Psychisch krank im Job. Was tun ? - Praxishilfe

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Praxishilfe

Psychisch krank im Job.
Was tun ?


    Impressum

    Herausgeber:
    BKK Bundesverband und         Familien-Selbsthilfe Psychiatrie (BApK e.V.)
    Kronprinzenstr.6		            Am Michaelshof 4b
    D-45128 Essen		               D-53177 Bonn
    www.bkk.de		                  www.bapk.de

    Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten

    BKK® und das BKK Logo sind registrierte Schutzmarken
    des BKK Bundesverbandes

    Autorin: Marlies Hommelsen, Dipl. Pädagogin
    Redaktion: M. Bellwinkel, A. Kresula, L. Julius, B. Lisofsky
    Gestaltung: Typografischer Betrieb Lehmann GmbH, Essen
    Druck: Siebengebirgsdruck, Bad Honnef

    Stand: April 2006


Inhaltsverzeichnis

Vorwort                                                           5
Die Fakten                                                        6
Die Praxishilfe                                                   8
Normal und psychisch krank – die zwei Seiten einer Medaille      10
Belastungsfaktoren als Auslöser für eine psychische Erkrankung
      tress
     S
                                                                 13
     Burn-out Syndrom
      Mobbing

Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                14
      epressionen
     D
     Bipolare (manisch-depressive) Erkrankungen
      Angststörungen
       Schizophrenien

Psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen                    22
Gemeinsamkeiten psychischer Erkrankungen                         23
Erkennen einer psychischen Erkrankung im Arbeitsumfeld           24
Was tun? – Das „H-I-L-F-E Konzept“ für Unternehmen               27
Handlungshilfen
      andlungsmöglichkeiten in akuter Krise
     H
                                                                 32
     Unterstützung während einer ambulanten Behandlung
      Handlungsempfehlung beim stationären Aufenthalt
       Die Rückkehr in das Unternehmen
        Prävention – Pflichtaufgabe im betrieblichem Umfeld
         Zusammenfassung

Anhang
    Hilfreiche Ansprechpartner und Adressen
                                                                 38
    Literaturhinweise


    Quelle: Postkarte der Initiative HOPES. Hilfe und Orientierung für psychisch
             erkrankte Studierende und Irre menschlich e. V., Hamburg


Vorwort

Ist es ein Thema? Oder immer noch ein Un-Thema?         Was also tun?
Fakt ist, dass eine viel größere Zahl an Menschen       Hier setzt die Ihnen vorliegende Praxishilfe an. Mit
psychisch krank waren und sind, als viele meinen.       den Kompetenzen der Familien-Selbsthilfe Psychi-
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass viele bedeu-    atrie, die mit den Beispielen aus dem Leben vieler
tende Persönlichkeiten, die unsere Kultur geprägt       Menschen vertraut ist, und des BKK Bundesverban-
haben, an psychischen Krankheiten litten. Nehmen        des, der die Erfahrungen aus der betrieblichen Ge-
wir nur                                                 sundheitsförderung einbringt, wurde ein Ratgeber
          Frederic Chopin                               für die betriebliche Praxis entwickelt.
          Rainer Maria Rilke
          Winston Churchill
          Charles Darwin
          Vincent van Gogh

Die Beispiele zeigen, dass psychisch kranke Men-
schen nicht einfach aus der Gesellschaft bzw. aus
dem Betrieb entfernt werden dürfen. Vielmehr ist es
wichtig, die Ressourcen zu nutzen, die jeder Mensch
hat. In den meisten Betrieben gibt es Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter, die psychisch krank sind oder in
einer schweren seelischen Krise mit Krankheitscha-
rakter stecken. Keine Hierachieebene ist davon aus-
genommen. Unsicherheit macht sich breit, wodurch
das Betriebsklima beeinträchtigt werden kann.

Aus Gründen der Vereinfachung und besseren
­Lesbarkeit ist im folgenden Text nur die männliche
 Form bei Personen- und Funktionsbezeichnungen
 angegeben. Gemeint ist immer auch die weibliche
 Form.


    Die Fakten

    Psychische Störungen nehmen dramatisch zu, sie          zunehmend in den Blickpunkt betrieblicher Gesund-
    haben seit einigen Jahren auch den beruflichen          heitspolitik und werden für viele Unternehmen zu
    Alltag der Beschäftigten erreicht. Depressionen         einem Thema mit größer werdender Dringlichkeit.
    und Angsterkrankungen drohen zu Volkskrankhei-          Personalverantwortliche, Kollegen und betriebliche
    ten am Arbeitsplatz zu werden. Der Anteil an den        Helfer sind heute häufig mit psychischen Krankheits-
    Krankheitstagen durch psychische Störungen seit         bildern konfrontiert, im Umgang mit betroffenen
    Beginn der neunziger Jahre hat sich mehr als ver-       Mitarbeitern jedoch verunsichert: Ist der Mitarbei-
    doppelt. Der BKK Gesundheitsreport 2005 zeigt auf,      ter überhaupt in einer Krise, kann er angesprochen
    dass mittlerweile jeder 12. Ausfalltag mit einer psy-   werden, oder führt dies zu einer Verschlimmerung
    chischen Diagnose verbunden ist. Darüber hinaus         der Problemlage? Wie sollte ein sensibler und ver-
    führen psychische Erkrankungen überproportional         antwortungsvoller Umgang mit der Erkrankung aus­
    häufig zu Frühverrentungen und haben den Verlust        sehen? Dies sind u.a. Fragen, mit denen Verantwort-
    des ­Arbeitsplatzes zur Folge. Die Ursachen für diese   liche im Unternehmen konfrontiert sind.
    Erkrankungen sind dabei vielfältig und komplexer
    Natur. Zu ihrer Entwicklung tragen gesellschaft­liche   Seelische Probleme gehören in den privaten Be-
    Faktoren, z. B. Angst vor Arbeitplatzverlust oder       reich, über sie sollte am Arbeitsplatz nicht gespro-
    Stress und Überbelastung in der Arbeitswelt, ebenso     chen ­werden, befinden auch heute noch viele Bür-
    bei wie individuelle Dispositionen.                     ger, trotz größer werdender Offenheit. Betroffene
                                                            Menschen verschweigen deshalb häufig ihre psy-
    Die Zunahme der Erkrankungen, der Anstieg der           chischen ­Krisen und ihre Krankheit aus Scham und
    Fehltage und der damit verbunden Kosten sowie           Angst um ihren Arbeitsplatz. Erschwerend kommt
    die Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter rücken      für die Betroffenen hinzu, dass Personalverantwort-
Die Fakten            

liche häufig signalisieren, psychisch beeinträchtigte   rechtzeitiges Eingreifen und Handeln größeren Kri-
Menschen seien aufgrund häufigerer Krankschrei-         sen vorzubeugen und dem betroffenen Mitarbeiter
bungen ökonomische „Risikofaktoren“ für das Un-         frühzeitig Unterstützung zu geben. So können mög-
ternehmen, nicht bedenkend, dass dies ebenfalls         licherweise Fehlzeiten verringert, die Chronifizierung
für Extremsportler, für rasante Fahrer oder Raucher     der Krankheiten verhindert, der Arbeitsplatz erhalten
zutreffen kann.                                         und das Know-how des Mitarbeiters im Betrieb be-
                                                        lassen werden.
Psychische Leiden sind nach wie vor tabuisiert und
haben Ausgrenzungen und Stigmatisierung zur
­Folge. Sie führen zu erheblichen Beeinträchtigungen
 der Lebensqualität der Betroffenen, der Angehörigen
 und im sozialen Umfeld.

