pfarrer der Gemeinde, Provin- • Himmelfahrt 1909: Schwester Barbara Conra- zial-Pfarrvikar Neumann, der durch 10jährige dy aus Troisdorf wird in Kaiserswerth als Tätigkeit in der Gemeinde aufs engste mit ihr ver- Diakonisse eingesegnet. bunden war. [...] [Er wurde] am 30. September in • 1910 wird zur Unterstützung des Pfarrers eine sein Amt eingeführt. [...] Der neue Pfarrer legte Gemeindeschwester angestellt. seiner Predigt die Inschrift auf dem neugeschaffe- • Die Gemeinde hat drei Chöre: in Troisdorf nen Kirchensiegel zugrunde. Dasselbe zeigt das einen Kirchenchor und einen Männerchor und Bild der Kirche, rechts und links neben dem Turm auf der Friedr.-Wilh.-Hütte einen Kinderchor. die beiden Jahreszahlen der Einweihung der Kir- che und der Verselbständigung der Gemeinde, Das Pfarrhaus wurde schließlich 1914/15 in 1903 und 1906, und als Umschrift die Worte I Betrieb genommen, das Gemeindehaus 1936. Da Petri 2, Vers 17: ‚Habt die Brüder lieb! Fürchtet war Pfarrer Neumann bereits verstorben, und Pfar- Gott! Ehret den König!‘ rer Theiß hatte seine Nachfolge angetreten. Doch dies ist schon das nächste Kapitel der Geschichte Entwickelung des der Evangelischen in Troisdorf. Gemeindelebens Literatur: Gottesdienst und Pfarrunterricht, die das Herz alles Walter Neumann: Geschichte der evangelischen evangelischen Gemeindelebens bilden, waren also Gemeinde Troisdorf, Bonn 1910. seit dem 1. August 1896 vorhanden. 1903 durften Matthias Dederichs, Die Eisenhütte an der Sieg wir in die Kirche einziehen. Wie schön klangen uns 1823-1923, Schriftenreihe des Archivs der Stadt deren Glocken [...]. […] Troisdorf Nr. 26, Troisdorf 2009. Noch besitzt die Gemeinde kein Pfarrhaus.13 [...] Helmut Schulte: 100 Jahre Schule Viktoriastraße, Einen ersten Baustein haben wir kürzlich [...] für in: Troisdorfer Jahreshefte XXIX/1999, hier zitiert ein Gemeindehaus erhalten. Dessen Bau wird all- als „Schulte, Schule“. seitig als dringend anerkannt. [...] [W]ir vertrauen Helmut Schulte: Ein Hort des Friedens. 100 Jahre darauf, daß uns Gott der Herr die Mittel und Evang. Johanneskirche – Stadtkirche in Troisdorf, Wege finden lassen wird, auch dieses Ziel zu hg. von der Evang. Kirchengemeinde Troisdorf, erreichen.“ Troisdorf 2003, hier zitiert als „Schulte, Kirche“. 13 Neumann wohnte im Haus Viktoriastraße 9, das er als Privathaus erbaut hatte. 9
K O M PA S S Ausgabe 673 -- Juni bis August 2017 NACHRICHTEN & TERMINE Reformation in Troisdorf „Mit Liebe und mit Strenge“ Troisdorfer Pfarrer in der Fürsorge- erziehung (1910-1933) von Heike Groß Die zunehmende Industrialisierung seit der Mitte Preußischen des 19. Jahrhunderts schuf nicht nur Arbeitsplätze, Fürsorgegesetz sie führte gerade in entstehenden Industriestädten von 1900 wurde wie Troisdorf auch zu mancher Not. Der Erste die staatliche Weltkrieg und das ihm folgende wirtschaftliche Fürsorge auf die Elend bestimmten die Arbeit der Evangelischen Gruppe von Kirchengemeinde. Walter Neumann, der erste Pfar- Kindern und rer der Gemeinde, ging im Frühjahr 1913 in den Jugendlichen Ruhestand und starb nur vier Monate später. Auf ausgeweitet, die ihn folgte Karl Theiß, der zur Jahreswende 1914/15 „nur“ verwahr- in das neu errichtete Pfarrhaus an der Viktoriastraße lost waren oder einziehen konnte. Theiß war ein volkszugewandter denen Verwahr- Pfarrer; neben Gottesdiensten und Amtshandlungen losung drohte. lag ihm viel am Aufbau des Gemeindelebens. Die Der Begriffs- Gemeinde wuchs weiter. 