Buchbesprechungen Federgleiche Prosa, neu übersetzt

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  Buchbesprechungen

Federgleiche Prosa, neu übersetzt
Tarjei Vesaas: Die Vögel, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Nachwort von
Judith Hermann, Guggolz Verlag, Berlin 2020, 278 Seiten, 23 EUR

Haben Sie sich schon einmal eine Vogelfeder         lichen Waldschnepfe) geht genau über ihre
genau angeschaut? Ein Wunderwerk der Natur:         Hütte hinweg – welche ungeheure Bedeutung
Mit sparsamen Mitteln wird Gegensätzliches          das für Mattis hat, können wir kaum ermessen.
erreicht – Festigkeit, Stabilität auf der einen,    Er hat eben andere Schwerpunkte als die üb-
Durchlässigkeit, Luftigkeit, Polsterwirkung auf     rigen Menschen seines kleinen Weltkreises und
der anderen Seite. Auch wenn es merkwürdig          ist fassungslos, weil seine Schwester ihn hier
erscheinen mag: Wer eine Feder studiert hat, ist    nicht versteht. Mattis ist kein Tatenmensch, er
gut vorbereitet auf die Lektüre dieses schmalen     ist das Gegenteil, für das es bezeichnenderwei-
Romans – aus symbolischen wie inhaltsbezo-          se keinen festen Begriff gibt – ich möchte ihn
genen Gründen. Der Verlag hat den Einband           Wahrnehmungsmensch nennen. Vesaas sieht
mit gezeichneten Federn geschmückt, eine gute       ihn als Poeten. Ab und zu fragt Mattis bei den
Idee – es sind Schnepfenfedern, wie im Impres-      Bauern nach, ob sie Arbeit für ihn haben; ein-
sum (S. 278) zu lesen ist (Zeichnung: Valeria       mal wird er tatsächlich zum Rübenverziehen
Gordeew). Es ist ein Wunder, dass dieses leise      eingesetzt, aber nur einen Tag lang, denn er
Buch verlegt werden konnte, und erst recht,         arbeitete allzu langsam.
dass der kleine Guggolz Verlag es gewagt hat           Später gibt ihm Hege die Anregung, er kön-
(mit norwegischer Unterstützung), eine Neu-         ne doch als Fährmann arbeiten. Die Aufga-
Übersetzung in Auftrag zu geben.                    be ergreift Mattis mit großem Ernst und un-
   Mattis, die Hauptperson, ist ein etwas ein-      gewöhnlichem Tatendrang – nur: Es gibt gar
fältiger Außenseiter, der von den übrigen Be-       keinen Bedarf, das gegenüberliegende Ufer ist
wohnern des Weilers verlacht und »Dussel« ge-       spärlich besiedelt. Und doch, wider alles Er-
nannt wird. Er kann nicht selbst für seinen Le-     warten, taucht eines Tages ein Mann auf, der
bensunterhalt sorgen, weil praktische Arbeiten      übergeholt werden möchte: Es ist Jørgen, ein
ihm meistens misslingen. Wahrscheinlich kann        Holzfäller. Mattis ahnt nicht, dass er sich damit
man ihn »seelenpflegebedürftig« nennen, ein         den Anfang vom Ende ans Ufer holt. Jørgen,
leichter Fall allerdings, er hat seine besonde-     der vergeblich versucht, Mattis zu Holzfäller-
ren Begabungen. Seine Schwester Hege pflegt         arbeiten heranzuziehen und ihn grundlegend
seine Seele und ernährt ihn und sich mit ihren      zu verändern, verliebt sich in Hege. Ein »glück-
Strickarbeiten. Die beiden leben in einer ein-      liches Ende« hat der Roman nicht, da möchte
fachen Hütte an einem See mitten im Wald. Vor       ich sensible Gemüter vorwarnen: Mattis fährt
Jahren sind die Mutter durch eine Krankheit         mit seinem maroden Boot auf den See hinaus
und der Vater durch einen Arbeitsunfall ver-        und lässt das Schicksal sprechen (S. 259ff.).
storben. Mattis fühlt sich mit der Natur eng ver-   Schließlich ruft er nach seiner Schwester – und
bunden. Seine besondere Zuneigung gilt den          zuletzt nach sich selbst: »›Mattis!‹, rief er sinn-
Waldschnepfen. Er »liest« ihre Trittspuren im       los in seiner tiefen Verlorenheit. Sein Schrei
Schlamm des Seeufers – das ist ihre Sprache –       hallte über den leeren See wie ein fremder Vo-
und kann ihnen sogar antworten. Der »Schnep-        gelruf. Wie groß oder klein dieser Vogel sein
fenstrich« im Vorfrühling (Balzflug der männ-       mochte, war nicht zu hören.« (S. 262)

