BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 101-2 vom 30. September 2018

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BULLETIN
                                   DER
                             BUNDESREGIERUNG
                         Nr. 101-2 vom 30. September 2018

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

beim Staatsbankett zu Ehren des Präsidenten der Republik Türkei,
Recep Tayyib Erdoğan,
am 28. September 2018 in Berlin:

Herzlich willkommen in Berlin!

Es ist gut, sich wiederzusehen. Es ist gut, miteinander zu sprechen. Und, ja, es ist
auch gut, zu streiten – jedenfalls, wenn wir es auf eine „möglichst gute Art“ tun, wie es
im Koran heißt. Sehr geehrter Herr Präsident, ich freue mich, dass unsere Länder nach
viel zu vielen groben Tönen in der jüngeren Vergangenheit das Gespräch miteinander
wieder suchen.

In diesem Monat vor ganz genau 70 Jahren, nur wenige Schritte von hier entfernt, hielt
der spätere Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, eine Rede, die bis heute unver-
gessen ist: „Ihr Völker der Welt […], schaut auf diese Stadt!“ Ein Berliner Leuchtfeuer,
jene Rede, gebaut auf der erlebten Erfahrung von Krieg und Diktatur, ein flammendes
Plädoyer für die Freiheit!

Wenn ich an Reuters Rede und an die in ihr beschworenen Werte erinnere, dann er-
innere ich zugleich an die enge Bindung zwischen Deutschland und der Türkei. Denn
dass er diese Rede halten konnte, verdanken wir auch dem Land, das so offen und
großherzig war, in den Jahren nationalsozialistischer Diktatur vertriebene jüdische und
politisch verfolgte Deutsche aufzunehmen – darunter hunderte verfolgte Wissenschaft-
ler wie Friedrich Dessauer oder Ernst Eduard Hirsch, Künstler wie Bruno Taut oder
Paul Hindemith.
Bulletin Nr. 101-2 v. 30. Sept. 2018 / Bpräs. – Staatsbankett zu Ehren des türkischen Präsidenten, Berlin

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Vielen dieser Menschen ist die Türkei eine zweite Heimat geworden. Ernst Reuter
selbst hat zwölf Jahre seines Lebens in Istanbul und Ankara verbracht, seine Familie
und er haben die Türkei schätzen und lieben gelernt.

Die deutsche Emigration in die Türkei ist ein nicht allzu bekanntes, aber umso bemer-
kenswerteres Kapitel unserer langen und wechselvollen Beziehung. Sie reicht weit in
die Jahrhunderte zurück, hat Höhen und Tiefen erlebt, und sie ist insbesondere durch
die Menschen, die später aus der Türkei zu uns gekommen sind, zu einer ganz beson-
deren Beziehung gewachsen. Diese deutsch-türkische Beziehung, sie ist gewiss ein-
zigartig – und gewiss nicht einfach.

Deutschland ist reicher geworden durch die inzwischen fast drei Millionen Menschen,
die ihre Wurzeln in der Türkei haben und in Deutschland zuhause sind. „Reicher ge-
worden“ übrigens im ganz buchstäblichen Sinne: Der wirtschaftliche Aufstieg und
Wohlstand meines Landes ist schlicht nicht denkbar ohne die vielen aus der Türkei,
die wir in den vergangenen Jahrzehnten gebeten haben, hier zu arbeiten, nicht denk-
bar ohne ihre Familien, die nachkamen, nicht denkbar ohne ihre Kinder und Enkel.
Aber ich meine „reicher geworden“ auch im gesellschaftlichen, kulturellen, lebenswelt-
lichen Sinne. Ich bin stolz und dankbar, Bundespräsident eines vielfältigen und weltof-
fenen Deutschlands zu sein, in dem Generationen türkischer Zuwanderer ihre Spuren
hinterlassen haben, das sie mitprägen, in dem Menschen ganz unterschiedlicher Her-
kunft ihr Zuhause finden – ein Zuhause mit Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

