DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS ZUM VERSTÄNDNIS DES EVANGELIUMS IN FREIEN EVANGELISCHEN GEMEINDEN - BUND FEG

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DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
ZUM VERSTÄNDNIS DES EVANGELIUMS IN
FREIEN EVANGELISCHEN GEMEINDEN
Grundlagentext der Erweiterten Bundesleitung
im Bund Freier evangelischer Gemeinden

                                               feg.de
DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
ZUM VERSTÄNDNIS DES EVANGELIUMS IN FREIEN EVANGELISCHEN GEMEINDEN

VORWORT
Präses Ansgar Hörsting ....................................................................................... 3

EINLEITUNG
Anlass und Bedeutung des Themas ...................................................................... 5

TEIL I
Grundlagen: Bestimmung und Beschreibung des Evangeliums ............................... 6

TEIL II
Thematische Konkretionen ................................................................................ 12

A. Evangelium und der Kreuzestod Jesu Christi ....................................................................... 12
B. Evangelium und Sünde .......................................................................................................... 17
C. Evangelium und Glaube ......................................................................................................... 21
D. Evangelium und Erwählung .................................................................................................. 27
E. Evangelium und Gesetz ......................................................................................................... 31
F. Evangelium und Gesellschaft ................................................................................................. 37
G. Evangelium und Ethik ............................................................................................................ 43
H. Evangelium und Gericht ........................................................................................................ 49

TEIL III
Anwendungen und Konsequenzen .................................................................... 53

SCHLUSSWORT ............................................................................................... 66

LITERATURLISTE ............................................................................................. 67

                                                                                                  STAND: 21. SEPTEMBER 2020

2      Das Evangelium Gottes von Jesus Christus
VORWORT
„Auf das Evangelium kommt es an!“               gute und theologisch durchdachte Ant-
Mit diesem schlichten Satz beginnt der          worten zu finden, die auch auf aktuelle
Grundlagentext der Erweiterten Bundes-          Fragestellungen und Herausforderungen
leitung des Bundes Freier evangelischer         angewandt werden.
Gemeinden. Wir sind überzeugt, dass wir            3. Der Wunsch, das Evangelium im-
als Menschen, als Gemeinden und als             mer wieder neu zu durchdenken und
Bund von Gemeinden vom Evangelium               für Menschen unserer Zeit relevant zu
leben. Gleichzeitig sind wir davon über-        verkündigen, muss beides im Blick behal-
zeugt, dass das Evangelium, gerade weil         ten: aktuelle Fragestellungen und unver-
es wesentlich und kostbar ist, umstritten       zichtbare Grundlegungen. Die acht „The-
und umkämpft ist. Das ist nicht außerge-        matischen Konkretionen“ greifen diese
wöhnlich, es war immer so.                      Überlegungen auf und geben hilfreiche
   Daher ist es auch für uns als FeG            Orientierung in wichtigen aktuellen He-
Deutschland gut und wichtig, sich im-           rausforderungen zum Evangelium.
mer wieder darauf zu besinnen, wovon               4. Das Thema „Evangelisation“ brennt
wir leben, und unser Handeln daran zu           uns und den Gemeinden unter den Nä-
orientieren. Aus verschiedenen Anlässen         geln. Wir beobachten aber auch Schwä-
legen wir hier einen Text vor, der hilft, das   chen: entweder einen Mangel an Moti-
Evangelium von Jesus Christus zu den-           vation, oder einen Mangel an Klarheit,
ken und zu lieben:                              was denn das Evangelium ist. Wir sind
   1. Es ist nicht selbstverständlich, in       sehr froh, dass im Bund Freier evangeli-
einer Zeit theologisch gegenläufiger            scher Gemeinden viele Menschen Jesus
Trends die Einheit in Bund und Gemein-          Christus kennenlernen und in ihm Heil
den zu wahren. Dies kann gelingen,              finden. Aber wir müssen auch nüch-
wenn es ein gemeinsames Fundament,              tern feststellen, dass es weit mehr sein
eine starke, einende Mitte gibt. Dafür          könnten. Wer evangelisiert oder evange-
kommt nur das Evangelium Gottes von             lisieren möchte, muss wissen, was das
Jesus Christus in Frage, wie es uns die         Evangelium ist.
Bibel bezeugt. Darauf wollen wir uns –             Grundlegend motiviert uns neben die-
gut begründet – besinnen.                       sen aktuellen Anlässen unser Motto „Be-
   2. Etliche Gemeindeleitungen ha-             wegt von Gottes Liebe bauen wir lebendi-
ben gegenüber der Bundesleitung den             ge Gemeinden“. Gottes Liebe, das ist das
Wunsch geäußert, eine Hilfe zu der Frage        Evangelium von Jesus Christus, darüber
zu erhalten: Was ist das Evangelium ge-         sind wir uns einig. Deswegen kommen
nau? Dieser Bedarf war für uns Auftrag,         wir mit diesem Text zum Kern dessen,

                                                    Das Evangelium Gottes von Jesus Christus   3
was unser Bundesmotto ausmacht. Das            die den Text weiter diskutiert und ihre
Evangelium Gottes in Jesus Christus trägt      Note eingebracht hat. Vor allem bin ich
und rettet uns, es ist Anker der Weltge-       dankbar, dass wir als Leitung darin ei-
schichte. Wenn dem so ist, lohnt es sich       nig sind, worauf es ankommt: auf das
– sogar auch ganz ohne Anlass – ihm die        Evangelium! Und das trägt einen Na-
volle Aufmerksamkeit zu widmen.                men: Jesus Christus.
   Beim Lesen wird auffallen, dass die            Ich wünsche mir, dass wir eine denke-
drei Textteile in einem unterschiedli-         rische Auseinandersetzung führen. Noch
chen Stil verfasst sind und verschiedene       mehr wünsche ich mir, dass wir von einer
Schwerpunkte setzen: Es handelt sich um        neuen Freude am und Liebe zum Evan-
einen Grundlagentext (Teil I), Konkre-         gelium erfüllt werden. Denn Evangelium
tionen (Teil II) und einen an der Praxis       heißt „gute Nachricht“. Sie soll uns be-
orientierten Anwendungsteil (Teil III).        schäftigen, prägen und froh machen. So
   Ich danke dem Arbeitskreis Theologie        werden wir, davon bin ich fest überzeugt,
(Henrik Otto, Reinhard Spincke, Prof.          bewegt von Gottes Liebe.
Dr. Markus Iff und Wolfgang Kraska),
der sich in vielen Sitzungen und Dis-
kussionen die Mühe gemacht hat, den            ANSGAR HÖRSTING
Text im Wesentlichen vorzubereiten. Ich        Präses des Bundes Freier evangelischer
danke der Erweiterten Bundesleitung,           Gemeinden | feg.de

4   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
ZUM VERSTÄNDNIS DES EVANGELIUMS IN FREIEN EVANGELISCHEN GEMEINDEN

