COVID-19 überwinden - gemeinsam Perspektiven für starke Familien entwickeln - Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Sarah Molter ...
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Kurzexpertise Dokumentation Arbeitspapier Bericht COVID-19 überwinden – gemeinsam Perspektiven für starke Familien entwickeln Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Sarah Molter, Katrin Lange, Maike Merkle, Friederike Sprang Juli 2021
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Zusammenfassung zentraler Ergebnisse Für viele Familien in Europa stellen die COVID-19-Pandemie sowie die zur Verlangsamung der Ausbreitung ergriffenen Maßnahmen eine Belastung dar: Drohende oder tatsächliche Ein schränkung der Erwerbstätigkeit, geschlossene Schulen und Betreuungseinrichtungen, er höhte Anforderungen an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und soziale Isolation im ei genen Zuhause. Die vielfältigen politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Familien mit Kindern in Europa zeigen, dass die EU-Mitglied staaten mit sehr unterschiedlichen Ansätzen auf dieselben Herausforderungen reagiert haben. Mitunter scheint sich dies auf unterschiedliche Ausgangslagen der Staaten in Vor-COVID-19- Zeiten zurückführen zu lassen. Wie können Familien in und nach der COVID-19-Pandemie unterstützt werden? • Langfristige, staatliche Investitionen in Infrastruktur für Kinder und ihre Familien, vor allem in frühkindliche Bildung und Erziehung sowie in Schulbildung, sind auch in Zeiten von CO VID-19 zentral, damit alle Kinder mit guten Chancen aufwachsen können. • Umfassende, mehrdimensionale Strategien zur Armutsbekämpfung (auf nationaler und eu ropäischer Ebene) sind wichtig, um Familien in der Pandemie und danach zu unterstützen. • Es braucht wirkungsvolle Maßnahmen zur Sicherung der finanziellen Stabilität von Fami lien. Wichtig sind eine unkomplizierte Beantragung und die Anpassung von Maßnahmen an die veränderten Bedarfe durch die Pandemie beziehungsweise die Implementierung neuer Maßnahmen. Besonders Alleinerziehende, Familien ohne Einbindung in den Ar beitsmarkt und Familien mit kleinen Einkommen müssen unterstützt werden. • Corona-bedingt weggefallene Infrastruktur muss kompensiert werden, damit sich Bildungs ungleichheiten durch die Krise nicht verstärken. Bei Schulen bedeutet dies guter digitaler Unterricht und eine entsprechende Ausstattung im Homeschooling für alle Kinder. Hier sind besonders Kinder und ihre Eltern zu unterstützen, die mit besonderen Herausforde rungen konfrontiert sind, wie Kinder mit Behinderungen oder mit Sprachbarrieren. Die Schließung von Schulen und Betreuungseinrichtungen sollten aufgrund der vielfältigen Funktion der Einrichtungen für das Leben der Kinder möglichst vermieden werden. • Eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist angesichts geschlossener Betreuungs einrichtungen für Eltern zentral. Wichtig sind die Möglichkeit mobil zu arbeiten und eine flexible Arbeitszeitpolitik. Dennoch muss anerkannt werden, dass die Betreuung insbeson dere von kleinen Kindern auch im Homeoffice nicht parallel möglich ist. Die Flexibilität von Arbeitgebern in der Pandemie ist wichtig, gesetzliche Regelungen, die mit Zeit, Geld und Infrastruktur hinterlegt sind, sind jedoch entscheidend, um Eltern in dieser Hinsicht Sicher heit zu geben. • Als Corona-bedingte Risikofaktoren für häusliche Gewalt zeigen sich Quarantäne, finanzi elle Not und psychische Belastungen. Schutz vor häuslicher Gewalt muss Kindern auch in der COVID-19-Pandemie niedrigschwellig zugänglich sein und auch die Kontrollfunktion durch sonst aufsuchende Arbeit muss kompensiert werden. 1
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung zentraler Ergebnisse 1 1 Hintergrund: Familien sind die stabile Mitte der Gesellschaft 3 2 Programm 4 3 Begrüßung: Starke Familien in einem starken Europa 6 3.1 Maßnahmen in Deutschland – Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 6 3.2 Initiativen auf europäischer Ebene – Dubravka Šuica, Vizepräsidentin für Demokratie und Demografie der Europäische Kommission 7 4 Podiumsdiskussion: Wie kann Politik Familien in der COVID-19- Pandemie stärken? 11 4.1 Welche blinden Flecken hat die Krise offengelegt? 11 4.2 Was sind erste Lehren aus der Krise? 12 4.3 Was sind Beispiele guter Praxis in Europa? 14 5 Fachpanels 15 5.1 Fachpanel 1: Finanzielle Stabilität von Familien 15 5.2 Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstützende Infrastruktur 20 5.3 Fachpanel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf 27 5.4 Fachpanel 4: Bekämpfung von häuslicher Gewalt 35 6 Ausblick der Triopräsidentschaft: Gemeinsam Prioritäten gegen Armut und soziale Ausgrenzung setzen 40 7 Liste relevanter Dokumente 43 8 Speaker 44 Aktuelle Publikationen der Beobachtungsstelle 50 Impressum 51 2
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 1 Hintergrund: Familien sind die stabile Mitte der Gesell schaft Die COVID-19-Pandemie hat von Beginn an eindrücklich gezeigt, dass Familien die stabile Mitte der Gesellschaft sind. Viele Menschen haben sich in dieser Zeit besonders in der Familie gegenseitig unterstützt. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie hat das Bundesministerium für Familie, Seni oren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), in Zusammenarbeit mit der Beobachtungsstelle für ge sellschaftspolitische Entwicklungen in Europa, die Unterstützung von Familien mit der interna tionalen Online-Konferenz „COVID-19 überwinden – gemeinsam Perspektiven für starke Familien entwickeln“ am 24. November 2020 in den Fokus gerückt. Rund 150 Teilnehmende aus ganz Europa verfolgten die Konferenz, die im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft (Juli bis Dezember 2020) stattfand und diskutierten mit Ex pertinnen und Experten. Gemeinsam, unter anderem mit Vertreterinnen und Vertretern der Europäischen Kommission und der EU-Mitgliedstaaten sowie mit Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft wurden aktuelle Herausforderungen während der COVID-19-Pandemie sowie mögliche Lösungsansätze diskutiert, mit dem Ziel, gemeinsam Perspektiven für starke Familien zu entwickeln. Neben der Frage nach der Nachhaltigkeit staatlicher Maßnahmen wurden zentrale Fragen in den Bereichen finanzielle Stabilität von Familien, gleiche Bildungschancen für alle Kin der, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Bekämpfung von häuslicher Gewalt behandelt. Zudem diskutierten in zwei politisch hochrangig besetzten Panels Vertreterinnen und Vertreter der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission, welche Lehren aus nationalen Beispielen guter Praxis für Familien und Kinder in Zeiten von COVID-19 gezogen werden können und wie die Stärkung von Kindern und Familien in Europa durch die Zusammenarbeit innerhalb der Trio-Ratspräsidentschaft fortgesetzt werden kann. Die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen haben im Nachgang der Konferenz weiter an Dra matik zugenommen. Die Zielsetzung der Konferenz ist aktueller denn je und die Arbeit an einer langfristigen und krisensicheren Absicherung von Familien weiterhin eine zentrale Prämisse von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren auf allen Ebenen. Diese Dokumentation bündelt die wichtigsten Impulse der Konferenz und reichert sie mit weiteren Informationen zu aktuellen Maßnahmen und Forschungsergebnissen aus dem europäischen Raum an. 3