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  Mit sparsamen Mitteln bildet Vesaas ein fili-     einen Eindruck des Stils vermitteln, feinfüh-
granes sprachliches Gerüst, dessen wesentliche      lig nachgestaltet von Hinrich Schmidt-Henkel.
Wirkung im Ungesagten, zwischen den Zeilen          Mattis hat vergeblich versucht, seiner Schwes­
und Worten liegt. Es geschieht äußerlich nicht      ter die Bedeutung des Schnepfenstrichs über
viel in diesem Roman, innerlich umso mehr:          ihrer Hütte nahezubringen: »Jetzt ist es Nacht.
Ein Jäger, den Mattis naiverweise verständigt       Was soll man tun, wenn alle ringsum stark und
hat, erschießt eine Schnepfe und Mattis begräbt     klug sind? Werd ich nie erfahren. Aber was soll
sie unter einem Stein. Zwei Mädchen, die am         man da tun? Man muss ja auch dann irgend-
See ihre Ferien verbringen, darf Mattis umher-      was tun. Die ganze Zeit. Ein Streifen geht über
rudern, denn mit Rudern kennt er sich aus. Das      dieses Haus. Der Vogel ist abgeschossen und
sind die wenigen äußeren Ereignisse, traurig        hat die Augen zu, ein großer Stein liegt auf ihm
das eine – das andere, die Begegnung mit den        – aber der Streifen bleibt. Was soll man da tun?
Mädchen, zählt zu den heitersten Abschnit-          Und mit Hege, was soll man mit der tun? Sie
ten des Buches. Für Mattis hat Sprache noch         hat es schwer. Werd ich nie erfahren. Draußen
eine urtümliche, magische Bedeutung – darauf        saust es, ob es jetzt saust oder nicht.« (S. 111)
macht Judith Hermann in ihrem feinsinnigen             Der weltweit angesehene norwegische Dich-
Nachwort aufmerksam. »Du bist ja ein Blitz,         ter Tarjei Vesaas (1897–1970), der zu Leb-
du!«, sagt Mattis ganz am Anfang des Romans         zeiten mehrfach für den Literaturnobelpreis
zu seiner Schwester (S. 7) und meint damit zu-      vorgeschlagen wurde, hat ›Die Vögel› (Origi-
nächst ihre Arbeit mit den Stricknadeln, aber       naltitel ›Fuglane‹) bereits 1957 veröffentlicht.
auch alles andere, was sie tut. An dem Abend        Karl Ove Knausgård (*1968) hat dieses Werk
wagt er das Wort auszusprechen, denn das Ri-        den »besten norwegischen Roman, der je ge-
siko, dass das Wort einen Blitz hervorruft, ist     schrieben wurde« genannt (zitiert auf S. 274).
gering (er hat eine starke Gewitterangst): »Dass    Eine erste deutschsprachige Ausgabe (die mir
er dieses Wort in den Mund nahm, erschreck-         nicht vorliegt) gab es schon 1961, eine zweite
te ihn ein wenig, war aber ungefährlich, denn       Übersetzung, von Frank Zuber, erschien 2009
der Himmel war schön.« – »Anna und Inger«,          im Verlag Martin Wallimann. Die hier empfoh-
die Namen der Mädchen, die er über den See          lene neue Übersetzung ist poetischer, sie hat
rudert, spricht er aus wie eine Zauberformel.       den Charakter einer Nachdichtung. »Hinrich
  Durch die Wiedergabe der Gedanken des Au-         Schmidt-Henkel versteht es auf fast magische
ßenseiters Mattis, der sich nur schwer ausdrü-      Weise, die Zwischentöne, Auslassungen und
cken kann, ruft Vesaas Empathie mit ihm her-        die Verknappung in der deutschen Übersetzung
vor. Empathie gibt es aber auch bei seinen Mit-     nachzubilden«, heißt es in einem Verlagstext.
menschen, sie verlachen ihn nicht nur. Darauf       Dem Lob der Übertragung, das in allen Rezen-
weist Hege ihn hin: »Er dachte an das Gespräch      sionen zum Ausdruck gebracht wird, kann ich
mit Hege, kurz bevor er ins Boot gestiegen war:     nach einigen Stichproben vollkommen zustim-
›Du denkst, die lachen über dich, dabei tun         men. Ein kurzes Beispiel zum Vergleich: »Die
sie das gar nicht.‹ Ja, das hatte Hege gesagt.      Geschwister saßen auf der Eingangstreppe ihrer
Das fiel ihm jetzt wieder ein, als er all diese     dürftigen Hütte. Es war ein warmer Juniabend,
Höfe sah. Er versuchte, auf jemanden zu kom-        und das alte Holz roch nach dem sonnigen Tag
men, der ihm wirklich Böses wollte und ihn          muffig«, heißt es in der Übersetzung von 2009
verspottete. Aber abgesehen von lästigen Kin-       (dort S. 11). Schmidt-Henkel schreibt: »Die bei-
dern konnte er niemanden nennen ...« Zu der         den Geschwister saßen auf der Eingangstrep-
Bäuerin des Hofes, wo er beim Rübenverziehen        pe des einfachen Häuschens, in dem sie allein
geholfen hatte, bekommt er freundlichen Kon-        wohnten. Es war ein guter, warmer Juniabend,
takt; ihr wagt er die große Frage zu stellen, die   und die alten Holzwände atmeten den Tag in
ihn schon lange bewegt: »Warum ist es so, wie       der Sonne aus.« (S. 10)
es ist?« Der im Folgenden zitierte Abschnitt soll                                        Helge Mücke

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Übermenschliche Lebensleistung
Heinz Schilling: Karl V. – Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, Verlag C.H. Beck, München 2020,
457 Seiten, 29,95 EUR

Karl V. (1500–1558) kämpfte gegen seine Zeit –        Zuerst wurde Karl König von Spanien. Als
und obgleich er der mächtigste Herrscher Euro-     sein Großvater 1519 starb, fiel ihm die deut-
pas war, unterlag er und musste zusehen, wie       sche Königskrone zu, mit der das römische
seine Ideale und Vorstellungen in einem Teil       Kaisertum verbunden war. Die Vollendung der
seiner Länder beiseitegefegt wurden. Die Re-       Pläne Karls des Kühnen würde möglich sein!
formation brachte die unaufhaltbare Kirchen-       Sein erster Reichstag fand in Worms statt, wo
spaltung, und gerade ihm, dem so an der Einig-     er Luther verhörte und die Reichsacht über ihn
keit des Christentums in Europa gelegen war,       verhängte. Später machte er sich Vorwürfe,
musste das geschehen. So wurde er müde und         die Reformation nicht ausgemerzt zu haben.
zog sich zurück in die einsame Extremadura im      Ein weiterer Feind war der französische König
südwestlichen Spanien. In 13 Kapiteln erzählt      Franz I., den er 1525 in Pavia besiegte.
Heinz Schilling in diesem Buch vom Leben und          Karl liebte die Musik, besonders die voka-
Sterben dieses Kaisers.                            lische Polyphonie Burgunds. Seine berühmte
   Das Schicksal hat Karl lange Jahre hoch und     Hofkapelle begleitete ihn auch auf Reisen. Am
immer höher getragen; er hielt es für die Bestä-   meisten schätzte er das Lied ›Mille regretz‹ von
tigung, dass er Gottes Auftrag in der rechten      Josquin des Préz. Übrigens war dieser auch Lu-
Weise erfülle. Dann kam innerhalb von fünf         thers Lieblingskomponist.
Jahren die Ernüchterung. Vier Jahrzehnte hat-         Der Kaiser wünschte eine friedliche Versöh-
te er geprägt und musste letzten Endes doch        nung der Glaubensgegensätze durch ein Kon-
scheitern, um sich selbst in seiner Religiosität   zil, doch Papst Clemens VII. lehnte ab; so ver-
treu bleiben zu können. Dabei war die Refor-       härteten sich die Fronten immer mehr. Auch
mation nur eines seiner übervielen Probleme.       Luther hatte ein Konzil für die Gesundung des
Gegenüber Luther musste er in den Schatten         Papsttums gefordert. »Mit der entschiedenen
treten, bis heute. Schilling sieht es als seine    Distanzierung von Luther hatte [Karl] faktisch
Aufgabe an, diese Gestalt aus dem geschicht-       eine Garantie für den Bestand des Papststaates
lichen Vergessen und vor allem der Einseitig-      gegeben.« (S. 221) Denn Karl war durch sein
keit der Betrachtung herauszuholen.                Amt zur Bewahrung der Katholizität verpflich-
   Karl war in Gent geboren, das damals zu Bur-    tet. In Augsburg fand 1530 Karls zweiter selbst
gund gehörte. Die Eltern Philipp der Schöne        geleiteter Reichstag statt. Die Gegensätze stei-
und Johanna die Wahnsinnige lebten in Spa-         gerten sich noch! Anschließend führte sein
nien und kümmerten sich nicht um ihn. Sei-         Bruder Ferdinand die Verhandlungen mit mehr
ne Patentanten Margarete von Österreich und        Geschick, wobei Karl das letzte Wort behielt.
Margarete von York sorgten in Mechelen für            Karls Kampf gegen die Osmanen in Ungarn
eine gute burgundische Erziehung. Er war ein       und Tunis ist ein bedeutsames Kapitel. In Spa-
Enkel des deutschen Kaisers Maximilian I. und      nien sah man – anders als früher – Muslime
fühlte sich immer mehr in der Nachfolge seines     nicht als Gewinn an, sondern als »religiöse und
Urgroßvaters Karl der Kühne. Anfangs sah es        kulturelle Überfremdung.« (S. 242) Gern hät-
gar nicht so aus, dass er König oder gar Kaiser    te Karl einen Kreuzzug gewagt, aber die Kraft
werden würde. Es schien eher ein Zufall. Dabei     reichte nicht. Er sei den eigenen Untertanen
ging es um Europas Neuordnung – also wohl          verpflichtet, wurde ihm bedeutet.
doch kein Zufall! Schillings Buch erlaubt ei-         Zu den eroberten überseeischen Ländern mit
nen Blick in die verschlungenen Wege, die das      ihrem Gold kam das Problem mit den Seelen
Schicksal geht, um sich zu erfüllen.               der Indios, die zum Christentum bekehrt wer-