EINLEITUNG
Anlass und Bedeutung des Themas                  ten und Neuen Testament der Bibel. Auf
1. Auf das Evangelium kommt es an! Es            dieser Grundlage und unter Beachtung
ist die von den ersten Christen mündlich         christlicher und (frei-)kirchlicher Tradi-
weitergesagte Botschaft von Jesus Christus,      tionen muss es auf dem Weg durch die
dem Heil der Welt in Erfüllung der Ver-          Geschichte immer wieder bedacht und
heißung an das Volk Israel. Es ist, wie der      in Lebenswelten und Gesellschaften be-
Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom            stimmt und konkretisiert werden.
schreibt, „eine Kraft Gottes, die selig macht       4. Mit der folgenden Bestimmung des
alle, die glauben“ (Röm 1,16) und es be-         Evangeliums nehmen Freie evangelische
stimmt den Blick des christlichen Glaubens       Gemeinden auf der Grundlage der bib-
auf Gott (Kol 1,15; 2,9), die Welt (Joh 3,16)    lischen Überlieferungen und ihrer Zu-
und die Menschen (Tit 3,4f.).                    sammenfassungen in den altkirchlichen
    2. Das Evangelium von Jesus Christus ist     Bekenntnissen (u. a. Nizänum-Konstan-
umstritten. Sein Anspruch ist nicht, dass es     tinopolitanum, Apostolikum) die gemein-
etwas verkündet, was „selbstverständlich“        same Überzeugung der Reformatoren
ist, sondern vielmehr, dass es etwas „Un-        auf, dass allein Jesus Christus der Mittler
erhörtes“ mitteilt: „was kein Auge gesehen       des Heils zwischen Gott und Menschen
hat und kein Ohr gehört hat …“ (1 Kor 2,9).      und die Botschaft von ihm der Inhalt des
Das Evangelium von der Versöhnung der            Evangeliums ist. Er ist die Mitte der bi-
Welt (2 Kor 5,19), der Erlösung der Men-         blischen Schriften und der Maßstab der
schen (Röm 3,23) und der Befreiung der           Verkündigung, der Lehre und des Lebens
Schöpfung von der Vergänglichkeit (Röm           der Christen und Gemeinden.
8,21) durch Gott in Jesus Christus ist nicht        5. Der hier in drei Teile gegliederte
das Ergebnis logischen Denkens oder ein          Grundlagentext zum Evangeliumsver-
Produkt menschlicher Weisheit (vgl. 1 Kor        ständnis schließt an die Stellungnahme
1,18–2,16). Im Gegenteil, es ist das von         der Bundesleitung zum Evangeliums-
Gott selbst offenbarte Wort (Gal 1,1.11f.;       verständnis der Leuenberger Konkordie
2 Kor 4,6), das nach menschlichen Krite-         von 2009 an. Darin wird festgehalten,
rien durchaus als „Torheit“ erscheinen und       dass die Freien evangelischen Gemein-
beurteilt werden kann.                           den mit dem Verständnis des Evangeli-
    3. Das Evangelium von Jesus Chris-           ums wie es in der Leuenberger Konkor-
tus ist grundlegend bezeugt durch das            die 1973 entfaltet ist, übereinstimmen. |
Wort der Apostel und Propheten im Al-            verlautbarungen.feg.de

                                                DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   5
Teil I | Grundlagen:
Bestimmung und Be­schrei­bung des Evangeliums
1. Das Evangelium von Jesus Christus                       Nazareth von den Toten auferweckt hat (vgl.
1.1 Der griechische Begriff „Evangelium“                   1 Kor 15,4). Denkbar knapp wird das Evan-
bezeichnet ursprünglich die mündlich                       gelium auch auf die Formel gebracht: „Herr
weitergesagte frohe Botschaft von Jesus                    ist Jesus Christus“ (Phil 2,11).
Christus (vgl. 1 Thess 1,10; 1 Kor 15,1).                      1.4 Das Evangelium ist die Botschaft
In den Evangelien des Neuen Testaments                     von Jesus Christus, dem gesandten,
bestimmt der Begriff den Inhalt einer                      menschgewordenen, gekreuzigten und
Schrift: Es ist das Evangelium Gottes                      auferstandenen Herrn Jesus Christus.
(Mk 1,14), das Jesus Christus nicht nur                    Seine Person, sein Leben, sein Tun (Wor-
bringt und verkündigt (Mk 1,14f), son-                     te, Werke, Zeichen, Wunder), sein Tod,
dern das er selbst ist in seiner Person und                seine Auferstehung, seine Erhöhung und
seinem Werk (Mk 1,1).1                                     Wiederkunft bestimmen das Evangelium
   1.2 Das Evangelium von Jesus Christus                   und in Folge dessen auch die apostolische
ist das Evangelium Gottes (Mk 1,14) „von                   Verkündigung und Lehre (1 Kor 2,2; 3,11;
seinem Sohn“ (Röm 1,9), in dem er die                      1 Tim 3,16; 1 Petr 1,3; 1 Joh 4,9f.).
Welt liebt (Joh 3,16) und mit sich versöhnt
hat (2 Kor 5,19f.). Das Evangelium ist eine                2. Das Evangelium als Grund des
„gute Nachricht“, die den Aposteln an-                     christlichen Glaubens und der
vertraut (Gal 1,11f.) wurde und als frohe                  Gemeinde
Botschaft verkündigt und kommuniziert                      2.1 Das Evangelium von Jesus Christus
werden soll (1 Kor 15,1f.).                                ist „eine Kraft Gottes, die selig macht alle,
   1.3 Das Evangelium wird vom Beginn                      die glauben“ (Röm 1,16). Es bewirkt die
des Christentums an in bekenntnishaften                    Erfahrung, dass Gottes heilvolle Gegen-
Formulierungen zur Sprache gebracht. Der                   wart das Leben von Menschen im Glau-
Apostel Paulus zitiert solche Traditionen                  ben zutiefst verändert und neu orientiert
(z. B. Phil 2, 5–11). Dazu gehört das ele-                 (vgl. 1 Kor 2,10–16; 1 Thess 2,4).
mentare Bekenntnis, dass Gott Jesus von                        2.2 Das Evangelium zielt auf die Recht-
                                                           fertigung, den persönlichen Glauben, die
1 Hans-Joachim Eckstein, Das Evangelium Jesu Christi.      Wiedergeburt des Menschen, die Entste-
Zur impliziten Kanonhermeneutik des Neuen Testaments,      hung der Gemeinde als Gemeinschaft
in: Ders., Kyrios Jesus. Perspektiven einer christologi-
                                                           des Glaubens und der Glaubenden, die
schen Theologie, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 37. Siehe
auch Martin Hengel, The Four Gospels and the Gospel of     Verwirklichung des Reiches Gottes und
Jesus Christ, London 2000.                                 seiner Gerechtigkeit (Mt 4,23; 6,33; 24,14;

6     DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
Apg 8,12; Lk 17,21; Eph 1,20–23) sowie          wie im Lobpreis Gottes und im Dienst am
die Erneuerung der Schöpfung (Röm               Anderen und der Welt. Er empfängt das
8,18–22).                                       ewige Leben in der Gemeinschaft mit dem
   2.3 In der Verkündigung des Evange-          dreieinen Gott (1 Thess 4,17) und in seiner
liums von Jesus Christus ruft Gott im           neuen Welt (Offb 21,1-4).
Heiligen Geist alle Menschen zur Um-               2.8 Die Gemeinde ist als Geschöpf des
kehr (Mk 1,14) und macht den Sünder, der        Evangeliums von Jesus Christus zugleich
glaubt, in Jesus Christus gerecht (Röm 5,1).    auch dessen Werkzeug. Sie ist dazu be-
   2.4 Der Glaube an Jesus Christus ent-        stimmt und gesandt, das Evangelium mit
steht durch die Verkündigung des Evan-          Wort und Tat zu verkündigen und zu be-
geliums und das Wirken des Heiligen             zeugen (Joh 20,22f.). Sie hat Teil an der
Geistes. Er ist Gabe Gottes und Antwort         Sendung Jesu Christi, seinem Dienst und
des Menschen. Gott befähigt durch seinen        der Leidenschaft des göttlichen Erbarmens.
Geist den Menschen zur Antwort des Glau-           2.9 Die Gemeinde Jesu Christi ist die
bens und erwartet sie zugleich.                 Gemeinschaft aller, die in der persönlichen
   2.5 Der Glaube an Jesus Christus ist eine    Beziehung zu Gott leben, der zu ihnen
prozesshafte und dynamische Lebensbewe-         spricht und dem sie vertrauensvoll ant-
gung. Er ist „eine feste Zuversicht dessen,     worten – die Gemeinschaft des Glaubens
was man hofft und ein Nichtzweifeln an          und der Glaubenden. Die Glaubenden sind
dem, was man nicht sieht“ (Hebr 11,1) und       nicht voneinander isolierte Subjekte, son-
zugleich bekennt der Glaubende: „Ich glau-      dern der gleiche Geist tauft alle in einen
be, hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,24).           Leib Christi (1 Kor 12,12f.).
   2.6 Die Botschaft des Evangeliums wird
in der Taufe in einzigartiger Weise leibhaft    3. Das Evangelium als Heilshandeln
wahrnehmbar und persönlich adressiert.          des dreieinen Gottes
Die Taufe wird vom Glaubenden erbeten           3.1 Das Evangelium von Jesus Christus ist
(vgl. Apg 8,34) und er empfängt in der Tau-     im universalen Heilshandeln des dreiei-
fe die Gewissheit, ein Kind Gottes zu sein      nen Gottes verankert, der als Schöpfer mit
und von Jesus Christus in seine Gemeinde        seinen Geschöpfen Gemeinschaft haben
und seine Nachfolge sowie zum Zeugen            will. Das Evangelium ist somit Ausdruck
für das Evangelium berufen zu sein.             der unbedingten Liebe Gottes des Vaters,
   2.7 Wer dem Evangelium vertraut ist          der den Sohn sendet (Joh 3,16; Gal 4,4)
Teil des Leibes Jesu Christi (1 Kor 12,13)      und mit dem Sohn ebenso den Geist (Gal
und gehört zur Gemeinschaft der Glau-           4,6; Röm 5,5), um diese Gemeinschaft zu
benden und Getauften. Er gewinnt seine          realisieren.
Identität als Ebenbild und Kind Gottes, lebt       3.2 Das Heilshandeln Gottes zeigt sich
in täglicher Umkehr und Erneuerung so-          in der Anrede des Menschen im Paradies