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 2 Programm 10.00 – 10.10 Uhr Begrüßung durch die Moderatorin Dr. Nicola Brandt, Leiterin des OECD Berlin Centre 10.10 – 10.40 Uhr Begrüßung: Starke Familien in einem starken Europa Maßnahmen in Deutschland Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Initiativen auf europäischer Ebene Dubravka Šuica, Vizepräsidentin für Demokratie und Demografie der EU-Kommission 10.40 – 11.20 Uhr Podiumsdiskussion: Wie kann Politik Familien in der COVID-19- Pandemie stärken? Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Eila Mäkipää, Staatssekretärin bei der Ministerin für Familie und So ziale Dienste, Finnland Adrien Taquet, Staatssekretär für Kinder und Familien beim Minister für Solidarität und Gesundheit, Frankreich Georg Graf Waldersee, Vorsitzender des Vorstands, UNICEF Deutschland Prof. Michael O’Flaherty, Direktor der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Moderation: Dr. Nicola Brandt 11.20 – 11.45 Uhr Pause 11.45 – 13.15 Uhr Fachpanels mit der Möglichkeit virtueller Beteiligung: Panel 1: Finanzielle Stabilität von Familien mit Kindern Petra Mackroth, Leiterin der Abteilung Familie im Bundesministe rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Dominic Richardson, Leiter Sozial- und Wirtschaftspolitik, UNICEF Innocenti Research Centre Leitung: Andreas Heimer, Direktor der Prognos AG Panel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unter stützende Infrastruktur Prof. Hugh Frazer, Fachbereich für angewandte Sozialwissenschaf ten, Nationale Universität von Irland in Maynooth 4
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Jana Hainsworth, Generalsekretärin, Eurochild Mialy Dermish, Sekretariatsleiterin, SIRIUS Policy Network on Mi grant Education Leitung: Dr. Silke Borgstedt, Director Research & Consulting, SI NUS-Institut 13.15 – 13.30 Uhr Pause 13.30 – 15.00 Uhr Fachpanels mit der Möglichkeit virtueller Beteiligung: Panel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf Dr. Monika Queisser, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik, OECD Prof. Dr. Miriam Beblo, Professorin für VWL, Universität Hamburg Dr. David Juncke, Principal Familienpolitik & Vereinbarkeit, Prognos AG Leitung: Dr. Hans-Peter Klös, Geschäftsführer und Leiter Wissen schaft am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Panel 4: Bekämpfung häuslicher Gewalt Prof. Dr. phil. Jörg Maywald, Geschäftsführer Deutsche Liga für das Kind Dr. Cara Ebert, Stellvertretende Leiterin des Berliner Büros, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Dr. Astrid Podsiadlowski, Projektmanagerin – Rechte des Kindes, Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Leitung: Prof. Dr. Janina Steinert, TUM School of Governance, Technische Universität München 15.00 – 15.30 Uhr Pause 15.30 – 16.10 Uhr Präsentation der Ergebnisse der Diskussionsrunden 16.10 – 16.40 Uhr Ausblick der Triopräsidentschaft: Gemeinsam Prioritäten gegen Armut und soziale Ausgrenzung setzen Petra Mackroth, Leiterin der Abteilung Familie im Bundesministe rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ana Sofia Antunes, Staatssekretärin für Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Ministerium für Arbeit, Solidarität und soziale Sicherung, Portugal Dušan Miku, Generaldirektor für Familienpolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales und Chancengleichheit, Slowenien Moderation: Dr. Nicola Brandt 16.40 – 16.45 Uhr Verabschiedung durch die Moderatorin 5
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 3 Begrüßung: Starke Familien in einem starken Europa 3.1 Maßnahmen in Deutschland – Franziska Giffey, Bundesministerin für Fami lie, Senioren, Frauen und Jugend Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Franziska Giffey, eröffnete die Konferenz vor Ort in Berlin: „Die COVID-19-Pandemie ist für Familien überall in Europa belastend. Es gibt Existenzängste, Alltag, Beruf und Familie müssen unter schwierigen Bedingungen und mit den bekannten Ein- schränkungen ganz anders organisiert werden, und nicht selten sind Eltern damit an oder so- gar über ihrer Belastungsgrenze. Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir den Familien deshalb verlässliche Strukturen erhalten und wirtschaftliche Stabilität sichern.“ Mit den Themen der Konferenz spiegelten sich die aktuellen Schwerpunkte der Politik für Fa- milien in Deutschland wider: Finanzielle Stabilität von Familien > Fachpanel 1: Finanzielle Stabilität von Familien, gleiche Bildungschancen für alle Kinder > Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstützende Infrastruktur, eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf > Fachpanel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Bekämpfung häuslicher Gewalt > Fachpanel 4: Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Finanzielle Stabilität von Familien Deutschland habe wichtige Maßnahmen ergriffen, um Familien mit Kindern und pflegebedürf- tige Angehörige vor existentiellen Nöten durch die COVID-19-Pandemie zu schützen, dazu gehörten: • ein einmaliger Kinderbonus in Höhe von 300 Euro pro Kind, • eine Lohnfortzahlung von bis zu 20 Wochen für erwerbstätige Eltern, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten können, • eine zeitliche Ausdehnung des Kinderkrankengeldes, • ein erleichterter Zugang zum Kinderzuschlag für Familien mit (Corona-bedingt) klei nem Einkommen – für Eltern, die genug für sich selbst verdienen, aber das Einkommen nur knapp oder nicht reicht, um für den Bedarf der Kinder aufzukommen, • werdende Eltern, die jetzt in Kurzarbeit gehen, erleiden keine Nachteile bei der Eltern geldberechnung, • wer Corona-bedingt Angehörige pflegt und erwerbstätig ist, kann bis Ende 2020 bis zu 20 Arbeitstage der Arbeit fernbleiben und hierfür auch das Pflegeunterstützungsgeld in Anspruch nehmen. Gleiche Bildungschancen für alle Kinder Giffey machte deutlich, dass bereits die erste Jahreshälfte zeige, dass Kitas und Schulen sys temrelevant seien und ihre Schließung die Gesellschaft, die Wirtschaft und Familien vor rie sige Herausforderungen stelle. Die Schließungen träfen nicht alle Familien und Kinder gleich ermaßen: In manchen Familien fehle es an Zeit und Unterstützung – oder auch an Technik, 6