                                                                                    die Drei 3/2021

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den mussten. Das belastete ihn, doch was er        Entwicklung Europas bis in die heutige Zeit.
durch seine Heiratspolitik seinen Verwandten       Der Autor versetzt sich mit Empathie in einen
antat, wie seiner Schwester Eleonore, die mit      so fern, fremd und unnahbar erscheinenden
dem besiegten Franz I. verheiratet wurde, hat      Charakter wie den von Karl V. und macht ihn
er wohl zeitlebens nicht bemerkt. Offenbar         dem Leser vertraut. Gerade in den protestan-
sprachen auch seine Beichtväter nicht davon.       tischen Gebieten Deutschlands war Karl V.
   Die Schlacht bei Mühlberg 1547 war sein         eine Art Hassfigur, über die man allerdings we-
höchster militärischer Triumph. Doch danach        nig wusste, außer was jener Luther in Worms
war das Glück für den Kaiser zu Ende. Die pro-     und Johann Friedrich I. nach der Schlacht bei
testantische Kirche war schon zu stark. Und        Mühlberg angetan hatte. Schilling beschreibt
dazu noch der deutsche Reichsgedanke, dem          eine vielfältige historische Welt – das reiche
er nicht wirklich huldigen konnte. Als es in       und künstlerisch hochstehende Burgund, dann
Deutschland zu einer Fürstenrebellion kam,         Spanien, das Heilige Römische Reich deutscher
musste der Kaiser fliehen und seinen Bruder        Nation und die Entdeckungen in Übersee. Es
Ferdinand um Vermittlung bitten. Doch eher         muss eine Riesenarbeit gewesen sein, die ver-
wollte er das Land verlassen als der Religion zu   schiedenen Fäden aufzufinden, zusammenzu-
schaden. Er entschied sich für die Abdankung,      führen und übersichtlich zu gestalten.
aber er war nicht gebrochen. Ihn bewegte die          Der emeritierte Historiker Heinz Schilling hat
bange Frage, ob er auf dem Weg zum Heil oder       mehrere Bücher zum Themenkomplex veröf-
zur ewigen Verdammnis sei. Zugunsten des           fentlicht: ›Martin Luther. Rebell in einer Zeit
Glaubens verzichtete er auf seine politische Tä-   des Umbruchs‹ (2012), ›1517 – Weltgeschich-
tigkeit. Einst war Erasmus von Rotterdam sein      te eines Jahres‹ (2017), und jetzt dieses Buch.
Lehrer gewesen, doch hatte dieser ihm nicht        Das erscheint wie ein Dreiklang, wie nachträg-
jene geistige und geistliche Unabhängigkeit        liche Trompetenstöße auf den Beginn der Neu-
vermitteln können, die eine Reformierung der       zeit. Den Biografen interessierten besonders
Papstkirche möglich gemacht hätte.                 drei Leitmotive bei Karl V.: die Rettung des
   In Yuste lebte er in einem Haus außerhalb       römischen Papsttums, die Verteidigung des
des Klosters und genoss die Stille. In inniger     Chris­tentums gegen den Islam, und die Ent-
Christusfrömmigkeit starb er – es war die          deckung der Neuen Welt. Welche Welt dem
Frömmigkeit des späten Mittelalters.               Kaiser zerbrach? Es war die einheitliche Welt
   Heinz Schillings Buch über Karl V. ist eine     des christlichen Mittelalters.
tief verstandene Erklärung für die geistige                                          Maja Rehbein

Mit Beuys Evolution denken
Volker Harlan: Mit Beuys Evolution denken. Dreigliederung als Weltprinzip in der Evolution
von Natur, Kultur und Gesellschaft, mit zwei Beiträgen von Wolfgang Zumdick, Verlag Schirmer
& Mosel, München 2020, 288 Seiten, 68 EUR

Als Biologe, Theologe, Anthroposoph und            menarbeit mit Wolfgang Schad, Bernd Rosslen-
langjähriger Wegbegleiter von Joseph Beuys         broich und Susanna Kümmell im Sinne einer
ist Volker Harlan geradezu prädestiniert, mit      ›Biologie der Freiheit‹1 gewonnen hat – zwang-
Beuys Evolution zu denken. In dem nun vor-         los einzuflechten, ebenso wie das, was er sich
liegenden Buch denkt er tatsächlich mit Beuys,     als Theologe und Anthroposoph erarbeitet hat.
nicht über ihn. Das gibt ihm die Möglichkeit,      Dabei vereinnahmt er Beuys nie, sondern lässt
seine eigenen Evolutionsgedanken – die er am       sich stets von dessen begeisterter und begeis-
Institut für Evolutionsbiologie in der Zusam-      ternder Gedankenführung leiten. So führen die

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Exkurse immer auf Beuys zurück. Man staunt,          Beuys die Auseinandersetzung mit »Leiden«
wie dieser sich als echter Universalist erweist,     – in der Zeichnung der Seele und dem diese
der die Erd- und Menschheitsgeschichte und           verkörpernden Tier zugeordnet – und Tod eine
den Einschlag durch den Christus-Impuls eben-        entscheidende Rolle. Charakteristisch ist, dass
so im Blick hat wie die soziale und ökologische      das Zeichen für den Formpol im Diagramm zur
Situation der heutigen Zeit und das Dilemma          Plastischen Theorie sowohl als tetraedrische
der materialistischen Naturwissenschaft.             Kristallgestalt gelesen werden kann wie auch
   Anhand zahlreicher ausführlicher Zitate           als Form der Fettecke, wie sie Beuys verschie-
wird deutlich, wie weitgehend Beuys aus dem          dentlich in den Bodenwinkeln seiner Aktions-
Zentrum der Anthroposophie Rudolf Steiners           räume angebracht hat. Immer setzt Beuys sei-
schöpft, die er individualisiert und aktualisiert.   ne Verwandlungsimpulse dort an, wo etwas
Harlan zitiert aus einem Brief an Manfred Schra-     zu einem Ende gekommen ist: ­»[D]er Tod hält
di, in dem Beuys von dem »Auftrag« schreibt,         mich wach«, heißt es in einem Interview mit
der »von ihm [Steiner] an mich erging[,] auf         Achile Bonito Oliva aus dem Jahr 1973.3 Gerade
meine Weise den Menschen die Entfremdung             darin sieht er die Möglichkeit des modernen
und das Misstrauen gegenüber dem Übersinn-           Menschen: Durch die revolutionäre Erweckung
lichen nach und nach wegzuräumen« (S. 21).2          eigener Kreativität evolutive Veränderungen in
   Ausgangspunkt für Harlans Gedankenwege            der Gesellschaft und im Umgang mit der Erde
ist ein von Beuys am ›1.7.1974 für Volker Har-       zu bewirken. Genau in diesem Sinne liegt für
lan‹ gezeichnetes Evolutionsdiagramm. Darin          ihn in jedem Menschen die Möglichkeit zum
geht es 1) um die verschiedenen Naturreiche          Künstlersein. In die Zeichnung schreibt er:
in aufsteigender Folge und ihre Beziehung zum        »Bürger = Künstler/Arbeiter«. Die damit ver-
Menschen – im Hinblick auf die Dreigliederung        bundene Arbeit an der Schwelle zwischen Geist
des menschlichen Organismus und des sozia-           und Materie verleiht allem Verwandlungsge-
len Lebens sowie die verschiedenen Wesens-           schehen das »Sakramentale«, was er als Über-
glieder; 2) um die Kulturentwicklung aus der         schrift über das Evolutionsdiagramm setzt.
mythischen Zeit über das Christusereignis als           Harlan geht den verschiedenen Bildzeichen
Zeitenwende bis in die Gegenwart, die als eine       und Wörtern auf der Zeichnung nach, betrach-
weitere Zeitenwende dargestellt wird, in der         tet den Zusammenhang der einzelnen Elemente
durch den Materialismus ein neues Verhältnis         und kontextualisiert sie mit dem übrigen Schaf-
zum Christus möglich wird, das in eine lich-         fen von Beuys. Eigene Kapitel sind ›Christus
te Zukunft blicken lässt – den »Sonnenstaat«,        – das Evolutionsprinzip‹, dem den Austausch
in dem ein neues Miteinander zwischen den            zwischen den Menschen charakterisierenden
Menschen herrscht; 3) um die planetarische           ›Informationsmodell‹ (Sender »S – Ǝ« Empfän-
Entwicklung der Erde vom Saturn über Sonne           ger) sowie der ›Sozialen Plastik‹ – als die ­Beuys
und Mond bis schließlich zum Jupiterstadium,         Steiners aus der Menschenkunde resultierende
in Anlehnung an Steiners ›Geheimwissenschaft         Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organis-
im Umriß‹. Dem so charakterisierten Gesche-          mus versteht – gewidmet. Wolfgang Zumdick
hen liegt – auch in der Anordnung auf dem Zei-       steuert Abschnitte zur kosmischen Evolution
chenblatt – 4) das Diagramm der »Plastischen         sowie zur neuzeitlichen Entwicklung des wis-
Theorie« zugrunde: die Metamorphose aus              senschaftlichen Denkens bei, wie sie auf der
dem Zustand eines unbestimmten Chaos über            Zeichnung angedeutet sind. Wobei er mehr
das vermittelnde Moment der rhythmischen             literarisch-interpretierend vorgeht, während
Bewegung in eine bestimmte Form. Diesen drei         Harlan sich in den Beuys’schen Gedankenkos-
Stadien sind die alchemistischen Begriffe Sul-       mos als in etwas Wirkliches eindenkt.
phur, Mercurius und Sal zugeordnet.                     Das Buch kann wie eine grundlegende Ein-
   Beim Nachvollzug solcher Entwicklungsvor-         führung in den Gedankenkosmos von Beuys
gänge wie auch im eigenen Leben spielt für           und sein lebenslanges schöpferisches Handeln