                                               DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   7
(Gen 2,16f; 3,9), in dem Ruf an Abraham        4.1 Das Evangelium von Jesus Christus
(Gen 12,1ff) und in der Erwählung Israels      ist die gute Nachricht, dass der dreieine
zum auserwählten Eigentumsvolk Gottes          Gott die Welt geschaffen hat und liebt
(Dtn 7,7), die innerhalb des Alten Testa-      (Kol 1,16f.; Joh 3,16; Röm 5,8) und in
ments prophetisch auf alle Völker ausge-       Jesus Christus allen lebenszerstörerischen
weitet wird (Jes 2; 60,1–4).                   Mächten leidenschaftlich entgegentritt (Lk
   3.3 Im Neuen Testament wird das uni-        4,18f.; Röm 8, 21; 1 Petr 1,3; Offb 1,18). In
versale Heilshandeln Gottes in der Sen-        der Menschwerdung, dem Kreuzestod
dung der Jünger unter alle Völker durch        und der Auferweckung Jesu Christi hat
den auferweckten Herrn Jesus Christus          Gott die Welt mit sich versöhnt (2 Kor 5,19;
(Mt 28,18–20) ebenso aufgenommen wie           Eph 2,16 u. a.), die Sünde der Welt getra-
in der Ausbreitung des Evangeliums von         gen (Joh 1,29) und die Macht der Sünde
der rettenden Kraft des Kreuzes unter          und des Todes überwunden (Röm 6,22f.).
allen Völkern durch den Apostel Paulus            4.2 In Jesus Christus ist die Trennung
(1 Kor 1,18ff; Röm 1,16).                      zwischen Gott und Mensch, zwischen
   3.4 Das Evangelium von Jesus Christus       Schöpfer und Geschöpf, die mit dem
kommt dort zu seinem Ziel, wo die Liebe        Wort „Sünde“ bestimmt ist, überwun-
und der Gemeinschaftswille Gottes durch        den. Wird der Mensch als Sünder oder als
das Wirken und die Gegenwart des Heili-        Feind Gottes (vgl. Röm 5,10) beurteilt, so
gen Geistes im Menschen, zwischen Men-         ist das ein theologisches Urteil über ihn.
schen und in der Schöpfung realisiert wird     Die Sünde ist universal (Röm 3,23), aus
(Joh. 14,16ff.; Röm. 8,15 und 8,21).           ihrer Macht kann sich weder der Mensch
   3.5 Zum Evangelium von Jesus Christus       (Joh 8,34–36) noch die Schöpfung befrei-
gehört, dass Gottes Geist in Jesus Christus    en (Röm 8,21). Sie zeigt sich in der Ableh-
anwesend ist und ihn zu seinen Worten          nung der Herrschaft Gottes ebenso wie
und Taten bevollmächtigt (Jes 61,1–4; Lk       in der Zerstörung sozialer Beziehungen,
3,22; 4,1; 4,14–20). Entsprechend werden       der Verletzlichkeit menschlichen Lebens,
die Jünger von Jesus in der Kraft des Geis-    der von Gewalt und Leid durchsetzten
tes gesandt (Joh 20,21f.). Deshalb kann von    Welt und der tödlichen Brüchigkeit der
Jesus als dem Sohn Gottes und dem Inhalt       Schöpfung.
des Evangeliums nur in der Bevollmächti-          4.3 Das Evangelium macht offenbar,
gung durch den Geist Gottes Zeugnis ab-        dass Sünde eine Verfehlung der von Gott
gelegt werden (Apg 1,8; Joh 15,5).             gegebenen Bestimmung des Menschen
                                               und damit ein tragisches Schicksal ist
4. Das Evangelium und die Überwin-             (Röm 5,12ff.; vgl. Gen 3), zugleich aber
dung des Bruchs zwischen Gott und              auch Ungehorsam und eine Auflehnung
Welt/Mensch                                    des Menschen gegen Gott (Röm 5,19). Sie

8   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
ist darum ein Verhängnis und persön-          mit den Menschen und sein gewaltloser
liche Schuld zugleich. Die Sünde führt        Widerstand gegen die Mächtigen seiner
dazu, dass Menschen sich der Liebe und        Zeit, sind Zeichen des Anbruchs des
dem Ruf Gottes verschließen, nicht an         Reiches Gottes und offenbaren zugleich
das Evangelium Gottes in Jesus Christus       dessen Wesen und Charakter. Durch den
glauben (Röm 14,23), die Gebote sowie         Kreuzestod, die Auferweckung und Erhö-
das Doppelgebot der Liebe als Dreh- und       hung Jesu Christi wird das Reich Gottes
Angelpunkt der Tora und Propheten (Mt         endgültig in Kraft gesetzt. Zugleich steht
22,40) nicht befolgen. Folge der Sünde ist    die sichtbare Wiederkunft Jesu Christi
der Tod als Trennung von Gott, der Quelle     und die Vollendung des Reiches Gottes
des Lebens (Röm 6,23).                        noch aus (1 Kor 15,54f; Röm 8,21).
   4.4 In Jesus Christus schenkt Gott Ver-       5.3 Das Evangelium von Jesus Christus
gebung der Sünden (1 Joh 1,7) und befreit     hat eine soziale, politisch-gesellschaftli-
von der Macht der Sünde und des Todes         che und kosmische Dimension und ist
als Trennung von Gott (Röm 7,25). Wo          nicht ausschließlich auf das Heil von
Menschen umkehren, dem Evangelium             Individuen ausgerichtet. Nicht nur den
vertrauen (vgl. Mk 1,15; Röm 1,16; 10,16;     Menschen, sondern der ganzen Schöp-
Apg 15,7), geschieht eine Neuschöpfung        fung ist nach Paulus „die herrliche Frei-
des Menschen durch den Geist Gottes           heit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21) ver-
(2 Kor 5,17; Ez 36,26).                       heißen und das Evangelium soll „aller
                                              Kreatur“ (Mk 16,15) gepredigt werden.
5. Das Evangelium und das Reich Gottes           5.4 Das Evangelium von Jesus Chris-
5.1 Das Evangelium von Jesus Christus         tus beschreibt der Apostel Paulus als
wird in den biblischen Schriften mit der      „Evangelium des Friedens“ (Eph 6,15).
Königsherrschaft Gottes verknüpft (z. B.      Wie der alttestamentliche Begriff des
Jes 52,7; 61,1–4). Dies wird zu Beginn der    ‚Schalom‘ meint auch ‚Frieden‘ im Neu-
Wirksamkeit Jesu zunächst in der Ver-         en Testament nicht nur den Frieden
kündigung von Johannes dem Täufer             zwischen Gott und einem einzelnen
und dann ebenfalls auch in der Verkün-        Menschen, sondern den Frieden der
digung Jesu aufgegriffen (vgl. Mk 1,14f.).    Menschheit wie des gesamten Kosmos.
Das Evangelium heißt deshalb auch das         An mehreren Stellen nennt Paulus Gott,
„Evangelium der Königsherrschaft Gottes“      der die Welt in Jesus Christus mit sich
(Mt 4,23; 9,35; 24,14; Apg 8,12).             versöhnt hat, den „Gott des Friedens“
   5.2 Das Evangelium ist mit der Reali-      (vgl. Röm 15,33; 16,20; 2 Kor 13,11; Phil
sierung der Königsherrschaft Gottes in        4,9; 1 Thess 5,23).
Jesus Christus verbunden. Die machtvol-
len Taten und Worte Jesu, sein Umgang