1911 hatte Louis Mann- wechsel zur Pfarrer Theiß staedt die Friedrich-Wilhelms-Hütte übernommen. „Fürsorgeerzie- Er und seine Söhne Carl und Ludwig bauten das hung“ deutete auf einen Wandel im pädagogischen Quelle: H. Schulte, Ein Hort des Friedens, Troisdorf 2003, S. 34 Werk aus, gründeten drei Siedlungen (die schwarze Denken „Erziehung statt Bestrafung“ für kriminelle Kolonie, die rote Kolonie und die Beamtensied- und verwahrloste Kinder und Jugendliche hin. Die lung) und holten mehr als 600 Facharbeiter, über- staatliche Erziehung zielte auf Arbeit, Religion und wiegend aus Kalk, auf die Hütte, darunter viele sittliches Verhalten. Evangelische mit ihren Familien. Schätzte Pfarrer Neumann 1908 die Zahl der Gemeindemitglieder In diesem Zusammenhang bat Amtsgerichtsrat Rie- noch auf 1.300, so zählte man derer 1930 bereits kelen am 25.09.1906 Pfarrer Neumann um Unter- 3.412. stützung: „Mehrere Vorkommnisse haben ergeben, daß im Einen erheblichen Teil ihrer Zeit müssen die Pfarrer Interesse der Jugendfürsorge [...] eine enge Füh- Neumann und Theiß mit sozialen Aufgaben ver- lung des Vormundschaftsgerichtes mit caritativen bracht haben. Dazu zählte auch die Kinder- und Vereinen und zuverlässigen Personen, welche Jugendfürsorge. 35 Fälle aus dieser Zeit (1906- durch ihre Tätigkeit in näherer Berührung insbe- 1937) sind im Archiv der Evangelischen Kirchen- sondere mit der arbeitenden Bevölkerung kommen, gemeinde überliefert. Wir dokumentieren hier zwei höchst wünschenswert ist. von ihnen. Den Vormundschaftsgerichten muß naturgemäß mancherlei, was Abhülfe und Einschreiten „Wir werden ihm schon Gehorsam beibringen“ erheischt, unbekannt bleiben, wenn ihm nicht [...] – Pfarrer Neumann und die Fürsorgeerziehung auch von denjenigen Unterstützung zuteil wird, in der Kaiserzeit welche durch Beruf [...] von Mängeln und Fehlern in der Erziehung und Pflege Minderjähriger [...] Mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 Kenntnis erhalten. [...] Von Wichtigkeit würde es wurden kriminelle Kinder unter 12 Jahren nach auch sein, [...] zuverlässige Personen kennen zu dem Reichsstrafgesetzbuch nicht mehr bestraft, lernen und nachgewiesen zu erhalten, die zur Erzie- sondern in staatliche Erziehung gegeben.1 Gleiches hung Minderjähriger [...] geeignet sind.“2 galt für strafmündige, straffällig gewordene Kinder zwischen 12 und 18 Jahren aufgrund eines richter- Woraufhin Pfarrer Neumann handschriftlich ant- lichen Beschlusses. Die Ausführung dieser wortet, „daß ich selbst gerne behülflich sei [...]“. „Zwangserziehung“ wurde im Land Preußen der Provinzialverwaltung übertragen, die wiederum auf Die Aufzeichnungen zur „Waisenpflege und Für- die Zusammenarbeit mit kirchlichen Einrichtungen sorgeerziehung“ im Archiv der Kirchengemeinde in der Heimerziehung angewiesen war. Mit dem sind sehr lückenhaft, aber an den wenigen mehrjäh- 1 Vgl. zum Folgenden Annette Lützke, Öffentliche Erziehung und Heimerziehung für Mädchen 1945 bis 1975: Bilder „sittlich verwahrloster“ Mädchen und junger Frauen, Duisburg 2002, S. 23-28. 2 Dieser Schriftverkehr und der folgende zu Christian Sch. sind dem Archiv der Ev. Kirchengemeinde Troisdorf, Titel II Gemeindevertretung, Abt. 2 Amtsverwaltung, No. 5 Waisen- u. Fürsorgeerziehung, entnommen. 10