                                                                                       die Drei 3/2021

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gelesen werden. Dabei werden der erweiterte      trationen von etwas, sondern zeugen stets von
Kunstbegriff und sein Verständnis des Plas-      einer in die Gestaltung mündenden Geistesge-
tischen als Formungsgeschehen im Gedank-         genwärtigkeit, sind gewissermaßen geronnene
lichen, in der Auseinandersetzung mit Sub-       Aktionen. Seine unbedingte Liebe zur Sache,
stanzen und Materialien wie auch in der sozi-    die all seinem Tun zugrunde liegt, kann in ih-
alen Gestaltung nachvollziehbar – und zwar in    nen wie noch anwesend erlebt werden.
beide Richtungen: Im schöpferischen Prozess        Insofern ist es schade, dass viele der Abbil-
wie im Aufsuchen der Formprinzipien in der       dungen in diesem Buch sehr klein geraten sind.
Schöpfung. So gesehen bilden Schöpfung und       Da lohnt es sich sehr, die für Harlan angefertig-
Entwicklung keine Gegensätze.                    te Evolutionszeichnung sich beim FIU-Verlag
   Wenn Beuys von Plastischer Theorie, Infor-    von Rainer Rappmann für 10 EUR im DIN A
mationstheorie oder Sozialer Plastik spricht     3-Format zu beschaffen!4
bzw. schreibt, so meint er ja keine Theorien                                    Stephan Stockmar
im landläufigen Sinne. Sie dienen ihm dazu,
das Urbildliche des Menschseins und der Ent-
wicklung von Erde und Mensch herauszuar-         1 Vgl. Bernd Rosslenbroich: ›Entwurf einer Biologie
beiten, gewissermaßen als Plastiker der Idee:    der Freiheit. Die Frage der Autonomie in der Evolu-
Es geht ihm nicht darum, etwas zu erklären,      tion‹, Stuttgart 2018.
                                                 2 Brief vom 21. Oktober 1971, Hervorhebung im Ori-
sondern verstehend das Wesentliche herauszu-
                                                 ginal.
plastizieren – zeichnend, schreibend, redend     3 ›Der Tod hält mich wach – Joseph Beuys im Ge-
und handelnd. Insofern sind seine zahlreichen    spräch mit Achile Bonito Oliva‹ in Armin Zweite
Diagramme auf Papier oder auf Wandtafeln,        (Hrsg.): ›Beuys zu Ehren‹, München 1986, S. 72-82
wie sie Harlan vielfach einbezieht, nie Illus-   4 https://fiu-verlag.com/kategorie/joseph-beuys/

Christentum und Entwicklungsgedanke
Rudolf Steiner: Über das Wesen des Christentums (GA 68a), hrsg. von Andrea Leubin, Rudolf
Steiner Verlag, Basel 2020, 704 Seiten, 72 EUR

Das mit dem Titel ›Über das Wesen des Chris­     Erreichbarkeit, inhaltlich der Entwicklungsge-
tentums‹ jüngst als Band 68a der Gesamtausga-    danke für das Bewusstsein. Durch die so ge-
be erschienene Buch mit dem monumentalen         wonnene Perspektive ergeben sich Einsichten
Umfang von über 600 Seiten macht insgesamt       zu den Rätselfragen im Großen (z.B. die Aufga-
57 von Rudolf Steiner zwischen 1903 und 1910     be und Bedeutung des Bösen) und zu hundert
in verschiedenen europäischen Städten gehal-     Einzelheiten, die beim Lesen der alten religi-
tene Vorträge zugänglich, die auf unterschied-   ösen Urkunden unverständlich bleiben.
liche Weise und mit wechselnder Perspektive        Wer mit großen Teilen des christologischen
alle um einen Hauptgedanken kreisen, nämlich     Vortragswerks Rudolf Steiners vertraut ist, kann
wie Theosophie (später Anthroposophie) al-       dieser kurzen Charakterisierung entnehmen,
len Unbefangenen Mittel an die Hand gibt und     dass viele der hier skizzierten Gedanken und
Wege aufzeigt, sich zur Religion und im Beson-   Motive auch in längst edierten Vortragsbänden
deren zum Christentum so stellen zu können,      zu finden sind. Und doch ist das Studium die-
dass der Glaube sich in das seit Beginn der      ses neuen Bandes auch über die Möglichkeit
Neuzeit rasant verändernde Weltverhältnis be-    hinaus, bisher unbekannte Hinweise und Zu-
friedigend eingliedern kann. Schlüssel hierfür   sammenhänge aufgezeigt zu bekommen (z.B.
sind methodisch die Offenheit für die Tatsache   in dem bemerkenswerten Kasseler Vortrag über
übersinnlicher Welten und deren prinzipielle     den Ursprung des Bösen, S. 429ff.), lohnend.