Vor diesem Hintergrund haben die Familien- Selbst-
hilfe Psychiatrie (BApK e.V.) und der BKK Bundes-
verband gemeinsam ein Projekt ins Leben gerufen
mit dem Ziel, im beruflichen Umfeld psychisch Er-
krankter präventiv für die Betroffenen tätig zu wer-
den und gleichzeitig den Unternehmen Hilfestellung
für den Umgang mit erkrankten Mitarbeitern anzu-
bieten. Ein Mehr an Wissen und Information über
diese Erkrankungen bietet die Möglichkeit, durch


    Die Praxishilfe

    Die vorliegende Praxishilfe wendet sich an Füh-         zungsangebot für Vorgesetzte und Personalverant-
    rungskräfte und Personalverantwortliche in großen       wortliche entwickelt, die in zahlreichen Unternehmen
    Unternehmen. Sie soll sowohl Vorgesetzte wie Kolle-     auf breites Interesse stieß. Diese je nach Interessen-
    gen ermutigen, Mitarbeiter, die Probleme durch Ver-     lage des Unternehmens drei bis fünfstündige Veran-
    halten oder durch Leistungsveränderungen signali-       staltung wird von Vertretern der Selbsthilfe, nämlich
    sieren, frühzeitig anzusprechen, ihnen Unterstützung    Angehörigen psychisch Kranker, in den Betrieben
    anzubieten und eine Betriebskultur zu etablieren, die   durchgeführt. Die Angehörigen betroffener Men-
    psychischer Gesundheit ebenso viel Bedeutung bei-       schen sind als Gesundheitsbeauftragte der Selbst-
    misst wie körperlicher Gesundheit Die Praxishilfe ist   hilfe für diese Tätigkeit geschult. Sie geben ihr Wis-
    zwar kein „Rezeptbuch“ oder eine „Checkliste“ zum       sen, ihre gelebten Erfahrungen und ihre jahrelang
    Umgang mit psychisch kranken Mitarbeitern, bein-        erworbene Kompetenz über diese Erkrankungen und
    haltet aber Basisinformationen über Auswirkungen        über den Umgang mit den Betroffenen an interes-
    psychischer Krankheiten und kann für Vorgesetzte,       sierte Unternehmen weiter. Die Rückmeldungen und
    Kollegen und betriebliche Helfer eine Unterstützung     Erfahrungen zeigen denn auch: die Teilnehmer der
    sein.                                                   Schulungsveranstaltungen profitieren von dem Wis-
                                                            sen der Angehörigen. Fragen zu Krankheits­bildern,
    Die Praxishilfe ist ein Baustein des Kooperationspro-   den Auswirkungen psychischer Erkrankungen auf
    jektes der Familien-Selbsthilfe Psychiatrie mit dem     die Arbeitssituation oder einem stationären Aufent-
    BKK Bundesverband. Als weiteres Ergebnis wurde          halt konnten ebenso beantwortet werden wie Fra-
    eine Schulungs- und Informationsveranstaltung auf       gen zum Umgang mit psychisch erkrankten Kollegen
    Grundlage des „H-I-L-F-E Konzepts“ als Unterstüt-       oder Mitarbeitern. Mit den Veranstaltungen kann die
Die Praxishilfe   

Selbsthilfe der Arbeitswelt als unterstützender und
professioneller Partner für betriebliche Gesundheits-
politik zur Seite stehen.

Die Praxishilfe bietet auch Unterstützung für be-
triebliche Helfer, z. B. für Betriebs- und Personalräte,
Integrationsteams und betriebliche Arbeitskreise.
So enthält der erste Teil des Leitfadens Basisinfor-
mationen über psychische Erkrankungen, Krank-
heitsbilder und das Erkennen psychischer Erkran-
kungen im Arbeitsumfeld. Im zweiten Teil wird das
„H-I-L-F-E Konzept“ vorgestellt, das den verantwort-
lichen Vorgesetzten als Handlungshilfe für Maßnah-
men dienen kann, die im Umgang mit dem Betroffe-
nen notwendig werden. Angelehnt an den gestuften
Interventionsplan zum Umgang mit Suchterkrankten
ist das im Projekt entwickelte „H-I-L-F-E Konzept“
Grundlage für die Gespräche mit Mitarbeitern, die
unter einer psychischen Störung leiden.
10

     „Normal“ und psychisch krank –
     zwei Seiten einer Medaille

     Sabine Blocher:                                       Klaus Kraft:
     34- jährige Juristin, arbeitet halbtags zusammen      Herr Kraft ist 54 Jahre alt, er hat in einem Geldins-
     mit Frau H. und Herrn W. in der Rechtsabteilung       titut von der Pike auf gelernt und sich in 35 Jahren
     einer großen Versicherung. Das Verhältnis zu ihren    zum Leiter der Kreditabteilung hochgearbeitet. Die
     Arbeitskollegen ist freundlich und sachlich. Ab und   Fusion mit einem anderen namhaften Geldinstitut
     zu trinken sie einen Kaffee in der Mittagspause zu-   ist geplant. Herr Kraft sieht für sich eine Chance,
     sammen. Anfang des Jahres ärgern sich die Kolle-      beruflich weiter aufzusteigen. Er ist bereit, diese
     gen allerdings mehrfach über Frau Blocher. Diese      neue Herausforderung anzunehmen. Die an ihn
     hat Arbeitsaufträge vergessen oder unvollständig      gestellten Erwartungen seiner Vorgesetzten, die-
     erledigt, auf diesbezügliches Nachfragen reagiert     se Neuorientierung zu meistern, sind hoch. Seine
     sie nicht. Ein sehr ungewöhnliches Verhalten, das     Frau hatte sich zudem erhofft, er werde häufiger
     die Kollegen von Frau Blocher bisher nicht kennen.    zu Hause anwesend sein, zumal die beiden halb-
     Überhaupt wirkt die Sachbearbeiterin sehr „verän-     wüchsigen Kinder mehr Probleme machen. Eine
     dert“. In den nächsten Wochen kommt sie verspä-       familiäre Krise droht.
     tet zur Arbeit, wirkt müde, kraftlos und erschöpft.
     Die Kollegen erledigen Frau Blochers Aufträge         Herr Kraft schläft seit Wochen schlecht, wacht
     zunächst mit.                                         schweißgebadet auf und kann nicht wieder ein-
                                                           schlafen. Er ist zunehmend beunruhigt darüber,
     Die Kollegen reden beim gemeinsamen Mittages-         zumal sich tagsüber auch Herzrasen und Atemnot
     sen über die Situation. Herr W. plädiert dafür, al-   einstellen. Kollegen haben ihn schon auf seine sicht-
     les auf sich beruhen zu lassen und abzuwarten.        bare Unruhe angesprochen. Eine Sitzung muss er
     Wahrscheinlich habe Frau Blocher persönliche          fluchtartig verlassen, sehr zur Verwunderung des
     Probleme, sei krank oder irgendetwas Ähnliches,       Vorstandes. Herr Kraft ist sich sicher, die Vorboten
     und das gehe keinen etwas an.                         eines Herzinfarkts zu erleben. Er hat Angst, sein Va-
                                                           ter ist an einem Herzinfarkt gestorben. Körperliche
     Sollen die Mitarbeiter Frau Blocher einfach anspre-   Untersuchungen bleiben allerdings ohne Befund.
     chen? Oder sollen sie lieber so tun, als sei alles    Seine Beschwerden am Arbeitsplatz nehmen zu, er
     „normal“?                                             zieht sich mehr und mehr von den Kollegen zurück,
                                                           bleibt einfach zu Hause. Sein beruflicher Aufstieg
                                                           ist gefährdet. Es ist offensichtlich: Irgendetwas
                                                           stimmt nicht mit Herrn Kraft. Aber was? Und vor
                                                           allem, was ist zu tun?
„Normal“ und psychisch krank – zwei Seiten einer Medaille                                                                  11