                                             DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   9
6. Die Kommunikation und Verkün-                  Menschen zu kommunizieren und zum
digung des Evangeliums                            Glauben an Jesus Christus aufzurufen
6.1 Das Evangelium von Jesus Christus             und einzuladen.
gilt der ganzen Schöpfung (Mk 16,15),                6.4 Die Kommunikation und Ver-
allen Völkern und Nationen (Mk 13,10;             kündigung des Evangeliums von Jesus
Mt 28,18–20). Die frohe Botschaft ist an al-      Christus durch die Gemeinde und Chris-
le Menschen gerichtet, denn Jesus Christus        ten umfasst die Einladung zum persön-
ist für alle Mensch geworden, am Kreuz ge-        lichen Glauben, die Hilfe für den einzel-
storben und auferweckt worden. Die Kom-           nen Menschen und die Mitverantwor-
munikation und Verkündigung des Evan-             tung für die Gesellschaft und die Welt.
geliums als frohe Botschaft ist Aufgabe der       Daher treten Christen und Gemeinde für
Gemeinde und steht unter der Verheißung,          die Verkündigung des Evangeliums zur
dass Menschen zum Glauben an Jesus                Rettung von Menschen, für Gerechtig-
Christus und den dreieinen Gott kommen            keit, Bewahrung der Natur als Schöpfung
(Joh 17,20f.) und gerettet werden.                und Frieden zwischen den einzelnen
    6.2 Das Evangelium von Jesus                  Menschen und unter den Völkern ein.
Christus wirkt „nicht im Wort allein, son-           6.5 Das Evangelium von Jesus Chris-
dern auch in Kraft und im Heiligen Geist          tus befreit Menschen zu verantwortli-
und in großer Gewissheit“ (1 Thess 1,5).          chem Dienst in der Welt und macht sie
Die Kommunikation und Verkündigung                bereit, in diesem Dienst auch zu leiden.
des Evangeliums geschieht in Worten,              Christen kommunizieren und verkündi-
Taten und Zeichen. Diese Zusammenge-              gen das Evangelium in Wort und Tat in der
hörigkeit ist im Alten Testament bezeugt          Überzeugung, dass Gottes fordernder und
(z. B. Jes 61,1–4) und wird im Neuen Testa-       gebender Wille die ganze Welt umfasst.
ment als durchgehendes Charakteristikum           Sie vertrauen darauf, dass Gott die Welt
des messianischen Dienstes Jesu Christi           erhält und handeln in der Verantwortung
herausgestellt (vgl. Lk 4,14ff.; Mt 4,23; 8,16;   vor seinem Gericht und in der Gewissheit,
9,35; Apg 10,38; 1 Joh 3,8) und im Blick auf      dass Gott seine Herrschaft durch Jesus
die Sendung der Jünger hervorgehoben              Christus als Retter und Richter der Welt
(Mt 10,1–8; Mk 16,17f.).                          zur Vollendung führt.
    6.3 In der Verkündigung des Evange-              6.6 Das Evangelium von Jesus Christus
liums, in Taufe und Abendmahl sammelt             ereignet sich in, mit und unter menschli-
und sendet Jesus Christus die Gemeinde,           chen Kommunikationsprozessen (Verkün-
die durch den Heiligen Geist auf viel-            digung, Lebenszeugnis, Dienst). Dabei ist
fältige Weise begabt und befähigt ist,            es der Geist Gottes, der das Evangelium in
das Evangelium im öffentlichen Raum               irdischen Lebenszusammenhängen und in
und in den vielfältigen Lebenswelten der          menschlichem Tun und Reden erschließt.

10   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
6.7 Der Stil der Kommunikation und
Verkündigung des Evangeliums ist nicht
beliebig.2 Der Maßstab ist die „Freundlich-
keit und Menschenliebe Gottes“ (Tit 3,4),
der das Kommen seiner Königsherrschaft
in Jesus Christus damit beginnt, dass er
uns in Jesus Christus wie Freunde anre-
det (vgl. Joh 15,15). In Anlehnung an den
Apostel Paulus (vgl. 2 Kor 5,20) werden
Menschen in der Kommunikation und Ver-
kündigung des Evangeliums gebeten, sich
mit Gott versöhnen zu lassen. Trotz der
Dringlichkeit und des Aufrufs: „Tut Buße
und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14)
wird das Evangelium von Jesus Christus
nicht zu einer drohenden Botschaft, son-
dern bleibt frohe Botschaft.

2 Siehe dazu: Das christliche Zeugnis in einer multireligiö-
sen Welt, auf: https://www.oikoumene.org/de/resources/
documents/programmes/interreligious-dialogue-and-
cooperation/christian-identity-in-pluralistic-societies/
christian-witness-in-a-multi-religious-world

                                                               DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   11
TEIL II | THEMATISCHE KONKRETIONEN
Im Folgenden wird die im Grundlagenteil         Weg seines Sohnes bestimmt, um die
dargelegte Bestimmung des Evangeliums           Welt mit sich zu versöhnen? Kritikern er-
in acht Punkten auf konkrete Themen-            scheint die Vorstellung, dass Gott seinen
stellungen bezogen. Dabei geht es nicht         Sohn hat sterben lassen, um die Folgen
um eine umfassende Bearbeitung der je-          der Sünden der Menschen zu tragen, als
weiligen Themen, sondern um eine kurze          Akt der Willkür und Brutalität.
Darstellung wie die jeweiligen Themen-             Die Diskussionen und die kritischen
stellungen vom Evangelium her zu be-            Fragen sind bis zum heutigen Tag nicht
denken und in Grundzügen zu entfalten           verstummt. Dadurch wird verhindert,
sind. Dabei soll auch eine Orientierung         dass der Tod Jesu am Kreuz zu einem
im Blick auf aktuelle Fragestellungen und       bloßen Symbol andächtiger Erinnerung
Herausforderungen gegeben werden.               wird, einem Schmuckstück oder Tattoo.
                                                Das Kreuz macht aber wie kein anderes
                                                Zeichen deutlich, dass Gott in seiner Lie-
II/A. EVANGELIUM UND DER                        be zur Welt und den Menschen den Weg
KREUZESTOD JESU CHRISTI                         der tiefsten Erniedrigung geht, damit sie
1. Erläuterung des Themas                       von den Folgen der Sünde befreit in Ge-
Das Kreuz steht für das Christentum.            meinschaft mit ihm und versöhnt unter-
Es ist das Symbol für den christlichen          einander leben können.
Glauben. Der Apostel Paulus wollte,
wie er um die Mitte des ersten Jahr-            2. Aktuelle Herausforderungen
hunderts an die Gemeinde in Korinth             Das Neue Testament enthält eine Vielfalt
schrieb, nichts anderes verkündigen als         von Perspektiven des Kreuzestodes Jesu,
das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18). Da-          die aus dem Strafrecht, dem Besitzrecht,
bei war ihm bewusst, dass dieses „Wort          der Opfer-, Sühne- und Kulttradition
vom Kreuz“ für manche eine Torheit, für         sowie der antiken Freundschaftsethik
andere ein Ärgernis ist. Von Anfang an          stammen und von denen jede auf ihre
sorgte der Kreuzestod Jesu Christi also         Weise ein entscheidendes Moment des
für Diskussionen.                               Todes Jesu in den Vordergrund stellt. Die-
   Was genau hat Gott mit dem schmach-          se Vielfalt hat sich im Lauf der Kirchen-,
vollen Verbrechertod des Jesus von Naza-        Theologie- und Missionsgeschichte auch
reth zu tun? Wollte Gott Blut sehen, um         im Blick auf unterschiedliche Kulturen
seinen Zorn zu besänftigen oder musste          (Schuld,- Scham- und Angstkulturen)
er durch den Tod seines Sohnes versöhn-         als Reichtum und Chance erwiesen, den
lich gestimmt werden? Hat Gott diesen           Kreuzestod Jesu Christi zu erläutern. Die