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Einschränkend muss freilich darauf hingewie-        mystische Tatsache‹ gehalten, und so lässt sich
sen werden, dass von diesen 57 Vorträgen nur        verfolgen, wie immer wieder zu den Zentralge-
ein gewisser Teil in der Ausführlichkeit und        danken gerade dieser Schrift hingeführt wird:
Vollständigkeit vorliegen, die uns aus anderen      »Christus war nicht der Stifter seiner Religion,
Bänden vertraut ist. In etlichen Fällen existiert   er war ihr Gegenstand. Er hat die Menschheit
lediglich ein Zeitungsbericht, einzelne Vorträge    mit sich selbst erfüllt. […] Das Christentum ist
wiederum liegen nur in kurzen Zusammenfas-          eine mystische Tatsache. Das Neue, das es mit
sungen oder fragmentarischen Notizen vor.           sich bringt, ist die Tatsache, dass die mensch-
   Bemerkenswert sind die Zeitungsberichte;         liche Natur sich verwandelt.« (S. 98f)
man kommt aus dem Staunen nicht heraus, mit            So erfreulich auch die vielen kostbaren Ge-
welcher Sachlichkeit, Ausführlichkeit, Genau-       danken sind, welche bei der Lektüre angeregt
igkeit, Zugewandtheit und – vor allem – Un-         und vertieft werden, so wäre den Herausgebern
befangenheit Zeitungsreporter in den Anfangs-       doch einige Entschlusskraft zu wünschen ge-
jahren von Steiners Vortragstätigkeit berichte-     wesen, solche Texte, die bis zur Unkenntlich-
ten; hier einige Kostproben: »Unter der Rubrik      keit gestückelt sind (und beinah wie verspreng-
›Weisheitslehren im Christentum‹ brachte der        te Herrenworte anmuten) und auf Gedanken
Redner ganz andere Dinge, viel tiefere Dinge,       weisen, die im selben Buch an anderer Stelle
als sie gegenwärtig im Gedächtnis der allgemei-     klar entwickelt werden, wegzulassen.
nen Christenheit liegen, er sprach von Mysteri-        An jeder Stelle freilich scheint die Intention
en, vom Schauen, von der Entwicklung höherer        durch, um derentwillen heute mehr denn je
Wahrnehmungsfähigkeiten, höheren Welten             vielen das Studium geisteswissenschaftlicher
…« (S. 102). »Der Redner ist eine schwache,         Inhalte zu wünschen ist: »Theosophie will dem
aszetische Gestalt, verfügt aber über eine sym-     Menschen wieder bringen eine richtige, eine
pathische, sonore Stimme und spricht fließend       kräftige Anschauung der übersinnlichen Welt,
und ganz frei. Geisteswissenschaft, so führte er    die nicht nur neugierige oder müde Erkenntnis
aus, ist eine Wissenschaft des wirklichen gei-      befriedigt, sondern die den Menschen gerade
stigen, realen Lebens. Sie will Quellen eröff-      in dieser Welt arbeitstüchtig, hoffnungsfreudig,
nen …« (S. 570). »Dr. Steiner gebrauchte zur        gesund macht, weil er weiß: Der Sinn dieser
Unterstützung seiner Behauptungen stets die         physischen Welt ist ein ewiger, und weil er
Wendung: Das ist so und so. Daraus gewann           weiß: Alles, was ich tue in diesem Sinn, hat
man die Überzeugung, dass er mit Gewissheit         eine ewige Bedeutung. Dies gibt dem Men-
glaubte, er habe die Wahrheit. (Nicht eine oder     schen Freudigkeit fürs Leben, Tüchtigkeit für
seine Wahrheit.)« (S. 61).                          die Arbeit, und das ist, was den Menschen ge-
   Alle diese Vorträge sind nach dem Erscheinen     sund macht für das ganze Leben.« (S. 428)
des so wichtigen Buches ›Das Christentum als                                          Johannes Roth

Zeugnis ablegen vom Christus-Wesen
Anton Kimpfler: Lebendiger Gottesbeistand im menschlichsten Miteinander, mit dichterischen
Gestaltungen von Ursula Maria Willot, Wege Verlag, Freiburg im Breisgau 2020, 100 Seiten, 12 EUR
– Bestellungen ausschließlich schriftlich an: Wege Verlag, Scheffelstrasse 53, 79102 Freiburg i.Br.

Als im Jahre 1973 der 21-jährige Anton Kimpf-       geschaut hätten. Er berichtete Rudolf Grosses
ler nach Dornach zum Goetheanum reiste,             Antwort: Das Schauen des ätherischen Chri-
fragte er den damaligen Vorstandsvorsitzenden       stus sei heute schon verbreiteter, als man ahne;
Rudolf Grosse unter anderem, ob er Menschen         er wisse von Menschen, die den ätherischen
kennen würde, die den Christus im Ätherischen       Christus geschaut haben. Doch fügte er wört-

                                                                                      die Drei 3/2021

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lich hinzu: »Die, die darum wissen, die schwei-       Weltenwende – Globale Abgründe und ein
gen.«1 Wie tragisch empfand Anton Kimpfler            menschheitliches Neu-Erstehen‹ von Anton
diese Antwort! Wo Rudolf Steiner stärksten An-        Kimpfler. Dieses noch immer hochaktuelle
griffen ausgesetzt war, als er dies öffentlich ver-   Büchlein beginnt mit dem Kapitel ›Des Chris­
kündete, wo ihm mit Hohn und zersetzender             tus Wiederkunft erleben‹ und den Worten: »Die
Kritik entgegengetreten wurde – da steht die          Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts lässt
Anthroposophische Gesellschaft nicht öffent-          sich nur von der Wiederkunft des Christus her
lich für seine Worte ein! Wo er doch so viele         verstehen. Es wird die ganze Welt zu einer –
Male betonte, dieses Wiedererscheinen werde           seiner – Mysterienstätte. Deshalb ist alles in
zwischen 1930 und 1940 beginnen – und das             Umwälzung begriffen. Wer dies nicht sieht und
sei so sicher wie ein Naturgesetz.                    berücksichtigt, arbeitet bereits mit Gegnern un-
   Die Bezeugung von Rudolf Steiners Aussagen         serer Entwicklung zusammen.«2 Anton Kimpf-
geschah dann von nichtanthroposophischer              ler zeigt auf, wie ein intensives Miterleben mit
Seite her: In Schweden wurde über eine Zeitung        dem Gegenwartsgeschehen, eine Identifikation
gefragt, ob jemand wisse, wie Jesus Christus          mit dem Schicksal der ganzen Menschheit und
aussieht. Darauf antworteten viele Menschen,          der Erde zu einer sich immer wieder neu be-
die eine Begegnung mit dem lebendigen Chris­          lebenden Begegnung mit dem Christus führen
tus erlebt hatten. Diese Berichte erschienen –        kann. Weil dieser sich mit der ganzen Mensch-
auch in deutscher Sprache – als Sammelband            heit verbunden hat, können wir nur zu ihm fin-
›Sie erlebten Christus‹ (Basel 1979).                 den, wenn wir unser Herz weiten und Freuden
   Anton Kimpfler wurde nach dem ernüchtern-          und Leiden, Gedanken und Impulse der ganze
den Gespräch mit Rudolf Grosse nicht müde,            Menschheit versuchen mitzuerleben. Wie sich
für das Ereignis der Christuserscheinung ein-         in dem individuell miterlebten Menschheitsge-
zustehen. Er sammelte über viele Jahre Erleb-         schehen der Christus aussprechen kann, be-
nisberichte, die ihm zugetragen wurden, und           schrieb Anton Kimpfler beispielhaft in seinem
veröffentlichte sie in den Sammelbänden: ›Die         Beitrag ›Gegenwärtiges Menschheitsschicksal
Zeit der Wiederkunft – Christus begegnen‹             und die Erneuerung des Mysteriums von Gol-
(Kiel 1988) sowie ›Ankunft und ›Wiederkehr            gatha‹ in dem von mir herausgegebenen Sam-
des Christus‹ (Dornach 2001).                         melband ›Mit dem Menschheitsrepräsentanten
   Mit ›Lebendiger Gottesbeistand im mensch-          unterwegs‹ (Steinbergkirche 2018).
lichsten Miteinander‹ ist nun eine weitere               Am 14. März 1978 schrieb Michael Ende auf
Zusammenstellung erschienen, die Berichte             einen Brief Anton Kimpflers antwortend: »Ich
von Begegnungen mit dem Christus von ver-             spüre zwischen den Zeilen Ihres Briefes einen
schiedenen Menschen zusammenträgt. Anton              Kummer über die Stagnation der anthroposo-
Kimpflers einleitender Aufsatz steht unter dem        phischen Bewegung heraus, der viel größer ist,
bezeichnenden Titel: ›Vom größten Ereignis der        als Ihre Worte zu erkennen geben. Ich teile ihn.
neueren Zeit‹. Den 80 Erlebnisberichten sind 80       [...] Ich verstehe, was Sie meinen, wenn Sie
Gedichte von Ursula Maria Willot jeweils als          schreiben, dass die anthroposophische Bewe-
Nachklang und stimmungsmäßige Verdichtung             gung noch ziemlich heidnisch geblieben ist.
beigegeben. Das wertvolle Büchlein ist ohne           Ach, wenn sie das doch wenigstens noch wäre!
die Verwendung digitaler Techniken erstellt           Damit ließe sich immerhin irgend etwas anfan-
worden. Der feinfühlige Leser wird es schätzen,       gen. [...] Manchmal kommt es mir so vor – und
dass er dadurch zu einem freieren Erfassen der        das hängt natürlich mit der höchst problema-
Gedanken und Bilder gelangen kann.                    tischen Geschichte der Gesellschaft selbst zu-
   Gleichzeitig mit ›Lebendiger Gottesbeistand        sammen – als ob der größte Teil der Anthropo-
im menschlichsten Miteinander‹ erschien in            sophen in der Geisteswissenschaft Steiners eine
der Edition Widar eine Neuauflage des vor             metaphysische Rettung der bürgerlichen Kul-
33 Jahren erstmals erschienen Buches ›In der          tur- und Lebenswerte sieht. Das wirklich Neue,

