Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps

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nr-Dossier 5

Die gedopte Realität:
Scripted Reality und neue Doku-Soaps
Dokumentation des MainzerMedienDisputs Berlin vom 5. Oktober 2010
nr-Dossier 5                                            Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps

Inhalt

Transkript des Mediendisputs Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku Soaps                         3

Pressespiegel                                                                                                 19

„Sozialporno mit Kondom“                                                                                      19

ARD läuft Sturm gegen „Scripted Reality“                                                                      19

"Casting ist Sozialporno statt Lebenshilfe"                                                                   19

ARD liebäugelt mit Scripted Reality                                                                           19

Sozial-Porno: Gegner formieren sich gegen Scripted Reality                                                    20

Fast ein klassisches Drama                                                                                    20

Impressum                                                                                                     23

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Transkript des Mediendisputs
Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku Soaps
Willkommen in der Welt des pseudo-                   Interesse und ich hoffe, dass wir das Thema
dokumentarischen Brüllfernsehens: Konflikte          „Die gedopte Realität. Scripted Reality und neue
wie "Nachbarin terrorisiert Familie", "14jährige     Doku-Soaps“ interessant debattieren können.
Tochter schwanger", "Prügelnder Vater ist Trin-      Wir wollen zu Beginn über die klassische Scrip-
ker" sind der tägliche Stoff für Scripted-Reality-   ted Reality sprechen und später auch über echte
Formate. "Familien im Brennpunkt", "Verdachts-       Dokumentationen, weil wir hier mit Andreas
fälle" oder "Die Schulermittler" aus der Werkstatt   Veiel einen renommierten Dokumentarfilmer
der Privaten überschwemmen die Kanäle und            haben. Sie werden am Ende Gelegenheit haben,
erzielen Traumquoten. Es wird gekreischt, ge-        Fragen zu stellen – sofern Sie möchten.
zankt, gepöbelt - alles perfekt gegen Gage und
                                                     Zum Auftakt möchte ich von unseren Gästen
nach Drehbuch inszeniert.
                                                     wissen, wie sie Scripted Reality definieren. Frau
Denn was echt wirken soll, ist nur ein Fake! Mit     Löschburg, Sie sind Geschäftsführerin der Firma
fiktiven Geschichten, die von Laiendarstellern       Me, Myself & Eye, MME, und produzieren zahlrei-
gespielt und im Stil des Dokumentarfilms prä-        che Reality-Show-Formate. Was verstehen Sie
sentiert werden, wollen die Macher dieser For-       unter Scripted Reality?
mate beim Zuschauer Realität suggerieren und
                                                     Katrin Löschburg: Die Scripted-Reality-Formate
mit angeblich authentischen Protagonisten
                                                     laufen im Privatfersehen am Nachmittag sehr
trumpfen.                                            erfolgreich. Es sind Geschichten, die so daher
Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Inszenie-      kommen, als wären sie real. Es sieht aus, als ob
rung verschwimmen. Ein Trend, der sich auch bei      reale Menschen aus ihrem Leben Geschichten
Doku Soaps, vermeintlich wahren Geschichten          erzählen. Es sind Menschen, die auch hier im
mit echten Betroffenen, zeigt: Auch hier bestim-     Raum sitzen könnten. Doch wenn man genau
men Regisseure zunehmend die "Realität". Was         hinsieht, stellt man fest, dass diese sehr real
ist also noch echt? Und was ist die totale Insze-    wirkenden Menschen nach einem Drehbuch
nierung? Wie beeinflussen die neuen Erfolgsfor-      spielen. Die Geschichten sind also inszeniert.
mate die Programmpolitik der öffentlich-
                                                     Leif: Herr Beckmann, Sie als Programmdirektor
rechtlichen Konkurrenz? Werden die ohnehin
                                                     schmunzeln schon ein bisschen. Was ist aus
raren hochwertigen Dokumentationen und Re-
                                                     Ihrer Sicht die Definition?
portagen in ARD und ZDF, wie "betrifft" (SWR),
"45.00" (NDR), "die story" (WDR), "37o" (ZDF),       Frank Beckmann: Ich bezweifle ganz stark, dass
von diesem Trend beeinflusst? Was ist künftig        irgendjemand, der bei Scripted Reality mitma-
noch echt im TV?                                     chen würde, hier in diesem Raum säße.
                                                     (Gelächter) (Applaus)
Darüber diskutierten am 5. Oktober beim Main-        Bei Scripted Reality versucht man, eine Realität
zer Mediendisput in Berlin:                          abzubilden, die keine Realität ist. Es ist eine
                                                     Scheinrealität. Da werden Milieus vorgeführt.
Frank Beckmann, Programmdirektor NDR
                                                     Scripted Reality ist im übrigen nichts, was man
Prof. Carl Bergengruen - Spielfilmchef SWR;          fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen machen
künftig Leiter Studio Hamburg                        könnte, jedenfalls nicht in der Form, in der das
                                                     bei RTL im Moment Quoten bringt.
Kathrin Löschburg, Geschäftsführerin der Pro-
duktionsfirma MME                                    Leif: Das ist eine steile These zur Definition. Herr
                                                     Professor Bergengruen, Sie sind Fernsehfilmchef
Prof. Dr. Bernhard Pörksen, Professor für Me-
dienwissenschaft an der Universität Tübingen,        beim SWR. Wie definieren Sie Scripted Reality?
Herausgeber des Buches: "Die Casting-                Prof. Dr. Carl Bergengruen: Fiktion im Fernsehen
Gesellschaft"                                        und im Kino bildet seit jeher die Wirklichkeit ab
                                                     und inszeniert sie zugleich. Der einzige Unter-
Andres Veiel, Regisseur und Dokumentarfilmer
                                                     schied ist, dass man das bisher immer offen
u.a. von "Black Box BRD" und "Der Kick"
                                                     gelegt hat. Die Scripted-Reality-Formate hinge-
Moderation: Prof. Dr. Thomas Leif (1. Vorsitzen-     gen wirken von ihrer ganzen Machart wie Doku-
der netzwerk recherche, www.2plusleif.de)            mentationen, aber in Wirklichkeit spielen da
                                                     Laiendarsteller. Das ist das Neue daran.