12   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
Diskussion um den Kreuzestod als Süh-             Gott seinen Zorn überwinden und verge-
negeschehen sollte nicht dazu führen,             ben kann, ohne dass Blut fließt?
dass diese Vielfalt der neutestamentlichen         ▪ Muss man als Christ glauben, dass Je-
Überlieferungen verengt wird.                     sus für unsere Sünden den Opfertod am
   Zu dieser Vielfalt gehört u. a. das Ver-       Kreuz gestorben ist? Steht das nicht im
ständnis des Kreuzesgeschehens als                Widerspruch zur Botschaft Jesu von der
Befreiung bzw. „Freikauf“ aus der Skla-           unbedingten Liebe Gottes?
verei (1 Kor 6,20; 7,23) ebenso wie die            ▪ Wie ist es mit der Würde des Men-
Aussage, dass Jesus Christus am Kreuz             schen vereinbar, dass Sühne und Stellver-
sein Leben aus Liebe zu den Menschen              tretung durch Jesus Christus vollzogen
hingegeben hat. Der Sohn Gottes „hat              werden? Gehört es nicht zur Würde des
mich geliebt und sich selbst für mich             Menschen hinzu, dass er sich (selbst) für
dahingegeben“ (Gal 2,20; vgl. auch Röm            sein Tun zu verantworten hat?
5,8). Im Johannes-Evangelium wird die              ▪ Wie kann man in einem Atemzug be-
Hingabe Jesu Christi als der äußerste Lie-        haupten, dass Gott den Menschen liebt,
bes- und Freundschaftserweis (Joh 15,13)          aber zugleich auch sein Richter bleibt?
dargestellt. An seinem Sterben „für“ die           ▪ Wie lassen sich die Aussagen mitein-
Menschen und den Menschen „zugute“                ander vereinbaren, dass der Kreuzestod
wird die Liebe Jesu erkennbar (Joh 13,1,34;       Jesu Christi Ausdruck der liebenden Zu-
15,9.12; 1 Joh 3,16) wie auch die Liebe sei-      wendung Gottes zu den Sündern ist und
nes Vaters, der ihn gesandt hat (Joh 3,16;        zugleich das Gericht über die Sünde der
17,23; 1 Joh 4,9f.). Jesus stirbt stellvertre-    Menschen?
tend für seine Freunde (Joh 15,13) und für           Der für die frühe christliche Gemein-
seine Feinde (Röm 5,10).                          de vertraute Verstehenszusammenhang
   Neben der Vielfalt von Perspektiven            von Opferritualen ist unserer Lebenswelt
auf den Kreuzestod Jesu Christi ist auffal-       fremd geworden. Zwar gibt es noch die
lend, dass dieser in der Breite des Neuen         Rede vom „Opfer“ im Zusammenhang
Testaments als Sühnegeschehen beschrie-           von Verkehrsopfern und anderen Unfall-
ben wird (z. B. Röm. 3,25; 1 Kor 11,23b.25;       opfern, aber der kultische Interpretations-
Hebr 2,17b.; 9,25; 1 Joh 2,2; 4,10; 1 Petr        rahmen ist entfallen. Gleichwohl hat das
1,2). Doch genau an diesem Punkt erge-            Verständnis des Kreuzestodes Jesu Christi
ben sich eine Reihe von Fragen:                   als Opfer eine bleibende Bedeutung.3
 ▪ Brauchte Gott ein Opfer, um mit der
                                                  3 Siehe dazu und zum Folgenden: Für uns gestorben.
Sünde und menschlicher Schuld fertig
                                                  Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein
werden zu können? Zeigen nicht auch bi-           Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in
blische Traditionen wie Hosea 11,9, dass          Deutschland (EKD), Gütersloh 2015.

                                                 DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS            13
Die Frage, weshalb Gott in seiner            5,8), mit sich versöhnt hat. Auch im Al-
Liebe den Kreuzesweg gewählt hat und            ten Testament liegt das Wesen des Opfers
in Jesus Christus für die Welt und die          nicht in einer Gabe des Menschen an
Menschen gegangen ist, fordert unseren          Gott, die ihn umstimmen soll. Sondern
Glauben und unser Nachdenken heraus.            die Praxis des Opfers selbst ist eine Gabe
Warum für das Verständnis des Evange-           Gottes an den Menschen, durch die er
liums der Sühnecharakter des Kreuzesto-         den Menschen Sühne und damit neue
des notwendig ist, wird in den folgenden        Gemeinschaft mit ihm selbst gewährt. Im
Thesen biblisch-theologisch begründet           Opfergeschehen werden sowohl die Fol-
und entfaltet.                                  gen der Sünde als auch die Liebe Gottes
                                                und die Vergebung leibhaftig erfahrbar.
3. Thesen                                          3.3 Im Vergleich zur alttestamentli-
3.1 Die biblische Rede von der „Sühne“          chen Praxis starb Jesus am Kreuz nicht
zielt vorrangig auf das Ereignis der Verge-     als „Opfer“, denn er wurde nicht auf
bung und Versöhnung durch Gott selbst           einem Altar geschlachtet. Die Handlung
und nicht auf eine Wiedergutmachung             geschah auch nicht im Tempel oder in
im Sinne einer „Ausgleichsleistung“. Das        einem Heiligtum, sondern außerhalb der
lehrt und veranschaulicht das Opferver-         Stadt. Er wurde nicht von einem Priester
ständnis der alttestamentlichen Überlie-        dargebracht, sondern profan von Heiden
ferungen (vgl. Num 15,22–31; Lev 16). Es        hingerichtet. Sein Blut wurde nicht an
ist Gott selbst, der in seiner Vergebungs-      den Altar gesprengt; sein Fleisch wurde
bereitschaft Israel das Opfer und die           nicht so behandelt, wie es bei verschiede-
Möglichkeit der Sühne gegeben hat (Lev          nen Opfern vorgeschrieben war. Der Tod
17,1f). Gott schenkt den Menschen in der        Jesu war somit keine „heilige Handlung“
Situation des selbstverschuldeten Elends        und es wird deutlich, dass Jesu Kreuzes-
die Möglichkeit der erneuerten Gemein-          tod in einem anderen als dem herkömmli-
schaft mit ihm. Dies geschieht dadurch,         chen Sinn als Opfer zu verstehen ist. Der
dass Gott durch die Priester die Sühne in       Kreuzestod Jesu ist vielmehr das Ende al-
seinem Namen vollziehen lässt und den           ler Opfer, wie das Zerreißen des Vorhangs
Schuldigen vergibt.                             im Tempel zeigt (Mt 27,51).
   3.2 Nach dem Zeugnis des Neuen Tes-             3.4 Die Lebenshingabe Jesu Christi ist
taments hat Gott „in Christus“ die end-         Ausdruck der voraussetzungslosen Liebe
gültige Sühne vollzogen, indem er nicht         Gottes zu den Menschen (Joh 3,16; Röm
nur sein Volk, sondern die ganze Welt (2        8,31f.; Eph 2,4ff.; 1Joh 4,9f.). Im Kreuz er-
Kor 5,19; Röm 1,16; Gal 3,30; Gal 3,28),        eignet sich und erkennen wir die Liebe
alle Menschen als „Gottlose“ (Röm 4,5;          Gottes – sowohl des Vaters wie die des
5,6), d. h. als „Sünder“ (Röm 3,9.19.23;        Sohnes (Joh 15,12f; Gal 2,20; Eph 5,2.25;

14   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
1 Joh 3,16; Off b 1,5). Ohne das Kreuzes-                3.6 Im Kreuzestod als Sühnegeschehen
geschehen ist die Liebe Gottes nicht zu               handeln Gott, Menschen und Jesus Chris-
denken und zu erfassen. Es ist der Schlüs-            tus. Gott hat seinen Sohn in die Hände
sel zu einer angemessenen Erkenntnis                  von Menschen gegeben (Mk 9,31). Men-
Gottes überhaupt. Gott überwindet in Je-              schen richten ihn hin. Und Jesus gibt als
sus Christus „ein für alle Mal“ (vgl. Röm             Mensch und als Sohn Gottes sein Leben
6,10; 1 Petr 3,18; Hebr 9,12.26.28; 10,10.12)         freiwillig für die Vielen (Mk 10,45). Gott
die Folgen der Sünde. Im Johannes-Evan-               lässt ihn nicht im Tod, sondern erweckt
gelium wird die Hingabe Jesu Christi als              ihn von den Toten (vgl. Apg 2,36; 10,39f.).
der äußerste Liebeserweis (Joh 15,13) darge-          3.7 Am Kreuz geschieht ein Opfer in dem
stellt. An seinem Leben und Sterben „für“             Sinne, dass Jesus dem Vater sein sündlo-
die Menschen und den Menschen „zugu-                  ses Leben und seinen Gehorsam bis zum
te“ wird die leidenschaftliche Zuwendung              Tod darbringt (Phil. 2,8; vgl. Hebr 5,7f. vor
Jesu erkennbar (Joh 13,1,34; 15,9.12; 1 Joh           allem in Verbindung mit Hebr 10,5 und
3,16) wie auch die Liebe seines Vaters, der           Röm 12,1). Jesus Christus hat in Vollkom-
ihn gesandt hat (Joh 3,16; 17,23; 1 Joh 4,9f.).       menheit das Leben gelebt, das wir nicht
   3.5 Im Kreuzestod als Sühnegeschehen               leben können, und damit die Schönheit
versöhnt Gott die Welt mit sich selbst. Die           des von Gott ursprünglich gemeinten
Initiative zur Versöhnung geht von Gott               Menschseins offenbart.
aus (Röm. 5,8.10), denn wir Menschen                     3.8 Der Zorn Gottes ist der Zorn seiner
müssen versöhnt werden (vgl. 2 Kor                    Liebe, mit dem er allem Destruktiven wi-
5,19f.). Gottes unbedingte Liebe zur Welt             dersteht, das seine Schöpfung vernichten
(Joh 3,16) und sein Wille zur Versöhnung              und seine Gerechtigkeit verhindern will.
sind der Grund für das Kreuz und nicht                Das Sühnegeschehen zielt nicht auf die
nur für die Menschwerdung Jesu Christi.               Beschwichtigung eines aufgebrachten, ge-
Damit ist zurückgewiesen, dass Gott, der              kränkten und insofern zornigen Gottes,
Vater, erst durch die Intervention des Soh-           sondern Gott selbst in seinem Sohn (Joh.
nes umgestimmt werden musste. „Nicht                  10,30; 13,1) überwindet im Sühnegesche-
Gott wird versöhnt, sondern Gott ver-                 hen die Macht von Sünde, Tod und Teufel,
söhnt die Welt. Nicht der sündige Mensch              indem er sie an sich selbst erleidet.
entsühnt sich, sondern der heilige Gott                  3.9 Im Kreuzestod trägt Jesus Chris-
entsühnt den sündigen Menschen. Und                   tus, der einzig Sündlose, stellvertretend
er tut dies, indem er seine Heiligkeit dem            die Sünden der Welt und jedes Men-
ganz und gar Unheiligen zuwendet.“4                   schen. Das bedeutet, er stirbt für den
                                                      Menschen und der Mensch, der glaubt,
4 Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 8.    stirbt mit ihm (Röm 6,6). Beim Sühne-
Aufl. 2010, S. 272.                                   geschehen findet also keine materiale