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 beispielsweise an Laptops für den Online-Unterricht. Die Bildungschancen von Kindern aus schwierigen Verhältnissen, so zeigten auch erste Studien, hätten besonders unter den Schlie ßungen gelitten. Mit dem Corona-KiTa-Rat sei ein Gremium zum Austausch zwischen Akteuren geschaffen worden, welches den Regelbetrieb in Kitas während der Pandemie begleite. Mit dem Kon junkturpaket „Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken“ seien zusätzliche Mittel für den Ausbau der Kindertagesbetreuung bereitgestellt worden. Vereinbarkeit von Familie und Beruf Damit Eltern auch in der Krise für ihre Familie sorgen könnten, müssten Beruf und Familie miteinander vereinbar sein – auch, wenn die Kinder zeitweise zu Hause seien. Viele Arbeitge ber hätten flexibel auf die Krise reagiert: mit mobiler Arbeit, mit flexiblen Arbeitszeitverkür zungen oder -verschiebungen. Das sei ein richtiger Schritt – die Maßnahmen sollten auch nach der Krise weiter Bestand haben. Denn Eltern sollten Beruf und Familie vereinbaren kön nen – ohne ständige Überforderung. Bekämpfung häuslicher Gewalt Als weitere Priorität kümmere sich die Bundesregierung um das Thema Gewaltschutz, denn für manche sei das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort. Niedrigschwellige und wirksame Maßnahmen zum Gewaltschutz seien vor dem Hintergrund der Corona-Krise wichtiger denn je. Gewalt gegen Frauen sei deshalb auch ein Schwerpunktthema der deutschen EU-Ratsprä sidentschaft. Hier sei sich bereits unter den EU-Gleichstellungsministerinnen und -ministern für eine europaweite Hilfetelefonnummer ausgesprochen worden. Auch im Bereich des Kin derschutzes seien Mittel für (Online-)Beratungsangebote aufgestockt worden, zum Beispiel für die Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V., die Nummer gegen Kummer und JugendNotmail. Giffey schloss damit zu betonen: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir als Gesellschaft durch halten und gut durch diese Zeit kommen. Das geht nur gemeinsam und in europäischer Zu sammenarbeit“. 3.2 Initiativen auf europäischer Ebene – Dubravka Šuica, Vizepräsidentin für Demokratie und Demografie der Europäische Kommission Dubravka Šuica, die Vizepräsidentin für Demokratie und Demografie der Europäischen Kom mission, bestärkt in ihrem Beitrag: Familien seien das Herzstück der Gesellschaft. Frauen und Kinder seien in der Pandemie, neben anderen vulnerablen Gruppen, besonders verletzlich. Für Kinder seien insbesondere langfristige Auswirkungen im Bereich der Bildung zu befürchten. Deshalb sei Unterstützung für Familien zu Hause für den Bildungserfolg der Kinder zentral. Weiterhin betonte sie, häusliche Gewalt sei in der Pandemie ein sich verschär fendes Problem. Es sei Aufgabe der Politik, sowohl familienpolitisch auf nationalstaatlicher Ebene als auch auf europäischer Ebene, zu handeln. 7
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Auf europäischer Ebene sei die Richtlinie zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein wichtiger Schritt, um Familien zu entlasten. Auch die Strategie für die Rechte des Kindes > Infobox 1, die die Europäische Kommission am 24. März 2021 angenommen hat, ist eine zentrale Maßnahmen, um die Perspektive des Kindes in allen politischen Bereichen zu veran- kern. Infobox 1: Strategie für die Rechte des Kindes (2021–2024) Die Strategie für die Rechte des Kindes (2021–2024) soll einen umfassenden politischen Rahmen für Kinderrechte bieten, der alle bestehenden und künftigen Maßnahmen und Po litiken der Europäischen Union im Bereich der Kinderrechte bündelt und verstärkt. Die Stra tegie umfasst schwerpunktmäßig sechs Themenbereiche: 1. Kinder als Akteurinnen und Akteure des Wandels im demokratischen Leben 2. Recht der Kinder, ihr Potenzial unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund voll auszuschöpfen 3. Recht der Kinder auf Gewaltfreiheit 4. Recht von Kindern auf eine kindgerechte Justiz 5. Recht der Kinder auf Sicherheit im digitalen Umfeld und auf Nutzung der sich dort bietenden Chancen 6. Weltweites Eintreten für die Rechte von Kindern Die Umsetzung der Strategie wird auf europäischer Ebene und auf nationaler Ebene verfolgt und die Kommission wird auf dem jährlichen EU-Forum für die Rechte des Kindes über die Fortschritte Bericht erstatten. Ende 2024 wird eine Evaluierung der Strategie unter Beteiligung von Kindern durchgeführt. 8
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Ebenso sei die Kindergarantie > Infobox 2 wichtig, um den Kreislauf der Armut bei Kindern zu durchbrechen. Mit dem zuständigen Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, arbeite die Europäische Kommission daran, alle Vorhaben schnellstmöglich umzusetzen. Infobox 2: Europäische Kindergarantie Die Europäische Kindergarantie ergänzt die zweite Säule der Kinderrechtsstrategie (Recht der Kinder, ihr Potenzial unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund voll auszu schöpfen). Der am 24. März 2021 von der Europäischen Kommission angenommene Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Kindergarantie zielt darauf ab, soziale Ausgrenzung zu verhindern und zu bekämpfen, indem der Zugang bedürftiger Kin der zu einer Reihe wichtiger Dienste garantiert wird. Konkret werden die Mitgliedstaaten ersucht bedürftigen Kindern einen effektiven und kostenlosen Zugang zu frühkindlicher Be treuung, Bildung und Erziehung, Bildungsangeboten und schulbezogenen Aktivitäten, min destens einer gesunden Mahlzeit pro Schultag und Gesundheitsversorgung sowie einen ef fektiven Zugang zu gesunder Ernährung und angemessenen Wohnraum zu garantieren. Die Empfehlung gilt für bedürftige Kinder. Damit sind erstens Personen unter 18 Jahren, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, zweitens Kinder mit Migrationshin tergrund und drittens Kinder in prekären familiären Verhältnissen (beispielsweise in Allein erziehenden-Haushalten oder in Haushalten, in denen ein Elternteil mit Behinderungen oder Langzeiterkrankungen lebt) gemeint. Zusätzlich sollen die Mitgliedstaaten auch selbst er mitteln, welche weiteren Kinder bedürftig sind. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, einen integrierten und unterstützenden politi schen Rahmen zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung von Kindern zu schaffen. Die ser soll sich auch darauf konzentrieren, die generationenübergreifenden Zyklen von Armut und Benachteiligung zu durchbrechen und die sozioökonomischen Auswirkungen der CO VID-19-Pandemie zu verringern. Des Weiteren werden die Mitgliedstaaten in der Empfehlung unter anderem aufgefordert • einen nationalen Koordinator bzw. eine nationale Koordinatorin für die Kinder garantie zu benennen, • Interessenträger einzubeziehen, • der Kommission innerhalb von sechs Monaten nach Annahme dieser Empfehlung einen Aktionsplan für den Zeitraum bis 2030 vorzulegen und der Kommission alle zwei Jahre über die Fortschritte bei der Umsetzung dieser Empfehlung im Einklang mit dem nationalen Aktionsplan Bericht zu erstatten. Die Kindergarantie soll insbesondere die Empfehlung der Kommission zu „Investitionen in Kinder: Den Kreislauf der Benachteiligung durchbrechen“ aus 2013 ergänzen und verstärken. Sie ist auch ein wichtiger Bestandteil des Aktionsplans für die europäische Säule sozialer Rechte > Infobox 3, der am 4. März angenommen wurde und eine unmittel bare Antwort auf Grundsatz 11 der Säule, die Betreuung und Unterstützung von Kindern. Im 9
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Aktionsplan formuliert die Kommission, dass die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgren zung bedrohten Menschen, darunter mindestens fünf Millionen Kinder, bis 2030 um mindes tens 15 Millionen gesenkt werden soll. Dem Vorschlag der Ratsempfehlung zur Einführung einer Europäischen Kindergarantie ging eine umfassende vorbereitende Maßnahme in drei Phasen voraus, in der Ausgestaltungs- und Umsetzungsmöglichkeiten erörtert wurden, wie Armut und sozialer Ausgrenzung bei Kindern europaweit effektiver entgegengewirkt werden kann:1 • In einer ersten Phase wurde von September 2018 bis April 2020 im Auftrag der Kommission eine breit angelegte Machbarkeitsstudie durchgeführt. Der Abschluss bericht identifiziert zu hohe Kosten und mangelnde Verfügbarkeit von Dienstleistun gen als Zugangsbarrieren für Kinder. Weiterhin sei mangelnde Qualität der Dienst leistungen ein Problem. Es gebe erhebliche Unterschiede zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten. Die festgestellten Mängel seien überwiegend auf eine fehlende Prioritätensetzung und eine fehlende effiziente Strategie, auf eine Zersplitterung der Zuständigkeiten auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene und auf fehlende valide Daten zurückzuführen. • Im März 2020 startete die zweite Phase zum wirtschaftlichen Umsetzungsrahmen der Kindergarantie. Die Ergebnisse wurden im März 2021 veröffentlicht. Parallel läuft seit Sommer 2020 eine dritte Phase bis zum Sommer 2022. Begleitet von UNICEF, wird in dieser Phase in sieben Mitgliedstaaten2 ein Pilotprogramm durchgeführt, welches innovative Ansätze zur Verringerung von Kinderarmut testet. 1 Alle veröffentlichten Studien zur Machbarkeitsstudie für eine europäische Kindergarantie befinden sich auf der dazugehörigen Webseite der Europäischen Kommission. Für eine Übersicht zur Kindergarantie siehe auch die laufend aktualisierte Hintergrundinformation der Beobachtungsstelle sowie den Newsletter 2/2020 der Beobachtungsstelle. 2 Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Italien, Kroatien, Litauen und Spanien 10
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 4 Podiumsdiskussion: Wie kann Politik Familien in der COVID-19-Pandemie stärken? In einer hochrangig international besetzten Podiumsdiskussion wurden die Fragen diskutiert, welche blinden Flecken die COVID-19-Pandemie bei der Unterstützung von Familien offenge- legt hat und wie die Herausforderungen durch die Krise für Kinder und Familien besser bewäl- tigt werden können. Viele Themen der sich anschließenden Fachpanels zu finanziellen Leis- tungen > Fachpanel 1: Finanzielle Stabilität von Familien, Bildung > Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstützende Infrastruktur, Vereinbarkeit > Fachpanel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf und häuslicher Gewalt > Fachpanel 4: Bekämpfung von häuslicher Gewalt kamen bereits zur Sprache. Dabei wurde vor allem durch den Einblick in die nationalen Maßnahmen Finnlands und Frankreichs deutlich, welche Rolle eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur zu Zeiten von Schulschließungen für die Gewährung gleicher Chancen für alle Kinder spielt und welche zentrale Rolle der Schule als Schutzrahmen, vor allem für vulnerable Gruppen von Kindern, zukommt. Als Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Politik nahmen teil: Franziska Giffey, Bundes- ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Deutschland, Eila Mäkipää, Staatssek- retärin bei der Ministerin für Familie und Soziale Dienste, Finnlands und Adrien Taquet, Staats- sekretär für Kinder und Familien beim Minister für Solidarität und Gesundheit, Frankreich. Mit ihnen diskutierten: Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, Pro- fessor Michael O'Flaherty, Direktor der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA) und Georg Graf Waldersee, Vorsitzender des Vorstands UNICEF Deutschland. Dr. Nicola Brandt, Leiterin des OECD Berlin Centre moderierte die Podiumsdiskussion. 4.1 Welche blinden Flecken hat die Krise offengelegt? Armut und soziale Exklusion Mit dem Blick auf Europa hob Schmit vor allem Armutslagen und soziale Ungleichheiten her- vor, die durch die Krise noch offensichtlicher in Erscheinung getreten seien. Dies zeige sich beispielsweise darin, dass viele Menschen nun auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen seien, die dies zuvor nicht in Anspruch nehmen mussten. Weiterhin würden sich Armutslagen aus dem Elternhaus aktuell noch stärker auf die Chancen der Kinder auswirken > Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstützende Infrastruktur. Waldersee ver- wies auf die weltweite Dimension der Krise: Es seien etwa 150 Millionen Kinder in multidi- mensionale Armut geraten.3 3 Weitere Organisationen rechnen aufgrund des erwarteten Rückgangs der Wirtschaftsleistung in den nächsten Jahren in fast allen europäischen Staaten auch mit einem steigenden Armutsrisiko für Kinder. 11
