Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin

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Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Bilder der Natur.
Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-
sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
SOPHIA GRÄFE UND JULIA BÄRNIGHAUSEN

Abstract

Die Geschichte des Museums für Naturkunde Berlin hat eine umfangreiche Bildersammlung hervorgebracht. Sie ist
heute Teil der Historischen Arbeitsstelle, dem zentralen Archiv des Museums, welches sich im Laufe des 20. Jahrhun-
derts formierte. Zunächst waren es vor allem Einzelpersonen, die vor dem Hintergrund von biologiegeschichtlichen
Fragestellungen historische Materialien zu katalogisieren begannen. Ihr Handeln hat sich in die „Bilder der Natur“
eingeschrieben und eine Reihe von Ordnungssystemen hervorgebracht, deren jeweilige Charakteristik unterschiedliche
Zugangsweisen zu den Bilddokumenten bedingt. Sie folgen dem Prinzip von Liste, Kartei und Datenbank. Eine Beschäf-
tigung mit diesen Medien des Sammelns und Adressierens erlaubt eine Zeitreise sowohl in die Geschichte der Histori-
schen Bild- und Schriftgutsammlungen als auch zu den historiographischen Ansätzen ihrer Akteur:innen. Die hier erst-
mals vorgestellte Arbeitskartei der Historischen Bildsammlungen verbindet als „boundary object“ Blicke und Gewerke
und verdeutlicht die naturkundliche Notwendigkeit einer operablen Verweisstruktur zwischen Sammlungsobjekten, Bil-
dern und Papier. Zudem ist sie auch im Sinne eines „historiographischen Objekts“ wirksam. Die durch die Bilderkartei
bestimmten Wege des Suchens, Verweisens und Verknüpfens von Informationen gestalten entscheidend die Formen
historischen Erzählens mit. Dieser Aufsatz stellt folglich einen Beitrag zur Historiographie wissenschaftlicher Samm-
lungen dar. Er perspektiviert Sammlungsgeschichte als Geschichte ihrer Ordnungssysteme.

Einleitung                                                    Es soll möglichst alles der Forschung Dienliche vorhanden
                                                              sein (Heumann 2013). Andererseits ist mit dem Vorstel-
Die Geschichte naturkundlicher Museen hält reichhaltige       lungsraum des Archivs auch eine Art Herberge genealogi-
Bezüge zur Kultur- und Wissensgeschichte des Sammelns         scher Erzählungen gemeint (MacDonald 2012), in denen
bereit (Te Heesen & Spary 2001). Eine beachtliche Menge       sich am Gegenstand des Naturkundemuseums nicht nur
an Studien hat sich in den letzten Jahren der hegemonialen,   Erdgeschichte, sondern auch Wissenschaftsgeschichte er-
ökonomischen und kolonialen Seite dieser kulturellen Praxis   eignet. Nimmt man nun diese Archivfunktion wörtlich, erge-
zugewandt. Erste Monographien über die auch im politi-        ben sich neue Fragen zum Zusammenhang dieser erfolgrei-
schen Sinne verflochtene Geschichte naturkundlicher Samm-     chen Spezialmuseen und ihrer historischen Archive: Inwiefern
lungen regen zu einer interdisziplinären Beschäftigung mit    reüssiert das Projekt der Naturkundemuseen nicht nur im
dem am Ort des Naturkundemuseums verhandelten Wis-            Besitz möglichst originärer Sammlungsobjekte, sondern vor
sen über Natur und ihre Ökologien an (Köstering 2003;         allem auch durch die Dokumente und deren Ordnungssys-
Köstering 2018; Heumann, Stoecker & Tamborini u. a.           teme, die sie begleiten und beglaubigen – von Akten und
2018; Helbig 2019). Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind       Bildern über Etiketten und Beschriftungen bis hin zu Samm-
diese im Wirkungsfeld von Politik und Wissenschaft ent-       lungskatalogen, -datenbanken und -karteien (Ohl 2019;
standenen Häuser Schauplätze und Speicher ge­sell­schaft­     Te Heesen 2008)?1 Ließen sich der wissenschaftliche An-
lich wirksamer Ansichten von Natur (MacDonald 1998;           spruch, aber auch der repräsentative Status naturkundlicher
Alberti 2008; Nyhart 2009).
    Es wundert darum nicht, dass im Metaphernraum natur-
kundlicher Museen der Begriff des Archivs Einzug gehalten
hat (Helbig 2019, 69–80). Mit der Rede vom „Archiv der
Natur“ ist einerseits der Repräsentationsanspruch wissen-
schaftlicher Akkumulationsprojekte wie die im Paradigma
der Vollständigkeit operierende biologische Taxonomie oder
                                                              1   Die Frage nach dem Authentischen in der Objekt- und Material-
die auf dem phylogenetischen Vergleich einer ganzen Masse         vielfalt der Institution Museum untersuchten Ohl 2017 sowie
an Exemplaren fußende Evolutionsbiologie angesprochen.            Kimmel & Brüggerhoff 2020.

Perspektive des Sammlungswissens                                                                                            57
Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Sammlungen folglich nur gemeinsam mit der Güte und Dich-                     Friedrich-Wilhelms-Universität, heute Humboldt-Universi-
te ihrer archivischen Überlieferungen betrachten?2                           tät zu Berlin, in der Invalidenstraße eingeweiht.5 Es verein-
     Der vorliegende Beitrag setzt an einem Hinterzimmer                     te drei bis dato unabhängige Einrichtungen: das Zoologische
der zumeist in Schausammlung und Forschungsdepot un-                         Museum, das Geologisch-Paläontologische Museum und
terteilten Museen an und stellt den bislang untersuchten                     das Mineralogisch-Petrografische Museum.6 Jedes dieser
„Menschen im Museum“ (Kretschmann 2006) die Figur                            drei Museen verfügte über fachspezifische Objektsammlun-
des Registrars3 zur Seite. Am Beispiel der Historischen Bild-                gen, welche fortan im Geiste der „new museum idea“ in einen
sammlungen4 des Museums für Naturkunde Berlin lässt sich                     öffentlichen Schaubereich und Forschungssammlungen un­
anschaulich darstellen, inwiefern diese Sammlung bildlicher                  ter­teilt wurden (Jahn 1989a, 291–295; Te Heesen 2012,
Dokumente verschiedene Interessen, Berufe und Funktio-                       64–65). Während erstere den Studierenden der Universität
nen verbindet. Das Objekt dieser Darstellung ist dabei eine                  und einem breiteren Publikum offenstanden, waren letzte-
Art Schaltstelle für eine genuin interdisziplinäre Zusammen-                 re Wissenschaftler:innen vorbehalten (Jahn 1989a, 293).
arbeit im Museum: Die hier erstmals vorgestellte Arbeits-                    Die Sammlungen wurden stets von Schrift- und Bildmaterial
kartei der Historischen Bildsammlungen verbindet einzelne                    begleitet (Jahn 1989a, 293; Helbig 2019, 17, 41). Heute
Akteur:innen und verdeutlicht die naturkundliche Notwen-                     stellen die Verwaltungs- und Forschungsakten, Korrespon-
digkeit einer operablen Verweisstruktur zwischen Samm-                       denzen und Bilder des früheren Zoologischen Museums
lungsobjekten, Bildern und Papier.                                           den größten Teil der sogenannten „Historischen Bild- und
     Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte und                      Schriftgutsammlungen“ (HBSB) dar.
den Bestand der Historischen Bildsammlungen geht dieser                           Eine Sammlung historischer Dokumente, welche den
Text auf die Charakteristik der verschiedenen Ordnungssys-                   Anspruch einer zentralen Einrichtung im Museum vertrat,
teme des Bestandes ein. Eine ausführliche Schilderung von                    entstand jedoch erst im 20. Jahrhundert. Dabei waren es vor
Aufbau und Funktionsweise einer noch heute existierenden                     allem Einzelpersonen, die vor dem Hintergrund vornehmlich
Zettelkartei liefert dabei die Grundlage für ein abschließen-                biologiegeschichtlicher Fragestellungen historische Mate-
des Plädoyer: Die integrative Beforschung wissenschaftli-                    rialien zu katalogisieren begannen. Ihr Umgang mit den
cher Sammlungen und ihrer Archive kann nur unter Einbe-                      Historischen Sammlungen hat eine Reihe von Ordnungs-
ziehung historischer Ordnungssysteme gelingen. Als Teil                      systemen hervorgebracht, deren jeweilige Charakteristik un-
einer historischen Sammlung verstanden, gestalten sie den                    terschiedliche Zugangsweisen zu den Dokumenten bedingt.
Wissensraum Archiv mit.                                                      Sie folgen dem Prinzip von Liste, Kartei und Datenbank.
                                                                             Eine Beschäftigung mit diesen Medien des Sammelns und
Die Historischen Bildsammlungen des                                          Adressierens erlaubt eine Zeitreise sowohl in die Geschichte
Museums für Naturkunde Berlin                                                der Historischen Bild- und Schriftgutsammlungen als auch
                                                                             zu den historiographischen Ansätzen ihrer Akteur:innen.
Das Museum für Naturkunde Berlin (MfN) wurde 1889 als
Neubau für die naturwissenschaftlichen Sammlungen der                        Zur Geschichte von Liste und Kartei