Prof. Dr. Thomas Leif: Guten Abend, meine Da-        Leif: Herr Veiel, Ihre Vision von Scripted Reality?
men und Herren, schön, dass Sie zum Medien-          Andres Veiel: Sie bewegt sich in einer Grauzone,
Disput hier nach Berlin gekommen sind. Wir sind      die so trennscharf gar nicht zu machen ist. Es ist
über die Resonanz positiv überrascht. Die Refe-      nicht neu, eine Plot-Point-getriebene Geschich-
rentinnen und Referenten rechtfertigen sicher Ihr

                                                                                                         3/23
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ten zu entwickeln, Wirklichkeit zurechtzubiegen,     lieber Speedboot fahren und ich, ich wäre so was
so dass Cliffhanger und bestimmte Spannungs-         wie eine abgetakelte Fregatte. Also geht’s noch?
bögen entstehen. Die spannende Frage ist, wo
                                                     Sprecher: Nun aber hat es endlich wieder ge-
die Verführbarkeit des Publikum ist und warum
                                                     funkt. Vor drei Wochen stellt die Verkäuferin ih-
das so gut funktioniert.                             ren Kindern den 12 Jahre jüngeren Sascha vor.
Mein Sohn ist 12 Jahre alt und er guckt sich die-    Tochter Eileen ist skeptisch.
se Formate an. Ich habe ihn heute Nachmittag
                                                     Eileen: Der Typ ist der Aufreißer vor dem Herrn.
noch gefragt, warum er sich das ansieht. Es fasz-
                                                     Der gräbt alles an, was nicht bei Drei auf den
niert ihn schlicht. Er weiß sehr genau, dass die
                                                     Bäumen ist. Und meine Mutter ist aber so ver-
Storys inszeniert sind. Hier wird Wirklichkeit       knallt, die merkt das einfach nicht. Der will sich
nicht nur frisiert, hier arbeiten die Produzenten
                                                     nur aushalten lassen, aber sie fällt drauf rein.
mit einem Kick-Prinzip. In jeder Szene sind Plot
Points, jede Szene wird hoch getrieben wie in        Freund: Melanie ist meine Traumfrau und es ist
einem Durchlauferhitzer. Das heißt, ich bekom-       mir wirklich scheißegal, ob sie älter ist, ob sie
me in jeder Szene einen Konflikt geboten, der        zwei Kinder hat. Und für mich kommt’s nur auf
ausagiert wird, der vorangetrieben wird, der ge-     die inneren Werte an. Also sie ist einfach mein
tuned ist. Damit fehlt die Ambivalenz, die es in     Goldstück.
authentischen Stoffen gibt. Diese Scripted Reali-    Melanie: Der hätte ja jede andere haben können.
ty-Formate sind der Tod von Ambivalenz, der Tod      Und, ja, da es jetzt so ist und wir sind zusammen,
von Zwischentönen. Es ist alles sehr schnell klar,   lasse ich mir das auch von keinem kaputt reden.
weil die gesamte Handlung auf diese dramatur-
gischen Höhepunkte zugetrieben wird.                 Sprecher: Die allein erziehende Mutter tut alles,
                                                     um ihren neuen Freund glücklich zu machen.
Zwei Fragen sind wichtig: Warum funktioniert         Dazu gehören auch kostspielige Geschenke,
dieses Konzept so gut beim Publikum? Und:            denn der Fitnesstrainer ist chronisch pleite.
Wirkt sich die Machart dieser Formate gewisser-
maßen durch die Hintertür schleichend auf do-        Eileen: Der Hohlkopf braucht nur mit dem Finger
kumentarische Formate aus, gibt es hier eine         auf was zu zeigen, dann kauft Mama ihm das.
Anfälligkeit?                                        Jetzt hat sie ihm eine Uhr für 220 Euro geschenkt.
                                                     So was kriegen ich und mein Bruder noch nicht
Leif: Dankeschön, darüber werden wir noch dis-       mal zu Weihnachten.
kutieren. Zunächst Herr Professor Pörksen, wie
definieren Sie Scripted Reality?                     Kleiner Bruder: Der tolle Sascha kriegt immer
                                                     alles. Das finde ich voll gemein.
Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Es ist ein Phänomen
der Hybridisierung, ein versuchter Publikumsbe-      Ende MAZ
trug mit massiven Folgen für das zentrale Kapital
von Massenmedien insgesamt. Denn ihre
Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in sie stehen      Leif: Das war’s, glaube ich, und das reicht auch,
dabei auf dem Spiel.                                 das Muster, was Sie gesehen haben, ist wirklich
                                                     typisch. Frau Löschburg, nach welcher Linie stri-
Leif: Danke. (ans Publikum:) Damit Sie einen         cken Sie diese Geschichten?
kleinen visuellen Eindruck bekommen – sofern
Sie diese vielen Serien nicht kennen, die mit        Löschburg: Jetzt muss ich natürlich sagen, dass
dreißigprozentiger Quote am Nachmittag laufen        ich persönlich solche Formate nicht produziere.
– wird Ihnen Frau Klotsikas, die diese Veranstal-    Die MME gehört zu einer großen Holding. Unsere
tung auch vorbereitet hat, einen kleinen Aus-        Schwesterfirma, die Filmpool, produziert diese
schnitt zeigen. Wir haben die Veranstaltung „ge-     Formate. Das heißt, ich könnte jetzt nur für das
dopte Realität“ genannt. Ich hielt dies für einen    sprechen, was ich mache. Ich produziere zum
schönen Begriff, den wir erfunden haben. Heute       Beispiel die Sendung „Bauer sucht Frau“.
sah ich Kabel1 und der Claim für den Sender          Leif: Was ist das dramaturgische Prinzip, mit
hieß: „Doping fürs Auge“. Da sehen Sie, wie          dem Sie arbeiten?
schnell man sich täuschen kann.
                                                     Löschburg: Das dramaturgische Prinzip hat And-
                                                     res Veiel gerade großartig beschrieben: Es wird
MAZ:                                                 zugespitzt. Das Ganze ist soapig. Ansonsten
                                                     werden da nicht Menschen auf etwas getrimmt,
Sprecher: Am Stadtrand von Düsseldorf wohnt          sondern es gibt Kleindarsteller. Das sind reale
Familie Kästner. Seit Vater Jens vor zwei Jahren     Menschen, die Lust haben, in so einem Format
ausgezogen ist, leben die 17-jährige Eileen und      mitzuspielen und die nach einem Drehbuch agie-
der 10-jährige Jonas alleine mit ihrer Mutter. Die   ren. Es ist gescripted, es ist geschrieben. Es ist
Scheidung ist an Melanie nicht spurlos vorbei-       etwas, das behauptet, Realität zu sein, aber
gegangen. Die 37-Jährige ist verbittert.             geschrieben wird.
Melanie: Also nach 15 Ehejahren hat der Jens         Leif: Und welche Rolle sollen die Menschen spie-
mich einfach so gegen eine 22-Jährige ausge-         len? In welche Richtung soll das gehen?
tauscht. Und dann sagt der noch zu mir, er würde