Beide Mitarbeiter haben sich in ihrem Sozial- und                        ihrem stark abweichenden Verhalten, nicht nur weil
Leistungsverhalten verändert, wirken aus dem                             sie ausgegrenzt werden, sondern auch weil sie sich
Blickwinkel der anderen Beschäftigten nicht mehr                         nicht anders verhalten können.
„normal“. Was die Veränderung ausgelöst hat, ist                         Die meisten Menschen haben schon Extremsituatio-
für Kollegen und Vorgesetzte nicht nachvollziehbar.                      nen erlebt, in denen ihr Verhalten und Erleben nicht
Sie sind unsicher, wie sie sich verhalten sollen und                     der Norm entsprach. Sie hatten das Gefühl „neben
wie der „richtige“ Umgang mit dem Mitarbeiter oder                       sich“ zu stehen, sich im Spannungsfeld zwischen
Kollegen aussehen kann.                                                  „normal“ und „unnormal“ zu bewegen und dabei
Die Mitarbeiter in beiden Beispielen könnten in jedem                    die Erfahrung zu machen, dass der Übergang von
Unternehmen arbeiten, im Dienstleistungs- oder im                        einem psychischen Zustand in den anderen fließend
produzierenden Bereich, in Unternehmen verschie-                         ist.
denster Branchen, in Verwaltungen und Organisati-
onen, denn jeder dritte Mensch erkrankt einmal im                        Häufige, intensive und lang andauernde Normab-
Leben so schwer an einem seelischen Leiden, dass                         weichung des Erlebens, Befindens und Verhaltens
er einer psychiatrischen Behandlung bedarf.                              führen zu der Vermutung, dass bei dem betroffe-
                                                                         nen Menschen eine seelische Erkrankung vorliegen
Innere Erlebnis- und Verarbeitungsweisen eines                           könnte.
Menschen sind zunächst für Außenstehende un-                             Diese Erkrankungen werden in der Internationalen
sichtbar und individuell sehr unterschiedlich. Was                       Klassifikation der Krankheiten als „Psychische und
für den einen Menschen eine Herausforderung ist,                         Verhaltensstörungen“ 1 beschrieben.
kann für den anderen bedrückend sein und eine                            Die Symptome der betroffenen Personen können
Krise auslösen. Wenn aus den Erlebnis- und Verar-                        dabei zahlreich und wechselhaft sein, sie hängen
beitungsweisen ein Verhalten hervorgeht, das be-                         vom Krankheitsbild und der speziellen Diagnose ab.
stehende Normen „ver-rückt“ und deshalb auf die                          Oft gehen einzelne Krankheitsbilder ineinander über
Umwelt unerklärlich, sonderbar oder gar bedrohlich                       und sind vom Symptombild her nicht klar voneinan-
wirkt, neigt man dazu den Menschen als „nicht nor-                       der abgrenzbar, die Diagnosen selbst für Fachleute
mal“ zu bezeichnen. Häufig wird dabei übersehen,                         schwer zu stellen.
dass gerade Personen, die von fest gefügten Denk-
weisen abweichen, als „Querdenker“ sehr kreative                         Bei länger andauerndem Krankheitszustand bedeu-
Menschen mit innovativen Fähigkeiten sind.                               ten vor allem die sozialen Beeinträchtigungen in
                                                                         den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit eine Ein-
Ob ein Mensch als „psychisch krank“ gilt, ist aller-                     schränkung der Lebensqualität für die Betroffenen.
dings abhängig von der Intensität, der Dauer und                         Wie bei körperlichen Krankheiten gibt es auch bei
der Häufigkeit des „ver-rückten“ Verhaltens. Die                         psychischen Krankheiten ebensolche Schweregrade.
meisten psychisch kranken Menschen leiden unter                          Sie können ausheilen oder auch chronisch ­werden,

1
    Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Version 2006 (ICD-10), Kap.V (F)
12   „Normal“ und psychisch krank – zwei Seiten einer Medaille

     ebenso wie dies z. B. bei Herzerkrankungen oder          der Klapse? Du bist verrückt!“ Dies sind Aussagen,
     Bluthochdruck geschehen kann. Seelische Leiden           mit denen Menschen mit einer psychischen Störung
     sind heute gut behandelbar, z. B. mit Medikamen-         immer noch konfrontiert werden. Deshalb gehen
     ten und Psychotherapien, genauso wie körperliche         Betroffene vielfach gar nicht oder zu spät zum Arzt,
     Erkrankungen mit geeigneten Therapien behandelt          sie verschweigen ihre Krankheit aus Angst vor den
     werden können.                                           unangenehmen Folgen einer psychiatrischen Dia-
                                                              gnose.
     Wie jeder körperlich erkranken kann, so kann auch
     jeder von einem seelischen Leiden betroffen werden.       Wie das Beispiel von Klaus Kraft zeigt, kann
     Es können junge wie alte Menschen erkranken, Män-         auch bei anhaltender körperlicher Symptomatik
     ner wie Frauen, intelligente wie weniger intelligente,    ein seelisches Leiden zu Grunde liegen. Wichtig
     prominente wie nicht-prominente Personen.                 ist sowohl für Betroffene wie für Arbeitgeber
                                                               die ­ Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen,
     Menschen, die psychisch erkranken, haben aller-           die nicht rechtzeitig behandelt werden, sich ver-
     dings mit wesentlich mehr Schwierigkeiten zu kämp-        schlimmern und langfristig chronisch verlaufen
     fen als Menschen, die körperlich krank werden. Kör-       ­können.
     perliche Krankheiten finden im Arbeitsleben mehr
     Verständnis als psychische Probleme. „Du warst in
Belastungsfaktoren als Auslöser für eine psychische Erkrankung                                                 13

Belastungsfaktoren als Auslöser für eine
psychische Erkrankung
Viele Menschen verbinden mit dem Gedanken an
psychische Erkrankungen Begriffe wie Stress, Burn-
out oder Mobbing. Dies sind aber keine psychischen
Erkrankungen im medizinischen Sinne. Es sind je-
doch Risikofaktoren, die die Seele belasten und das
Entstehen einer ernstzunehmenden psychischen
Krankheit begünstigen. Häufig gehen diese Er-
scheinungsbilder mit körperlichen Symptomen wie
Schlaflosigkeit, Herz-Kreislauferkrankungen oder
Leistungsabfall einher.

  Stress

Unter arbeitsbedingtem Stress werden körperliche
und emotionale Reaktionen auf schädliche oder un-
günstige Aspekte der Arbeit, des Arbeitsumfeldes
oder der Arbeitsorganisation verstanden. Stresszu-
stände entstehen häufig durch Mehrfachbelastungen
und sind in der Regel mit dem Gefühl verbunden,
die Situation nicht mehr bewältigen zu können und        Syndroms eine bislang nicht diagnostizierte Depres-
überfordert zu sein.                                     sion.

Ob eine Person in einer bestimmten Arbeitssituati-         Mobbing
on Stress empfindet, ist individuell unterschiedlich
und u. a. abhängig von der Übereinstimmung der           Unter Mobbing wird verstanden, wenn ein im Ar-
vorhandenen Qualifikationen mit den verlangten           beitsumfeld Unterlegener über längere Zeit Angrif-
Anforderungen. Wahrnehmung, Interpretation und           fen durch Kollegen oder Vorgesetzte ausgesetzt ist.
Bewertung von bestimmten Arbeitssituationen spie-        Der Betroffene sieht keine Möglichkeit, sich gegen
len ebenso eine Rolle wie die inneren und äußeren        die Diskriminierung oder den Ausschluss aus der
Ressourcen und Bewältigungsstrategien, die dem           beruflichen Gemeinschaft zu wehren. Mobbing kann
Beschäftigten zur Verfügung stehen.                      verschiedene Ausdrucksformen haben: durch Schä-
                                                         digung der sozialen Beziehungen oder des Ansehens
  Burn-out Syndrom                                       des Betroffenen, indem Gerüchte verbreitet werden
                                                         oder die Kompetenz in Frage gestellt und der Mitar-
Als Burn-out Syndrom bezeichnet man einen Er-            beiter ignoriert wird.
schöpfungszustand, ein seelisches Ausgebranntsein,
bis hin zur völligen Kraftlosigkeit. Dies sind Sympto-
me, die vor allem im Arbeitskontext auftreten und
Menschen treffen, die sich über die Maßen in ihrem
Arbeitsleben engagiert haben. Viele Fachleute ver-
muten hinter dem Erscheinungsbild eines Burn-out
14