K O M PA S S Ausgabe 673 -- Juni bis August 2017 Reformation in Troisdorf NACHRICHTEN & TERMINE Foto vom Familienausflug des Ev. Kirchenchores nach Weingartsgasse, 11.7.1926 rig dokumentierten Lebensläufen lässt sich ersehen, schreiben. Der Vater bringt ihn als Hilfsarbeiter in Quelle: Archiv der Ev. Kirchengemeinde Troisdorf wie schnell und energisch im Einzelfall in die einem Werk in Friedrich-Wilhelms-Hütte zum Familien und in die Erziehung durch weltliche und „Aufbauen von Maschinen, Putzen und für Boten- geistliche Obrigkeit eingegriffen wurde. Sie zeigen gänge“ unter. Pfarrer Neumann besteht pflichtge- zugleich die – wenn auch sehr patriarchal anmuten- mäß darauf, dass ihm ein Teil seines Lohnes ausge- de – Sozialarbeiter-Funktion des Ortsgeistlichen in händigt wird, um es auf einem Bankkonto anzuspa- dieser Zeit. ren. Damit ist der Vater von Christian nicht einver- standen. Dies veranlasst Pfarrer Neumann am Als Beispiel sei hier der Fall des Jungen Christian 23.11.1908 zu folgendem Brief an den Direktor Sch., geboren 1893, geschildert. Am 22.09.1906 Knaut: fragt das Amtsgericht Siegburg an, ob eine Fürsor- geerziehung erforderlich sei. Pfarrer Neumann „Um meine Forderung, dass sein Sohn von seinem ergänzt handschriftlich: „Fürsorgeerziehung für Arbeitslohn jede Woche 1 M[ark] sparen solle war notwendig gehalten“. Auf einem undatierten Blatt der Vater Sch. außerordentlich unglücklich; er ließ formuliert die „Gründe der Fürsorgeerziehung“: sich schließlich nur dazu bestimmen, dadurch dass • Schule: Unfleiß, geringe Fortschritte ich erklärte, mich mit der Hälfte zufrieden zu • Mehrfach Kohlen, 1 mal Zink gestohlen, [...] geben, zugleich aber ihn darauf hinwies, dass ich • 2 Tauben entwendet – [...] von dem Wagen eines als Fürsorger diese Forderung stellen müsse, und Bäckermeisters an der Straße falls er derselben nicht nachkomme, in meinem 1 Brötchen entwendet! nächsten Bericht an den Herrn Landeshauptmann Fürsorgeverfahren ausgesetzt, um zu sehen, ob das bemerken würde. Da er klagte sein Sohn brau- Besserung erfolge. che viel Kleidungsstücke sagte ich ihm im Falle Noch vor Ablauf von 3 Monaten wiederum mehr notwendigen Bedarfs könne er mit meiner Einwilli- Diebstähle. Wieder Bäcker K. in der angegebenen gung ein Teil des Ersparten dazu verdienen. Dem- Weise bestohlen, und am Diebstahl von Zink betei- gemäß wurde für Christian zunächst 1 Paar ligt, auf dem Jahrmarkt Spielsachen entwendet!“ Arbeitsschuhe für 6 M angeschafft. Dieselben waren schon nach 2-3 Monaten völlig verschlissen Christian wurde daraufhin in die Erziehungsanstalt wie ich mich durch den Augenschein überzeugte. Hardehausen eingewiesen.3 Der Antrag des Vaters [...] Nun baten mich Vater und Sohn die Anschaf- vom 1.10.1907 auf Aufhebung der Fürsorgeerzie- fung eines neuen Paars Arbeitsschuhe und zugleich hung und Entlassung aus der Erziehungsanstalt eines Paars schöner Schuhe für den Sonntag zu wird vom Landeshauptmann der Rheinprovinz gestatten im Preise von ca. 15 M. Da der Betrag für abgelehnt mit dem Hinweis, dass die „Erziehung diese beiden Paare das Gesparte um etwa 10 M Ihres Sohnes noch nicht abgeschlossen ist.“ Erst überstieg, erbot der Vater Sch. sich freiwillig zu tun, nachdem Pfarrer Neumann im März 1908 das Amt wogegen er sich so sehr gesträubt hatte[, nämlich] des Fürsorgers zur „Beaufsichtigung des Zöglings“ 1 M wöchentlich zu bezahlen. Ich hätte mich nicht übernimmt, darf der Junge wieder zu seinen Eltern, darauf einlassen sollen, tats aber. Am folgenden muss aber regelmäßig an den Direktor der Erzie- Tag, ein Sonntag, an welchem Christian [...] ent- hungsanstalt Hardehausen, Pfarrer Knaut, Berichte sprechend der von mir getroffen Anordnung [...] 