                                                                             Die wohl erste heute bekannte Registratur historischer Bil-
2    An dieser Stelle sei auf die AG Archive der Leibniz-Gemeinschaft        der nahm der Zoologe Walther Arndt (1891–1944) in den
     verwiesen, die ebenjene Bedeutung erkannt hat (Brogiato                 1920er Jahren vor (Hackethal 1989b, 256). Als Systema­
     2011), sowie auf die Archivarin des Naturhistorischen Museums
     in Wien (Riedl-Dorn 2008), den Archivar Joachim Scholz des              tiker war er unter anderem auf das Zählen von Tierarten
     Senckenberg-Museums in Frankfurt am Main (Scholz & Afshar               spezialisiert (Ulrich 1961, 30 –37; Ohl 2015, 227–262).
     2017) und den Archivar des Natural History Museum in London             So dienten ihm vor allem Listen etwa für eine Übersicht
     (Thackray 1998), welche in ihren Publikationen den Wert der
                                                                             über die bis dahin auf deutschem Territorium bestimmten
     naturkundlichen Museumsarchive unterstreichen und über de-
     ren Bestände systematisch und strategisch berichten.                    Arten (Arndt 1941, 28–92). Die von Arndt erfassten Bil-
3    Die aus dem Englischen übernommene Berufsbezeichnung ist
                                                                             der bringen jedoch keine Fauna zur Anschauung. Sein „Ver-
     seit Mitte der 1970er Jahre in Deutschland bekannt. Im Gegen-
     satz zu Registrator:innen reichen die Aufgaben von Regis­trar:in­
     nen weiter: Neben der dokumentarischen Erfassung beinhalten
     sie auch die aktive organisatorische, juristische und wirtschaftliche   5   Zur Vorgeschichte der drei Museen und ihrer Sammlungen siehe
     Betreuung von Sammlungen und Ausstellungen. Deutscher Mu-                   u. a. Jahn 1985; Jahn 1989a; Jahn 1989b; Hoppe 1998–2003;
     seumsbund 2019, 81; Simmons, Kiser & American Alliance                      Bredekamp, Brüning & Weber 2000; Damaschun, Hacket-
     Of Museums 2020; Registrars Deutschland e. V., Berufsbild,                  hal & Landsberg u. a. 2010; Dolezel 2019; Helbig 2019.
     https://registrars-deutschland.de/berufsbild (2.8.2021).                    Eine kurze Geschichte der HBSB mit Schwerpunkt auf ihrem
                                                                                 Dokumentationsprofil zwischen Sammlung und Archiv bietet
4    Bei den Historischen Bildsammlungen handelt es sich um eine
                                                                                 Reimers 2021.
     Eigenbezeichnung der Bestände; mit den „historischen Bilder-
     sammlungen“ sprechen wir darüber hinaus die Pluralität der im           6   Zur Benennung als Museen, Sammlungen, Institute und Abtei-
     Museum vorhandenen Bildmaterialien an.                                      lungen: Jahn 1989a, 291–292; Helbig 2019, 172.

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Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 2: Porträt von Walther Arndt vor seinem Schreibtisch im
                                                                    Museum für Naturkunde, undatiert. MfN, HBSB, ZM B I 2236

                                                                    weitere Registratur lässt sich der Ursprung in Arndts Tätig-
                                                                    keit verorten. Ein Nachruf stilisiert ihn als Mensch der
                                                                    Sammlung – weniger von Objekten als von „Karthotheken
                                                                    mit Zitaten und Notizen“ (Ulrich 1961, 25) (Abb. 2). So
                                                                    enthält die heutige Kartei der Historischen Bildsammlun-
                                                                    gen einzelne Kärtchen zu Zoologen, Forschungsstationen
                                                                    und Expeditionsschiffen, deren Tintenschrift den Einträgen
                                                                    im „Verzeichnis“ gleicht: Walther Arndt hatte auch ein mo-
Abb. 1: Ansicht des von Walther Arndt (1891–1944) erstellten        dulares Register der Bilder im Medium der Kartei begonnen.9
„Verzeichnis der Bilder von Biologen etc. des Zool. Museums             Als Günter Tembrock (1918–2011) 1959 seine „Ge-
Berlin“. MfN, HBSB, Nachlass Walther Arndt (unerschlossen).         schichte der Zoologie in Berlin“ schrieb, konnte er an eine
Foto: Carola Radke, 2021 © MfN
                                                                    wesentlich umfangreichere archivische Vorarbeit anknüpfen.
                                                                    Im Paratext seiner Chronik richtet er seinen Dank an Prof.
                                                                    Erwin Stresemann sowie „Frau Grote“ für den „Zugang zu
zeichnis der Bilder von Biologen etc. des Zool. Museums             den Archiven des Museums“ (Tembrock 1958/59, 185).
Berlin“7 von 1924 umfasst vor allem Fotografien bekannter           Dieser Hinweis legt eine Spur zur bislang wenig bekannten
Zoolog:innen mitsamt ihrer Netzwerke und Wirkungsstät-              Tätigkeit der ab 1945 im Museum arbeitenden Gertrud-
ten (Hackethal 1989b, 256). Arndt unterteilte den Be-               Luise Grote (1890–1981).10 Als „technische Assistentin“
stand in mehrere Kategorien: Porträts von Einzelpersonen,           des bekannten Ornithologen Erwin Stresemann (1889–
Gruppenporträts und Ansichten von Gebäuden (Abb. 1).                1972) hatte sie in den Nachkriegsjahren einen Zettelkatalog
Das tabellarisch geführte Heft, in dem für jedes Bild Titel,        für Schriftgut und Bilder des Zoologischen Museums an-
Art, Format, Eingangsdatum und Herkunft vermerkt wur-
den, ähnelt in seiner Anlage einem typischen Bildinventar,
wie es zum Beispiel auch aus der Kunstgeschichte bekannt
ist (Dercks 2013, 30). Aus diesem „Verzeichnis“ entwi-
ckelte Arndt 1933 ein Inventarbuch, das die bisherigen
Kategorien um eine Sektion zu „Folio-Bildern“ ergänzte
(Hackethal 1989b, 256).                                             9   Zu Geschichte, Funktionsweise und Bedeutung des Mediums
     Diese gebundene Liste bildet die erste Kategorie unse-             Kartei u. a.: Krajewski 2011 und Gfrereis & Strittmatter
                                                                        2013; darüber hinaus zum Umgang mit „paper tools“: Jardine
rer Genealogie der Ordnungssysteme.8 Aber auch für eine
                                                                        2017.
                                                                    10 Die Einsicht in die Geburtsurkunde mit amtlich ergänztem Todes­
                                                                       datum verdanken wir Paul Scofield, Senior Curator Natural His-
7   MfN, HBSB, Bestand Zool. Mus., Nachlass Walther Arndt (uner-
                                                                       tory am Canterbury Museum New Zealand (Korr. 28./29.1.2021),
    schlossen).
                                                                       auch online einsehbar unter Ancestry.com Deutschland: Ance-
8   Zur epistemischen Funktion der Liste in der Biologie: Müller-      stry Ahnenforschung, www.ancestry.de (5.2.2021). Des Weite-
    Wille & Charmantier 2012 und MacKinney 2017. Weiter-               ren: MfN, HBSB, Personenkartei Portraitsammlung, Karteikarte
    führend zur Evidenzproduktion von Listen Cuntz, Nitsche &          „Grote, Gertrud-Luise“ (Porträtfotografie unter: Bestand Zool.
    Otto u. a. 2006.                                                   Mus. Sign. B II/288).