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Bildungsungleichheiten Die sich im Laufe der Diskussion anschließenden Verweise auf erste Lehren im Bereich der Bildung, besonders mit Blick auf das Exklusionsrisiko benachteiligter Gruppen durch Schul- schließungen und Homeschooling, zeigten die in der Krise offengelegten Handlungsbedarfe auch für diesen Bereich. Gewalt gegen Kinder Taquet verwies darauf, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Krise weiter angestiegen sei. Studien aus Frankreich zeigten, im Frühjahr 2020 sei dies um mehr als 50 Prozent der Fall gewesen. Geschlechterungleichheiten Für die Situation in Deutschland stellte Giffey heraus, die Krise habe weiterhin bestehende Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern im Erwerbsleben und in der unbezahlten Carearbeit und sich daraus ergebenden Handlungsbedarf nochmals deutlich gemacht > Fachpanel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 4.2 Was sind erste Lehren aus der Krise? Staatliche Investitionen in Kinder und Familien Schmit betonte, die Stärkung der Sozialschutzsysteme in Europa sei wichtig bei der Überwindung der Krise. Aus den Erfahrungen starker Sozialstaaten sei zu lernen > Fachpanel 1: Finanzielle Stabilität von Familien. Die Europäische Union unterstütze dies durch den Aktionsplan der europäischen Säule Sozialer Rechte > Infobox 3, welcher für Anfang 2021 geplant sei. Weiterhin müsse konsequent in Kinder und deren Chancen investiert werden: Wichtig seien ausreichende Plätze in der frühkindlichen Bildung und Erziehung, inklusive Ansätze hinsichtlich der Freizeitgestaltung von Kindern und auch die Wohnungsbedingungen von Familien seien zu verbessern. Infobox 3: Europäische Säule Sozialer Rechte 2017 wurde die Europäische Säule sozialer Rechte von Parlament, Rat und Kommission unterzeichnet. Grundsatz 11 der Säule formuliert das Recht von Kindern auf frühkindliche Bildung und Betreuung sowie auf Schutz vor Armut. Benachteiligten Kindern wird das Recht auf besondere Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit zugesprochen. Begleitet wird die Europäische Säule sozialer Rechte vom Sozialpolitischen Scoreboard, das Entwick lungen und Fortschritte in den Mitgliedstaaten unter anderem in den Bereichen Chancen gleichheit sowie Sozialschutz und Inklusion erfasst. Die Europäische Säule sozialer Rechte ist nicht rechtsverbindlich. Um die allgemeinen Grundsätze mit konkreten Vorhaben zu realisieren, hat die Kommission am 4. März 2021 einen Aktionsplan für die europäische Säule sozialer Rechte vorgelegt. Neben konkreten Vorhaben > Infobox 2 setzt sich die Kommission von der Leyen darin auch 12
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 neue Leitziele für die Europäische Union in den Bereichen Beschäftigung, Qualifikation und Sozialschutz, die bis 2030 erreicht werden sollen. Die drei Kernziele bis 2030 sind: • Mindestens 78 Prozent der 20- bis 64-Jährigen sollen erwerbstätig sein. • Mindestens 60 Prozent der Erwachsenen sollen jedes Jahr an einer Weiterbil dungsmaßnahme teilnehmen. • Die Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen soll um mindestens 15 Millionen reduziert werden. Besondere Unterstützung im Homeschooling Mäkipää, stellte heraus, dass bestimmte Gruppen von Schülerinnen und Schülern für Home- schooling und digitales Lernen besondere Unterstützung bräuchten. So beispielsweise Kinder mit Behinderungen. Schulschließungen vermeiden Grundlegend betonte Mäkipää, Schule sei mehr als nur eine Bildungseinrichtung. So sei neben dem sozialen Umfeld vor allem auch das Schulmittagessen für viele Familien wichtig. Taquet wies darauf hin, man habe aus der Zeit des ersten Lockdowns gelernt und daher im zweiten Lockdown beschlossen die Schulen offen zu lassen. Mäkipää führte weiter aus, vor allem für Kindertageseinrichtungen und die unteren Jahrgangsstufen seien die Öffnungen wichtig > Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen. Dies sei neben der Verhinderung einer Vergrößerung sozialer Ungleichheiten auch ein entscheidender Faktor bei der Aufdeckung und Vermeidung von Gewalt gegen Kinder > Fachpanel 4: Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Schulschließungen möglichst zu verhin- dern bekräftigte auch Graf Waldersee und wies darauf hin, dass 550 Millionen Kinder welt- weit von Schulschließungen betroffen seien und damit ein Drittel aller Kinder. Auch O’Flaherty betonte: Schulen seien einer der wichtigsten Schutz- und Entwicklungsrahmen für Kinder. Dies gelte besonders für Kinder in vulnerablen Situationen und in sozialen Brennpunkten wie beispielsweise Roma. Es bestehe das Risiko einer „verlorenen Generation“. Wichtig sei, den Kontakt zu den Kindern und Familien zu halten und weiterhin auch aufsuchende Angebote bereitzustellen. Telefonanrufe allein seien beispielsweise nicht ausreichend. Auch Giffey sagte, die Bemühung darum, Schulen offen zu lassen, sei zentral, um kein Kind in der Krise zurückzulassen. Kinder und Jugendliche mit einbeziehen Abschließend machte Graf Waldersee deutlich, Kindern müsste zugehört werden und sie müssten bei Entscheidungen, die sie betreffen, mit einbezogen werden. 13
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 4.3 Was sind Beispiele guter Praxis in Europa? Fortschritte in vielen EU-Mitgliedstaaten O’Flaherty betonte, es seien Fortschritte seit Frühling 2020 in den EU-Mitgliedstaaten bei der Unterstützung von Kindern zu erkennen. So gäbe es beispielsweise viele Kampagnen, Pop- up Beratungsstellen in Geschäften und die Priorisierung von Fällen in Gerichten, in denen es um Gewalt gegen Kinder gehe > Fachpanel 4: Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Ein umfassender Fokus auf Kinder in Finnland Finnland, so berichtete Mäkipää, lege einen besonderen Fokus auf die mentale Gesundheit von Kindern, seit 2016 habe weiterhin ein massiver Ausbau der Kinderhilfe stattgefunden. Es sei wichtig, eine Kultur zu fördern, in der Kinderrechte mehr Berücksichtigung fänden.4 Erfolgsfaktoren für Homeschooling in Finnland Mäkipää machte deutlich, dass in Finnland der Übergang ins Homeschooling relativ erfolgreich verlaufen sei. Wichtige Faktoren seien hier eine große Autonomie für Schulen und Lehr- kräfte, digitale Konzepte5, die in Finnland bereits bestanden, eine gute digitale Infrastruktur und ein guter Kontakt zwischen Eltern und der Schule. Hier seien vor allem auch multipro- fessionelle Teams wichtig, die mit den Familien mit besonderen Bedarfen zusammenarbei- teten > Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstützende Infrastruktur. Ausbau des Unterstützungssystems bei Gewalt gegen Kinder in Frankreich Frankreich, so erläuterte Taquet, habe die Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen und Kinder im Zuge der Pandemie ausgebaut: Die Öffnungszeiten der Hotline zur Meldung und Unter- stützung bei Gewalt seien verlängert worden. Es seien weitere Kanäle genutzt worden, vor allem auch digital, um über die Angebote zur Unterstützung zu informieren. Auch vor Ort seien Stellen erweitert worden, an denen Personen Hilfe bekommen können, beispielsweise in Apo- theken. Digitale Ausstattung von vulnerablen Gruppen in Frankreich Weiterhin habe Frankreich, um auch die Unterstützung von Kindern zu gewährleisten, die in Heimen lebten, das Programm „Computer für unsere Kinder“ initiiert, in dem mehr als 10.000 Computer an Kinder in Einrichtungen verteilt worden seien. 4 Finnland hat im Februar 2021 eine nationale Kinderrechtestrategie (in Englisch) veröffentlicht. 5 In Vorbereitung der nationalen Kinderrechtestrategie hat die finnische Regierung im September 2019 einen Bericht (in Englisch) zu den Bedarfen von Kindern vorgelegt, in dem bereits auf die Erfordernisse digitaler Bildung eingegangen wird. 14