3 Die königliche Erziehungsanstalt Hardehausen wurde zum 01.07.1902 in einer ehemaligen Zisterzienserabtei eröffnet. Die Anstalt nahm sowohl schulpflichtige als auch schulentlassene männliche Fürsorgezöglinge aus den preußischen Pro- vinzen auf. Der zweite Direktor, der das Heim leitete, war Pastor Hermann Knaut (1906-1911). Vgl. http://www.archive.nrw.de/LAV_NRW/jsp/findbuch.jsp?archivNr=409&tektId=411&id=082. 11
K O M PA S S Ausgabe 673 -- Juni bis August 2017 NACHRICHTEN & TERMINE Reformation in Troisdorf regelmäßig nach dem Gottesdienst zu mir in die Sakristei kam und dann das Geld mitgebracht [...] brachte er kein Geld: sein Vater hatte gesagt er könne erst am nächsten Sonntag 1 M mitbringen. Ich erklärte ihm [,] nachdem das Anerbieten seines Vaters von mir angenommen worden sei, hätte er gleich am nächsten Sonntag mit den Zahlungen von 1 M anfangen müssen; nicht was sein Vater darüber meine gelte, sondern was ich als Fürsorger anord- Quelle: Archiv der Ev. Kirchengemeinde Troisdorf ne; er solle die M[ark] nachträglich bringen. Nun brachte er am folgenden Sonntag 1,50 M das war am 1. Nov. An diesem Sonntag fragte ich ihn nun nach einer Sache, die ich kurz zuvor von seinem Dienstherren Herrn L. erfahren hatte: demselben sei vor ein paar Wochen [...] ein Stück Rotguss im Wert von 50 M fortgekommen. Er hatte Christian gefragt, ob er über den Verbleib desselben irgend- etwas wisse. Christian ganzes Gesicht überschlug sich schnell mit geballter Röte [...]. Er antwortete er wisse nichts davon. Auf mein weiteres Befragen erklärte er, mit ihm zugleich seien in dem betreffen- den Raum zu der fraglichen Zeit noch 4 andere jun- ge Leute gewesen [...] Die Namen die er mir nannte Originalbrief von Pastor Hermann Knaut waren von ausgesprochen ehrbaren Familien, an denen kein Verdacht anhaften kann. Seitdem ist Im August 1909 wird Christian Sch. in die Ret- Christian mir bis gestern nicht mehr in der Kirche tungsanstalt Düsselthal eingewiesen; der Fürsorge- vor die Augen gekommen.“4 auftrag für Christian Sch. wird von Pfarrer Neu- mann auf den Fürsorger der Rettungsanstalt über- Nach diesem Bericht an den Direktor der Erzie- tragen. Hiermit enden die Aufzeichnungen zu ihm hungsanstalt, kommt die Rückmeldung: „Ich habe im Archiv der Evangelischen Kirchengemeinde Herrn Sch. angewiesen, sich Ihren Anordnungen zu Troisdorf. fügen und den Jungen zu ermahnen, sich ja in Acht zu nehmen.“ „Hoffnung, dass es noch ein nützliches Glied der Gesellschaft wird“ – Pfr. Neumann erhält dazu eine Abschrift des Pfarrer Theiß und die öffentliche Erziehung in Schreibens an Vater Sch. vom 28.11.1908. Dort der Weimarer Zeit heißt es: „Die Anordnungen des Herrn Fürsorgers sind berechtigt! Eine Härte ist darin nicht zu erblik- Infolge des Ersten Weltkriegs nahm die gesell- ken, zumal Herr Pfarrer Neumann bereit gewesen schaftliche Bedeutung der Kinder- und Jugendfür- ist, von dem Ersparten zu den Kosten für Neuan- sorge in erheblichem Maße zu. Das Reichsjugend- schaffungen beizutragen. Im übrigen bitte ich Sie, wohlfahrtsgesetz (RJWG)5 von 1921 brachte nun auf Christian in jeder Beziehung acht zu geben. eine deutliche Ausweitung öffentlicher Erziehungs- Sobald das Geringste vorkommt, muß er in die kompetenzen mit sich.6 Kennzeichnend in der Wei- Anstalt zurück. Er soll sich auch vor dem Verdacht marer Republik war die Bürokratisierung und Pro- hüten, sich nur mit ordentlichen Jungen abgeben fessionalisierung der Kinder- und Jugendfürsorge, und in jeder Weise das Vertrauen des Arbeitgebers wobei die Erziehung stark konfessionell ausgerich- erwerben!