     Krankheitsbilder und Auswirkungen
     im Arbeitsleben
     Psychische Störungen stehen mittlerweile auf Rang             Depressionen
     vier der häufigsten Leiden, noch vor den Erkrankun-
     gen des Kreislaufsystems. Laut BKK Gesundheitsre-        Depressionen gehören zu den affektiven Störungen,
     port 2005 hat sich der Anteil der psychischen Stö-       d.h. Störungen von Gefühl und Stimmung, die häufig
     rungen am Krankenstand in den letzten 20 Jahren          mit Angst einhergehen und sich auf die Gesamtper-
     fast vervierfacht. Die Gründe für den Anstieg liegen     sönlichkeit eines Menschen auswirken. Ca. 5 Prozent
     vermutlich sowohl in einer wachsenden Zunahme            der Bevölkerung leiden zurzeit an einer Depression.
     der Erkrankungen, in einem wachsenden Frauenan-          Die Menschen beschreiben ihre Empfindungen so,
     teil bei den BKK Pflichtmitgliedern als auch in verän-   dass sie den „Geschmack am Leben“ verloren ha-
     derten Diagnosestellungen der Ärzte.2                    ben. Anders als Befindlichkeitsstörungen, denen
                                                              jeder Mensch unterliegt und die vorübergehender
     Im Arbeitsleben kommen vor allem Depressionen            Natur sind, ist die Depression eine behandlungs-
     und Angsterkrankungen zunehmend häufiger vor,            bedürftige Erkrankung, die in schweren Fällen zum
     gelegentlich auch schizophrene Psychosen.                Suizid führen kann. Eine Depression beginnt selten
                                                              plötzlich, sondern fast immer schleichend, meist
                                                              tritt sie als sog. Episode oder in Phasen auf. In allen
                                                              westlichen Industrieländern ist eine starke Zunahme
                                                              der Krankheit zu verzeichnen. Neben den Angststö-
                                                              rungen ist die Depression die häufigste psychische
                                                              Erkrankung.

                                                              Symptome bei Depressionen
                                                              Depressionen äußern sich häufig in körperlichen
                                                              Symptomen. Eines der auffälligsten Symptome bei
                                                              Depressionen sind Schlafstörungen. Der Rhythmus
                                                              des Schlafes kann völlig verändert sein und variie-
                                                              ren. Manche Betroffene verlieren den Appetit, essen
                                                              kaum noch etwas und nehmen stark an Gewicht ab.
                                                              Weitere körperliche Beschwerden können Schweiß-
                                                              ausbrüche, Herzklopfen, häufig auch Rückenschmer-
                                                              zen, rasche Erschöpfung und Kraftlosigkeit sein. De-
                                                              pressive Menschen bezeichnen diesen Zustand auch
                                                              häufig als „innere Lähmung.“

                                                              2
                                                                  BKK Gesundheitsreport 2005 S.95
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                                             15

Depressionen im Arbeitsbereich
Vorher aktive und integrierte Persönlichkeiten neh-      Faktoren wie z. B. Stress oder negative Lebensereig-
men an Veranstaltungen mit Kollegen nicht mehr           nisse stärker belastet fühlen und fortgesetzte Belas-
teil, wirken unsicher und tieftraurig. Kritik an der     tungen ihr Bewältigungsvermögen auf Dauer über-
Leistung oder dem Verhalten kann zu starken Selbst-      fordern. Diese Erklärung wird unter Fachleuten auch
zweifeln führen.                                         als das „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ bezeichnet.
                                                         Auslöser für eine depressive Erkrankung können
Am Arbeitsplatz werden vor allem Aufmerksamkeits-        auch im Verlust eines Partners, im Verlust des Ar-
und Antriebsstörungen auffällig. Flüchtigkeitsfehler     beitsplatzes, aber auch schon in einem Umgebungs-
treten vermehrt auf, Arbeitsabläufe werden häufi-        wechsel liegen. Eine weitere Ursache wird in gene-
ger kontrolliert und unterbrochen. Der Beschäftig-       tischen Anlagen gesehen, d. h. in Familien, in denen
te ist unkonzentriert, vergesslich, häufig zerfahren.    eine ­Depression auftritt, wird die Wahrscheinlichkeit
Unpünktlichkeit und vermehrte Pausen treten auf.         größer, an einem solchen Leiden zu erkranken. Eine
Aufträge können nicht mehr vollständig erledigt          direkte Erbkrankheit ist die Depression jedoch nicht.
werden, weil dem Betroffenen die Kraft fehlt. In der     Als Ursache für Depressionen werden ebenfalls Stö-
Umgebung stoßen solche Verhaltensweisen häufig           rungen des Hirnstoffwechsels vermutet, bei denen
auf Unverständnis und die Erkrankten gelten als Si-      die Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin aus der
mulanten oder Drückeberger. Bei den Betroffenen          Balance geraten sind. Durch diese Stoffwechselstö-
tritt in Folge der Krankheit häufig Panik auf, die Ar-   rungen sinkt die Fähigkeit, positive Gefühle zu emp-
beit nicht mehr bewältigen zu können und als Kon-        finden. Diese Stoffwechselstörungen können auch
sequenz den Arbeitsplatz zu verlieren.                   durch einschneidende Lebensereignisse verursacht
                                                         werden.
Es setzt ein Kreislauf von Schuld, Versagen, dem
Ausdrücken von Wert-, Entschluss- und Hoffnungs-         Behandlung und Prognose
losigkeit ein („Ich bin nichts wert, ich bin unzumut-    Depressionen sind heute in den meisten Fällen gut
bar, keiner kann mir helfen“).                           behandelbar. Sie werden i. d. R. mit einer Kombinati-
                                                         on aus Medikamenten (Antidepressiva) und psycho-
Depressiv Erkrankte äußern Gedanken über Selbst-         therapeutischen Verfahren behandelt. Zu diesen ge-
mordabsichten und sehen häufig keinen Ausweg             hören unterstützende Methoden wie Entspannungs-,
mehr aus dem Negativkreislauf. Suizidäußerungen          Ergo- oder Bewegungstherapie. Eine wichtige Rolle
sind auf jeden Fall ernst zu nehmen. Bei Suizidgefahr    bei der Behandlung spielt die Psychoedukation. Dar-
sollte eine stationäre Aufnahme erfolgen.                unter werden Interventionen zusammengefasst, die
                                                         darauf abzielen, Patienten und Angehörige über die
Ursachen                                                 Erkrankung zu informieren und den selbstverant-
Die Ursachen einer Depression sind von vielen Fak-       wortlichen Umgang des Betroffenen mit der Krank-
toren abhängig. Es gibt keine einzelne Ursache, erst     heit zu fördern.
das Zusammenwirken unterschiedlicher innerer
und äußerer Faktoren lässt eine Depression ent-          60 bis 80 Prozent der Betroffenen kann geholfen wer-
stehen. Dazu zählt eine besondere anlagebedingte         den, wenn eine Behandlung nach geltenden Richtli-
Verletzlichkeit und eine ausgeprägte Feinfühligkeit,     nien erfolgt. Wichtig ist dabei, dass der an Depressi-
d.h. sensible, dünnhäutige Menschen laufen eher          on Erkrankte die Behandlung mit trägt und nicht zu
Gefahr, psychisch zu erkranken, da sie sich durch        früh abbricht.
16   Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben

        ipolare Störungen
       B
       (manisch-depressive Erkrankungen)