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 5 Fachpanels Wie sich die Pandemie im Alltag der Familien auswirkt, zeigt sich in den europäischen Staaten in weit verbreiteten Herausforderungen und Entwicklungen. Dazu gehören: 1. Drohende oder tatsächliche Einschränkung der Erwerbstätigkeit bis hin zum Job- und Einkommensverlust der Eltern, dadurch finanzielle Einbußen und Entstehung finanzi eller Notlagen, 2. Geschlossene Schulen und Kindergärten und die damit einhergehende Notwendigkeit, Bildung digital umzusetzen, 3. Erhöhte Anforderungen an eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Betreu ung und Beschulung von Kindern und, wenn möglich, durch das Arbeiten von zu Hause aus, 4. Soziale Isolation in der Häuslichkeit und steigendes Risiko häuslicher Gewalt. Diese Entwicklungen sind nicht nur für sich genommen Themenkomplexe, sondern auch mit einander verbunden. So hat die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen bei spielsweise Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Familien, Vereinbarkeitsfragen, in dividuelle Bildungschancen der Kinder und den Schutz von Kindern vor Gewalt. Die Vielschich tigkeit und Verschränkung der Entwicklungen wurde während der Konferenz in vier Fachpa nels aufgegriffen und diskutiert. 5.1 Fachpanel 1: Finanzielle Stabilität von Familien Im ersten Fachpanel standen die finanziellen Leistungen für Familien während der ersten In fektionswelle der COVID-19-Pandemie im Fokus. Durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind Familien mitunter in finanzielle Notlagen geraten. So mussten Eltern zum Teil unbezahlten Urlaub nehmen, in Kurzarbeit arbeiten oder sie haben sogar gänzlich ihren Ar beitsplatz verloren. Um Familien von den finanziellen Auswirkungen der Pandemie zu entlas ten, hatten die EU-Mitgliedstaaten eine ganze Reihe verschiedener Maßnahmen ergriffen. Ziel des Panels war es, bisherige Lösungsansätze einzuordnen, die in den EU-Mitgliedstaaten während der ersten Infektionswelle umgesetzt wurden, um die finanzielle Stabilität von Fami lien im Verlauf der Pandemie zu sichern. In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle des Sozialstaats diskutiert, um Familien langfristig zu stärken. Das Panel leitete Andreas Heimer, Direktor der Prognos AG. Fachlich unterstützt wurde er von Petra Mackroth, Leiterin der Abteilung Familie im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Dr. Dominic Richardson, Leiter der Abteilung für Sozial- und Wirt schaftspolitik im UNICEF Innocenti Research Centre. 15
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 5.1.1 Welche Rolle spielen familienpolitische Maßnahmen bei der Bewältigung der Pandemie-Folgen? Hilfspakete von historischem Ausmaß Um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern, wurden nationale Hilfspakete von historischem Ausmaß verabschiedet. Diese bestanden aus familien-, sozial-, arbeitsmarkt-, konjunktur- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen und adressierten Einkom mensausfälle, Arbeitsplatzsicherheit, Konsum und Wirtschaftssektoren. Richardson stellte die wichtigsten Erkenntnisse der UNICEF-Studie Supporting families and children beyond COVID- 19: Social protection in high income countries vor, in der für das erste Halbjahr 2020 aufge stellte Hilfspakete in 41 Staaten mit hohen Einkommen, darunter die 27 EU-Mitgliedstaaten, näher analysiert wurden: Von den rund 350 Hilfspaketen mit einem Gesamtumfang von circa elf Billionen Dollar seien nur circa zwei Prozent direkt für Kinder und Familien ausgegeben worden. Im Gegensatz dazu richteten sich mehr als 90 Prozent der Mittel an die Wirtschaft. Mit diesem Ansatz würden vor allem Familien erreicht, die in den Arbeitsmarkt eingebunden seien, wohingegen die in der Gesellschaft am stärksten gefährdeten und marginalisierten Kinder weiter ausgeschlossen blieben. Zudem könne mit diesem Ansatz nicht sichergestellt werden, wie, wann und in wel chem Umfang Kinder von diesen Maßnahmen profitierten, da diese überwiegend indirekt wirk ten. Von den 159 bis Ende Juli 2020 vorhandenen Maßnahmen zur Abmilderung der sozialen Fol gen der COVID-19-Pandemie betrafen nur 47 Kinder oder Familien. Im Folgenden werden ausgewählte finanzielle Leistungen für Familien in Europa vorgestellt: Ausgewählte finanzielle Leistungen für Familien in Europa während COVID-19 In mehreren Staaten wurde die Zahlung von einmaligen finanziellen Leistungen für Familien mit Kindern beschlossen. In Deutschland6, Litauen, Österreich und Slowenien richtete sich diese Sonderzahlung in je unterschiedlicher Höhe als universelle Leistung an alle Familien mit Kindern. In den folgenden Staaten hingegen wurden spezifische Zielgruppen mit einer zusätz lichen finanziellen Leistung bedacht: 6 Zur Wirkung des Kinderbonus in Deutschland liegen aus Befragungen erste Erkenntnisse zu dessen positiver Konjunkturwirkung vor, die nahelegen, dass gezielte Transfers an Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen ein besseres Mittel zu sein scheinen, um die Konjunktur in Krisensituationen zu stützen als vorübergehende Steuersenkungen. Im Gegensatz zur positiven Konjunkturwirkung scheint der Kinderbonus jedoch keinen Einfluss auf eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf auszuüben, wie ein Policy Paper im Auftrag des BMFSFJ zeigt. Als ungerecht werde auch die hälftige Aufteilung bei Alleinerzie henden empfunden (Verband alleinerziehender Mütter und Väter e. V., Pressemitteilung vom 12. Juni 2020). Während der Erstellung dieser Dokumentation wurde in Deutschland die Zahlung eines weiteren Kinderbonus beschlossen. 16