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der Sprengstoff, der da drin steckt, das [...]    Vorträge und Schriften Wegangaben und Pläne.
Umwälzende und ungeheuer Fruchtbare wird          Ihnen folgend, mit Mut zur Begegnung mit der
eigentlich überhaut nicht ernst genommen, das     Wirklichkeit, erfüllt sich erst die Anthroposo-
lässt man so mit dem berühmten ›vergeistigten‹    phie als Vermittlerin zwischen dem Menschen-
Lächeln irgendwo links liegen.«3                  wesen und den anderen Wesen. Anton Kimpfler
  Für mich liegt die umwälzende und verwan-       hat den Mut, von dieser Wesens-Ebene Zeugnis
delnde Kraft der Anthroposophie insbesondere      abzulegen. Dazu gehört sein neues Buch über
auch darin, dass sie zeigt, dass allem Wesen      Begegnungen mit dem Christus-Wesen.
und ihre Taten zugrunde liegen. Solange man                                      Johannes Greiner
noch von Kräften und Prinzipien oder Atomen,
Molekülen und Naturgesetzen spricht, ist man
                                                  1 Mitteilung von Anton Kimpfler an den Autor.
noch nicht auf dem Grund der Wirklichkeit
                                                  2 Anton Kimpfler: ›In der Weltenwende – Globale
angekommen. Der anthroposophische Erkennt-        Abgründe und ein menschheitliches Neu-Erstehen‹,
nisweg, zu dem ich insbesondere auch die Eu-      Hamburg 2020, S. 7.
rythmie zähle, führt uns zur Begegnung mit        3 Unveröffentlichter Brief von Michael Ende an An-
diesen Wesen. Zunächst sind Rudolf Steiners       ton Kimpfler vom 14. März 1978.

Totengräber oder Geburtshelfer?
Thomas Bantle, Alexander Pschera & Peter Trawny (Hrsg.): Jünger-Debatte 2020 – Band 3:
Technik und Medien bei den Brüdern Jünger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2020,
276 Seiten, 48 EUR

Bereits die ersten beiden Bände der ›Jünger De-   Schließung entkommen‹ eröffnet, die den be-
batte‹ hatten die an sie gehegten Erwartungen     zeichnenden Untertitel ›Heidegger und Jünger
als Plattform einer kritischen Jünger-Rezeption   – ein unvollendetes Gespräch‹ trägt. Nach einer
in ausnehmender Weise unter Beweis gestellt.      hochdifferenzierten Entfaltung gelangt Zorn
In bewährter Tradition war auch dieser Ausga-     zu der Feststellung, dass eine vordergründige
be wieder ein entsprechendes Symposium im         Übereinstimmung diesem Gespräch nicht ge-
Kloster Heiligkreuztal vorausgegangen.            recht wird. Sein Ertrag schöpft aus einer ande-
   Der Themenschwerpunkt ›Technik und             ren Quelle. Bei allen Unterschieden »scheinen
Medien bei den Brüdern Jünger‹ fußt dabei         in den beiden Lösungsvorschlägen zwei Kon-
nicht zuletzt, wie Niels Penke in seinem Bei-     zeptionen des Offenen auf« (S. 19).
trag ›Schiffbruch mit Zuschauer‹ hinweist, auf      In seinem Aufsatz ›Die Philosophie der Tech-
einem »hochgradig verdichteten technikkri-        nik in den zwanziger und dreißiger Jahren und
tischen Diskurs der späten vierziger und fünf-    Jüngers Der Arbeiter‹ greift der in Moskau leh-
ziger Jahre, an dem unter anderen auch Fried-     rende Philosoph Alexander Michailowski unter
rich Georg Jünger (Die Perfektion der Technik,    anderem auf Namen und Thesen der deutschen
1946), Theodor W. Adorno und Max Horkhei-         Technokratie-Bewegung wie etwa Manfred
mer (Dialektik der Aufklärung, 1947), Martin      Schröter oder Heinrich Hardensett zurück, die
Heideggers Die Frage nach der Technik und Die     hierzulande längst vergessen sind. Er arbeitet
Technik und die Kehre (1953) und nicht zuletzt    dabei neben gemeinsamen Aspekten Ernst Jün-
auch Arnold Gehlens Die Seele im technischen      gers eigenständige Aufgabenstellung heraus,
Zeitalter (1957) teilhaben und einen histo-       die »vielleicht auch für künftige planetarische
rischen Umschlagpunkt markieren« (S. 49).         Entscheidungen vorbereiten« (S. 34).
   So wird dieser Themenband mit einer kom-         Jan Robert Weber – Ernst Jünger-Experte
plexen Studie von Daniel-Pascal Zorn ›Der         in Sachen Strategien der »Entschleunigung«