     Eine besondere Form der affektiven Störungen sind       Manie im Arbeitsbereich
     die sogenannten bipolaren affektiven Störungen, die     In der manischen Phase sind die betroffenen Men-
     früher manisch-depressive Erkrankungen hießen. In       schen, nicht nur im privaten Bereich sondern auch im
     Deutschland leben ca. zwei Millionen Menschen,          Arbeitsumfeld, voller Tatendrang und Euphorie. Sie
     die von der Störung betroffen sind. Die Erkrankten      schlafen wenig, sind voller Energie, heiter, arbeiten
     schwanken zwischen Trübsinn und Euphorie, d.h.          exzessiv mit hektischer Aktivität, jedoch häufig mit
     neben depressiven Phasen treten Episoden beson-         fehlender Kontinuität. Das Denken ist häufig beschleu-
     derer Aktivität und gehobener Stimmung auf. An          nigt, der Rededrang gesteigert, das Selbstwertgefühl
     bipolaren Störungen erkrankte Personen haben ein        gehoben bis übersteigert. Die Betroffenen erleben
     30fach erhöhtes Suizidrisiko gegenüber der Normal-      eine Steigerung des Lebensgefühls, am Arbeitplatz
     bevölkerung. Bei vielen Betroffenen bestehen die        wirken sie auf Kollegen wie der „Hans Dampf“ voller
     Episoden in sich lang hinziehenden Depressionen         Kraft und Überzeugung und sie gelten als engagierte
     und vergleichsweise kurzen und heftigen manischen       Mitarbeiter. Je nach Ausprägung des Krankheitsbil-
     (euphorischen) Phasen oder in einer ständigen Un-       des kann auch die gereizte Stimmungslage im Vorder-
     ausgeglichenheit der Stimmungslage. Die Episoden        grund stehen und es kommt vermehrt zu Konflikten
     lassen sich nicht immer klar voneinander abgrenzen.     mit Kollegen. Problematisch im privaten Umfeld wie
     Die Dynamik der depressiven und manischen Denk-         im Arbeitsbereich sind die unüberschaubaren finan-
     muster bewegt sich dabei zwischen Selbstentwer-         ziellen Aktionen und Unternehmungen, zu denen es in
     tung und Selbstüberschätzung, im Volksmund mit          der manischen Phase kommen kann und die häufig für
     „Himmel hoch jauchzend, zu Tode betrübt“ bezeich-       alle Beteiligten gravierende Folgen haben.
     net.
                                                             Ursachen
     Symptome                                                Wie bei den Depressionen und anderen psychischen
     Die häufigsten Symptome einer bipolaren Erkran-         Erkrankungen sind die Ursachen von vielen Faktoren
     kung sind wie bei der depressiven Erkrankung u.a.       abhängig und liegen in einer vermuteten anlagebe-
     Schlafstörungen, Ängste, Unruhe, Antriebsarmut          dingten Verletzlichkeit, einer biologisch-genetischen
     und Gefühlshemmungen, Interesselosigkeit und            Empfänglichkeit und Störungen des Hirnstoffwech-
     Selbstwertprobleme. In der manischen Phase treten       sels, wie sie auch bei den Auslösern für eine depres-
     u.a. euphorische Emotionen, übersteigerte Aktivi-       sive Erkrankung vermutet werden.
     tät, plötzlich gereizte, gelegentlich auch aggressive
     Stimmungslage auf. Das Schlafbedürfnis ist gemin-       Behandlung und Prognose
     dert, im motorischen Bereich weisen die Betroffenen     Eine bipolare affektive Störung ist eine behandlungs-
     eine große Unruhe mit Sprunghaftigkeit im Handeln       bedürftige Erkrankung und kann mit medikamentö-
     auf.                                                    ser Therapie, mit Psychotherapie (häufig Verhaltens-
                                                             therapie) und Psychoedukation meistens effektiv be-
     Die Symptome variieren je nach Ausprägung des           handelt werden, so dass sich die Symptome zurück-
     Krankheitsbildes und können sich je nach Persön-        bilden. Wichtig sind dabei ein frühzeitiges Erkennen
     lichkeit des Betroffenen unterschiedlich darstellen.    der Erkrankung und ein intensives Mitarbeiten der
                                                             Betroffenen auch über die akute Krankheitsphase
                                                             hinaus. In der Stabilisierungsphase sollte die Be-
                                                             handlung fortgeführt werden, um einen Rückfall zu
                                                             vermeiden.
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                                              17

  Angststörungen

Angst ist Teil des menschlichen Lebens, ein hilfrei-    Symptome
ches, oft lebenswichtiges Signal des Körpers und        Symptome der Angst und Panik, oft nur schwer
eine biologisch sinnvolle Reaktion, die den gesam-      voneinander abzugrenzen, sind häufig Störungen,
ten Organismus auf ein schnelles Reagieren in einer     die am ganzen Körper auftreten und von Person zu
Gefahrensituation vorbereitet.                          Person sehr unterschiedlich sein können. Beispiel-
                                                        haft seien hier genannt: Schlafstörungen, Schwindel,
Von Angststörungen spricht man dann, wenn sehr          Herzrasen, Zittern, Erröten, Störungen im Magen-
heftigen Angstreaktionen keine entsprechenden Ge-       Darm-Bereich und Störungen im Bereich geistiger
fahren oder realen Bedrohungen zugrunde liegen.         Funktionen wie Gedächtnisstörungen. Auch Ent-
Der Übergang von der normalen Angst zur behand-         fremdungssymptome oder Unruhe können Sympto-
lungsbedürftigen Krankheit ist fließend. Bis eine       me einer Angsterkrankung sein. Die Diagnose wird
Angststörung diagnostiziert wird, vergehen in der       häufig sehr spät gestellt, da die körperlichen Sym-
Regel mehrere Jahre. Anhaltspunkt für eine krank-       ptome im Vordergrund stehen. Fast alle Menschen
hafte Störung kann sein, wenn Angstgefühle über         kennen Symptome der Angst aus eigenem Erleben,
eine längere Dauer, zu oft und zu stark auftreten und   ohne jedoch an einer Angststörung zu leiden.
ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigt werden kön-
nen. Die Erwartung, die „Angst vor der Angst“, ist      Angststörungen im Arbeitsbereich
stark ausgeprägt und der betroffene Mensch zieht        Angststörungen können eine beträchtliche Auswir-
sich zunehmend aus seinem sozialen Umfeld zurück.       kung auf die Lebensqualität der betroffenen Men-
Angstauslösende Situationen werden vermieden und        schen haben. Sie sind abhängig von der Art und
häufig beginnen Versuche der Selbstbehandlung mit       Schwere der Erkrankung. Eine Störung – wie an den
Alkohol und Drogen. Die Angststörungen haben in         Panikattacken von Klaus Kraft – dargestellt, führt z. B.
den westlichen Industrieländern auch aufgrund von       dazu, dass die Erkrankten mehr und mehr versu-
Arbeitsdruck und damit verbundener Zeitknappheit        chen, Angst auslösende Situationen zu vermeiden,
stark zugenommen. Etwa 14,5 Prozent der Bevölke-        sich aus ihrem sozialen Bezugsfeld zurückzuziehen
rung erleben mittlerweile innerhalb eines Jahreszeit-   und sich zu isolieren. Wird eine Angsterkrankung zu
raums Angststörungen, Frauen sind häufiger betrof-      spät als solche erkannt, kann dies im Extremfall zum
fen als Männer.                                         Verlust des Arbeitsplatzes und damit verbunden zum
                                                        sozialen Abstieg des Betroffenen führen.
Es gibt verschiedene Angststörungen, u.a. die soge-
nannte generalisierte Angststörung, d.h. die Betrof-     Wie bei den depressiven Erkrankungen können die
fenen leiden unter unaufhörlichen Sorgen und einer      betroffenen Menschen im Kollegenkreis häufig auf
Dauerangst, die Panikstörungen mit Panikattacken        Unverständnis stoßen und das „Nicht-können“ der
aus heiterem Himmel, die Belastungsstörungen            Angsterkrankten wird als ein „Nicht-wollen“ inter-
nach einem Trauma (posttraumatische Belastungs-         pretiert, der Betroffene als Simulant und Drücke-
störung) und die Phobien. Phobien sind starke und       berger angesehen. Bei der häufigsten Störung aus
unangemessene Ängste, die sich auf bestimmte Ob-        diesem Bereich, der Sozialphobie, haben die Betrof-
jekte oder Situationen beziehen, z. B. Klaustrophobie   fenen Angst, in der Öffentlichkeit zu versagen, z. B
(Furcht vor beengten Räumen). Eine Unterscheidung       vor den Kollegen, dem Vorgesetzten zu stottern, zu
zwischen den Angststörungen kann nicht immer            stolpern oder sich lächerlich zu machen. Häufig tre-
scharf getroffen werden.                                ten mehrere Angststörungen in Kombination mitein-
                                                        ander auf.
18   Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben