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Staat Zielgruppe Höhe Bulgarien Familien mit Kindern im Alter bis zu 14 Jahren Circa 190 € Lettland Familien mit Kindern mit Behinderungen 150 € Slowenien Familien mit drei oder mehr Kindern Gestaffelt (100 € bzw. 200 €) Slowenien Familien, die Sozialhilfeleistungen erhalten 150 € für jedes Familienmitglied Zypern Familien mit minderjährigen Kindern, die das garan Gestaffelt (100 € bzw. maximal 300 €) tierte Mindesteinkommen beziehen Tabelle 1: Einmalige finanzielle Leistungen für Familien mit Kindern (nach Zielgruppe) 7 Quelle: Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa (eigene Darstellung) Neben den einmaligen finanziellen Leistungen wurden aber auch eine Reihe bereits vor Aus bruch der COVID-19-Pandemie bestehender Leistungen angepasst, indem beispielsweise die Zahlung temporär erhöht oder deren Bezugsdauer verlängert, Antragsverfahren verein facht oder der Berechtigtenkreis ausgeweitet wurde. Ein besonderer Fokus in der folgenden Tabelle richtet sich dabei auf Leistungen speziell für sozial benachteiligte Familien. Staat Maßnahme Zielgruppe Modifikation Entlastungsbetrag Alleinerziehende Erhöhung der Leistung Kinderzuschlag Familien mit kleinen Einkom Automatische Verlängerung ohne er men neute Beantragung und Prüfung, wenn Bezug vor der Pandemie Deutschland Notfall-Kinderzu Familien mit kleinen Einkom Bei Neu-Bezug während der Pande schlag men mie: Einkommensnachweis des letz ten Monats für Beantragung ausrei chend, dadurch Ausweitung der Ziel gruppe 7 Die Beobachtungsstelle arbeitete begleitend zur Vorbereitung der Konferenz an einer Übersicht zu nationalen Maßnahmen der 27 europäischen Mitgliedstaaten für Familien und Kinder zur Abmilderung der sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Ausgewählte Ergebnisse werden im Rahmen dieser Dokumentation vorgestellt. Als Grundlage dienten hier unter anderem Be- richte der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte sowie von Eurofound > Liste relevanter Dokumente. 17
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Frankreich Wohngeld Familien, die Wohngeld be Erhöhung der Leistung ziehen, für jedes im Haushalt lebende Kind unter 20 Jahren Italien Familienkarte Alle Familien mit mindestens Ausweitung der Zielgruppe (vorher nur einem Kind für Familien mit drei oder mehr Kin dern) Lettland Kinderbetreuungs Familien mit Kindern im Alter Erhöhung der Leistung beihilfe von eineinhalb bis zwei Jah ren Litauen Familienkarte Familien mit drei oder mehr Vereinfachte Nutzung (App seit Au Kindern oder mit Kindern mit gust 2020 verfügbar) Behinderungen Tabelle 2: Modifikation von bestehenden finanziellen Leistungen mit Fokus auf vulnerable Zielgruppen Quelle: Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa (eigene Darstellung) Deutschlands familienpolitische Antwort auf die COVID-19-Pandemie In Deutschland sei es, so Mackroth, von Anfang an im Umgang mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der COVID-19-Pandemie wichtig gewesen, die eigenständige wirtschaftli che Sicherung der Eltern und damit der Familien im Blick zu behalten. Damit sei an die Fa milienpolitik, die seit zwei Jahrzehnten aus einem Mix aus zeit- und geldpolitischen Maßnah men sowie Investitionen in die Infrastruktur für Familien bestehe, angeknüpft worden. Im Zent rum stehe die Idee, Familien in ihrer Selbstständigkeit zu stärken und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sichern > Fachpanel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zudem hätten in Deutschlands familienpolitischer Antwort auf die sozialen Auswirkungen der Pandemie zwei Zielgruppen im Fokus der Maßnahmen gestanden: Familien mit kleinem Ein kommen und Familien, in denen die Eltern nicht von zu Hause aus arbeiten könnten > Fach panel 3: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein familienpolitisch relevanter Bestandteil des ersten COVID-19-Hilfspakets sei daher – ne ben dem Kurzarbeitergeld und dem Kinderbonus > Ausgewählte finanzielle Leistungen für Fa milien in Europa während COVID-19 – die Anpassungen des Kinderzuschlags gewesen: Familien mit kleinen Einkommen können prinzipiell zusätzlich zum Kindergeld einen monatli chen Kinderzuschlag von bis zu 205 Euro (seit 2021; vorher 185 Euro) erhalten. Der Erhalt dieser Leistung wurde während der COVID-19-Pandemie zwischen dem 1. April und dem 30. September 2020 für Eltern, die bisher schon den höchstmöglichen Kinderzuschlag erhal ten hatten, ohne erneute Prüfung automatisch um weitere sechs Monate verlängert. Seit Feb ruar 2020 ist zudem eine Beantragung im Online-Verfahren möglich. 18
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Damit auch Familien vom Kinderzuschlag profitieren können, die aufgrund der COVID-19-Pan demie kurzfristig Verdienstausfälle hinnehmen müssen, trat zum 1. April 2020 ein sogenannter Notfall-Kinderzuschlag in Kraft. Dadurch müssen Familien bei der Beantragung nur noch das Einkommen des letzten Monats – und nicht der letzten sechs Monate – nachweisen. Mit diesen Anpassungen seien im Oktober 2020 bereits fast 900.000 Kinder erreicht worden, während es im Januar 2020 vor Beginn der Pandemie circa 300.000 Kinder waren. 5.1.2 Was können Sozialstaaten mittel- und langfristig aus der Krise lernen, um Familien effektiver abzusichern und mehr Sicherheit und Chancen zu bie ten? Der wirkungsorientierte, investierende Sozialstaat Um die sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie für Kinder und Familien und die fi nanziellen Hilfestellungen seitens der Staaten einordnen zu können, stellte Andreas Heimer das Prognos-Policy-Paper Investiver Sozialstaat: Innovativ und wirksam Neue Chancen. Für starke Familien vor. Darin werde die Ausrichtung des Sozialstaates in den zwei Dimensionen der nachsorgenden sozialen Absicherung gegenüber Lebensrisiken und der vorsorgen den Chancenorientierung, diskutiert. Dies seien keine Widersprüche, sondern komplemen täre Anforderungen. Damit seien auf der einen Seite Grundsicherung und Sicherung von Teil habe verbunden und auf der anderen Seite die Förderung von Potenzialen, Fähigkeiten, Hu mankapital und von Übergängen im Lebensverlauf, um eigene Vorstellung vom Leben zu re alisieren. Soziale Sicherung und Gerechtigkeit würden dynamisch interpretiert. Das heißt, da mit gehe es um mehr als um die Sicherung eines sozialen Status. Maßnahmen und Leistungen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik würden vielmehr Brückenfunktionen zugewiesen. Auch die Familienpolitik ordne sich hier ein. In der Pandemie zeige sich nun, ob und wie das entwickelte, moderne familienpolitische Instrumentarium geeignet sei, um Familien in einer akuten Notsi tuation Sicherheit und Chancen zu bieten. Herausforderungen des Sozialstaates in Zeiten der Pandemie Die COVID-19-Pandemie sei durch die neuartige Kombination einer globalen Gesund heits- und Wirtschaftskrise eine völlig neue Herausforderung, in der schnelles politisches Handeln und Lernen, aber auch eine langfristige Ausrichtung des Sozialstaates gefragt seien. Denn die Pandemie sei wie ein Brennglas und vergrößere bestehende strukturelle Herausfor derungen: So sei deutlich geworden, dass die Betroffenheit der Familien von ihrer Einbindung in den Arbeitsmarkt und in soziale Sicherungsnetze beeinflusst werde. Eltern in gesicher ter Erwerbstätigkeit beispielsweise hätten mehr Ressourcen und auch staatliche Unterstüt zung als solche, die am Rande des Arbeitsmarktes oder außerhalb stünden. Erste Befragun gen und Studien zeigten, dass insbesondere Alleinerziehende, Familien mit geringem Einkom men und gering qualifizierte Eltern besonders häufig durch Kurzarbeit oder Jobverlust in finan zielle Notlagen gekommen seien. Hieraus resultiere wiederum eine unterschiedliche Betrof fenheit der Kinder. Diese empirisch genau und international-vergleichend zu beschreiben sei, 19