                                                     DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   15
Übertragung von Sünden von einer Per-           zu ihrer vollen Schönheit befreit (vgl. u. a.
son auf eine andere (Jesus) statt. Das Blut     Röm 1 u. 8).
hat keine magische Kraft, sondern weil
Jesus sein Leben für uns gegeben hat,           4. Fazit
sind die Folgen der Sünde der Menschen           ▪ Das Evangelium Gottes von Jesus
als Trennung von Gott überwunden.               Christus beansprucht etwas zu verkün-
Das Blut Jesu steht für sein Leben und          den, was nicht „selbstverständlich“ ist,
begründet einen neuen Bund zwischen             sondern „was kein Auge gesehen und
Gott und Menschen, der im Abendmahl             kein Ohr gehört hat …“ (1 Kor 2,9). So
vergegenwärtigt, bekräftigt und gefeiert        sehr der Kreuzestod Jesu anhand von jü-
wird (vgl. Mt 26,28; 1 Kor 11,25).              dischen, alttestamentlichen Traditionen
   3.10 Im Kreuzesgeschehen tritt Jesus         und antiker Freundschaftsethik entfaltet
Christus an die Seite des Menschen und          werden kann, so wenig ist er für die ers-
steht aus Liebe mit seinem Leben und            ten Christen das Ergebnis rein logischen
in seinem Sterben dort, wo Menschen             Denkens oder das Produkt menschlicher
stehen. Sich auf die Stelle eines anderen       Weisheit (1 Kor 1,18ff). Nach Gottes Of-
einzulassen, bedeutet nicht, die eigene         fenbarung (Gal 1,1.11f.; 2 Kor 4,6) und
Person gegen die des anderen auszutau-          Weisheit hat die Hinrichtung des Gottes-
schen, sondern die Stellung des anderen         sohnes einen Sinn, den Menschen ihm
auf sich zu nehmen, sich selbst für den         weder geben noch von sich aus erkennen
anderen einzusetzen und für ihn zu han-         können.
deln. Sein Tod „ist“ unser Tod, und seine        ▪ Das Kreuz ist der unbedingte und kräf-
Auferstehung „ist“ unsere Auferstehung          tigste Ausdruck von Gottes Liebe und sei-
(Röm 6,6–8; Gal 2,20), und auf diese            nem Ja zur Welt und zu den Menschen.
Weise eröffnet der Kreuzestod Jesu neues        Auf Seiten des Menschen offenbart das
Leben und neue Gemeinschaft mit Gott.           Kreuzesgeschehen eine gewaltige Feind-
   3.11 Im Kreuzestod Jesu Christi ver-         seligkeit und große Schuld, auf Seiten
söhnt Gott die Welt mit sich selbst (2 Kor      Gottes eine noch größere Versöhnungsbe-
5,19) und verwirklicht seine Gerechtigkeit      reitschaft und überwältigende Liebe. Die
und seine Barmherzigkeit nicht um sei-          menschliche Sünde und die Bosheit sind
ner selbst willen, sondern zum Wohl des         eine Realität, die verarbeitet und durchlit-
Menschen und der gesamten Schöpfung.            ten werden muss, wenn das Böse und die
Es wird also nicht ein gekränkter Gott          Macht der Sünde nicht bagatellisiert oder
umgestimmt, sondern die Gottebenbild-           verdrängt werden sollen. Das Kreuz Jesu
lichkeit des Menschen wird vollendet und        Christi steht für die „Arbeit“ und „Mühe“
die Schöpfung von ihrer Vergänglichkeit         (vgl. Jes 43,24f.), die sich Gott mit seiner

16   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
Welt und seinen Geschöpfen sowie deren         II/B. Evangelium und Sünde
Sünde macht.
 ▪ Im Kreuzestod Jesu handelt Gott zum         1. Erläuterung des Themas
Heil der Menschen. Dieses Handeln              Die Sünde und das Sündersein des Men-
kann unter Rückgriff auf die alttesta-         schen gehören zum Grundbestand der
mentlichen Überlieferungen angemessen          Lehre des christlichen Glaubens und
als Sühne bzw. als stellvertretendes Opfer     der biblischen Schriften. In der Alltags-
bezeichnet werden. Der Verzicht auf die-       sprache und im Bewusstsein der meis-
se Begriffe hat den Verlust einer wesentli-    ten Menschen in spätmodernen Gesell-
chen Dimension des Kreuzesgeschehens           schaften erscheint das Wort „Sünde“ nur
zur Folge.                                     noch in moralisierter Form („Steuersün-
   Auch wenn viele Zeitgenossen ihr Le-        der“/“Verkehrssünder“ etc.) oder in iro-
ben nicht mehr als etwas verstehen, was        nischen Redewendungen („Kann denn
sie vor einem Gott zu verantworten ha-         Liebe Sünde sein?“).
ben, können sie entdecken, was für eine           Gerät das spezifisch biblisch-theologi-
Wertschätzung und Herausforderung              sche Verständnis von Sünde als Abkehr
darin liegt, dass sich jemand mit seinem       von Gott in den Hintergrund, kommt es
eigenen Leben für uns einsetzt. Diese          zu neuen Vorstellungen von Sünde und
Liebe und Hingabe ist voraussetzungslos        vom Bösen mit entsprechenden Grenz-
und bedingungslos und sie ist das Herz-        ziehungen: Bist du kein Rassist, Faschist,
stück des Kreuzesgeschehens. Sie ent-          Sexist oder Terrorist, dann bist du schon
springt nicht religiöser Sühnelogik oder       auf der richtigen Seite. Dass man sich
menschlicher Denklogik, sondern dem            auch nach der Absage an solche verwerf-
trinitarischen Wesen Gottes als Liebe.         lichen Haltungen und Handlungen im-
                                               mer noch grundsätzlich auf dem Holz-
                                               weg befinden kann, ist schwer einsichtig
                                               zu machen.
                                                  Dieser Verflachung des Sündenbe-
                                               griffs gilt es durch eine Besinnung auf
                                               seinen biblisch-theologischen Gehalt und
                                               eine angemessene Zuordnung zum Evan-
                                               gelium zu überwinden. Schließlich ist
                                               die Erlösung des Menschen nicht ohne
                                               seine Erlösungsbedürftigkeit, die Versöh-
                                               nung mit Gott nicht ohne die vorherige
                                               Entfremdung von Gott zu denken.