Natürlich steckt unsere freiheitliche und offene Gesellschaft voller Widersprüche und
Konflikte. Für die viel beschworene Integration gibt es weder Zauberformeln noch ei-
nen harmonischen Endzustand. Integration ist ein Prozess, der alle Beteiligten in die
Pflicht nimmt: die, die seit Generationen Deutsche, und die, die zugewandert sind. In-
tegration beginnt mit einem Bekenntnis, das uns allen – gleich welcher Herkunft – zu-
steht, nämlich: „Hier will ich leben, hier kann ich mitgestalten.“ Integration bedeutet,
dass wir miteinander lernen, nicht nur teilzuhaben, sondern auch Verantwortung zu
tragen für dieses demokratische Gemeinwesen. Integration bedeutet, Regeln zu res-
pektieren, Vielfalt und Vielstimmigkeit auszuhalten, aber auch gemeinsam gegenzu-
halten, wenn andere – sei es in unserem eigenen Land oder von außen – Misstrauen
Bulletin Nr. 101-2 v. 30. Sept. 2018 / Bpräs. – Staatsbankett zu Ehren des türkischen Präsidenten, Berlin

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oder Zwietracht säen. Und ganz ohne Zweifel gehört zu den gemeinsamen Pflichten,
dass wir uns jeder Form von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenhass entgegen-
stellen! Erst jüngst haben wir in der Aufklärung der Mordserie des NSU in den finsters-
ten Abgrund des Hasses geblickt. Wir haben diese abscheulichen Verbrechen und
insbesondere ihre Opfer nicht vergessen. Sie beschämen uns bis heute.

Auf den Reisen durch unser Land stellen meine Frau und ich immer wieder mit Freude
fest: Zum gesellschaftlichen Leben in Deutschland gehören heute – mehr als jemals
zuvor in der bundesdeutschen Geschichte – auch Abgeordnete, Journalistinnen,
Schriftsteller, Schauspielerinnen, Sportler, Unternehmer und viele andere mit türki-
schen Wurzeln. Unter ihnen sind auch Menschen wie Mevlüde Genç, deren Kraft und
Wille zur Versöhnung nach dem entsetzlichen Brandanschlag in Solingen vor 25 Jah-
ren mich tief beeindruckt hat. Wir hätten sie gern heute Abend hier begrüßt, und sie
wäre gern gekommen – leider lassen ihre Kräfte es nicht zu, und wir grüßen sie von
hier aus sehr herzlich.

All diese Menschen prägen unser gemeinsames Deutschland, und ich freue mich,
dass einige von ihnen heute Abend hier sind. Sie sind der wichtigste Teil unserer Be-
ziehungen – auf sie kommt es an! Sie können bezeugen, dass sehr viele Menschen in
Deutschland Anteil daran nehmen, wie unsere Länder zueinander stehen und wie die
Lage im jeweils anderen Land ist. Das Interesse aneinander ist groß, die Emotionen
sind es auch. Was in der Türkei geschieht, ist wichtig für diese Menschen, und es ist
wichtig für Deutschland. Ebenso wie in der Türkei besonders genau beobachtet wird,
was in Deutschland geschieht. Um es kurz zu sagen, über manche aktuellen Differen-
zen hinweg: Wir sind und bleiben wichtig füreinander. Im Wissen darum sollten wir
unsere künftige Beziehung gestalten.

In der Erinnerung an Ernst Reuter, den ich am Anfang meiner Rede erwähnt habe,
steckt für mich zweierlei: Dankbarkeit – für die Offenheit und Mitmenschlichkeit, die die
Türkei ihm und vielen anderen gegenüber bewiesen hat. Aber eben auch dies: Hoff-
nung. Vor 80 Jahren fanden Deutsche Schutz in der Türkei – heute suchen beunruhi-
gend viele aus der Türkei bei uns Zuflucht vor wachsendem Druck auf die Zivilgesell-
schaft. Ernst Reuters Beispiel aber sollte uns Mut machen: Seine gesamte Biographie
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verkörpert das Ringen um die Besserung der politischen Verhältnisse, die Überwin-
dung von Zwang und Unfreiheit, sie verkörpert die Hoffnung auf Freiheit und Rechts-
staatlichkeit. Diese Hoffnung hegte er für das Zusammenleben der Völker – ganz be-
sonders natürlich für unsere beiden Länder, Deutschland und die Türkei.