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 so Richardson, aufgrund der unzureichenden Datenlage derzeit jedoch noch schwierig. Nichts destotrotz sei aufgrund des erwarteten Rückgangs der Wirtschaftsleistung in den nächsten Jahren auch in fast allen europäischen Staaten mit einem steigenden Armutsrisiko für Kinder zu rechnen. Weiterhin wies Richardson darauf hin, dass es mindestens fünf Jahren dauere, bis die finan ziellen Folgen der Pandemie auf staatlicher, aber auch auf individueller Ebene überwunden seien. Je nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Staaten könne es auch bis zu zehn Jahre oder länger dauern. Familienpolitische Ansatzpunkte, um langfristig gut aus der Krise herauszukommen Die in der Coronakrise gemachten Erfahrungen mit der Anpassung einzelner Familienleis tungen, wie eine vereinfachte, digitale Beantragung und eine unbürokratische, schnelle Ge nehmigung hätten gezeigt, dass zielgerichtete Zugänge zu temporären Hilfen geschaffen wer den können. Ebenso wichtig wie die Anpassung der Leistung selbst seien an dieser Stelle auch das Informieren der Zielgruppen über diese Anpassung und den Zugang zu den Leistun gen, um möglichst alle Familien erreichen zu können. Langfristig gesehen seien nachhaltige und finanziell gut aufgestellte Sozialstaaten essen ziell, insbesondere, um den sozialen Folgen der Pandemie, deren Ausmaß weiterhin nicht ab zusehen sei, entgegenzuwirken. Damit der erwarteten Zunahme von Armut und Ungleichheit wirkungsvoll entgegentreten werden könne, brauche es langfristige Strategien. Familienpo litische Leistungen seien in solchen Strategien als Investitionen zu verstehen, die – wie jede ökonomische Investition – kein Selbstläufer, sondern ständig weiterzuentwickeln sei. In die sem Sinne sollten sich Sozialstaaten in Krisenzeiten und darüber hinaus stärker auf zusätzli che Investitionen für Familien und Kinder konzentrieren, um bestehende Ungleichheiten auszugleichen. Hierfür brauche es den politischen Willen, langfristig zu denken und eine an gemessene finanzielle Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Sparmaßnahmen im sozial- und familienpolitischen Bereich zur Sanierung der öffentlichen Haushalte wirkten kontraproduktiv und sollten vermieden werden. Um langfristig gut aus der Krise herauszukommen, sei der Zugang zu Bildungsinfrastruktur für Familien und Kinder > Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstüt zende Infrastruktur sowie eine partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine diese Vereinbarkeit unterstützende Wirtschaft von großer Bedeutung > Fachpanel 3: Verein barkeit von Familie und Beruf. 5.2 Fachpanel 2: Reduzierung ungleicher Bildungschancen und unterstüt zende Infrastruktur Um die Ausbreitung von COVID-19 zu verlangsamen, wurden im Laufe des ersten Halbjahres 2020 in vielen EU-Mitgliedstaaten Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen erstmals seit Beginn der Pandemie für mehrere Monate geschlossen. Damit fiel von einem Tag auf den anderen für die Mehrzahl der Kinder ihre gewohnte soziale Umgebung jenseits ihrer Familie weg. Die Umstellung auf Homeschooling und digitales Lernen in den Schulen zeigte in vielen 20
Dokumentation Internationale Fachkonferenz am 24. November 2020 Staaten bereits vorhandene Defizite im Bereich der digitalen Bildung verstärkt auf. Diese be trafen das pädagogische Personal ebenso wie die Kompetenzen der Schülerinnen und Schü ler. Es kam zu Ausfällen des Unterrichts und damit zu Einschränkungen bei der Bildung der Kinder, deren Auswirkungen bis heute nicht absehbar sind. Erste Erhebungen aus unter schiedlichen Staaten bestätigen die Befürchtung, dass sich Bildungsungleichheiten über diese Zeit weiter verstärkt haben. Im zweiten Panel wurden die Herausforderungen im Bereich der Bildung und Chancengleich heit von Kindern während COVID-19 und darüber hinaus diskutiert, besonders mit Blick auf vulnerable Gruppen wie Kinder mit Migrationshintergrund. Es wurden Handlungserfordernisse besprochen, um allen Kindern Bildungs- und Teilhabechancen zu ermöglichen und Kinderar mut nachhaltig zu verringern. Die Leitung übernahm Dr. Silke Borgstedt, Direktor Research & Consulting des SINUS-Insti tuts. Mit ihr diskutierten Prof. Hugh Frazer, Fachbereich für angewandte Sozialwissenschaften, Nationale Universität von Irland in Maynooth und Koordinator der Machbarkeitsstudie der eu ropäischen Kindergarantie, Jana Hainsworth, Generalsekretärin der europäischen NGO Euro child und Mialy Dermish, Sekretariatsleiterin des SIRIUS Policy Network on Migrant Education. 5.2.1 Welche Herausforderungen bestehen für vulnerable Gruppen? In der Diskussion wurde bestärkt, dass Bildung ein zentraler Schlüssel zur Beseitigung von Kinderarmut sei. Borgstedt führte aus, durch die Schließung von Schulen und Betreuungsein richtungen sei vor allem für Kinder aus Familien aus benachteiligten Gesellschaftsgruppen der Zugang zu Bildung versperrt, da sie aus mehreren Gründen die Angebote und Infrastruktur der Einrichtungen nicht kompensieren könnten. Problematisch seien in diesem Kontext: • fehlende ökonomische Ressourcen für die Bereitstellung einer geeigneten Lernum gebung (mangelnder Platz durch beengte Wohnverhältnisse, fehlende Lernmateria lien, aktuell besonders digitale Endgeräte) • fehlende zeitliche Ressourcen, die Kinder bei der Bearbeitung des Lehrplans zu un terstützen (besonders bei Alleinerziehenden, in Familien mit mehreren Kindern, bei er höhtem Förderbedarf eines Kindes oder bei mehreren Jobs, besonders im unteren Ein kommenssegment) • fehlende Bildungsressourcen und damit Kompetenzen, die Kinder adäquat zu unter stützen (zum Beispiel fehlende digitale Kompetenzen) • eingeschränkte soziale Teilhabe und soziale Exklusion auch außerhalb der Pan demie (zum Beispiel aufgrund einer Behinderung oder aufgrund einer Migrations- oder Fluchterfahrung) und damit kein Rückgriff auf alternative Netzwerke, die eine Auf rechterhaltung von Chancengleichheit ermöglichen, wenn die öffentlichen Systeme schließen (zum Beispiel Zugang zu informellem Lernen oder zu umfassender Gesund heitsversorgung) 21
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