Perspektive des Sammlungswissens                                                                                                   59
Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
ein separates „Geschichts-Archiv“ vorsah.15 Sein Bemühen
                                                                       um eine Bewahrung historischer Dokumente ist auch vor
                                                                       dem Hintergrund der Verlagerungen und starken Verluste
                                                                       in den Sammlungen während des Zweiten Weltkriegs und
                                                                       danach zu verstehen, welche ein geschärftes Bewusstsein
                                                                       für die Konservierung und Zugänglichkeit von schriftlichen
                                                                       Zeugnissen über die Geschichte der Bestände notwendig
                                                                       machten.16 Es liegen keine Hinweise darauf vor, dass Kélers
                                                                       Entwurf jemals zur Ausführung gelangte. Stattdessen bil-
                                                                       den die Karteikarten Arndts, Grotes und Stresemanns die
                                                                       Grundlage aller noch heute vorliegenden Erfassungen. Als
                                                                       Zeugnis eines institutionellen Bemühens um ein zentrales
Abb. 3: Porträt von Ilse Jahn (1922–2010) in ihrem ersten Arbeits­     Museumsarchiv, in dem Verwaltung, Forschung und Institu-
zimmer in den Räumlichkeiten der Bibliothek des Zoologischen           tionengeschichte erstmals zusammengedacht wurden, ist
Museums. MfN, HBSB, ZM B I 2293. Vera Heinrich, 1981 © MfN             Kélers Arbeitsplan dennoch bemerkenswert. In ihm ist die
                                                                       Idee der zentralen Historischen Bild- und Schriftgutsamm-
                                                                       lungen bereits angelegt.
gelegt, der von Stresemann annotiert wurde.11 Zu diesem                     Ab 1968 prägte die Museologin und Biologiehistorike-
Unterfangen hatte er allen Grund, war er doch bereits in               rin Ilse Jahn (1922–2010) die Entwicklung der Bestände
frühen Jahren am Werdegang seines Fachs interessiert, den              (Anonymus 1993, 58). Als Leiterin der Schausammlungen
er schließlich ab 1947 in einer Monographie über die „Ent-             hatte sie sich neben einer Professionalisierung der Museo-
wicklung der Ornithologie“ (Stresemann 1996)12 auf­be­                 logie am Museum vor allem ein Übersichtswerk zur Geschich-
reitete.13 Diese Unternehmung lief parallel zu einer Ende der          te der Biologie vorgenommen (Jahn, Löther & Seng­laub
1940er Jahre verstärkten Auseinandersetzung mit den his-               1982).17 Von einem kleinen Zimmer im Durchgang zur Bib-
torischen Beständen des Zoologischen Museums: Im Jahr                  liothek des Zoologischen Museums aus begann Jahn da-
1948 betraute dessen Direktor Werner Ulrich (1900–1977)                mit, die dort gelagerte Porträtsammlung der Zoologie mit
den Entomologen Stefan von Kéler (1897–1967) mit der                   historisch bedeutsamen Bildern und Schriftgut aus den
„Einrichtung eines Museums-Archivs“.14 Dieser legte 1949               einzelnen Kustodien zusammenzuführen (Höxtermann
ein Konzeptpapier vor, das über die Aktenablage hinaus                 2013, 179) (Abb. 3). Ein Magazin war für diese Initiative
auch die Geschichte der Institution bewahren und das                   nicht vorhanden: Jeder frei werdende Platz wurde daher
Schriftgut für die Forschung zugänglich machen sollte: Kéler           für die wachsende Sammlung genutzt, sodass sich diese
entwarf einen Arbeitsplan, der eine Aufstellung der Bestän-            bald über das ganze Haus verteilte.18 In den seit den
de in einem Archivraum, ein dreiteiliges Karteisystem und              1960er Jahren stattfindenden Verhandlungen mit dem neu
                                                                       gegründeten Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin,
                                                                       welches noch bis 2009 Museum und Universität diente,19
11 MfN, HBSB, Bestand Zool. Mus., Sign. S, Personalakte „Grote,
   Gertrud“, Nr. 29: Abteilung Arbeit, Gehaltsstelle, Betr. Stellen-
   planumsetzung, 15.1.1959. Für eine Beschreibung ihrer Tätig-
                                                                       15 MfN, HBSB, Mappe „Dokumente betreffend Einrichtung des
   keiten siehe MfN, HBSB, Bestand Zool. Mus., Sign. S, Personal-
                                                                          Museumsarchivs“: „Entwurf über die Aufstellung und Gliede-
   akte „Grote, Gertrud“, Nr. 11: Tagesnotizen P.A. Grote, Auszug
                                                                          rung des Archivs [...], 8.10.1948 (Reimers 2020 [FN 14], 26–
   aus der Aktennotiz betreffend: Unterredung mit dem Verwal-
                                                                          27); in Ausschnitten bei Reimers 2021, 70–71.
   tungsdirektor d. Humb. Universität, 1.6.1950.
                                                                       16 MfN, HBSB, Mappe „Dokumente betreffend Einrichtung des
12 Ilse Jahn beziffert in ihrem Porträt des Ornithologen Stresemann
                                                                          Museumsarchivs“: Umlauf bei den Herren Wissenschaftlern im
   als Historiker seines Fachs die Zahl der von ihm veröffentlichten
                                                                          Hause, betrifft: Archiv des Zoologischen Museums, 10.11.1959
   Beiträge über Personen, Institutionen und Theoreme mit 105
                                                                          (Reimers 2020 [FN 14], 28); in Ausschnitten bei Reimers 2021,
   (Jahn 1991, 22).
                                                                          71.
13 Sabine Hackethal zufolge war Stresemann laut einem in der
                                                                       17 Daneben hatte sie eine Neigung zum Zeichnen (Schmidt 2019).
   HBSB vorliegenden Schreiben von Alfred Kästner vom 28.11.1954
   seither für die historischen Bestände zuständig (Interview mit      18 Interview mit Sabine Hackethal, 8.6.2020 und 9.4.2021: Ilse
   Sabine Hackethal, 9.4.2021).                                           Jahn führte die Archivalien zunächst in ihrem Arbeitszimmer zu-
                                                                          sammen. Erst in den späten 1970er Jahren kamen weitere Stand-
14 MfN, HBSB, Mappe „Dokumente betreffend Einrichtung des Mu­
                                                                          orte im Haus hinzu. Zahlreiche Archivalien verblieben zudem in
   seumsarchivs“: Rundschreiben von Ulrich an die wissenschaft­
                                                                          den Kustodien.
   lichen Angestellten des Zoologischen Museums. Betrifft: Archiv-
   gut und Registratur, 9.9.1948 (bei Y. Reimers 2020. Bewer­tung      19 Seit 2009 ist das Naturkundemuseum ein Forschungszentrum
   und Übernahme im Museumsarchiv am Beispiel der Historischen            der Leibniz-Gemeinschaft und nicht mehr Teil der Humboldt-
   Bild- und Schriftgutsammlungen des Museums für Naturkunde              Universität; vgl. Internetseite des Museums für Naturkunde:
   Berlin [unpublizierte Hausarbeit]. Potsdam: Fachhochschule             Über uns, https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/ueber-
   Potsdam, 25); in Ausschnitten bei Reimers 2021, 70.                    uns/das-museum/geschichte-des-museums (17.1.2021).