Und diese Hoffnung hege auch ich und mit mir viele Deutsche. Wir wünschen uns,
dass die Türkei zwei Jahre nach dem Trauma des Putschversuchs zum Ausgleich,
zum Frieden im Inneren zurückfindet. Wir wünschen uns, dass die Versöhnung der
scharfen gesellschaftlichen Gegensätze auf der Grundlage von Menschenrechten und
Rechtsstaatlichkeit gelingt.

Und wir wünschen uns das nicht nur. Deutschland hat ein sehr handfestes, ausgepräg-
tes Interesse an einer stabilen und demokratisch verfassten, einer wirtschaftlich erfolg-
reichen und europäisch orientierten Türkei. Ich begrüße daher ausdrücklich alle Be-
mühungen, die dabei helfen, nach konfliktreichen Monaten in der jüngsten Zeit zu un-
serer gewachsenen guten Beziehung zurückzufinden. Zu solchen Mühen gehört der
offene Austausch über das, was uns trennt. Und das war zuletzt mehr, als wir uns
wünschen. Ich sorge mich als Präsident dieses Landes natürlich – das wissen Sie,
Herr Präsident – um deutsche Staatsangehörige, die aus politischen Gründen in der
Türkei inhaftiert sind. Und ich sorge mich auch um türkische Journalisten, Gewerk-
schafter, Juristen, Intellektuelle und Politiker, die sich noch in Haft befinden. Über eine
Reihe von Einzelfällen haben wir heute Morgen ausführlich gesprochen. Ich hoffe, Sie
verstehen, dass wir darüber nicht ohne weiteres hinweg und zur Tagesordnung über-
gehen.

Deutschland und die Türkei brauchen einander – auch in Europa. Wir brauchen einan-
der im Ringen um einen Frieden im Nahen und Mittleren Osten, im Kampf gegen Ter-
rorismus und im Bemühen darum, die Lage der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten
der Region zu erleichtern. Wir würdigen die enormen Leistungen Ihres Landes für Mil-
lionen Menschen, die aus Syrien geflohen sind. Knapp eine Million schulpflichtige
Flüchtlingskinder sollen bis zum Ende des nächsten Schuljahres in das reguläre Schul-
system der Türkei eingegliedert werden. Und das ist nur ein Beispiel für die großen
Aufgaben, die Migration und Integration mit sich bringen, in Ihrem Land und natürlich
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auch hier in Deutschland. Ich finde, wie wir diese Aufgaben gemeinsam bewältigen
können, darüber sollten wir uns verständigen.

Die Herausforderungen drängen uns zur Eile. Doch Verständigung braucht Zeit, sie
braucht Geduld und Beharrlichkeit. Und sie braucht Vertrauen. Herr Präsident, Sie ha-
ben die große Emotionalität gespürt, die Ihrem Besuch in meinem Lande entgegen-
schlägt. Diese Emotionen sind Ausdruck der besonderen Beziehungen unserer Länder
einerseits, aber natürlich auch Ausdruck von Irritationen der letzten Monate, die noch
nicht überwunden sind. Ein Besuch allein kann Normalität nicht herstellen. Aber er
könnte ein Anfang sein, der Anfang eines Weges, der über viele, konkrete Schritte zu
neuem Vertrauen führt. Herr Präsident, verehrte Frau Erdoğan, darauf, dass Vertrauen
zwischen unseren Ländern wieder wachsen möge, möchte ich mein Glas erheben.
Darauf, dass aus der besonderen Beziehung zwischen der Republik Türkei und der
Bundesrepublik Deutschland und zwischen den Menschen unserer Länder eine
freundschaftliche und für beide Seiten fruchtbare Beziehung wächst!

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