                                                                                    die Drei 3/2021

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– wendet den Focus in seinem Beitrag ›Vom           schöpfende Rezeption der konträr rezipierten
Verlust des Raums im Zeitalter der Beschleuni-      Schrift ›Der Arbeiter‹ von Ernst Jünger »zuletzt
gung‹ auf eine spannungsgeladene Beziehung:         an einer kompletten Erschließung des Manu-
›Ernst Jüngers Sardinien und die technische         skriptes nicht vorbeikommen« (S. 124) wird.
Moderne‹ (S. 35). Ein weiteres Mal gelingt             Besonders ansprechend sind auch 33 Briefe
Weber ein konkreter Nachweis, daß Jüngers           aus den Jahren 1963 bis 1985, die Ernst Jünger
Reiseprosa in ihrem unverfälschten Blick auf        an verschiedene Korrespondenzpartner gerich-
die gesichteten Umstände eine kulturkritische       tet hatte, mit denen er eine Leidenschaft für
Herausforderung bietet.                             die Käferforschung teilte. In einem Brief an den
   In ›Das »Andere« denken‹ stellt sich Alexan-     Entomologen Hermann Vogt vom 18. Februar
der Pschera der Aufgabe, ›Friedrich Georg Jün-      1969 bietet Ernst Jünger Doubletten an: »Hier
gers »Die Perfektion der Technik« im interna-       liegt hoher Schnee. Doch wenn ich Tiere aus
tionalen Kontext‹ einer grenzüberschreitenden       Malaga oder von Elba betrachte, wird mir ganz
Zuordnung zu unterziehen. Er wertet dabei ein       gemütlich warm« (S. 200). Pschera, der die-
verblüffend breites Spektrum »Deutscher Tech-       sen kleinen Ausschnitt unter der Überschrift
nikliteratur zwischen 1877 und 1939« (S. 85)        ›Entomologenpost wird immer zuerst geöffnet‹
sowie einer »Internationalen Technikliteratur       herausgegeben und kommentiert hat, stellt zu-
zwischen 1906 und 1945« (S. 86) aus. Pscheras       gleich eine vollständige Edition in Aussicht, die
Fazit hinsichtlich einer wahrgenommenen Be-         sich derzeit in Vorbereitung befindet.
drohung der menschlichen Freiheit, »die nicht          Neben Wortmeldungen zum eigentlichen
mehr weiß, was sie eigentlich ist und ob sie in     Themenschwerpunkt und ergiebigen Materi-
der Welt der digitalen Daten ihren Totengrä-        alien ›Aus dem Archiv‹ vervollständigen wei-
ber oder ihre Geburtshelferin gefunden hat« (S.     tere Beiträge in der Rubrik ›Freie Aussprache‹
85), fällt denkbar nüchtern aus.                    einschlägige Rezensionen über Publikationen
   In der Abteilung ›Aus dem Archiv‹ hebt sich      von und über Ernst Jünger sowie die aktuali-
die ›Teil-Edition des »Arbeiter«-Manuskripts‹       sierte Fortführung ›Internationale Ernst-Jünger-
hervor, die als farbiges Faksimile mit diploma-     Bibliographie 2016-2019‹ von Nicolai Riedel
tischer Umschrift wiedergegeben ist. In ihrem       diese dritte Ausgabe zu einer wertvollen Fund-
Vorwort geben sich Joana van de Löcht und           grube der Jünger-Forschung.
Peter Trawny davon überzeugt, dass eine er-                                            Volker Strebel

Eine Begegnung mit dem Doppelgänger
Rainer Patzlaff: Die Sphinx des digitalen Zeitalters – Aspekte einer Menschheitskrise, Verlag
Freies Geistesleben, Stuttgart 2021, 348 Seiten, 24 EUR

Wie Ödipus’ Begegnung mit der Sphinx den            Rainer Patzlaff. In kleinen Schritten erarbeitet
Übergang der Menschheit in das Zeitalter des        und in kurze Kapitel gegliedert, ergibt sich hier
abstrakten Denkens markiert, da die Lösung          ein großes Entwicklungsbild: Die Aufspaltung
des Rätsels – der Mensch, der anfangs auf vier,     der Seelenkräfte beim Schwellenübertritt spie-
dann auf zwei und schließlich auf drei Beinen       gelt sich in der technischen Entwicklung wider.
läuft – abstraktes Denken erfordert, so steht am    Die Entstehung der »Kraftmaschinen« seit dem
Schwellenübertritt der gegenwärtigen Mensch-        18. Jahrhundert erweitert die Möglichkeiten
heit in die geistige Welt der Hüter der Schwelle,   des Wollens; die Medien vom Phonographen
der Doppelgänger. Auf diesem Grundgedanken          bis zum Computerspiel sprechen primär das
basiert das äußerst aspektreiche, sehr gründlich    Fühlen an; die Digitalisierung bis hin zur
recherchierte und zukunftsweisende Buch von         künstlichen Intelligenz setzt das abstrakte Den-

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ken in der Maschine fort. Diese Möglichkeiten       Gegenübers und letztlich seines Ich. Diese Er-
liegen in der Entwicklungsnotwendigkeit der         weiterung des Hörens über den Sprach- zum
Menschheit und werden sich in den kommen-           Gedanken- und Ich-Sinn kann nicht stattfinden,
den Jahrhunderten noch steigern. Sie drohen         wenn die Sprache digital (durch einen Laut-
einerseits, den Menschen in den Bann des Un-        sprecher) gelernt wird: Statt der lebendigen
tersinnlichen zu fesseln. Zugleich weisen sie       Bildekräfte der Sprache (die sich auch im Luft-
aber darauf hin, dass der Schwellenübertritt in     strom abbilden) dringen punktuelle Messwerte
die geistige Welt schon begonnen hat und der        der akustischen Schwingungen ans Ohr, unter-
Menschheit in der Technik ihr Doppelgänger          brochen von minimalen Leerstellen. Vor die-
gegenübertritt. Hierfür liefert der Autor zahl-     sem Hintergrund erhält die Forcierung der Di-
reiche Beispiele, wobei sich eine »Büchse der       gitalisierung der Bildung seit letztem Jahr noch
Pandora« auftut und die Dystopie eines ver-         eine viel größere Bedeutung: Die Entwicklung
kapselten Menschen eröffnet. Hier hat Patzlaff      der Inspirationsfähigkeit wird verhindert.
schonungslos und gründlich recherchiert.               Ein weiterer Schritt, an dem intensiv gear-
   Auch innerhalb der Entwicklung der Digitali-     beitet wird, ist die Verschmelzung von Mensch
sierung wird ein Dreischritt wahrnehmbar: Die       und Maschine: die Entwicklung von Roboter
Stufen übersinnlicher Erkenntnis, nach denen        und Cyborg, dem auch körperlich digital an-
sich die Seele an der Schwelle sehnt, finden hier   geschlossenen Menschen. Hierin könnte das
illusionäre Surrogate. Die im Internet verfüg-      untersinnliche Gegenbild zur Intuition gesehen
bare Bilderflut befriedigt scheinbar die Suche      werden. Geforscht wird z.B. an der Möglich-
nach Imagination. Dem Wesen nach begegnet           keit, Gedanken unmittelbar als elektromagne-
die Seele aber nur unendlichen Kombinationen        tische Wellen vom Gehirn in ein Smartphone zu
der Ziffern 0 und 1. Gesteigert wird die Bilder-    übertragen, ohne Sprache, und in einer Cloud
flut zur virtuellen Realität des Computerspiels.    zu speichern. Damit wäre auch der umgekehr-
Hierbei wird das Ich, die Empfindung und so-        te Weg denkbar: Gedankenüberwachung. Die
gar die eigene Körperwahrnehmung in die Ma-         Überwachung jeder Handlung und Emotion
schine eingesogen und führt bei suchtartigem        durch Gesichtserkennung ist in China bereits
Gebrauch zu Vereinsamung, Empathielosigkeit         Realität, in Europa wird sie politisch vorberei-
und seelischem Ersticken mangels substanziel-       tet – im Windschatten der Pandemie.
ler Sinneswahrnehmungen.                               Trotz dieser dystopischen Aussichten ist der
   Schließlich gibt es schon den sprechenden        Autor kein Technikfeind. Im Gegenteil: Für die
Computer: ›Siri‹ und ›Alexa‹ stehen für Ge-         vertiefte Selbsterkenntnis sind diese Herausfor-
spräche bereit, und Geräte, die Kinder das          derungen notwendig, und aus innerer Freiheit
Sprechen lehren sollen, befinden sich in der        heraus kann die Technik zum Guten verwen-
Entwicklung. Die Digitalisierung des Schulun-       det werden. Viele Befreiungsbewegungen des
terrichts ist das große Thema dieser Tage, wo-      letzten Jahrzehnts wären ohne social media
bei sich die öffentliche Kritik überwiegend auf     nicht möglich gewesen. Andererseits sind die-
die zu schleppende Ausstattung der Schulen          se Plattformen durch Belohnungssysteme be-
beschränkt. Dass hier etwas essenziell Mensch-      wusst so gestaltet, dass sie süchtig machen.
liches zwischen Lehrer und Schülern, Eltern         Man ist einer Flut fragwürdiger Informationen
und Kindern verloren geht, empfinden wohl           ausgesetzt, und andererseits können Nachrich-
einige, diskutiert wird es jedenfalls nicht. Hier   tenmonopole gebrochen werden. Letztlich hilft
kommt die langjährige Erfahrung von Patzlaff        nur die eigene Urteilskraft. Je tiefer die Technik
als Deutschlehrer und Medienforscher ins            in das Untersinnliche vordringt, desto aktiver
Spiel: Die Bildekräfte des gesprochenen Wortes      muss sich die Seele in das Übersinnliche vorar-
formen im Kind die Sprachorgane. Ab der Pu-         beiten. – Das Buch ist jedem Zeitgenossen zu
bertät transformieren sie sich immer mehr in        empfehlen, insbesondere Eltern und Lehrern.
die Wahrnehmungsfähigkeit der Gedanken des                                            Johannes Thiele