                                                                                                         4/23
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Löschburg: Die Menschen agieren wie Schau-          die eben nicht so in dieser Gesellschaft vor-
spieler in einem fiktionalen Film.                  kommen, jedenfalls nicht jeden Nachmittag vier
                                                    Stunden lang!
Leif: Herr Beckmann, sehen Sie das auch so?
Beckmann: Ich sehe es nicht ganz so, denn ich       Veiel: Ich möchte kurz reagieren. Betrachten wir
                                                    das Phänomen ganz nüchtern: Es geht hier dar-
gucke mir natürlich immer an, wo das herge-
                                                    um, mit möglichst wenig Geld – ich glaube, der
kommen ist, weil es für mich üblich war, doku-
                                                    Etat ist 30.000 Euro – schlicht Sendezeit zu fül-
mentarisch zu arbeiten. Auch bei „Bauer sucht
                                                    len, um eine optimale Produktverkäuflichkeit zu
Frau“ wird teilweise gescripted. Das heißt, man
                                                    erzielen. Das funktioniert und das muss man
bringt die Menschen in bestimmte Situationen.
Wir haben es zum Beispiel bei der Sendung           ganz nüchtern festhalten. Der Marktanteil ist ja
                                                    sehr hoch. Es wird von sehr vielen Menschen
„Frauentausch“ gehabt, wo die Leute feststell-
                                                    gesehen. Die Folge, und da gebe ich Ihnen erst
ten, dass das Kamerateam nicht die Geschichte
                                                    mal Recht, ist natürlich, dass sich diese Sehge-
erzählen wollten, die sie am Anfang angekündigt
                                                    wohnheiten auf andere dokumentarische Forma-
haben. Sie wollten eigentlich Müll filmen, sie
                                                    te niederschlagen. Aber Dokumentationen arbei-
wollten das Abgründige filmen. Aber das war
genau das, was die Leute eben nicht zeigen woll-    ten mit Ambivalenzen, da wird nicht alles sofort
                                                    so hoch getuned. Die Folge ist, dass die Men-
ten, weil es auch nicht das war, wofür diese Leu-
                                                    schen bei Dokumentationen sofort weiter schal-
te standen. Einige Akteure haben dann versucht,
                                                    ten, weil es eben nicht knallt, weil der Konflikt
die Dreharbeiten oder zumindest die Ausstrah-
                                                    nicht in den ersten zwei Minuten kommt. Die
lung zu verhindern. Also hat RTL II, bei dem das
                                                    Scripted-Reality-Formate zerstören also die Seh-
Format läuft, die Teilnehmer mit einem Vertrag
so weit gezwungen, dass die Ausstrahlung nicht      gewohnheiten. Und wir können es nicht verbie-
                                                    ten. Aber – und da bin ich wieder bei meinem
verhindert werden kann. Das finde ich hoch
                                                    12jährigen Sohn – ich glaube, dass wir uns of-
problematisch, fast skandalös.
                                                    fensiv damit auseinander setzen müssen. Man
Irgendwann hat man festgestellt, dass sich im-      müsste diese Diskussion in die Schulen rein-
mer weniger Menschen für diese Formate finden       bringen und dafür sorgen muss, dass die Neu-
lassen. Gleichzeitig brauchen die Produzenten,      gierde an Dokumentationen wieder erzeugt wird.
um immer den Thrill zu erhöhen, immer schlim-
                                                    Leif: Herr Bergengruen, wie schätzen Sie das ein?
mere Schicksale, eine immer größere Abwärts-
spirale. Also ist man dazu übergegangen, gar        Bergengruen: Ich würde mich Andres Veiel an-
keine realen Menschen mehr zu suchen, denn          schließen, dass Scripted Reality bestehende
die findet man gar nicht mehr in der Form, wie      Formate und Erzählweisen verdrängen kann.
man sie braucht. Man hat daraus Scripting ge-       Man kann dies sogar ganz konkret belegen. Arte
macht. Geschichten, die man erfindet und von        hat vor sieben, acht Jahren – bevor diese Forma-
denen man so tut, als seien sie echt.               te kamen – eine eigene Schiene für Doku-Soaps
                                                    gehabt. Sie beschäftigte sich mit spannenden
Für mich ist das etwas, das man ablehnen sollte
                                                    Themen, die dem gar nicht so unähnlich waren,
und als Problem brandmarken. Übrigens, Herr
Veiel, Ihr Sohn mit seinen 12 Jahren sollte diese   was die Privaten heute machen. Es ging um
                                                    Themen wie Adoption oder Abnehmen. Arte hat
Formate nicht sehen. Das sage ich Ihnen als alter
                                                    es auf eine Weise erzählt, die nicht voyeuristisch
Kinderkanalchef. Diese Formate sind für Kinder
                                                    war, aber der Sender hat diese Schiene komplett
nicht geeignet. Meine Lieblingsszene ist, dass
                                                    aufgegeben. Die Öffentlich-Rechtlichen geben
man da nachmittags – nachmittags! – einen halb
                                                    solche Formate insgesamt auf. Denn wenn sie
nackten Menschen hat, der sich mit Spaghetti
überwirft, was dann seine Frau von ihm ab-          nicht so auf die Tube drücken, funktionieren
                                                    solche Sendungen beim Publikum heute nicht
schleckt, weil sie das irgendwie erotisch findet.
                                                    mehr. Andere derzeitige Sendungen, die den
Das ist eine Szene, die ich so dargestellt gese-
                                                    Voyeurismus bedienen und ihre Themen sehr
hen habe. Ich glaube nicht, dass das Filme sind,
                                                    stark zuspitzen, verändern nämlich den Publi-
die für 12-Jährige geeignet sind.
                                                    kumsgeschmack. Die Öffentlich-Rechtlichen
Leif: Herr Beckmann, aber warum brandmarken?        können und dürfen aber so etwas mit Gebühren-
Was regt Sie an dieser Art der Darstellung der      geldern nicht finanzieren.
Menschen so auf?
                                                    Dennoch muss man festhalten, dass es dieses
Beckmann: Dass sein Sohn mit 12 Jahren das          voyeuristische Bedürfnis bei den Menschen gibt.
anguckt. Das regt mich auf.                         Deswegen ist es sogar legitim, dass ein Fern-
(Durcheinanderreden) (Gelächter)                    sehmarkt solche Sendungen produziert. Nur die
                                                    Öffentlich-Rechtlichen sollten es nicht tun.
Und es regt mich auf, dass wir eine Abwärtsspi-
rale haben. Diese Suche nach dem permanenten        Wir sind derzeit also in der Klemme, das kann
Abgrund, das ist das, was ich ganz schwierig        man wirklich so sagen. Wie können wir doku-
finde. Und wenn man es in der Realität nicht        mentarische Formate anbieten, die auf Scripted-
mehr findet, nimmt man das Etikett Doku. Es         Reality-Elemente verzichten und dennoch erfolg-
sieht aus wie Realität. Aber es werden Geschich-    reich sind? Im Moment suchen wir noch nach
ten erzählt, die eben nicht mehr wahr sind und      Lösungen. In der ARD funktionieren im Moment