     Ursachen
     Die Ursachen für Angst- und Panikstörungen oder         erlernt in Angst besetzten Situationen durch sorg-
     Phobien sind nicht eindeutig geklärt, es gibt nicht     fältig geplante Therapieschritte ein neues Verhalten.
     eine Ursache, sondern so viele Ursachen, wie es         Andere psychotherapeutische Methoden kommen
     verschiedene Menschen gibt. Diskutiert werden ver-      ebenfalls zum Einsatz, so z. B. gesprächstherapeu-
     schiedene Hypothesen:                                   tisch orientierte Methoden sowie Entspannungsver-
     Ein Ansatz besagt, dass die Angst eine erlernte Ver-    fahren. In der Behandlung mit Medikamenten spielen
     haltensweise ist, z. B. wenn ein Kind die Angst vor     heute vor allem zwei Gruppen von Psychopharmaka
     einem Gewitter über das „Modell“ der Mutter „er-        (Medikamente, die auf die Psyche wirken) eine Rolle:
     lernt“. Eine zweite Hypothese besagt, dass es mög-      die Antidepressiva, die ursprünglich zur Behandlung
     licherweise eine ererbte Neigung gibt, eine Angststö-   von Depressionen entwickelt wurden und die Tran-
     rung zu entwickeln. Eine weitere Hypothese sieht in     quilizer. Die Tranquilizer werden zur Akutbehandlung
     übermäßigem Stress, lang anhaltenden Belastungen        und nur zur Überbrückung empfohlen bis die Wir-
     oder Überarbeitung Risikofaktoren für den Ausbruch      kung des Antidepressivums einsetzt, da die meisten
     einer Angsterkrankung.                                  Tranquilizer eine Sucht auslösende Wirkung zeigen.
                                                             Bei einer Angststörung steht häufig die körperliche
     Behandlung und Prognose                                 Symptomatik im Vordergrund und die hinter den kör-
     Behandelnde Ärzte und Therapeuten machen immer          perlichen Beschwerden liegende Angsterkrankung
     wieder die Erfahrung, dass weniger die Ursachen als     wird häufig zu spät diagnostiziert. So besteht die
     die aktuellen Lebensbedingungen und die Vorbe-          Gefahr, dass die Erkrankung chronisch wird. Je zei-
     handlung einen großen Einfluss darauf haben, wie        tiger die Diagnose und der Beginn der Behandlung
     der Betroffene seine Krankheit lebt und erlebt.         erfolgt, umso günstiger ist die Prognose.

     Die hauptsächlich eingesetzte Therapie bei Angst-
     störungen ist die Verhaltenstherapie. Der Betroffene
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                                              19

  Schizophrenien

Die Schizophrenie gilt als die bekannteste psychi-      nen können auftreten, häufig verbunden mit körperli-
sche Erkrankung, sie zählt zu dem Krankheitsbild der    cher Symptomatik wie Schlafstörungen, Herzklopfen
Psychosen. Der Begriff Schizophrenie lässt sich mit     oder Zittern.
„gespaltene Seele“ übersetzen, bedeutet aber nicht
„Persönlichkeitsspaltung“, wie früher oft behauptet     Die Symptome einer Schizophrenie wirken auf die
wurde. Beschrieben wird mit dem Begriff „schizo-        Umgebung sehr absonderlich und beängstigend. Vor
phren“ das Vorhandensein von zwei für den Betroffe-     allem das Erleben, dass für den Betroffenen neben
nen nebeneinander existierenden Wahrnehmungs-           der von der Mehrheit wahrgenommenen Wirklich-
welten. Schizophrenie ist eine kulturunabhängige        keit zusätzlich eine andere Realität existiert, verunsi-
Erkrankung, d.h. sie ist auf der ganzen Welt bei ca.    chert Angehörige, Freunde und Kollegen sehr stark.
einem Prozent der Bevölkerung zu finden. Die Schi-      Wichtig für den Umgang ist, dass die Betroffenen
zophrenie kann leicht, schwer, akut oder schleichend    aufgrund ihrer veränderten Wahrnehmung oft von
sein. Sie kann ausheilen, in einer einmaligen Episode   starken Ängsten geplagt sind. Die Ängste können
verlaufen oder chronisch werden. Der Erkrankungs-       sich auf alle Lebensbereiche beziehen. Es kann sich
beginn der Schizophrenie liegt häufig zwischen der      Angst vor Personen, Gegenständen, Stimmen, Ge-
Pubertät und dem 30. Lebensjahr. Oft sind junge         räuschen oder Angst vor Verfolgung entwickeln. Die
Menschen in sich verändernden Lebenssituationen         Intelligenz bei der Schizophrenie ist nicht beeinträch-
betroffen, z. B. am Beginn einer Ausbildung, am Ende    tigt, allerdings kann die Fähigkeit, das intellektuelle
des Studiums oder in der Wehrdienstzeit.                Potential zu aktivieren, gemindert sein.

Symptome                                                Die Schizophrenie im Arbeitsbereich
Psychosen beginnen in der Regel schleichend. Die        Bei einsetzender Positivsymptomatik wird im Ar-
ersten Anzeichen treten oft über Jahre auf und wer-     beitsbereich wie im privaten Umfeld meist schnell
den häufig nicht als Symptome einer Erkrankung er-      offensichtlich, dass mit dem Betroffenen etwas nicht
kannt. In einer akuten Phase unterscheidet man Ne-      in Ordnung ist. Da psychotische Erkrankungen sich
gativ- und Positivsymptome. Bei den Negativsymp-        bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich
tomen kommt es zu Aktivitätsverlust in bestimmten       darstellen, können die Betroffenen auch mit sehr
Bereichen, z. B. Antriebsarmut und Gefühlsverände-      unterschiedlichen Frühwarnzeichen reagieren. Als
rungen wie Gereiztheit, Niedergeschlagenheit oder       „Frühwarnzeichen“ werden individuelle Anzeichen
Abschwächung aller Gefühlsempfindungen. Im so-          einer drohenden Überforderung bzw. eines Rückfalls
zialen Bereich erschwert die Beeinträchtigung des       bezeichnet. Für die Betroffenen und das Umfeld ist
Denkens den Kontakt mit anderen. Der Erkrankte          es wichtig, diese frühzeitig zu erkennen und darauf
wird – auch aufgrund des Nicht-Verstehens des Ver-      rechtzeitig und angemessen zu reagieren. Neben
haltens – häufig von seiner Umwelt isoliert oder er     körperlicher Symptomatik wie Schlafstörungen,
zieht sich selbst zurück.                               Kopfschmerzen, Herzproblemen, die der Betroffene
                                                        bei sich wahrnehmen kann, können im Arbeitsum-
Positivsymptome werden so genannt, weil ein Mehr        feld folgende sichtbare Veränderungen auftreten:
an Merkmalen hinzukommt. Dies können z. B. sein:        vermehrtes Fehlen und häufigere Pausen, der Über-
Wahnwahrnehmungen und Wahnvorstellungen wie             blick über die Arbeitsbereiche geht verloren, der
religiöse oder politische Berufung, Verfolgungsängs-    Betroffene wirkt bei seiner Tätigkeit teilnahmslos,
te und Denkstörungen, verbunden mit dem Gefühl,         unkonzentriert und unstrukturiert. Häufig werden
andere könnten die eigenen Gedanken mitdenken.          strenge Arbeitsrituale eingeführt. Bei Abweichung
Optische und akustische Halluzinationen und Illusio-    wird der Betroffene in starke Unruhe versetzt.
20   Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben

     Bei steigendem psychischem Druck kann der Kon-           chosoziale Faktoren wie Familienerfahrung, Schule,
     sum von Alkohol und Drogen zunehmen. Regeln              Ausbildung und Beruf können den Verlauf der Er-
     und Vorschriften, auch Sicherheitsvorschriften, kön-     krankung beeinflussen. Organische Veränderungen
     nen missachtet werden. Kollegen und Mitarbeiter          oder Veränderungen durch Unfälle können ebenfalls
     nehmen bei dem Betroffenen mitunter ein unerklär-        das Auslösen einer Schizophrenie begünstigen. Bei
     liches, plötzlich auftretendes Misstrauen bzw. eine      der Stabilisierung nach Eintritt der Erkrankung spielt
     Feindseligkeit wahr, die nicht durch Vorkommnisse        ein positives soziales Umfeld eine wichtige Rolle. Als
     am Arbeitsplatz erklärt werden kann. Der betroffene      gesichert gilt, dass der Gebrauch von Drogen, auch
     Mitarbeiter scheint wie ausgewechselt, vermutet          von weichen Drogen und auch von geringen Men-
     hinter jedem Kollegengespräch eine Verschwörung.         gen, das Auftreten einer Schizophrenie begünstigen
     Gelegentlich führt dies auch zu nicht erklärbarem,       oder auslösen kann.
     aggressivem Verhalten des Betroffenen. Menschen
     mit depressiver Struktur ziehen sich eher aus sozi-      Behandlung und Prognose
     alen Kontakten zurück. Insgesamt fällt der Betroffene    Bei der Schizophrenie steht die medikamentöse
     mehr und mehr durch das Nachlassen seiner Arbeits-       ­Behandlung mit Neuroleptika im Vordergrund der
     leistungen und durch Veränderung seines Verhaltens        Therapie. Die Medikamente lindern die Symptome
     auf, das krankheitsbedingt seiner willkürlichen Steu-     und erleichtern die weitere Begleitung und Behand-
     erung entzogen ist.                                       lung der Erkrankung.