                                              DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   17
Die persönlichen, gesellschaftlichen         Menschen unabänderlichen Verstrickung
und globalen Folgen der Sünde sind              in die Sünde?
schmerzhaft und rufen millionenfaches
Leiden hervor. Die Rede von der Sünde           3. Thesen
des Menschen bewahrt uns davor, die             3.1 Das Evangelium von Jesus Christus
Augen vor der eigentlichen Ursache die-         deckt auf, worin die Wirklichkeit und die
ses Leides zu verschließen.                     Macht der Sünde bestehen (Röm 5,12–21;
                                                7,7–25; Joh 8,34–36; 1 Joh 1,8f.; Psalm
2. Aktuelle Herausforderungen                   51,7) und befreit die Menschen, die zu
Niemand möchte gerne als Sünder be-             Jesus Christus gehören, von ihren Sün-
zeichnet werden, enthält das doch ein           den (Röm 8,1f.). Die Gemeinschaft mit
Urteil nicht nur über einzelne Taten, son-      Gott ist durch Sündenvergebung kons-
dern über die ganze Person. So wird ver-        tituiert, die an die Vermittlung durch
ständlicherweise die Titulierung als Sün-       Jesus und die Heilswirkung seines To-
der häufig als persönlicher Angriff und         des gebunden ist (vgl. 1 Joh 1,7f.; Gal 1,4;
Diskriminierung gewertet und mit dem            Hebr 1,3; 1 Petr 2,24; Off b 1,5).
Verweis auf vermeintlich viel größere              3.2 „Sünde“ und „sündigen“ heißt in
Übeltäter beantwortet. Wenn der Mensch          den biblischen Schriften, das Ziel zu ver-
in der Bibel als Sünder bezeichnet wird,        fehlen, in der Gemeinschaft mit Gott zu
meint das allerdings keine Herabsetzung         leben und der Gemeinschaft mit Gott im
der menschlichen Würde oder der Werte           Hören und Befolgen seiner Gebote ge-
und Leistungen von Menschen gegenüber           recht zu werden (Ex 20, 1–17; Joh 14,15).
den Werten und Leistungen anderer Men-          Sünde und sündigen schließt also auch
schen. Was aber meint es dann?                  ein bewusstes, die Gemeinschaft mit
   Eine andere aktuelle Herausforderung         Gott und Mitmenschen schädigendes
ergibt sich durch folgende Wahrneh-             Verhalten ein. Im Neuen Testament wird
mung: Christen führen ein Leben unter           unterschieden zwischen bestimmten
der Herrschaft Gottes und erleben zu-           Handlungen, die als „Sünde“ (1 Kor 6,18)
gleich, dass sie auch sündigen. Wie gehen       bezeichnet werden, und Menschen, die
wir vom Evangelium her damit um?                als „Sünder“ (Lk 7,37; Lk 18,13; 1 Tim 1,15;
   Und nicht zuletzt: Wofür kann ein            Jak 4,8) bezeichnet werden – oder sich
Mensch eigentlich verantwortlich ge-            selbst so bezeichnen. Im Hintergrund
macht werden, wenn er sich ohne eigenes         steht in beiden Fällen die Vorstellung ei-
Zutun in einer Welt vorfindet, in der es        nes menschlichen Verhaltens, durch das
kein Leben ohne Sünde gibt? Wie verhält         ein angestrebtes Ziel, ein Weg, eine Form
sich persönliche Schuld zu der für alle         der Gemeinschaft oder eine Beziehung
                                                verfehlt wird. Im Ergebnis trennen die

18   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
Sünde und das Sündigen den Menschen           der Apostel Paulus eindrücklich die Ohn-
von Gott als dem Ursprung und der Quel-       macht und Hilflosigkeit, die der Mensch
le des Lebens.                                erlebt, der der Macht der Sünde als Ver-
   3.3 Im Neuen Testament wird die Sün-       hängnis ausgeliefert ist.
de als Macht verstanden, der sich der            3.5 Vor Gott ist kein Mensch gerecht;
Mensch ausliefert und so ihr Sklave wird      „alle sind abgewichen und allesamt ver-
bzw. ihr als Sklave dient (Joh 8,36; Röm      dorben; da ist keiner, der Gutes tue, auch
6,6). Der Mensch ist unter die Sünde ver-     nicht einer“ (Ps 14,3; 53,4; Röm 3,10–12).
kauft, sodass er, auch wo er das Gute weiß    Aber nach dem Maßstab der Gerechtig-
und will, es nicht tut, weil das „Gesetz      keit Gottes ist auch zu unterscheiden
der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2) ihn        zwischen denen, die das Böse tun, und
gefangen halten (Röm 7,23). Die Sünde         denen, die diesen Taten zum Opfer fal-
ist „durch einen Menschen“ (Adam) in          len. Im Verhältnis der Brüder Kain und
die Welt gekommen und herrscht (Röm           Abel ist die Sünde, die sich in der mör-
5,21; 6,12.14) von da an in einem genera-     derischen Tat auswirkt, dem einen an-
tionenübergreifenden Zusammenhang             zulasten, während der andere in diesem
über die Menschen bis zu Jesus Christus       Verhältnis als der Gerechte dasteht (Gen
(Röm 5,12–21). Der Verhängnischarakter        4, 1–11; vgl. Mt 23,35).
der Sünde entschuldigt die Menschen              3.6 Im Unterschied zur Sünde als Ver-
nicht. Auch wenn sie nicht die Möglich-       hängnis ist Sünde als Schuld eine soziale
keit haben, nicht zu sündigen, muss jeder     Kategorie, denn Schuld oder Schulden
Einzelne die Folgen seines individuellen      (Mt 6,12; Mt 18,23–35) hat man gegenüber
Sündigens, den Tod als Trennung von           oder bei einem anderen. Maßgeblich ist
Gott, tragen (Röm 6,23). Diese Macht der      in diesem Zusammenhang das Bewusst-
Sünde kann nur „durch Jesus Christus,         sein, dass man für sein Fehlverhalten ein-
unseren Herrn“ (Röm 7,25) überwunden          mal „bezahlen“ muss. Das Verständnis
werden.                                       von Sünde als Schuld beinhaltet also die
   3.4 Das Sündersein des Menschen be-        Vorstellung, dass der Sünder zur Rück-
deutet, dass er im Zentrum seiner Person      zahlung verpflichtet ist und dem Gläubi-
durch den Unglauben bestimmt wird.            ger noch etwas geben muss.
Deswegen kommen von innen her, aus               3.7 Die Sündenvergebung durch Jesus
dem Herzen des Menschen auch böse Ge-         Christus (1 Joh 1,7) bestimmt nicht nur
danken (Mk 7,21–23; Mt 15,19); deswegen       die Gemeinschaft mit Gott, sondern auch
gehört auch schon die Neigung zur Lieb-       die Gemeinschaft der Glaubenden unter-
losigkeit, Hass, Verachtung, Gleichgültig-    einander, und zwar als Gemeinschaft
keit zur Sünde, selbst wenn sie nicht zur     derjenigen, die die Vergebung ihrer Sün-
Tat werden. In Röm 7,7–24 beschreibt          den erfahren haben und immer wieder

                                             DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS   19
erfahren. Entscheidend ist dabei, dass bei-     kontrollierendes, um sich greifendes Leid.
des zusammenfällt: Ein Leben im Licht           Die Sünde ist eine fatale Verstrickung5,
Gottes gibt es nur als Leben in der Ge-         die zum Tod als Trennung von Gott führt.
meinschaft von Sündern, denen vergeben           ▪ Alle Menschen sind der Sünde als
wurde und vergeben wird.                        transpersonaler Macht unterworfen, aber
   3.8 Die Glaubenden und Getauften             im Blick auf die Sünde als Schuld ist
(vgl. Röm 6,3–11) stehen nicht mehr unter       zwischen Tätern und Opfern zu unter-
der Macht der Sünde. Sie sind von der           scheiden. Auch schließt das nicht aus,
Herrschaft der Sünde befreit, aber nicht        dass Menschen, die vor Gott Sünder sind,
davon, wieder zu sündigen (vgl. Röm             Gutes tun können und tun. Auch durch
6,12–23; 1 Joh 1,7f.; 1 Tim 1,15). Was sich     Sünder geschieht vieles, was in seiner
durch Bekehrung (Apg 2,28) und Wie-             Auswirkung gut und hilfreich ist und in-
dergeburt (Joh. 3,3), den Glauben und           sofern dem Willen Gottes entspricht.
die Taufe grundlegend verändert hat, ist,        ▪ Christen unterstehen nicht mehr der
dass sie unter der Herrschaft Gottes ste-       Macht der Sünde, sondern sind durch
hen (Röm 6,18.22), dessen Geist in ihnen        Jesus Christus zu einem heilsamen Um-
wohnt (Röm 8,10f.).                             gang mit ihr in Umkehr, Gebet, Beichte
   3.9 Der Glaubende nimmt sich als be-         und Seelsorge ermächtigt. Weder das
gnadigter Sünder vor dem heiligen und           ständige Fokussieren, noch ein Ver-
ihn liebenden Gott wahr. Diese Wahrneh-         schweigen der Sünde erscheint deshalb
mung führt zu einer Haltung der Dank-           angemessen.
barkeit, Demut, Unterordnung und Hoch-
achtung des allmächtigen Gottes. Sie wird
den Glaubenden immer mehr prägen und
sein Leben zunehmend bestimmen.