                                                                                                        5/23
nr-Dossier 5                                             Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps

noch diese Tiergeschichten am Nachmittag, „Af-          hatte einen Freund türkischer Abstammung, und
fe, Eisbär & Co“ und andere. Sie kommen ohne            zum Schluss ging der Vater nach vielen Brülle-
solche Mittel aus. Die Doku-Soaps der normalen          reien zur türkischen Familie und sagte, er will
Machart, ohne Tiergeschichten, haben es in              20.000 Euro, wenn die Tochter heiraten soll. Das
Konkurrenz gegen die Scripted-Reality-Formate           war der Plot Point. Das ist eine diskriminierende,
beim Publikum eher schwerer.                            unterschwellige Stofffüllung, die problematisch
                                                        ist, oder?
Leif: Das könnte man ja als Luxusproblem des
öffentlich-rechtlichen Systems definieren. Man          Löschburg: Es ist zugespitzt, das ist richtig. Aber
könnte ja die Mittel der Scipted-Reality-Formate        jeder hat doch eine Fernbedienung und kann
ebenfalls nutzen, vielleicht wäre das eine Chan-        entweder weiterzappen oder die Kiste ausma-
ce? Das diskutieren wir später noch. Zunächst           chen. Manchmal, wenn ich das so höre, und ich
möchte ich von Ihnen, Herr Pörksen, wissen, ist         höre Ihnen gerade zu, dann denke ich: Man kann
es nur der Voyeurismus, der zu beklagen ist?            sich halt sein Publikum auch nicht wählen. Ent-
                                                        weder hat man Zuschauer oder man hat keine.
Pörksen: Es gibt zwei Großtrends in der Medien-
                                                        Und da muss man einfach eine Entscheidung
gesellschaft, die sich wechselseitig bedingen
und in eine Art symmetrische Eskalation einge-          treffen.
treten sind. Das eine ist tatsächlich der Voyeu-        Leif: Und die Entscheidung, dass die Reizspirale
rismus auf der Seite des Publikums, das andere          irgendwo ein Ende hätte, könnten Sie sich das
ist der Exhibitionismus großer Teile der Gesell-        vorstellen?
schaft. Beiden Trends reizen sich. Und wenn wir
                                                        Löschburg: Selbstverständlich. Darum sitzen wir
schon in eine Art Erregungsspirale über das For-        hier. Das finde ich auch sehr interessant. Aber
mat eintreten, dann würde ich gerne noch einen
                                                        man muss natürlich auch bedenken, dass diese
Beitrag dazu bringen. Wenn wir etwas aus dieser
                                                        Formate gesehen werden. Es gibt Menschen, die
geschlossenen Anstalt des Fernsehens heraus-
                                                        sehen das richtig gerne, bis zu Herrn Veiels
treten und auf die Gesellschaft gucken, dann
                                                        12jährigen Sohn. Und dann muss man sich na-
sehen wir, dass hier eine Art heimlicher Lehrplan
                                                        türlich auch fragen – das sind ja auch zum Teil
vorliegt. Die Kernfrage ist: Wie kommt man in die       öffentliche Gelder, die dafür benutzt werden –
Medien? Das ist die große Schlüsselfrage, die
                                                        hat man da nicht einen Auftrag? Was macht man
Scripted-Reality-Formate, die Casting-Formate
                                                        mit diesem Geld?
und andere beantworten. Wenn ein Wissen-
schaftler in die Medien will, bietet er scheinbar       Veiel: Ich finde es ganz entscheidend, noch mal
gesichertes Wissen an. Wenn ein Politiker in die        den Unterschied klarzumachen: Sie müssen ein
Medien will, bietet er irgendwie strategisch-           Produkt verkaufen. Die Reality-Shows werden mit
infiltrierte Informationen, idealerweise sind das       wenigen Mitteln produziert und füllen einen Slot,
Neuigkeiten von öffentlicher Relevanz. Was ma-          der dann optimal verkauft wird. Der öffentlich-
chen Leute, die keine Nachrichten, die keine            rechtliche Rundfunk hat einen ganz anderen
gesicherten Neuigkeiten anbieten können? Wie            Auftrag. Die Frage ist die Immunisierung. Wie ist
kommen die in die Medien?                               es möglich, den durch die Reality-Formate ge-
                                                        prägten Sehgewohnheiten etwas entgegenzuset-
Sie bekommen durch Scripted-Reality- und
                                                        zen? Es ist Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen
Casting-Formate eine Antwort. Sie erhalten ein
                                                        hier eine sehr genaue Trennschärfe herzustellen.
Tauschverhältnis angeboten. Und das heißt nicht
Information gegen Publizität, sondern Stupidität,       Leif: Ja, das ist klar. Aber wird nicht in den Pro-
Vulgarität, Intimität, Primitivität gegen Publizität.   grammen auch Asozialität kultiviert?
Dieses Tauschverhältnis – und das ist das, was          Bergengruen: Man muss die einzelnen Pro-
mich eigentlich beschäftigt, wenn ich an meinen         gramme unterscheiden. Es gibt ja ganz verschie-
achtjährigen Sohn denke ...                             dene Scripted-Reality-Formate. Wenn man jetzt
Leif: Sie haben die Punkte genannt: Stupidität          „Rach, der Restauranttester“ nimmt, ist das et-
und Intimität. Was geschieht mit dem Publikum,          was, was amüsant ist und genauso bei den Öf-
das solche Sendungen dauerhaft anschaut?                fentlich-Rechtlichen laufen könnte. Diese Sen-
Welche Verhaltensmuster werden vermittelt?              dung erfüllt bestimmt nicht diese Kriterien, die
                                                        wir hier alle geißeln. Am anderen Ende der Skala
Pörksen: Das Muster oder der Imperator ist: Ver-
                                                        steht für mich eine französische Serie, die hieß
enge dich selbst auf einige wenige Schlüsselrei-
                                                        „Trompe-moi si tu peux!“, also „Betrüge mich,
ze, beispielsweise auf den Schlüsselreiz der
                                                        wenn du kannst!“ Einige von Ihnen werden sie
Aggression, auf den Schlüsselreiz der Offenba-          wahrscheinlich kennen. In der Sendung ging es
rung von Intimem, auf den Schlüsselreiz von
                                                        darum, dass man Paare, die eigentlich glücklich
Sexualität. Am Ende entsteht eine totale Ambiva-
                                                        zusammen waren, vor laufender Kamera im Ver-
lenzfreiheit.
                                                        lauf von Wochen dazu gebracht hat, sich gegen-
Leif: Übertreibung auch?                                seitig zu betrügen. Schließlich kam es dazu,
Pörksen: Ja, absolut.                                   dass ein Teilnehmer Suizid begangen hat, weil er
                                                        damit nicht klargekommen ist. Es war ekelhaft.
Leif: Nehmen wir mal ein Beispiel aus der Sen-          Es war auf der nach unten offenen Geschmacklo-
dung „Familien im Brennpunkt“: Die Tochter              sigkeitsskala wirklich ganz unten. Man muss