     Bei einem frühzeitigen Erkennen von Frühwarnsig-         Eine psychotherapeutische Behandlung als unter-
     nalen kann eine Verschlimmerung verhindert bzw.          stützende Therapie versucht das Selbstbewusstsein
     einem Rückfall vorgebeugt werden.                        des Betroffenen zu stabilisieren und die Persönlich-
                                                              keit zu stärken. Auch die von den Ärzten verordnete
     Ursachen                                                 Soziotherapie als „Hilfe zur Selbsthilfe“ spielt bei der
     Die Ursachen der Schizophrenie sind bis heute un-        Behandlung der Schizophrenie eine wichtige Rolle.
     geklärt. Wie bei anderen psychischen Erkrankungen
     kommt zu einer vermuteten angeborenen Verletz-           Eine Schizophrenie verläuft häufig in mehreren
     lichkeit und einer besonderen Sensibilität eine ge-      ­Episoden, wobei sie bei einem Drittel der Erkrankten
     netische Disposition hinzu. Es ist bekannt, dass Schi-    nur einmalig auftritt. Bei zwei Dritteln der Betrof-
     zophrenie familiär gehäuft auftreten kann. Weiterhin      fenen treten mehrmalige Episoden mit bleibenden
     spielen biochemische Einflüsse eine Rolle, man ver-       Beeinträchtigungen auf. Die Krankheit kann aber
     mutet eine Stoffwechselstörung im Gehirn. Beim            aufgrund des therapeutischen Fortschrittes der letz-
     Ungleichgewicht bestimmter infomationsleitender           ten Jahrzehnte heute vielfach gut behandelt wer-
     Botenstoffe (wie z. B. Dopamin, Serotonin, Gluta-         den.
     mat) kann eine Schizophrenie auftreten. Auch psy-
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben   21
22

     Psychische Erkrankung und
     Suchterkrankungen

     Suchtprobleme und psychische Erkrankungen von          ken. Beachtet werden sollte auch die Tatsache, dass
     Mitarbeitern haben wesentliche Auswirkungen auf        Suchterkrankungen häufig in Verbindung mit einer
     die Arbeitsleistung, die Produktivität und das Be-     psychischen Erkrankung auftreten und psychische
     triebsklima. Heute begegnen viele Unternehmen          Erkrankungen ebenso häufig begleitet werden von
     der Alkoholerkrankung bereits erfolgreich mit Auf-     Suchtmittelgebrauch.
     klärungskampagnen, der Ausbildung von betriebli-
     chen Suchtberatern und Betriebsvereinbarungen.         Beiden Krankheitsbildern ist eine Wesens- und Leis-
                                                            tungsveränderung der Betroffenen gemeinsam, die
     Die nicht suchtbedingten psychischen Erkrankungen      von Kollegen bzw. Vorgesetzten angesprochen wer-
     sind in den Betrieben heute auf dem Vormarsch und      den muss. Von Seiten des Betriebes ist es wichtig,
     es steht zu befürchten, dass sie zukünftig zahlenmä-   die Bereitschaft zur Unterstützung, zur partnerschaft-
     ßig die durch Alkohol bedingten Störungen überstei-    lichen Hilfe auszudrücken, sowohl durch Vorgesetzte
     gen werden. Bei Mitarbeitern, die Minderleistungen     als auch durch betriebliche Helfer. In den meisten
     oder auffällige Verhaltensweisen zeigen, ist also      Betrieben steht den Vorgesetzten ein gestufter Inter-
     immer auch an den Beginn einer seelischen Krise        ventionsplan für den Umgang von Beschäftigten mit
     und nicht allein an Suchtmittelmissbrauch zu den-      Suchtproblemen zur Verfügung.
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Gemeinsamkeiten von psychischen
Erkrankungen

Die Ursachen für fast alle psychischen Erkrankungen      lanten“ und „Drückeberger“ beschimpft zu werden.
sind unklar, es wird das Vulnerabilitäts-Stress-Modell   Dies führt häufig zum Verschweigen oder Leugnen
(besondere Verletzlichkeit in Verbindung mit Stress)     von Krankheitssymptomen und in Folge zu einer zu
im Zusammenwirken mit genetischen sowie bioche-          späten Behandlung und einer Verschlimmerung der
mischen und psychosozialen Einflussfaktoren disku-       Krankheit. Fast alle psychischen Erkrankungen ha-
tiert. Psychische Erkrankungen lösen häufig starke       ben gemeinsam, dass die Betroffenen zeitweilig nur
Ängste und Unsicherheiten aus, sowohl bei den Be-        noch eingeschränkt ihre sozialen Rollen wahrneh-
troffenen selbst als auch bei den Vorgesetzten und       men können, z. B. in der Familie, im Betrieb oder im
Kollegen, die Veränderungen in der Persönlichkeit,       Freundeskreis und die an sie gestellten Erwartungen
im Verhalten und in der Leistungsfähigkeit des be-       nicht mehr erfüllen. Die betroffenen Menschen sind
troffenen Mitarbeiters wahrnehmen.                       in ihrer Persönlichkeit plötzlich verändert und ver-
                                                         halten sich anders als vorher, ohne dass das Umfeld
Dazu kommt bei den Kranken die Angst, sich im            dafür eine Erklärung findet. Dies wird von der Umge-
Kollegen- und Freundeskreis zu „outen“. Sie schä-        bung häufig zusammengefasst mit der Bemerkung
men sich ihrer Krankheit und befürchten, als „Simu-      „der/ die Person ist aber komisch geworden.“

 Zusammenfassung

    eder Mensch kann psychisch krank werden, genauso wie jeder Mensch auch körperlich erkranken
   J
   kann.

   Psychische Erkrankungen können in jedem Unternehmen, in jeder Branche vorkommen.

   Die Zahl der seelischen Erkrankungen steigt dramatisch an.

    s gibt keine eindeutigen Ursachen für psychische Erkrankungen, sondern es wirken verschiedene
   E
   Faktoren zusammen.

    sychische Erkrankungen sind behandelbar, genauso wie körperliche Erkrankungen behandelbar sind.
   P
   Je früher eine Therapie beginnt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankung nicht
   chronisch wird.

    ntgegen vielen Vorurteilen sind seelisch Erkrankte nicht geistig behindert, sondern normal intelligent.
   E
   Sie verfügen häufig über ein sehr kreatives Potential und sind sehr sensible Menschen. Unter einer
   psychischen Erkrankung kann es allerdings vorkommen, dass die Fähigkeit, das intellektuelle Potential
   zu aktivieren, gemindert ist.
24