60                                                                                                    Perspektive des Sammlungswissens
Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 4: Ansicht einer Karteikarte zur Porträtsammlung aus der Historischen Bild- und Schriftgutsammlung.
Der Karteikarte zu den Porträts von Ludwig Döderlein (1855–1936) lassen sich mindestens drei Handschriften
entnehmen. Foto: Micaela Mau, 2021

setzte sich Jahn insbesondere für den Verbleib von For-                 ihnen arbeitenden Personen auf einzelnen Karteikarten ab-
schungsnachlässen am Museum ein, um die örtliche Verbin-                gelagert (Abb. 4).
dung der historischen Dokumente zur alltäglichen Samm­­                     Anhand der von Sabine Hackethal in den nachfolgen-
lungsarbeit zu erhalten.20 Zudem führte sie die bis heute               den Jahren erweiterten Kartei lässt sich ein deutlicher Wan-
gängigen Signaturen ein, ließ Dokumente paginieren und                  del der hier versammelten Bildobjekte von naturkundlichen
in der von Grote und Stresemann begonnenen Kartei ver-                  Forschungsdokumenten hin zu gleichsam kultur- und kunst­
zeichnen.21 Als die Kunsthistorikerin Sabine Hackethal 1979             wissenschaftlich bedeutsamen Sammlungsstücken beob-
in Jahns Abteilung ihre Tätigkeit aufnahm, betraute diese               achten. Sie nimmt eine dezidiert kunsthistorische Perspek-
sie neben der Assistenz bei biographischen Forschungen                  tive auf die Hinterlassenschaften von wissenschaftlichen
mit der Verzeichnung der Bilder.22 In der Bearbeitung der               Expeditionen, forschenden Subjekten und deren Traditions­
Historischen Bildsammlungen setzte Hackethal die beste-                 vereinen ein. Die Plausibilität einer solchen Vorgehenswei-
henden Karteisysteme fort: Wie sedimentierte Schichten                  se lässt sich anhand eines kurzen Blicks in den vielfältigen
archivischer Praktiken haben sich die Handschriften der mit             Bestand historischer Bilder im Museum nachvollziehen.

                                                                        Bilder der Natur
20 MfN, HBSB, Mappe „Dokumente betreffend Verhandlungen mit
   Universitätsarchiv 1967–1980“: Schreiben von B. Lange (Leite-        Die von Walther Arndt verzeichnete Bildersammlung des
   rin des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität) an Insti-      Zoologischen Museums war nicht die erste ihrer Art. Auch
   tutsdirektor Konrad Senglaub, 31.1.1967 (Reimers 2020 [FN            Anton Reichenow (1847–1941), Kustos für Ornithologie,
   14], 31–32); und: Aufzeichnung „Einige Hinweise zur Erfas-
                                                                        hatte dem Museum zur Jahrhundertwende eine umfangrei-
   sung von Nachlaßgut in den Museen und Sammlungen der
   Humboldt-Universität“, Entwurf vermutlich von Ilse Jahn, um          che Porträtsammlung internationaler Ornitholog:innen ge-
   1968 (Reimers 2020 [FN 14], 35–36, 35–36); in Ausschnitten           stiftet (Hackethal 1989a, 256). Die zumeist im „carte de
   bei Reimers 2021, 72 f.
                                                                        visite“-Format angelegten Bilder begleiteten den Austausch
21 Interview mit Hannelore Landsberg, 1.2.2021.                         von Informationen, Objekten und Schriften (Blume 2019).
22 Diese erste Inventur betraf die heutige Abteilung B I: „Fotos Ein­   Noch viel älter ist die vor allem in Form von Kupferstichen,
   zelportraits“ (Interview mit Sabine Hackethal, 9.4.2021). Mit        Lithographien und frühen Fotografien überlieferte Port-
   ihrer Pensionierung 1982 teilte Jahn die Arbeitsbereiche „Schrift-
                                                                        rätsammlung der Gesellschaft Naturforschender Freunde
   gut“ und „Bilder“ zwischen ihren Mitarbeiterinnen, der Biologin
   Hannelore Landsberg und der Kunsthistorikerin Sabine Hacke­          (Hackethal 1989a, 256; Te Heesen 2001). Am Beginn der
   thal, auf – eine Trennung, die vor allem aus arbeitsökonomischen     zentral versammelten Historischen Bildsammlungen stehen
   Gründen erfolgte. Denn in der Realität ist die Schriftgutsamm-
                                                                        also weder Tiere noch ihre Präparate, sondern die Mitglie-
   lung kein bildferner Raum, und auch unter den Bildern finden sich
   gelegentlich Schriftstücke (Interviews mit Sabine Hackethal,         der lokaler sowie internationaler Gelehrtenvereinigungen.
   8.6.2020, und mit Hannelore Landsberg, 1.2.2021).                    Dieser Umstand kann dabei als Symptom einer entschei-

Perspektive des Sammlungswissens                                                                                                 61
Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 5: Ansicht des Fotomagazins der Historischen Bild- und Schriftgutsammlung.
Foto: Micaela Mau, 2021

denden Prägung der Frühgeschichte dieser Sammlungen                  gestiftete Bildband „Theatrum Naturae“ (1615) als selte-
gewertet werden. Die ältesten Akten und Bilder gehen auf             nes Beispiel einer naturkundlichen Bildersammlung charak-
diese traditionsreiche Fachgesellschaft zurück.23 Die Ver-           terisieren: Diese hielt – noch vor dem Entstehen der für eine
waltungs- und Forschungsakten des Museums sind jünge-                Herstellung von naturkundlichen Präparaten notwendigen
ren Datums (Hackethal 2010a). Dieser Ursprung einer an               Techniken – kolorierte und möglichst naturgetreue Zeich-
der Universität noch vorläufigen und stark an Traditions-            nungen von Tieren für ein wissenschaftliches Studium bereit
pflege und Memorialkultur orientierten Sammlung und                  (Böhme & Hackethal 2000; Hackethal 2010b & 2010c).
Verzeichnung von Personenregistern und Gelehrtenport-                     Diese epistemische Funktion behielten Zeichnungen bei.
räts (Böhme 2003; Böhme-Kassler 2005) lässt sich auch                Sie begleiteten zudem den Forschungsalltag des Museums
am Archiv der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung            sowie die für den Aufbau seiner Sammlungen in Auftrag ge-
in Frankfurt am Main (Scholz & Afshar 2017) und des                  gebenen Expeditionen. Im Museum für Naturkunde Berlin
Senckenberg Museums für Naturkunde Görlitz (Hammer-                  wurde bislang den Bildkonvoluten der Expeditionen Valdivia
schmidt 2011) nachvollziehen. Am Standort Berlin haben               (1898–1899) und Tendaguru (1909–1913) größere Auf-
sich zudem einige wenige Spuren der Kunstkammer des                  merksamkeit zuteil (Landsberg 2000; Heumann, Stoecker
Berliner Schlosses in die Akten und Bestände eingewoben              & Tamborini u. a. 2018). Ein umfangreicher Bestand von
(Dolezel 2019).24 Jenseits dieser Porträtkultur, die auf eine        Zeichnungen des Gärtners und Botanikers Friedrich Sellow
Genealogie wissenschaftlicher Persönlichkeiten und deren             (1789–1831) umfasst 231 Zeichnungen und diente der Er­
Ideen abzielte, lässt sich eine Vielzahl von Anlässen für das        schließung und Identifikation der auf seiner Brasilien-Ex-
Entstehen von Bildern in Naturkundemuseen vorfinden. Bil-            pedition (1814–1831) zusammengetragenen Güter (Zisch-
der stehen in gewisser Weise sogar in der Genealogie des             ler, Hackethal & Eckert u. a. 2013). Auch Fotografien
Naturkundemuseums selbst. Sie ermöglichten zum Beispiel              von Sammlungsobjekten erfüllten diese Funktionen,25 hal-
ein Studium zoologischer Themen in einer Zeit vor der heute          fen zudem bei der Herstellung von Präparaten und dienten
allseits bekannten Tierpräparation. So lässt sich der aber-          dem morphologischen Vergleich von Tieren (Hackethal
mals von der Gesellschaft der Naturforschenden Freunde               1989a) (Abb. 5). Aus dem Archiv des Naturhistorischen Mu-
                                                                     seums Wien wird berichtet, dass Bilder in seltenen Fällen
                                                                     sogar das Typus-Exemplar einer Art darstellen: War es nicht
23 Teil der Bestände wurden die Akten jedoch erst mit der Verle-     möglich, das tatsächliche Objekt, sondern nur eine Zeich-
   gung des Vereins der Gesellschaft Naturforschender Freunde an
   das Museum 1906 (Reimers 2021, 71).
24 Das DFG-Forschungsprojekt „Das Fenster zur Natur und Kunst“
   verfolgt diese Spuren, siehe https://www.museumfuernatur-         25 Aus der umfangreichen Literatur zum Gebrauch von Fotografi-
   kunde.berlin/de/wissenschaft/das-fenster-zur-natur-und-              en in den Wissenschaften siehe u.a. Wilder 2009 und Bärnig-
   kunst (5.2.2021).                                                    hausen, Carafffa & Klamm u. a. 2019.