                                                                                      die Drei 3/2021

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Es muss nicht immer digital sein
Ingo Leipner: Die Katastrophe der digitalen Bildung. Warum Tablets Schüler nicht klüger machen
– und Menschen die besseren Lehrer sind, Redline Verlag, München 2020, 303 Seiten, 19,99 EUR

Wer dieses Buch aushalten will, sollte zuerst         Gezeigt wird, dass es von Anfang an einen
das letzte Kapitel lesen, denn dort geht es da-    Trend zur Entmündigung, d.h. das Bestreben
rum, dass »es nicht immer digital sein muss«       gab, die Schüler an Bildschirme förmlich zu fes-
(S. 256). Dort wird das weite Panorama auf-        seln, etwa dadurch, dass das Konzept der »Indi-
gemacht, wie Medienpädagogen gut arbeiten,         vidualisierung« auf den Kopf gestellt wird, um
ohne dem IT-Hype der Gegenwart zu verfallen.       mittels raffinierter, sogenannter »Augmented
Da geht es etwa um die »Transparenz der Algo-      Reality« (vgl. S. 264ff.) schon im Kindergarten
rithmen statt Transparenz der Schüler« (S. 258),   zu einer von der Anpassung an den Computer
um Dateneinsparung und Datenhoheit der Nut-        und seinen Möglichkeiten bestimmten Erweite-
zer, um die Frage, weshalb Digitaltechnik an       rung der Wahrnehmung zu kommen – immer
Schulen nur lokal und ohne Rückfluss ins Netz      durch die Brille digital vorgesetzter Texte, Bil-
genutzt werden sollte. Durchgehend bestimmt        der und Geräusche, was auf ein Einleben in
wird dieses konstruktive Kapitel von dem Ar-       eine »zweite Wirklichkeit« hinausläuft.
gument: »Eine Kindheit ohne Computer ist der          Wer also Argumente finden will, warum der
beste Start ins digitale Zeitalter.« (S. 266)      Mensch noch immer am besten vom Menschen
   Offenbar wissen die Eltern im Silicon Valley    lernt, was offenbar immer weniger eine Selbst-
genau, warum sie ihre Kinder nicht zu früh an      verständlichkeit ist, findet hier eine Fülle von
den Computer lassen: Dort hat das Narrativ kei-    gut und dicht ausgewiesenen Hinweisen – etwa
ne Chance, dass Technologie der Bildung helfen     und auch gerade auf die immer wichtiger wer-
könnte. Denn auch das ist dort bekannt: Was        dende Frage, wieviel Einfluss die Demokratie
mit der Bildung nicht stimmt, kann Technolo-       den Digitalkonzernen erlaubt, die curriculare
gie nicht besser machen. Sie wird diesbezüglich    Gestaltung von Schulen zu bestimmen.
an den Schulen keine Spuren hinterlassen, und         Dies ist ein profundes Buch zum Kennenler-
das ist auch ein sozialpolitisches Problem.        nen des digitalen Angriffs auf unsere Kinder, ein
   Wer sich der Wucht der ›Katastrophe der         Trendbuch im doppelten Sinne, denn es zeigt
digitalen Bildung‹ aussetzen will, und das ist     ebenso strukturiert wie konsequent auf, wie
unbedingt zu raten, der erhält Einblick in die     eine Medienpädogik (konkretisiert an der Wal-
ablesbare Tatsache, warum selbst perfekte digi-    dorfschule) aussehen sollte. Die Digitalisierung
tale Lernsysteme niemals in der Lage sein wer-     wird nicht in Bausch und Bogen abgelehnt,
den, den Unterricht von Mensch zu Mensch           sondern ein differenziertes Bild des Umgangs
zu ersetzen: Geschäftsführer großer deutscher      mit dieser Technologie wird ins Rampenlicht
IT-Firmen werden zitiert, wonach es ihrer An-      gerückt, grundlegend bestimmt von zwei Blick-
sicht nach angesagt sei, der digitalen Bildung     richtungen: Welche Altersgruppe ist geeignet,
einen großen Schub zu versetzen: »Politik und      mit Bildschirmen zu arbeiten? Und handelt es
Wirtschaft müssen jetzt die Krise als Chance       sich um eine aktive oder passive Nutzung digi-
nutzen verstehen und Digitalisierung erstens       taler Geräte? – Dies ist ein wichtges Buch zur
stärker als je zuvor und zweitens nachhaltiger     aktuellen Situation und darüber hinaus, auch
zu verankern.« (S. 11) Da kommt die Corona-        weil die Chance geboten wird, sich entlang
Pandemie als Verstärker gerade recht. Dass da-     neuer Begriffe (neben Augmented Reality etwa
mit aber Unterricht für ein »Schwarzes Loch«       auch Edge Computing oder CS unplugged) auf
implementiert wird, bremst offenbar nicht den      den fortgeschrittenen Stand der digitalen Welt
laufenden, angeblich überfälligen »Epochen-        zu bringen – wenn man möchte!
wechsel an den Schulen.« (ebd.)                                                          Otto Ulrich

die Drei 3/2021

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