     Erkennen einer psychischen Erkrankung
     im Arbeitsumfeld

     Zeigt ein Mitarbeiter auffällige Wesens-, Verhaltens-,   A. seinen Schreibtisch schon immer fast „zwang-
     und Leistungsveränderungen, ohne dass für Au-            haft“ aufgeräumt verlässt, so ist dies „normal“. Für
     ßenstehende ein erkennbarer Grund vorliegt, muss         Herrn B. wäre es „unnormal“, ist er doch seit Jahren
     an den Beginn einer psychischen Krankheit gedacht        als „Sonderfall“ in der Firma dafür bekannt, dass er
     werden. Hierbei ist zwischen einer Befindlichkeitsstö-   seinen Schreibtisch chaotisch verlässt. Doch selbst
     rung („nicht-so-gut-drauf-sein“), die jeder Mensch       ein einmaliges „sich anders Verhalten“ ist natürlich
     kennt und zwischen einer behandlungsbedürftigen          kein Grund, bei Herrn B. eine psychische Krise zu
     Erkrankung zu unterscheiden. Für Außenstehende ist       vermuten, denn nicht jede Veränderung eines Men-
     diese Entwicklung nur schwer zu erkennen und häu-        schen oder verändertes Verhalten, auch wenn dieses
     fig unklar, ob das veränderte Verhalten auf eine psy-    auf den ersten Blick ungewohnt und merkwürdig er-
     chische Erkrankung zurückzuführen ist und der Be-        scheint, ist gleich psychiatrisch relevant. Auch haben
     troffene sich nicht wie „früher“ verhalten kann, oder    psychische Erkrankungen zunächst nicht zwingend
     ob das veränderte Verhalten die Folge mangelnden         eine Leistungseinschränkung zur Folge. Verände-
     Wollens ist. Zudem hat jede Erkrankung ihre individu-    rungen im Leistungsbereich können natürlich völlig
     elle Ausprägung mit einem individuellen Symptom-         unabhängig von einer psychischen Erkrankung auf-
     bild, ähnlich wie dies z. B. bei einem Blutdruckleiden   treten und eine andere Ursache haben. Ob es sich
     oder anderen körperlichen Erkrankungen der Fall ist.     bei den Veränderungen eines Mitarbeiters um eine
     Die Vorstellung, an einer psychischen Erkrankung zu      vorübergehende Situation oder den Beginn einer Er-
     leiden, ist zudem für viele Menschen so angstbesetzt,    krankung handelt, kann selbstverständlich nur von
     erschreckend und beunruhigend, dass selbst bei of-       einem Arzt und nicht von Vorgesetzten oder von Kol-
     fensichtlicher Symptomatik die Krankheitseinsicht        legen beurteilt werden.
     nur schwer einsetzt. Viele Signale werden als „Cha-
     raktereigenschaft“ interpretiert, auch verharmlost,      Erst fortgesetzte, über Wochen sich hinziehende Än-
     sowohl von den Betroffenen selbst wie vom Umfeld         derungen in der Persönlichkeit, zusammen mit vie-
     als „normales“, vielleicht etwas skurriles Verhalten     len anderen Leistungs-, Wesens-, und Verhaltensän-
     bewertet.                                                derungen sollten an den Beginn einer psychischen
                                                              Beeinträchtigung denken lassen. Zusammengefasst
     Um beurteilen zu können, ob einzelne Verhaltens-         gehören im Arbeitsalltag neben den bei der Depres-
     weisen nicht Ausdruck eines individuellen Charak-        sion, den Angsterkrankungen und den Schizophre-
     ters sind, ist es wichtig, die Persönlichkeit des Men-   nien angeführten Symptomen nachfolgende Funk-
     schen im Gesamtkontext und über einen längeren           tionseinbußen zu den Veränderungen bei psychisch
     Zeitraum zu sehen. Kennt jemand einen Menschen           instabilen Mitarbeitern:
     nur kurz, kann er nicht beurteilen, welche Eigenar-
     ten zur Persönlichkeit gehören oder was Ausdruck
     einer wesensmäßigen Veränderung ist. Wenn Herr
Erkennen einer psychischen Erkrankung im Arbeitsumfeld                                                   25

 bwohl die fachlichen Fähigkeiten vorhanden sind,
O                                                      nungen und Sorgen in den Kollegenkreis zu tra-
kommt es durch das Nachlassen der Konzentrati-         gen. Dies führt vermehrt zu Konflikten innerhalb
on und Merkfähigkeit zu Leistungseinbußen und          von Teams. Die psychisch instabilen Personen
verringertem Arbeitsvolumen. Die Betroffenen           geraten schnell in die Rolle von Querulanten
arbeiten langsamer, sie können Informationen           oder gelten als schwierige Mitarbeiter. Die Fä-
nicht mehr so schnell verarbeiten, kontrollieren       higkeit auf die Konflikte einzugehen und flexibel
ihre Arbeit häufiger und geraten eher in Zeit- und     auf kommunikative Anforderungen zu reagieren,
Termindruck.                                           kann ebenfalls eingeschränkt sein.

 or allem die Veränderungen im Sozialverhalten
V                                                       ie Kritikfähigkeit ist insofern herabgesetzt, als das
                                                       D
werden für Vorgesetzte und Kollegen, aber auch         Kritisieren der Arbeitsleistung oder des Verhaltens
für die Betroffenen selbst, im Arbeitsalltag schnell   häufig als persönliche Abwertung oder Angriff
zum Problem. Sie nehmen die beginnenden per-           empfunden wird.
sönlichen Veränderungen bei sich selbst wahr,
sind durch die auftretenden Symptome häufig             as Selbstvertrauen ist bei fast allen psychischen
                                                       D
beunruhigt und durch die zunehmende Verunsi-           Erkrankungen eingeschränkt. Dadurch findet eine
cherung ziehen sich manche Betroffenen komplett        Vermeidung von Anforderungen und Belastung
aus dem sozialen Leben zurück. Bei anderen Be-         statt, es wird weniger Leistung erbracht, wodurch
einträchtigten kommt es im Kollegenkontakt eher        das Selbstvertrauen weiter verringert wird, bis hin
zu gereiztem und ungeduldigem Verhalten und            zum völligen Verlust der Selbstachtung (Negativ-
die Betroffenen neigen dazu, die inneren Span-         kreislauf).
26
Was tun? – Das „H-I-L-F-E Konzept“ für Unternehmen                                                27

Was tun? – Das „H-I-L-F-E Konzept“
für Unternehmen

Besteht der Verdacht, dass ein Mitarbeiter psychisch     se vor eine noch größere Herausforderung als ein
instabil ist, erfährt ein Vorgesetzter davon und sieht   alkoholkranker Mitarbeiter. Von diesem kann der
er eine unerklärbare, schon länger andauernde            Vorgesetzte klar verlangen, dass der Betroffene den
Veränderung bei dem Mitarbeiter, so ist es für den       Missbrauch einstellt und sich in fachliche Behand-
Vorgesetzten sinnvoll, Handlungsschritte nach dem        lung begibt. Dies muss er auch bei einem Mitarbeiter
„H-I-L-F-E Konzept“ in Gang zu setzen. Das „H-I-L-F-E    in andauernder psychischer Krisensituation verlan-
Konzept“ als ein Ergebnis des Kooperationsprojek-        gen, doch der Betroffene kann seine Krankheit nicht
tes der Familien-Selbsthilfe Psychiatrie (BApK e. V)     einfach „einstellen“.
mit dem BKK Bundesverband ist angelehnt an die
Stufenintervention für den Umgang mit Suchter-            Um hier Unterstützung zu bieten, hat die Selbst­hilfe
krankungen. Sein Ziel ist, als Handlungsleitfaden         auf der Grundlage des „H-I-L-F-E Konzepts“ die
erste Orientierung für Gespräche mit Beschäftigten       ­Informations- und Schulungsseminare für Führungs-
mit einer psychischen Störung zu bieten. Analog           kräfte entwickelt, die mit Angehörigen von psychisch
der Stufenintervention findet bei Auffälligkeiten ei-     Kranken als Gesundheitsbeauftragten in den Unter­
nes Mitarbeiters zunächst ein Vier-Augen-Gespräch         nehmen durchgeführt werden. (Kontaktadresse
des Vorgesetzten mit dem Betroffenen statt. Bei           S. 41)
weiteren Gesprächen werden – wie im Stufenplan
„Sucht“ – in Absprache mit dem Betroffenen die           Der Stufenplan aus dem Bereich der Suchterkran-
betrieblichen Helfer wie Betriebs- oder Personalrat,     kungen findet seit langem seinen Ausdruck in Be-
Betriebsarzt oder Schwerbehindertenvertretung hin-       triebsvereinbarungen vieler Unternehmen für den
zugezogen.                                               Umgang mit ihren suchtkranken Mitarbeitern. Wün-
                                                         schenswert ist es, dass die Unternehmen ebenfalls
Der Umgang mit einem Mitarbeiter in einer psychi-        eine Betriebsvereinbarung für den Umgang mit psy-
schen Krise stellt den Vorgesetzten möglicherwei-        chischen Erkrankungen abschließen.

  1. H insehen
  2. I nitiative ergreifen
  3. L eitungsfunktion wahrnehmen
  4. F ührungsverantwortung: Fördern – Fordern
  5. E xperten hinzuziehen
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