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Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 6: Historische Ansicht des Lichthofes des Museums für Naturkunde mit darin aufgestellten Walskeletten
und Gemälde, undatiert. MfN, HBSB, ZM B III 832

nung von einer Reise mitzubringen, starb das referenzierte               schrift „Die Gartenlaube“ (Matschie 1897).27 Nicht zuletzt
Tier ohne weitere Zeugnisse aus oder ging das zu einem                   dokumentieren insbesondere Fotografien die Schausamm-
Abbild gehörige Typus-Exemplar verloren, wurde Bildern                   lung des Hauses, etwa die Ansicht der Walskelette im
dieser Status verliehen (Riedl-Dorn 1992).26                             Lichthof des Museums (Abb. 6), die vor der Aufstellung
    Ferner dienen Bilder noch heute dem Wissenstransfer.                 von Dinosaurierknochen weltweit als Aushängeschilder
Sie zirkulieren nicht nur innerwissenschaftlich und illustrie-           naturkundlicher Museen galten (Helbig 2019, 231–232).
ren Fachpublikationen. Bereits im 19. Jahrhundert unter-                 Ebenso inszenieren sie die Arbeitsroutinen des Museums
stützten sie eine populärwissenschaftliche Verbreitung na-               wie die nicht ganz so alltägliche Präparation des Berliner
turkundlichen Wissens. Die Illustrationen und Skizzen der                Zoo-Gorillas „Bobby“, deren Aufnahmen sicherlich zu den
Tierzeichnerin Anna Held (1859–1898) sind neben einer                    Bildikonen des Museums gehören (Oppermann 1994, 82).
Reihe von Lehrtafeln und -modellen ein eindrückliches Bei-                   So sind Naturkundemuseen auch Sammlungsorte von
spiel für diese Bildungsfunktion (Angermann 1994; Al­                    Bildern. Nach aktuellen Schätzungen beträgt der Bestand
brecht & Ulrich 2010). Helds kleinformatige Illustratio­nen              der Historischen Bildsammlungen in Berlin mehr als 30.000
begleiteten die wissenschaftlichen Publikationen des Säuge-              Stück (Bärnighausen & Gräfe 2020). Weit mehr dürften
tierkustos Paul Matschie (1861–1926) (Matschie 1895),                    sich im Besitz der einzelnen Kustodien befinden und damit
aber auch seine Artikel in populären Medien wie der Zeit-                über alle Räume des Hauses verteilt sein. Dazu zählen Zeich­
                                                                         nungen, Illustrationen, Grafiken, Aquarelle, Ölbilder und
                                                                         Druckgrafiken wie zum Beispiel Kupferstiche und Lithogra-
                                                                         phien, Fotografien, Glasplattennegative und Diapositive
                                                                         sowie Filme und Lehrtafeln. Zudem sind Kleinplastiken, Mo-
26 Die vierte Ausgabe des „International Code of Zoological No-          delle und Siegel in der Objektsammlung der Historischen
   menclature“ sieht vor, dass der Typus einer Art zwar von einem
   Bild referenziert, aber nicht das Bild an sich darstellen kann (In-
   ternational Commission on Zoological Nomenclature
   1999, Art. 72.5.6). In der Bestimmungspraxis lässt sich jedoch        27 Die Figur Matschie ist u.a. Gegenstand des Projektes „Koloniale
   historisch eine solche Umgangsweise mit Bildern feststellen, wie         Provenienzen der Natur. Der Ausbau der Säugetiersammlung am
   die Zeichnung eines Nestor Norfolcensis von F. L. Bauer im Ar-           Museum für Naturkunde Berlin um 1900“ (Leitung: Ina Heumann,
   chiv des Naturhistorischen Museums Wien belegt, die nach dem             wissenschaftliche Mitarbeit: Catarina Madruga) am Museum für
   Aussterben der Art als Typus-Exemplar behandelt wurde (Riedl-            Naturkunde Berlin (Laufzeit: 2020–2022), siehe https://www.
   Dorn 1992, 82 f.; Pelzeln & Lorenz 1888, 39 f.). Zur Wissens­            museumfuernaturkunde.berlin/de/wissenschaft/koloniale-pro­
   geschichte von Typus-Exemplaren Daston 2004.                             venienzen-der-natur (7.12.2021).

Perspektive des Sammlungswissens                                                                                                        63
Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 7: Ansicht eines der zwei Karteischränke der Historischen          Abb. 8: Innenansicht (Ausschnitt) der Bilderkartei der Historischen
Bild- und Schriftgutsammlungen der Historischen Arbeitsstelle im        Arbeitsstelle im Museum für Naturkunde Berlin. Foto: Micaela Mau,
Museum für Naturkunde Berlin. Foto: Micaela Mau, 2021                   2021