“ tet blieb. In der Rheinprovinz gab es z.B. für weib- liche Zöglinge ausschließlich konfessionelle Heime. Im April 1909 schreibt Direktor Knaut an Pfr. Neu- mann: „Ich habe Christian ganz energisch Die neu geschaffenen zentralen Jugendämter in den Bescheid gesagt und ihn ermahnt. Teilen Sie mir Kommunen waren nun per Gesetz organisatorisch bitte sofort mit, wenn er den Lohnabzug nicht u.a. für die Amtsvormundschaften, die Mitwirkung bringt. [...] Wenn Sch. nicht gehorcht, muß er eben bei der Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung Kin- in die Anstalt zurück, da soll er sich schon umse- der- und Jugendlicher aller Altersgruppen zustän- hen. Da wird er ganz gehörig herangeholt. Wir dig. Dabei unterschied das RJWG zum einen zwi- werden ihm schon Gehorsam beibringen. Er soll schen „Schutzaufsicht“ (§§ 56 ff. RJWG), bei der selbst die Abzüge bringen, und ich bitte, vom Ein- ein vom Vormundschaftsgericht zu bestellender ziehen beim Arbeitgeber zunächst abzusehen.“ „Helfer“ den Erziehungsberechtigten „zur Verhü- 4 Transkription des in Stolze-Stenographie verfassten Briefes durch Dr. Rainer Hatoum, Berlin. 5 Reichsgesetzblatt Teil 1 1922 Nr. 54, ausgegeben Berlin, den 29. Juli 1922, S. 633-634 und 643-644. 6 Vgl. zum Folgenden Annette Lützke (wie Anm. 1), S. 30-32 und Joël Orizet/Christa Kappler, Grundzüge und Entwicklung der sozialen Arbeit. Professionalisierung von Sozialpädagogik (http://socio.ch/arbeit/t_orikap.htm), 2007, Kap. 4.1.3 Entste- hung des RJWG. 12
K O M PA S S Ausgabe 673 -- Juni bis August 2017 Reformation in Troisdorf NACHRICHTEN & TERMI- tung der körperlichen, geistigen und sittlichen Verwahrlosung“ des Minderjährigen „zu unter- stützen und zu überwachen“ hat- te. Der „Helfer“ verfügte über das Recht auf Zutritt zu dem Minderjährigen, seine Eltern waren zur Auskunft verpflichtet. Dabei ist bei der Übertragung des Helfer-Amtes „auf das reli- giöse Bekenntnis … des Minder- jährigen tunlichst Rücksicht zu nehmen“ (§ 60 RJWG). Zum anderen sieht das RJWG die vom Vormundschaftsgericht anzuordnende „Fürsorgeerzie- hung“ vor, d.h. die „Entfernung des Minderjährigen aus seiner bisherigen Umgebung“ und die Unterbringung in einer „geeig- neten Familie oder Erziehungs- anstalt“ zur „Beseitigung der Magdalenenasyl „Bethesda“ in Boppard – Mädchen bei der Arbeit Verwahrlosung wegen Unzu- länglichkeit der Erziehung“ (§ 62 ff. RJWG). Für „Bethesda“ in Boppard eingewiesen. Am 17.3.1928 Kinder und Jugendliche wurden zunehmend Kate- berichtet Oberin Sievers an den Landeshauptmann gorien zur „psychischen Gesundheit“ erstellt, um in Düsseldorf: diese einzuordnen und entsprechend zu fördern. „Geistig ist Helene beschränkt; ihre Aufnahmefä- higkeit ist wohl noch als genügend zu bezeichnen, Beispielhaft für diese Zeit sind die Aufzeichnungen aber Merk- und Konzentrationsfähigkeit sind aus dem Archiv der Evangelischen Kirchengemein- gering. Denk- und Urteilsfähigkeit sind bei Helene de Troisdorf zu dem Mädchen Helene V., geboren ganz mangelhaft ausgebildet. Die Schulkenntnisse 1911.7 