                                                                                                            6/23
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also bei jeder Sendung und jedem Format genau        dungen sehen, sondern sie sehen auch andere
differenzieren, mit welchen Mitteln da gearbeitet    Sendungen, die ihnen ein Gesamtbild geben. Die
wird. Auch muss offengelegt werden, wenn es          Frage ist aber trotzdem: Wenn die Dosis und die
sich um eine Fake-Doku handelt. Sehr wichtig ist     Menge bei bestimmten Zielgruppen – das weiß
auch die Frage, wie die Produzenten mit den          man auch – sehr, sehr hoch ist, dann hat das
Protagonisten der Sendung umgehen? Das ist ein       auch eine Auswirkung auf deren Weltbild. Das ist
entscheidendes Kriterium, das mir in unserer         sicher. Das gilt auch in der Medienforschung als
Diskussion viel zu kurz kommt.                       sicher. Es wäre ja geradezu verrückt anzuneh-
                                                     men, dass Fernsehen keine Wirkung hätte, denn
Es geht dabei um ganz zentrale moralische Fra-
                                                     dann müsste jeder Werbetreibende sich darüber
gen: Wird die Menschenwürde derer verletzt, die
da eingeladen werden? Werden diese Menschen          Gedanken machen, warum er Milliarden inves-
                                                     tiert, um Produktideen an den Mann zu bringen.
dazu gebracht, Dinge zu sagen bzw. tun, die sie
                                                     Genauso wie man Produktideen an den Mann
gar nicht tun wollen oder die schlecht für sie
                                                     bringt, bringt man auch Werte an den Zuschauer.
sind? Wie wird ihre Privatsphäre geschützt?
                                                     Das führt am Ende dazu, dass wir über Dinge
Leif: Noch einmal: Wie wirken solche Szenen auf      diskutieren, die wir vielleicht lieber nicht disku-
die Zuschauer? Wie reagieren sie darauf? Werden      tieren möchten.
sie durch das permanente Sehen solcher Sen-
                                                     Leif: Herr Pörksen, sehen Sie diese Sendungen
dungen geprägt?
                                                     auch als stilbildend? Glauben Sie, dass der häu-
Beckmann: Das ist ja fast eine rhetorische Frage.    fige Konsum das eigene Leben verändert, die
Leif: Eigentlich nicht.                              Sicht, die Kommunikationsmuster?

Beckmann: Das, was Sie in die Frage legen, ist ja    Pörksen: Ja, weil man die Imperative der Me-
das, was Sie befürchten. Wenn man täglich vier       diengesellschaft dadurch kennen lernt. Ich frage
Stunden immer das Gleiche sieht, immer wieder        mich, warum in vielen Reality-Dokus neuerdings
auf diesem hohen Aggressionsniveau, dann             Helfer dazu gestellt werden. Da taucht ein Coach
wirkt das natürlich. Ja, Fernsehen wirkt. Fernse-    auf, in der Rolle des Retters. Das hat psychologi-
hen ist ein Leitmedium. Und man kann nicht           sche Gründe. Mit einer Studie kann ich das lei-
behaupten, dass das, was ich jeden Tag vier          der nicht beweisen. Was wir hier vorfinden, ist
Stunden auf den verschiedensten Kanälen sehe,        eine Art Sozialporno, die Verengung auf einige
nicht irgendwann auch Auswirkungen hat auf           wenige Schlüsselreize in der Wahrnehmung. Und
das Zusammenleben, auf das Werteraster dieser        der Rest, der Kontext, die Ambivalenz, das alles
Gesellschaft.                                        interessiert überhaupt nicht mehr. Aber: Ich sehe
                                                     darin fast einen gewissen Hoffnungsschimmer,
Leif: Können Sie das bewerten?                       wenn der Coach in der Rolle als Retter auftaucht.
Beckmann: Herr Leif, ich bin in diesem Punkt         Das zeigt, dass die Privaten diesen Sozialporno
nicht ganz bei Ihnen. Ich sage nicht: Für die Öf-    nicht ohne scheinaufklärerische Unterzeile zu
fentlich-Rechtlichen ist das nichts, die sind so-    zeigen vermögen. Sie haben den Zusatzan-
zusagen für die Qualität zuständig, und die          spruch: „Wir wollen ja helfen, und deswegen
Kommerziellen können sich damit rausreden, sie       zeigen wir...“ Das zeigt ein kleines moralisches
müssten am Ende nur Gewinne erzielen.                Restgewissen.
Ich finde, das ist ein völlig falscher Ansatz. Als   Leif: Aber ist das nicht besonders bigott?
die privaten Sender gegründet wurden, hatten         Pörksen: Das kann man so sehen. Ich sehe es
sie einen Startvorteil. Das setzt voraus, dass       eher als kleinen Hoffnungsschimmer, als ein
man gerade von diesen Sendern verlangen kann,        Zeichen für ein Restgewissen. Und auch als Legi-
dass sie der Gesellschaft zumindest ein Mini-        timation für das Publikum, das gewissermaßen
mum an Qualität garantieren und dass sie nicht       den Sozialporno nicht in der nackten Form gebo-
sagen: Ich stehle mich aus jeder Qualitätsdis-       ten bekommt, sondern mit einer aufklärerischen
kussion, weil ich Shareholder habe. Das geht         Unterzeile.
nicht.
                                                     Leif: Also Sozialporno mit Kondom? Frau Lösch-
Leif: Aber hier geht es ja nicht nur um Qualität,    burg, wo ist Ihr Restgewissen? Das müssen wir
sondern um Gesellschaftsbilder. Es geht um die       jetzt mal herausfinden. Wo wären Grenzen, die
Frage, wie man miteinander umgeht, wo es Gren-       Sie – natürlich im Plural für die Privaten, denn
zen gibt, wo der schlechte Geschmack begrenzt        wir sind wirklich dankbar, dass Sie überhaupt
werden muss. Wie schätzen Sie das ein, wie           hier sind; das muss man fairerweise sagen, wir
wirken diese Formate auf die Verhaltensmuster        haben uns bei RTL und den Unterhaltungschefs
der Rezipienten?                                     nur Absagen eingeholt – von daher: Wo wäre
Beckmann: Sie haben immer das Problem, dass          eine Grenze, die Sie persönlich als Geschäftsfrau
Sie es nie hinbekommen einen ganz kausalen           bei solchen Scripted-Reality-Formaten nicht
Zusammenhang zu finden. Das bestätigen zahl-         mehr vertreten können?
reiche Studien. Die Medienwirkung ist zu viel-       Löschburg: So etwas wie Gewissen muss jeder
schichtig. Und es ist ja nicht so, dass die Leute    für sich selber verantworten. Ich persönlich habe
immer nur RTL gucken und immer nur diese Sen-        eine klare Grenzen. Als Produzentin weiß ich,