Arbeitsstelle des Museums vorhanden. Diese mediale Viel-                auch Ausstellungen leiten das Ordnungsprinzip an. Es sind
falt eröffnet einen breiten Zugang zu unterschiedlichen                 vielmehr die Techniken und Autor:innen, die im Vorder-
Kontexten und Verfahren der Herstellung von „Bildern der                grund der Verzeichnung stehen: Die Sachgruppen der fünf
Natur“28. Sie prägt die Registratur der Historischen Bild-              Schubladen umfassenden Kartei beginnen mit fotografi-
sammlungen bis heute entscheidend.                                      schen Abzügen, gefolgt von Diapositiven, Negativen, Ge-
                                                                        mälden, Aquarellen, Druckgrafiken, Zeichnungen und so
Ein Zettelkatalog zwischen Natur- und                                   weiter. Während Hackethal für jeden Medientyp eine eigene
Kunstgeschichte                                                         Signatur vergab, machte sie für die Fotografien eine Aus-
                                                                        nahme: Hier stützte sie sich auf Arndts Unterscheidung in
Als Verzettelung biologiehistorischer Bestände nach kunst-              Einzelporträts, Gruppenbilder und Institutionen.30 Nicht nur
historischem Vorbild verdient das Karteisystem der Histori-             die Handschriften der einzelnen Personen auf den Kartei-
schen Bildsammlungen eine nähere Betrachtung (Abb. 7                    karten, sondern auch die sich wandelnden Signaturen sind
und 8).29 Nicht Expeditionen, nicht Publikationen oder                  Teil der hier sichtbaren archivischen Sedimentationen, die
                                                                        weit vor Hackethals Wirken datieren.
                                                                             Die Aufstellung der Karten im Karteischrank erfolgte in
                                                                        allen Sachgruppen alphabetisch nach Urheber:innen. Für
28 Mit dieser Formulierung sind einerseits verschiedene Bildforma-
   te gemeint, welche naturwissenschaftliche Inhalte visualisieren,     Bilder ohne Autorschaft ist eine eigene Kategorie „Unbe-
   anderseits auch die spezifischen Vorstellungen von ‚Natur‘, die      kannt“ vorgesehen. Jedes der Bilder wurde bei Ankunft mit
   diese Bilder mitgestalten und vermitteln (Bärnighausen &             einer Inventarnummer versehen, in einem Inventarbuch ver-
   Gräfe 2020). Vgl. Gugerli, Hagner & Hampe u. a. 2005, 9,
   die unter dem Titel „Bilder der Natur“ das Spannungsfeld „tech-      zeichnet und in Form von mehreren Karteikarten in das
   nischer Sprachen“, medialer Konstrukte und Naturwahrneh-             Ordnungssystem eingespeist. Zugleich legte Hackethal in
   mungen untersuchen.
29 Während der Aufbau der Kartei die Vorarbeiten von Walther
   Arndt fortsetzt, orientiert sich die Gestaltung der einzelnen Kar-   30 Liste der Inventarnummern, aufgehängt am Karteischrank zur
   teikarten an dem Beispiel des ehemaligen Museums für Deut-              Bildsammlung der HBSB: „Einzelpersonen“ (B I), „Gruppen“ (B
   sche Geschichte der DDR, dessen Bestände heute Teil des Deut-           II), „Institutionen“ (B III) und „Übrige“ (B IV) [fotografische Ab-
   schen Historischen Museums in Berlin sind. Auch Knorr 1957,             züge]; „Diapositive“ (B V); „Negative“ (B VI); „Ölbilder/Gemäl-
   ein museologisches Standardwerk der DDR, floss in Hackethals            de“ (BV II); „Aquarelle“ (B VIII); „Drucke“ (B IX); „Zeichnungen“
   Arbeiten ein. Interviews mit Sabine Hackethal, 2.2.2021 und             (B X); „Zeichnungen in Briefen“ (B XI); „Plastiken, Modelle,
   9.4.2021; Telefonat mit Carola Jüllig (Sammlungsleiterin Bild           Siegel, Stempel, etc.“ (B XII); „Filme, Tonträger“ (B XIII); „Lehr-
   am Deutschen Historischen Museum), 15.2.2021.                           tafeln“ (B IV); „Digitale Originale einschließlich Portraits“ (B XV).

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Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 9: Ansicht der zur Bilderkartei gehörenden Gegenkartei, Historische Bild- und Schriftgutsammlungen, Historische
Arbeitsstelle, Museum für Naturkunde Berlin. Foto: Micaela Mau, 2021

drei kleineren Holzschubern eine Art Gegenkartei an, mit               Bearbeitungen und sind auf diese Weise historiographisch
der sich im Sinne eines Sachregisters nach Bildinhalten wie            bedeutsam. Mehr noch: Die Karteikarten inkorporieren
Tieren, Landschaften und Orten suchen lässt (Abb. 9). Nahm             Sammlungs- und Bildbiographien in einem spezifischen
ein Bild zuvor eine feste Stelle in der Liste eines Inventars          Notations- und Verweisformat, was sie über ihre Quellen-
ein, ist es nun an mehreren Stellen der Kartei referenziert.           funktion hinaus zu eigenständigen Forschungsobjekten
Es faltet sich derart in verschiedene Bedeutungszusammen-              werden lässt.
hänge auf, ist mal Werk, mal Material, mal Abbildung. Diese                Die analogen Felder der Karteikarten bestimmen zudem
Ordnung quert eine vor allem auf Entstehungskontexte ab-               die Auswahl von Fragen, welche für die Recherche leitend
zielende Registratur und etabliert stattdessen ein eigenes             sind: Für die Vorderseiten der querformatigen Klappkarten
Verweissystem, das nunmehr nach kunsthistorischem Vor-                 sind Eintragungen zu Titel, Datierung, Maßen, Zustand, Sig-
bild Bilder-„Originale“ als Ausgangspunkte von verschie-               natur, Material, Herkunft und Eingangsdatum vorgesehen
denen Operationen nimmt. Der Stempel „Original“ auf                    (Abb. 10). Auf der Rückseite lassen sich Hinweise zu rele-
einigen Karteikarten indiziert das Vorhandensein des hier              vanten Publikationen und Ausstellungen notieren. Im Blick
verzeichneten Bildes und nimmt damit eine klare Differen-              auf diese Vorgehensweise wird deutlich, welche Parameter
zierung zu visuellen Reproduktionen vor.                               eines Bildes aus der Perspektive der Kunstgeschichte we-
    Wie sich zeigen wird, stellen die Karteikarten (Samm-              sentlich sind.
lungs-)Biographien31 einzelner Bilder her: Nicht nur lassen                Im Inneren der faltbaren Karten finden sich – eingelegt,
sich mit diesen „kleinen Werkzeugen des Wissens“ (Becker               eingeheftet oder eingeklebt – fotografische Abzüge, Film-
& Clark 2004) Sammlungsgeschichten verfassen, sondern                  streifen, Fotokopien und Diapositive, bisweilen auch Um-
auch die Provenienzen der hier verzettelten Bilder nach-               zeichnungen wieder, die als visuelle Evidenz und Ergän-
vollziehen. Dabei verknüpfen sie Bilder mit Informationen              zung zu den hier verzettelten Bildarchivalien dienen: eine
zu deren Entstehung, Verwendung sowie nachträglichen                   Bilderkartei im doppelten Sinne des Wortes, die in den
                                                                       kunsttheoretischen Diskurs um Original und Reproduktion

31 In Anlehnung an Kopytoff 1986 hat sich das Konzept der Ob-
   jektbiographie inzwischen auch für kulturelle Artefakte und Bil-
   der durchgesetzt (z.B. Edwards & Hart 2004; Braun 2015),
   wobei eine kritische Auseinandersetzung mit den Grenzen der
   Metapher, etwa ihrer suggerierten Linearität, in der Regel Teil
   der Studien ist.

Perspektive des Sammlungswissens                                                                                                65
Bilder der Natur. Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bild-sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin
Abb. 11: Innenansicht der Karteikarte „Portrait eines unbekannten
                                                                     jüdischen Gelehrten/Arztes um 1780“, mit beigelegter Fotografie
                                                                     des referenzierten Gemäldes, einem Briefkuvert, in dem sich ein
Abb. 10: Vorderansicht der Karteikarte „Portrait eines unbekannten   Diapositiv befindet, sowie einer Zettelnotiz, auf der Sabine Hackethal
jüdischen Gelehrten/Arztes um 1780“. MfN, HBSB, Kartei               mehrere Rechercheschritte während der Identifikation der darge-
Bildsamm­lung: Sektion „Ölgemälde“, Reiter „Unbekannt“.              stellten Person notiert hat. MfN, HBSB, Kartei Bildsammlung: Sektion
Foto: Micaela Mau, 2021                                              „Ölgemälde“, Reiter „Unbekannt“. Foto: Micaela Mau, 2021