Mit Schreiben vom 26.1.1928 bittet das des Mädchens sind ziemlich lückenhaft. Im Unter- Amtsgericht Siegburg Pfarrer Theiß 8 um „schleuni- richt zeigt sie kein Interesse. ge Äußerung über die Notwendigkeit der Fürsor- Charakterlich ist Helene ganz unreif und unklar; geerziehung“. Das Mädchen befindet sich zu dieser sie zeigt stark psychopathische Züge in ihrem Zeit im Ev. Fürsorgeheim in Neuwied. Pfarrer Wesen. Sie ist in ihrem Empfindungswesen zügellos, Theiß, der auch Mitglied des örtlichen Jugendhilfe- fällt aus einem Extrem in das andere. So zum Bei- ausschusses ist, soll nun Auskunft geben, „wie die spiel wenn sie eben schallend gelacht hat, weint sie häuslichen Verhältnisse beschaffen sind, in denen im nächsten Augenblick. Helene kann recht frech die Minderjährige lebte, ob die Eltern [...] einen werden, sie versuchte in den ersten Tagen mit genügenden erziehlichen Einfluss [...] ausüben und schnippisch-frechem Ton durchzukommen. Das ob diese körperlich und geistig gesund ist.“ Mädchen hat etwas Grobes in seinem Benehmen und gebraucht hässliche Ausdrücke. In sittlicher Pfarrer Theiß antwortet bereits am 28.1.1928: Beziehung scheint sie schon recht verdorben zu „Die Fürsorge der Helene V. wird von hier aus für sein. Helene hat eine unsaubere Phantasie.“ dringend notwendig erachtet und deshalb befür- wortet“, da die „häuslichen Verhältnisse [...] sehr Und weiter schreibt sie: „In ihrer Arbeit ist Helene unerfreulich“ sind. „Der Vater ist den ganzen Tag wechselnd je nach ihrer Stimmung; sie macht die zu Arbeit, steht vollständig unter dem Einfluß sei- Arbeit unordentlich; auch an sich selbst ist sie nicht ner Frau und lebt in steter Furcht vor ihr. Die Stief- sauber und ordentlich. Das Mädchen zeigt wenig mutter ist meines Erachtens hochgradig hysterisch Familiensinn und spricht in gehässiger Weise und macht einen sehr ungünstigen Eindruck. Hele- besonders von ihrer Stiefmutter.“ ne selbst ist körperlich schwach entwickelt, geistig Sie zieht folgendes Fazit: „Es wird längere Zeit kon- dagegen vollständig gesund. Vermutlich liegt eine sequenter Erziehung nötig sein, ehe das Mädchen Vererbung seitens ihrer verstorbenen Mutter vor, eine genügende Charakterfestigkeit gewonnen hat, die auf sittlichem Gebiet leicht gewesen sein soll.“ und ehe es fürs Leben brauchbar geworden ist.“ Das Mädchen wird daraufhin am 6.2.1928 in Am 30.03.1928 wurde das Mädchen in das Ev. Für- das Fürsorge-Erziehungs-Haus Magdalenen-Asyl sorgeheim Ratingen überstellt. 7 Quelle des Schriftverkehrs wie Anm. 2. 8 Theiß hat sich überhaupt viel mit dem Thema „Erziehung“ beschäftigt. In einer im Archiv der Ev. Kirchenge- meinde aufbewahrten Predigt zu JesSir 7,25 legte er schon 1916 seine Erziehungsgrundsätze dar: „Fragst du, wie soll ich meine Kinder ziehen, so gebe ich die Antwort: mit Liebe und mit Strenge.“ 13
K O M PA S S Ausgabe 674 -- Sept. bis Okt. 2017 NACHRICHTEN & TERMINE Reformation in Troisdorf „Strengste Neutralität“ – die Evangelische Kirchengemeinde Troisdorf in der Nazizeit von Ingo Zöllich (Quelle: Dederichs/Schulte, „Archivbilder Troisdorf“, Erfurt 1998, S. 116) „Heldengedenktag“ in der Kirche während der Nazizeit Die Mehrheit der protestantischen Elite in Deutsch- der kirchlichen Gremien mit sich. Im Rheinland land hat sich nicht mit der Weimarer Republik hatten die Gemeinden eine „Gemeindevertretung“ anfreunden können, sondern trauerte der „Allianz zu