                                                                                                         7/23
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dass ich bestimmte Dinge nicht mache. Zum             schauer, Heranwachsende. Die einzige Chance,
Beispiel Menschen in einer bestimmten Art und         das zu verhindern, ist sich offensiv damit ausei-
Weise vorführen, so dass sie hinterher nicht          nanderzusetzen. Verbieten kann man diese Sen-
damit leben können. Mit allen Protagonisten, mit      dungen nicht und es wäre auch naiv, von RTL zu
denen wir gedreht haben, haben wir auch nach          fordern, die Formate aus dem Programm zu
der Ausstrahlung noch Kontakt. Für mich ist das       nehmen.
auch ein Zeichen von Glaubwürdigkeit der For-
                                                      Wir müssen also dafür sorgen, dass unsere Kin-
mate, die ich betreue und verantworte.
                                                      der damit nicht allein gelassen werden. Wir müs-
Leif: Sie können aber nicht bestreiten, dass die      sen dafür sorgen, dass Schulen und Eltern die
Menschen in den Formaten, die Ihre Firma pro-         Kriterien ausloten und den Jugendlichen ein
duziert, vorgeführt werden.                           Medienbewusstsein vermitteln. Und wir müssen
                                                      bei Heranwachsenden auch eine Neugierde auf
Löschburg: Nein, das kann ich nicht. Aber noch
                                                      andere Formate schaffen.
einmal: Das ist nicht meine Firma!
                                                      Bergengruen: Das reicht aber nicht aus. Es ist
Leif: Diese Sendungen gehören zu Ihrem Unter-
nehmen.                                               auch wichtig, klar zu benennen, wo diese Forma-
                                                      te bestimmte Grenzen überschreiten. Nämlich
Löschburg: Ja, aber ich kann nicht verantworten,      dort, wo sie die Mitwirkenden vorführen und der
was die Kollegen machen. Jeder kann sein Ge-          Lächerlichkeit preisgeben, und wo nur das Ge-
wissen nur für sich selber verantworten. Ich per-     fühl der Schadenfreude bei den Zuschauern
sönlich muss jeden Morgen in den Spiegel bli-         befriedigt wird. Natürlich bedienen längst nicht
cken und sagen: „Ja, ich rede noch mit dir.“ Dar-     alle Formate diese Gefühle, aber eben manche.
um bin ich auch sehr dankbar für diesen Einwurf.      Hinterher haben manche der bloßgestellten Pro-
Man muss diese einzelnen Formate wirklich un-         tagonisten im wirklichen Leben riesige Probleme.
terscheiden.                                          Das ist nicht in Ordnung.
Sie haben natürlich Recht, man wollte bestimmte       Für Coaching-Formate trifft das übrigens im All-
Geschichten erzählen, hat dafür aber keine Men-       gemeinen nicht zu. Sie vermitteln oft positive
schen gefunden, keine Protagonisten, keinen           Werte. Ein Produkt wie „Raus aus den Schulden“
Cast, der bereit war, solche Geschichten mitzu-       mit Herrn Zwegat könnte sehr gut auch bei den
tragen. Also hat man sich entschieden, Laien-         Öffentlich-Rechtlichen laufen. Da werden die
darsteller zu engagieren und zu inszenieren.          Leute nicht verheizt und lächerlich gemacht. Das
Trotzdem lassen sich nicht alle Sendungen über        Format bedient nicht Schadenfreude, sondern ist
einen Kamm scheren.                                   der Versuch, den Menschen zu helfen.
Leif: Das ist klar. Darum haben wir ja versucht,      Leif: Herr Beckmann, Sie haben im Vorgespräch
zu differenzieren. Trotzdem, Frau Löschburg,          gesagt, „Bauer sucht Frau“ könnte ohne Proble-
habe ich eine Frage an Sie: Ist denn „Bauer sucht     me auch in der ARD laufen.
Frau“ aus Ihrer Sicht auch ein Sozialporno?
                                                      Beckmann: Der Norddeutsche Rundfunk hatte
Löschburg: Nein, überhaupt nicht.                     ein Format, was vor „Bauer sucht Frau“ lief. Auch
Leif: Nein? Da wird doch beispielsweise folgen-       darin wurden Landwirte „verkuppelt“. Das ist
dermaßen angeteasert: „Erik lebt seit 20 Jahren       etwas, mit dem ich definitiv keine Probleme ha-
alleine und sucht trächtige Erika.“                   be. Die entscheidende Frage ist, mit welcher
                                                      Intention diese Formate produziert werden. Wol-
Löschburg: Nein.                                      len wir tatsächlich den Menschen helfen und
Leif: In den Teasern wird sexualisiert.               stellen wir sicher, dass wir nicht Leute vorfüh-
                                                      ren? Wollen wir tatsächlich Realität abbilden, so
Löschburg: Nein.                                      wie wir sie vorfinden? Man darf auch Impulse
Leif: Nein?                                           geben, aber am Ende des Tages dürfen diese
                                                      nicht durch ein Kamerateam verschlimmert wer-
Löschburg: Nein.                                      den. Man darf nicht gezielt die Dinge filmen, die
Leif: Und ist es gescripted?                          man im Kopf hat, aber nicht der Realität entspre-
                                                      chen. Diese Regel gilt auch für Casting-Formate.
Löschburg: Nein.
                                                      Darum kann man auch nicht sagen, dass
Leif: Herr Veiel, Sie schauen die Sendung ja auch     Casting-Formate grundsätzlich nicht für öffent-
regelmäßig. Ist es gescripted?                        lich-rechtliche Sender geeignet sind. Im Gegen-
(Gelächter)                                           teil. Aber die Öffentlich-Rechtlichen müssen klar
                                                      machen, wo der qualitative Unterschied ist. Als
Veiel: Da ist jetzt die Projektionsleinwand doch      positives Beispiel wäre hier Stefan Raab bei uns
größer als die Realität, Herr Leif. Ich wollte noch   in der ARD zu nennen. In seiner Casting-Show
auf einen Punkt zurück, und zwar die Frage nach       wurden die Kandidaten nicht herabgewürdigt,
der Verantwortung: Die Medien wirken leitmoti-        hier ging es nicht darum, sich über sie lustig zu
visch mit ihrer Art, wie sie bestimmte Konflikte      machen. Es war tatsächlich das ehrliche Bemü-
abbilden. Das führt dazu, dass Zuschauer dieses       hen, ein Talent zu finden. Für uns war es großar-
Verhalten kopieren – vor allem sehr junge Zu-         tig zu erleben, wie die Medienöffentlichkeit dies