einzugreifen vermag (Abb. 11).32 Wird die Karteikarte über                Für eine Ausweitung der Biographien der Bilder zwischen
ihre hilfswissenschaftliche Funktion hinaus zu einem auto-           Naturwissenschaft und Kunstgeschichte, Museumspraxis
nomen Forschungsobjekt, so sind auch die in sie eingefüg-            und Archivalltag ist das Hinzuziehen weiterer Akteur:innen
ten Bilder nicht mehr nur schlichte Abbilder eines Originals,        in den Eintragungen der Kartei hilfreich: Neben den Au­
sondern selbst „multiple Originale“ mit eigenen (Samm-               tor:innen eines Bildes sind zum Beispiel dessen frühere
lungs-)Geschichten (Caraffa 2011, 11).                               Be­sitzer:innen, insofern diese von den Urheber:innen ab-
                                                                     weichen, vermerkt; ebenso die Informationen zu Restau­ra­
                                                                     tor:innen, Fotograf:innen oder Grafiker:innen, durch deren
                                                                     Hände das Bild in der Sammlung gegangen ist. In dieser Le-
32 Zumeist mit Verweis auf Benjamin 1935/36 haben zahlreiche
                                                                     seweise nähern sie sich dem Konzept der „boundary objects“
   Untersuchungen das Spannungsfeld von Original und Repro-          (Leigh Star & Griesemer 1989) an, also denjenigen ab­
   duktion thematisiert; für einen Überblick siehe z. B. Keuper      strakten oder auch konkreten Dingen, welche in der Wis-
   2018. Zum Evidenzbegriff in der Bildwissenschaft siehe die For-
                                                                     sensgemeinschaft des Museums als notwendiges Binde-
   schungen der Kolleg-Forschergruppe „BildEvidenz. Geschichte
   und Ästhetik“: http://bildevidenz.de (16.5.2021).                 glied für unterschiedliche Perspektiven fungieren.

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Abb. 12: Vorderansicht der Karteikarte „Pottwal
                                                                (Physeter macrocephalus)“. MfN, HBSB, ZM B VII/28.
                                                                Foto: Micaela Mau, 2021

   Abb. 13: Innenansicht der Kartei-
 karte „Pottwal (Physeter macroce-
phalus)“, in der mehrere Reproduk-
     tionen des Bildmotivs zu finden
sind: die eingeklebte Fotografie des
Ölgemäldes mit Holzrahmen (in der
       Auf­nahme angeschnitten), die
  Fotografie eines gestauchten Bild-
  nisses eines Pottwals (in mehreren
   Ausführungen) und ein Ausdruck
     aus der „Microsoft Encarta 97“.
           MfN, HBSB, ZM B VII/28.
            Foto: Micaela Mau, 2021

Die Kartei als Raum der Bilder                                  wird. Das Gemälde war einst für die Schausammlung des
                                                                Museums bestimmt. Die Eintragungen der Karteikarte ord-
Die durch Bilder moderierten Arbeitsgemeinschaften las-         nen es seinem einstigen Standort zu. Gemeinsam mit ande-
sen sich am Beispiel einer Karteikarte nachvollziehen, die      ren stattete es den Lichthof vor der Aufstellung der Sau-
auf ein Ölgemälde im Magazin der Historischen Bild- und         rierskelette aus. Die hier vorgestellte Kartei weist dabei
Schrift­gutsammlungen verweist (Abb. 12). „Zool. Mus.           gleichsam die Quelle ihres Wissens aus. Ein gelber Klebe-
B VII/28“ führt uns zur großformatigen Darstellung eines        zettel enthält einen bibliographischen Vermerk zur Chronik
Wals, deren Ausmaße auch den Rahmen der in der Kartei           der Friedrich-Wilhelms-Universität, in der für das Jahr 1900
vorhandenen Bildduplikate sprengen (Abb. 13). Als Bildin-       die Aufstellung des Bildes neben dem Skelett des Pottwals
halt ist der Körperumriss eines Pottwals (Physeter macroce-     unter den Arbeitsergebnissen des Jahres im Bereich des Zoo-
phalus) mit ein­gezeichnetem Skelett angegeben. Mit ei-         logischen Museums übermittelt wurde (Friedrich-Wil-
nem Blick auf die eingeklebte Fotografie wird der Zielpunkt     helms-Universität 1900, 144). Es ist anzunehmen, dass
der Darstellung klar – ein größerer Schatten soll den Umriss    das Gemälde nach dem Einzug der Dinosaurier, welcher
des Körpers des Meerestieres simulieren, der allein durch das   1924 begann, gemeinsam mit den Walskeletten wieder aus
Skelett nicht zu erahnen ist. Es ist also nicht vornehmlich     dem Lichthof verschwand (Vennen 2018, 187). Eine hand-
das Fachpublikum der Cetologie, welches hier adressiert         schriftliche Notiz verweist darauf, dass es 1998 in den

Perspektive des Sammlungswissens                                                                                         67
Bestand der Historischen Bildsammlungen aufgenommen               plexere Fragestellungen an die Bestände heranzutragen,
wurde und später in einer von Greenpeace initiierten Wan-         die über eine Suche nach Medien, Personen und Tierarten
derausstellung durch Deutschland reiste. In einem beigeleg-       hinausgehen.33
ten Umschlag sind zudem Schwarz-Weiß-Abzüge einer Fo-                  Lag das Hauptaugenmerk der Sammlungsforschung zu-
tografie von „H. Spohler“ aus dem Jahr 1990 zu finden.            vor weitgehend auf den Bild-Archivalien an sich, rücken
Diese wurden, so die genaue Dokumentation, im Frühjahr            seit einigen Jahren auch die Ordnungssysteme und Find-
2000 von „V. Heinrich“ reproduziert und geben eine ge-            mittel in das Zentrum wissenschaftlicher Betrachtungen. Sie
stauchte Ansicht des Motivs wieder (Abb. 13).                     ermöglichen erst, die Entwicklung von Routinen für eine
     Eine weitere Beigabe der Karte stellt einen Ausdruck aus     historische Arbeit nachzuvollziehen, und haben zur Konso-
der elektronischen „Micro­soft Encarta 97“-Enzyklopädie           lidierung von Sammlungen beigetragen.34 Im Rückblick auf
dar. Auf dem Ausdruck des fotografisch bebilderten Ein-           die einzelnen Stationen – von der Liste über die Kartei bis
trags zum Pottwal ist der lateinische Name der Spezies an-        zur Datenbank – werden die wissenspolitische und kultu-
gestrichen.                                                       relle Einbettung, die spezifische Funktionalität und die in-
     In diesem Durchlauf des Pottwals durch verschiedene          härente Materialität eines jeden Findmittels offenbar.
Stufen seiner bildlichen Reproduktion wird der genuin ver-             Eine solche Genealogie läuft schnell Gefahr, problema-
mittelte Blick auf das Tier deutlich, wie er unlängst von Felix   tischen Hierarchisierungen stattzugeben. Findmittel werden
Lüttge beschrieben worden ist: Stets in seinem Format zu          dann als mehr oder weniger nützlich oder gar antiquiert
groß und als lebendiges Tier auch optisch schwer zu erfassen,     bewertet – und in der Folge teilweise oder vollständig ent-
stellt es nicht nur ein klassifikatorisches Problem zwischen      sorgt. Häufig muss eine Digitalisierung der Bestände als
Säugetier und Fisch dar, sondern entzieht sich auch seiner        Vorwand für diese Praxis des ‚Entsammelns‘ herhalten.35
bildlichen Darstellung, was bereits Herman Melville monierte      Demgegenüber steht seit einigen Jahren der Vorschlag einer
(Lüttge 2016; Lüttge 2020, 160–168). In den Histori-              integrativen Sammlungsforschung, die Archive und ihre
schen Bildsammlungen gleich mehrfach visuell, doch immer          Sammlungen als dynamische Räume begreift, indem sie die
nur fragmentarisch registriert, lässt sich dieses Wissenschaft    hier stattfindenden Funktionswechsel und Wertewandel der
wie Literatur durchziehende Problem nachvollziehen.               einzelnen Medien des Archivierens berücksichtigt: Längst
                                                                  hat die Forschung erkannt, dass digitale Werkzeuge ana­
Zum (historischen) Wert der Kartei –                              loge Archivalien nicht ersetzen, sondern diese ergänzen
ein Plädoyer                                                      (Caraffa 2009). Mit den neuen Möglichkeiten digitaler
                                                                  Verzettelung, welche entscheidende Vorteile für eine Ver-
In den Historischen Bildersammlungen des Museums für              netzung und Verschlagwortung von Datensätzen mit sich
Naturkunde Berlin ist im Laufe des 20. Jahrhunderts ein           bringen, wird die analoge Kartei der HBSB daher keines-
Zettelkatalog entstanden, in dem sich natur- und kunst-           wegs obsolet. Im Gegenteil: Sie erhält den Status eines his-
wissenschaftliche Kriterien der Registratur begegnen. Die         torisch wertvollen Dokuments, das Sammlungsgeschichten,
im Zentrum des Kataloges stehende Bilder-Kartei referen-          Verzeichnungspraktiken und wissenschaftliche Diskurse der
ziert dabei nicht nur verschiedene Bild-Archivalien, sondern      1920er und 1930er Jahre, der frühen Nachkriegszeit und
versieht sie zugleich mit einer Vielzahl schriftlicher Annota-    der DDR in einem materiell und räumlich einmaligen Ver-
tionen und visueller Reproduktionen. Das hierbei entstehen-       weisgefüge zusammenbringt. Zum Kulturerbe des Archivs
de Netzwerk aus Inskriptionen und Verweisen, Expertisen           gehören folglich analoge Findmittel in gleichem Maße wie
und Medien zeichnet die Bilderkartei als „boundary object“        das ‚klassische‘ Archivgut historischer Schriften und Bilder.
aus, welches wissenschaftliche Interferenzen produziert und            Ein gemeinsamer Blick auf Archivalien sowie ihre ana-
greifbar macht. Dabei stößt das Verweissystem der Kartei          logen und digitalen Findmittel verspricht Erkenntnisse über
immer wieder an Grenzen. Die Ambiguität ihrer Operationen         die materiellen Grundlagen der Verknüpfung im Archiv: Erst
liegt darin begründet, dass sie einerseits verschaltet und er-    im Blick auf die Medien der Registratur wird deutlich, wie
weitert, andererseits reduziert. Das einmal festgelegte For-
mat und die physische Begrenzung ihres Raums bedingen
eine Verknappung der Kartei, die spezifische Inhalte und
                                                                  33 Interviews mit Sabine Hackethal, 8.6.2020 und 2.2.2021.
Zusammenhänge sichtbar werden und andere ausblenden
                                                                  34 Anlässlich des 100. Jubiläums des Museums für Naturkunde
lässt. Während Sabine Hackethal die Kartei bis zu ihrem Ein-         wurden die Historischen Bild- und Schriftgutsammlungen 1988
tritt in den Ruhestand 2019 bearbeitete, initiierte sie par-         zu einer zentralen Abteilung erklärt (Hackethal 1989a, 358).
allel dazu die Einführung einer elektronischen Datenbank.            Seit 1994 sind sie in der Abteilung Historische Arbeitsstelle (HAS)
                                                                     zusammengefasst. Die sich hierbei institutionalisierende Tradi­
Der Zettelkasten war zu aufwändig, das System einer ana-
                                                                     tionspflege beruht auch auf der gewachsenen Infrastruktur ihrer
logen Registratur zu starr geworden. Erst mit dem Erwerb             Findmittel.
der Sammlungssoftware „Daphne“ im Jahr 2016 wurde es
                                                                  35 Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema liefert
in den letzten Jahren möglich, unvorhersehbare und kom-              u. a. Museumsverband Thüringen 2020.