4. Fazit
 ▪ Das Evangelium von Jesus Christus
will als froh machende Botschaft verstan-
den werden und trifft auf eine existenziel-
le Not des Menschen: seine Entfremdung
von Gott. Diese Entfremdung von Gott
bewirkt eine Entfremdung auch von an-
deren Menschen, von der Schöpfung und
von sich selbst. Der Mensch verfehlt die
Bestimmung seines Lebens und erleidet           5 Zur Aktualisierung des Sündenbegriffs (auch als: Ver-
und verursacht für ihn nicht mehr zu            strickung) siehe: Thorsten Dietz, Sünde, 3. Auflage 2019.

20   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
II/C. Evangelium und Glaube                              28,18–20). Der Glaube befreit dazu, das
                                                         Evangelium von Jesus Christus im öf-
1 Erläuterung des Themas                                 fentlichen Raum zu bekennen und sich
Niemand glaubt nichts. Glaube scheint ei-                für die Freiheit anderer einzusetzen: „Als
ne menschliche Grundkonstante zu sein.                   Ausdruck unseres Glaubens engagieren
Worauf sich allerdings der Glaube von                    wir uns für Menschenrechte, für Religi-
Menschen in der späten Moderne rich-                     ons- und Gewissensfreiheit, für Frieden,
tet, ist damit noch nicht geklärt. Glaubt                Respekt und Chancengleichheit.“7
man an Gott, an das Wissen, die Moral,
das freie Spiel der Kräfte, den Markt, die               2. Aktuelle Herausforderungen
Liebe, die Familie oder schlicht an sich                 Der christliche Glaube ist untrennbar
selbst?                                                  mit der Geschichte des Orients und des
   Christlicher Glaube ist demgegenüber                  Abendlandes verbunden. Seinem Selbst-
bestimmt durch das Evangelium von                        verständnis nach ist er allerdings mehr
Jesus Christus, wie es die biblischen                    als ein Kulturgut und überschreitet kul-
Schriften überliefern. Er ist „eine Ver-                 turbedingte Grenzen. Glaube kann nicht
neigung der Seele vor dem Geheimnis                      „gemacht“ oder gar „befohlen“ werden, er
Gottes“6 und ein lebenslanger Weg des                    wird Menschen zuteil, indem er sich ih-
Vertrauens in den dreieinen Gott im Hö-                  nen durch das Wirken des Geistes Gottes
ren auf sein Wort und unter dem Wirken                   in der Verkündigung des Evangeliums
seines Geistes. Dadurch unterscheidet                    auf der Grundlage der biblischen Über-
er sich grundlegend von bloßer Weltan-                   lieferungen erschließt und Menschen
schauung und Ideologie. Glaube ist geleb-                darauf eingehen. Dennoch ist er nicht
tes Vertrauen in Gott. Er ist die Antwort                einfach da, sondern hat eine Geschich-
des Menschen auf Gottes Reden und zu-                    te und er ist bezogen auf biblische Tra-
gleich von Gottes Geist geschenkt.                       ditionen und ihre Überlieferungen in
   Der Glaube an Jesus Christus steht in                 Gemeinden und Kirchen. Seine Inhalte,
einem festen Zusammenhang mit der                        seine Haltungen und Ausdrucksformen
Gemeinde als Gemeinschaft des Glau-                      werden überliefert, bezeugt, gelehrt,
bens und der Glaubenden (vgl. Gal 3,26;                  kommuniziert, vorgelebt. Kann man
Eph 2,8). Er ist darauf ausgerichtet, das                Glauben lernen, kann man ihn gezielt
Evangelium allen Menschen in Wort                        selbst erwerben? Oder gilt es, auf das
und Tat zu verkündigen und zu bezeu-                     Widerfahrnis des Glaubens zu warten?
gen (Röm 1,14; 2 Kor 5,20; Joh 17,18; Mt
                                                         7 Vereinigung Evangelischer Freikirchen, Glaube an
                                                         Christus befreit. 500 Jahre Reformation, MD 67, 6/2016,
6 Martin Schleske, Der Klang. Vom unerhörten Sinn des    S. 139. Vgl. dazu auch: Verantwortlich reden und handeln |
Lebens, 2010, S. 231.                                    verlautbarungen.feg.de

                                                        DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS                21
Wie lassen sich Bildungsprozesse in                Nicht zuletzt geht es um die Frage
Schulen und Gemeinden begleiten, in             nach Erfahrungen im Glauben und sei-
denen der Glaube „sich bildet“? Ist die         nem Verhältnis zur Vernunft. In ein-
Gemeinde ein Raum, in dem Menschen              drücklicher Weise beschreiben die Apos-
Glauben erfahren, erkennen, lernen,             telgeschichte und der 1. Korintherbrief
kritisch hinterfragen und Antworten             das besondere Wirken und besondere
auf ihre Fragen finden können? Was ist          Erfahrungen des Heiligen Geistes in Ver-
der Grund des gemeinsamen Glaubens,             bindung mit dem Glauben (Apg 8,15–17;
wenn in der Gemeinschaft der Glauben-           1 Kor 12,13; 14). Sind solche Erfahrungen
den unterschiedliche Erkenntnisse vorlie-       für den christlichen Glauben notwen-
gen, wie die biblischen Überlieferungen         dig? Der Apostel Paulus weist auf einen
auf konkrete Fragen der Lehre und des           Widerspruch der Botschaft des Kreu-
Lebens anzuwenden sind (z. B. Wieder-           zes und des Evangeliums zur Weisheit
heirat Geschiedener, Bewertung besonde-         der Welt (1. Kor 1,18–25) hin (vgl. auch
rer Geistesgaben; Lehrdienst der Frauen         Kol 2,8). Daher geht es im Glauben um
u. a.). Kann man Menschen öffentlich            mehr als das, was die Vernunft erfassen
zum Glauben einladen und auffordern             kann. Andererseits setzt das Johannes-
und wie gehören Glaube und Zweifel zu-          Evangelium direkt zu Beginn mit dem
sammen?                                         Satz „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1)
    Zum christlichen Glauben gehört die         die christliche Botschaft ins Verhältnis
Annahme, dass die Welt Gottes Schöp-            zur Philosophie, denn „Logos“ ist auch
fung und der Mensch Geschöpf Gottes             der Leitbegriff der Philosophie im ersten
ist, dass Gott die Welt und die Menschen        Jahrhundert nach Christus. Und nicht
in der Menschwerdung, dem Kreuzestod            zuletzt fordert der 1. Petrusbrief Christen
und der Auferweckung Jesu Christi er-           dazu auf, über die Gründe des christli-
löst hat, dass die Gebote und Weisungen         chen Glaubens und der mit ihm verbun-
Gottes, wie sie in der Bibel niedergelegt       denen Hoffnung Rede und Antwort zu
sind (z. B. Ex 20, 2-17) zu allen Zeiten        stehen (vgl. 1 Petr 3,15).
gelten und dass Gottes Herrschaft in Je-
sus Christus angebrochen ist. Wie kann          3. Thesen
dieser Glaube in der Pluralität von Glau-       3.1 Das Evangelium Gottes von Jesus
bens- und Wissensformen sowie Religio-          Christus zielt auf den Glauben des Men-
nen in der späten Moderne argumentativ          schen, den es bewirkt (Röm 1,16) und
vertreten und kommuniziert werden? Wie          durch den allein (sola fide) der Mensch
kann er auf Einsichten und Theorien von         vor Gott gerechtfertigt wird (Röm 3,28),
Natur- und Sozialwissenschaften bezogen         Frieden mit Gott empfängt (Röm 5,1)
werden?                                         und Glied am Leib Jesu Christi wird

22   DAS EVANGELIUM GOTTES VON JESUS CHRISTUS
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