                                                                                                          8/23
nr-Dossier 5                                         Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps

diskutiert hat. Bis zu diesem Zeitpunkt war die     Leif: Aber in etwas variierter Form?
Casting-Show ein notleidendes Genre, das mit
                                                    Beckmann: Nein, noch einmal. (lacht)
der Figur Dieter Bohlen verbunden war – aber
nun wurde jemand wie Lena gefunden, eine            Leif: Ich frage nur nach, bis ich es verstehe.
Künstlerin, die europaweit die Menschen und         Beckmann: Wir analysieren diese Formate und
ihre Herzen begeistern konnte. Das hat gezeigt:     prüfen, wie viel Impuls wir zulassen können und
Es geht auch anders.                                ab welchem Zeitpunkt es ein Format ist, das wir
Leif: Bleiben wir noch einen Augenblick bei         nicht anfassen würden.
Scripted Reality. Herr Beckmann, Sie sind Me-       Leif: Wie würden Sie als Vertreter einer anderen
dienmanager: Wenn Sie hören, dass RTL mit           öffentlich-rechtlichen Anstalt entscheiden? Wür-
diesen Sendungen Nachmittagsquoten von 30           den Sie so etwas in variierter Form produzieren?
Prozent hat, schrillen bei Ihnen da nicht die A-
larmglocken? Bedeutet dies nicht, dass Sie sol-     Bergengruen: Sie können uns noch so oft fragen:
che Formate künftig im Vorabendprogramm der         Diese Form der Scripted Reality findet in der ARD
ARD machen müssen? Prüfen Sie deshalb, wie          nicht statt. Aber natürlich überlegen wir, welche
weit die ARD oder der NDR mit solchen Formaten      Doku-Soaps für uns möglich sind, die mit der
gehen kann?                                         privaten Konkurrenz mithalten können. Bei-
                                                    spielsweise produzieren wir mit Frau Löschburg
Beckmann: Nein, in der Form, in der wir über        derzeit eine wunderbare Serie über Dörfer in
Scripted Reality reden, geht gar nichts. Wir kön-   Deutschland und das Leben dort. Dabei gehen
nen an der Stelle nichts machen. Und es ist auch    wir auch sehr nah an die Menschen heran. Wir
nicht möglich, dass wir ein Format erfinden, das    versuchen also innerhalb unserer Grenzen, mit
dokumentarisch daherkommt, nur um, die Fall-        dem, was wir mit Gebührengeld verantworten
höhe zu vergrößern.                                 können, genauso die Zuschauer zu erreichen wie
Leif: Geht es denn etwas milder?                    die Privaten. Aber ich sage auch ganz offen: Es
                                                    ist in der jetzigen Lage wirklich schwer. Den
Beckmann: Es gibt Grenzfälle, darüber hat Herr      Dammbruch können und wollen wir bei uns nicht
Bergengruen ja gerade geredet. Es gibt viele
                                                    zulassen. Das geht mit Gebührengeldern nicht.
Dokumentationen, in denen das Kamerateam
                                                    Trotzdem konkurrenzfähig zu bleiben ist schwer.
Impulse setzt und beispielsweise Menschen
zusammenführt. Das geschieht natürlich auch         Insgesamt ist übrigens meine These, dass die
nur, weil es inszeniert ist. Was sich aus diesem    Entwicklung wieder zum fiktionalen Erzählen
Impuls aber entwickelt, muss echt sein. Da kann     zurückgehen wird. Dies ist eine Entwicklung, die
man nicht anfangen, den Menschen ein X für ein      in anderen Ländern – nehme Sie England oder
U vorzumachen.                                      die USA– auch schon stattfindet. Denn die dra-
                                                    maturgischen     Variationsmöglichkeiten     und
Leif: Ist Scripted Reality eine Chance für den
                                                    Spielräume sind bei der Fiktion einfach größer.
NDR?
                                                    Ich vermute, dass die Öffentlich-Rechtlichen,
Beckmann: Man darf zumindest keine Denkver-         aber auch die Privaten, in ein paar Jahren wieder
bote verhängen. Egal welche Formate im Moment       mehr zu fiktionalen Serien zurückkehren werden.
auf dem Markt sind: Man muss sie analysieren        Derzeit erleben wir wohl den Peak der Scipted-
und herausfinden, was das Publikum daran so         Reality-Formate.
fasziniert. Und man muss das Publikum analy-
                                                    Leif: Aber der Erfolgsdruck, unter dem Sie derzeit
sieren. Dann weiß man, dass zwei Drittel der        stehen, ist doch beachtlich?
Zuschauer von Scripted-Reality-Formaten ältere
Frauen sind. Wir Programmmacher müssen eine         Bergengruen: Damit haben wir gelernt zu leben.
Vorstellung davon haben, welche Zielgruppe          Wir geben unsere Prinzipien nicht auf. Noch
sich für diese Formate interessiert.                einmal: Wir haben Gebührengelder zu verantwor-
                                                    ten, und da gehen bestimmte Sachen nicht. Auf
Leif: Und wie fließt das in einen NDR-Film ein?     der anderen Seite beschäftigen auch wir uns
Beckmann: Wenn wir die Analyse abgeschlossen        immer damit, wie wir in unseren fiktionalen Fil-
haben, fragen wir uns, was mit dem Geld ist,        men Realität abbilden und ihnen einen doku-
dem Production Value. Diese Formate werden          mentarisch-authentischen Charakter verleihen
sehr günstig produziert. Man kann sie für einen     können. Ich nenne als Beispiel den Film „Moga-
Preis produzieren, mit dem sich fiktionale Ge-      dischu“ über die Entführung der Landshut. Der
schichten nicht erzählen lassen. Insofern lernen    arbeitet ja auch mit solchen Mitteln – beispiels-
wir von diesen Formaten. Trotzdem bleiben die       weise dem permanenten Einsatz der Handkame-
Grenzen, die ich bereits skizziert habe. Men-       ra. Dieser Film hat sehr viele semi-
schen herabwürdigen und bloß zu stellen, nur        dokumentarische Elemente.
um ein Milieu zu schildern, ist ein Tabu.
                                                    Leif: Herr Pörksen, Sie kennen diese Medienwelt.
Leif: Und trotzdem kommt demnächst ein ver-         Nehmen Sie den beiden Herren diese ökonomi-
gleichbares Produkt auch beim NDR an den            sche Vision ab, dass man keinen Dammbruch
Start?                                              eingehen würde? Oder ist der Druck so groß,
                                                    dass man sich verändern muss?
Beckmann: In dieser Form nicht, nein.