68                                                                                                 Perspektive des Sammlungswissens
die Herstellung einer Referenz zwischen Sammlungsobjek-       F.; Wodtke P. (Hg.). 2019. Photo-Objects. On the Materia­
ten und historischer Aussage gelingt.                         lity of Photographs and Photo-Archives in the Humanities
                                                              and Sciences. Berlin: Edition Open Access, Max-Planck-
Danksagung                                                    Ins­titut für Wissenschaftsgeschichte, online unter: https://
                                                              www.mprl-series.mpg.de/studies/12/ index.html (2.2.2021)
Wir danken Sabine Hackethal und Hannelore Landsberg für
zahlreiche Auskünfte, ebenso Sandra Miehlbradt, Yvonne        Bärnighausen, J.; Gräfe, S. (Hg.). 2020. Bilder der Na-
Reimers und Hans-Ulrich Raake vom Museum für Natur-           tur – Objektgeschichten aus den Bild- und Schriftgutsamm­
kunde Berlin für den Zugang zu Archivalien und Literatur.     lungen der Historischen Arbeitsstelle, Onlinepublikation,
Des Weiteren danken wir Karien Lahaise (Archivarin des        Museum für Naturkunde Berlin. Online unter: https://www.
Naturalis Biodiversity Center Leiden) für den Austausch       museumfuernaturkunde.berlin/de/wissenschaft/bilder-
über die Ordnungslogik naturkundlicher Museumsarchive,        der-natur (12.1.2021)
Joachim Scholz vom Senckenberg Naturmuseum Frankfurt
am Main für Auskünfte und Literatur zu dem von ihm einst      Becker, P.; Clark, W. 2004. Little Tools of Knowledge:
betreuten Archiv, zudem Christa Riedl-Dorn (ehemalige Di-     Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices.
rektorin der Abteilung Archiv für Wissenschaftsgeschichte     Ann Arbor: University of Michigan Press
am Naturhistorischen Museum Wien), Sylke Frahnert (Orni-
thologie) und Michael Ohl (Entomologie) vom Museum für        Benjamin, W. 1935/36. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
Naturkunde Berlin für Überlegungen zu Bildern als Typus-      technischen Reproduzierbarkeit [5. Fassung]. In: Lindner,
Exemplare sowie Carola Jüllig (Sammlungsleiterin für den      B. (Hg.) 2013. Walter Benjamin: Werke & Nachlaß. Kriti-
Bereich Bild am Deutschen Historischen Museum Berlin)         sche Gesamtausgabe. Bd. 16. Berlin: Suhrkamp, 207–255
für Informationen zur Kartei des ehemaligen Museums für
Deutsche Geschichte. Paul Scofield (Senior Curator Natural    Blume, J. 2019. Wissen und Konsum. Eine Geschichte des
History am Canterbury Museum, Neuseeland) sei für die Hil-    Sammelbildalbums, 1860–1952. Göttingen: Wallstein
fe bei den Recherchen zu Gertrud-Luise Grote gedankt. Bei
Volker Thiel, Vorsitzender von Registrars Deutschland e. V.   Böhme, K. 2003. Im Tempel der Natur: Naturgeschichte,
und Leitender Registrar der Stiftung Haus der Geschichte      Esoterik und Traditionen in der Gesellschaft Naturforschen-
(Bonn), bedanken wir uns für seine Literaturhinweise zum      der Freunde zu Berlin. In: Zaunstöck, H. (Hg.). Sozietäten,
Berufsbild des Registrars. Den Fotografinnen Carola Radke     Netzwerke, Kommunikation. Tübingen: Niemeyer, 57–83
(Museum für Naturkunde Berlin) und Micaela Mau (Berlin)
danken wir herzlich für die Anfertigung der Aufnahmen, die    Böhme, K.; Hackethal, S.; 2000. Das „THEATRUM
den vorliegenden Beitrag begleiten.                           NATURAE“ von 1615: der Weg einer Bildersammlung. Mit-
                                                              teilungen aus dem Museum für Naturkunde in Berlin. Zoo-
                                                              logische Reihe 76, 1: 155–156
Literatur
                                                              Böhme-Kassler, K. 2005. Gemeinschaftsunternehmen
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Perspektive des Sammlungswissens                                                                                        69
Caraffa, C. 2011. „Bitte wenden!“. Fotografien in Archi-         Hackethal, S. 2010a. „Haare und Wolle vom Mammuths­
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Rundbrief Fotografie 18, 3: 8–15                                 das Naturkundemuseum. In: Damaschun, F.; Hackethal,
                                                                 S.; Landsberg, H.; Leinfelder, R. (Hg.). Klasse, Ordnung,
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70                                                                                          Perspektive des Sammlungswissens
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