wählen, die wiederum die Mitglieder des Pres- von Thron und Altar“ im Kaiserreich nach. byteriums bestimmte. Wie in fast allen rheinischen Deutschnational denkend, begrüßten viele evange- Gemeinden fand auch in Troisdorf keine echte lische Repräsentanten 1933 die „Machtergreifung“ Wahl statt, weil es nur eine Vorschlagsliste für die Adolf Hitlers und seiner Nationalsozialisten, die Gemeindevertretung gab. Die Vorgeschlagenen sich gerade in jenem Jahr besonders fromm gaben. galten als gewählt und bestimmten am 30. Juli das Über die damalige Stimmungslage unter den Evan- Presbyterium. gelischen in Troisdorf liegen nur noch wenige Quellen vor, immerhin aber die kompletten Proto- Von den sechs Presbytern, die Anfang 1933 im Amt kolle der gemeindeleitenden Gremien. Christa waren, gehörte nur noch einer dem neuen Presbyte- Tölkes-Becker, Verena Schlöder und Johanna rium an. Unter den fünf neuen Presbytern befand Schwalge haben nun die oft schwer lesbaren hand- sich auch Arthur Schellberg, der bei den Kommu- schriftlichen Protokolle in eine Textdatei übertra- nalwahlen im März für die NSDAP in den Troisdor- gen, so dass ein Überblick über die Geschichte der fer Gemeinderat gewählt worden war. Schellberg Gemeinde zwischen 1933 und 1945 möglich ist. und zwei weitere neue Presbyter waren DC-Mit- glieder. Der Gemeindegruppenleiter der „Deut- Kirchenpolitische Situation 1933 schen Christen“, Studienrat Dr. Erich Winheller, war zwar nicht Presbyter, gehörte aber der größeren Auch der Troisdorfer Pfarrer Karl Theiß sympathi- Gemeindevertretung an. Als die Gemeindevertre- sierte zunächst mit den neuen Machthabern. Nach- tung am 1.8.1933 die Abgeordneten zur Kreissyno- dem die Nationalsozialisten Ende April die de wählte, schlug Pfarrer Theiß ihn als 1. Stellver- Betriebsräte in den Troisdorfer Betrieben abgesetzt treter des Kreissynodalen vor. Winheller kandidier- hatten, organisierten sie für den 1. Mai eine stadt- te dann für die Abgeordnetenposition selbst und weite Arbeiterfeier auf der Wahner Heide mit etwa wurde auch gewählt. Später beanstandete der rhei- 15.000 Menschen. Pfarrer Theiß hielt einen Feldgot- nische Präses diese Wahl, weil Winheller das erfor- tesdienst, die SA-Kapelle spielte die Musik dazu, derliche Mindestalter noch nicht erreicht habe, und und NS-Politiker hielten Reden von „der deutschen der oberste „deutsche Christ“ Troisdorfs vertrat die Auferstehung“. Pfarrer Theiß war zudem Mitglied Gemeinde dann doch nicht auf der Kreissynode. der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ (DC), die in der „nationalen Erhebung“ auch die Rückkehr Kirchenpolitische Neutralität ab von Staat und Volk zur Kirche sah. November 1933 Im Zuge der staatlichen „Gleichschaltungspolitik“ Eine erste inhaltliche Auseinandersetzung mit den sollten dann im Frühsommer 1933 die bisher nur „Deutschen Christen“ gab es bei der Planung der lose verbundenen evangelischen Landeskirchen zu Lutherfeier, die am 10.11.1933, dem 450. Geburts- einer nach dem „Führerprinzip“ aufgebauten tag von Martin Luther, anstand. Für die DC wirkte „Deutschen Evangelischen Kirche“ zusammenge- Dr. Winheller an den Planungen mit. Er schlug schlossen werden. Dies gelang nur teilweise, brach- sowohl im Vorbereitungsausschuss als auch in der te jedoch im Juli 1933 deutschlandweit Neuwahlen Gemeindevertretung vor, nach dem Gottesdienst 14
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