                                                                                                        9/23
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Pörksen: Sie spielen auf ein internes Papier der       werden sollten. Sie haben sich zu Recht über die
ARD an, in dem es um ein Scripted-Reality-             Herabwürdigung in Casting-Shows aufgeregt.
Format für das Öffentliche-Rechtliche geht. Die-       Doch haben Sie einfach mal „Pocher und
ses Papier habe ich auch gelesen. Es ist der Vor-      Schmidt“ eingeschaltet und den Fall Ringele
schlag einer Scripted-Reality-Fassung in Light-        nachvollzogen? Dort geschah eine Herabwürdi-
Form. Ich bin offen gestanden nicht sicher, wie        gung zweiter Ordnung. (Anmerkung: Pocher und
das funktionieren soll – vor allem aus Zuschau-        Schmidt machten sich über die Ausstrahlung des
ersicht. Wenn man über Sendeplätze, Programm-          Auftritts eines 17-jährigen Kandidatens bei
formate und diese scheinbar so sauberen Ab-            „Deutschland sucht den Superstar“ lustig.)
grenzungen argumentiert, ist die Sicht des Zu-
                                                       Mein Problem ist: Bei den Öffentlich-Rechtlichen
schauers doch eine andere.                             gibt es eine pauschale Glorifizierung dieser Pro-
Leif: Scripted Reality Light, gibt’s das?              minenten, die mit ähnlichen Mitteln entweder
                                                       auf einem anderen Sender oder aber unter der
Beckmann: Für uns geht es darum herauszufin-
                                                       Rubrik Satire operieren. Wenn sich Pocher und
den, wie wir Fiction günstiger machen können.
                                                       Schmidt über die schlimmen Castingfälle bei
Wir wollen Geschichten erzählen, das ist die
Grundvoraussetzung. Möglicherweise kann man            Bohlen lustig machen, unterscheidet sich dies
                                                       nicht von Bohlen selbst.
die Geschichten auf einem Produktionslevel
erzählen, das einen günstigen Minutenpreis hat.        (Applaus)
Es geht ja um Strecken am Nachmittag, da müs-
                                                       Beckmann: Also ich würde mich gerne zu Stefan
sen Sie Stunden von Programm füllen! Da su-
                                                       Raab äußern. Ich habe die Casting-Shows gese-
chen die Produzenten nach Formaten, die nicht          hen. Der Norddeutsche Rundfunk hat sie für die
so teuer sind – und trotzdem bei uns reinpassen.
                                                       ARD außerdem verantwortet. Ich war hellauf
Sie müssen ja unseren Qualitätsanforderungen
                                                       begeistert, weil wir gezeigt haben, dass es ohne
genügen. Wenn wir da etwas finden, dann ist es
                                                       Herabwürdigung geht. Es war ein Risiko, zumin-
zunächst ein Experiment, das sich lohnen könn-
                                                       dest live on tape, bei der man nicht steuern
te. Schließlich gibt es Graustellen, über die man
                                                       kann, was am Ende dabei herauskommt. Stefan
reden sollte. Wo beginnt denn bei einem Journa-        Raab hatte uns gegenüber immer gesagt, dass
listen die Inszenierung? In jedem journalisti-
                                                       die Musik und das Talent im Vordergrund steht.
schen Beitrag gibt es diese Graustellen. Mal hat
                                                       Und das war auch so. Halten Sie diese Sendung
die Kamera gestreikt, dann muss man die Szene
                                                       gegen die von Dieter Bohlen und Sie sehen einen
noch einmal nachdrehen. Mal ist der O-Ton zu
                                                       ganz deutlichen Unterschied. Es ist wichtig, dass
lang, dann lässt man sich den noch einmal kür-
                                                       gerade das Öffentlich-Rechtliche Beispiele zeigt,
zer geben. Da inszenieren auch die Journalisten        dass es auf einem bestimmten Niveau geht –
die Wirklichkeit, damit sie so komprimiert wird,
                                                       sogar mit vielen Zuschauern. Wir haben nach 28
dass sie auch für das Medium funktioniert.
                                                       Jahren den Grand Prix geholt und wir sind immer
Pörksen: Ich wollte noch eine Nachfrage stellen.       noch stolz drauf.
Ich habe es natürlich einfach, ich sitze im Elfen-
                                                       Leif: Okay. Ich glaube, die Positionen sind ver-
beinturm, trage meine normativen Ansprüche an          ständlich geworden. Ich würde gerne zum
die Welt und sehe, dass die Welt diesen Ansprü-
                                                       Schluss dieses ersten Blocks noch mal Frau
chen leider nicht genügt.
                                                       Löschburg fragen: Sie haben jetzt genau zuge-
Beckmann: Sie können gerne bei uns ein Prakti-         hört, wie sich die Herren Scripted-Reality-
kum machen.                                            Formate vorstellen. Könnten Sie sich denn vor-
(Gelächter)                                            stellen, dass Sie mit einer Ihrer Firmen diesen
                                                       Dienstleistungswünschen entgegenkommen und
Leif: So aufgeklärt ist Ihre Rolle, das ist ja schon   so etwas produzieren?
etwas.
                                                       Löschburg: Das machen wir ja bereits. Wir pro-
Pörksen: Mich wundert dieses Lob für Stefan            duzieren Doku-Soaps, und zwar solche, die man
Raab. Ich beobachte das, wie Intellektuelle sa-        auch so definieren würde: Auf der einen Seite
gen: „Ja, was für ein toller Typ, was für ein wun-     der Blick auf die Realität und auf der anderen
derbarer Mensch, was für ein genialer Musik,           Seite das Soapig-Aufbereitete. Da wird nicht
was für ein genialer Promoter.“ Es spielt keine        gescripted, da wird für die Kamera inszeniert,
Rolle, was der in seinem daily Life tut. Erinnern      wie Herr Beckmann eben erklärt hat. Da macht
wir uns mal an den Fall Lisa Loch! (Anmerkung:         man einen Gang noch mal. Da gibt man auch
Eine Minderjährige, die Stefan Raab in seiner          Impulse an die Menschen rein – und ansonsten
Show aufgrund ihres Namens in einen lächerlich         beobachtet man die Menschen dabei, was sie
machenden, sexualisierten Kontext darstellte;          tun.
Raab wurde später zu 70.000 Euro Schadenser-
                                                       Leif: Gut, aber ich meine konkrete Scripted-
satz verurteilt) Ich würde behaupten, ein Prob-
                                                       Reality-Formate. Würden sie solche auch produ-
lem der Öffentlich-Rechtlichen ist es, dass sie
Hybridfiguren zulassen. Personen wie Stefan            zieren – in einer soften Form, wie hier skizziert?
Raab sind Grenzgänger, die von den Öffentlich-         Löschburg: Soweit ich ihn verstanden habe,
Rechtlichen mit moralischen Fragen konfrontiert        sollen es Formate sein, die eher in die Richtung

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Fiction gehen. Die Anfänge waren Telenovelas.         man auch mit klassischer Dokumentation oder
Und da muss ich mal sagen, weiß ich nicht, ob         mit klassischer Reportage ein Publikum errei-
das noch billiger geht. Für diese Formate braucht     chen kann. Dieser Film des NDR, der in der ARD
es Schauspieler, Künstler, Regisseure, Kamera-        lief, war ein großer Erfolg – auch publizistisch,
leute, Beleuchter, die natürlich ein sehr profes-     denn die Recherchen haben etwas bewirkt. Herr
sionelles Handwerk liefern. Und da ist die Tele-      Beckmann, warum bauen Sie nicht mehr auf
novela schon der Bodensatz.                           diese Art Journalismus und versuchen, das im
                                                      Programm prominent zu platzieren?
Leif: Kommunikation ist eine schwierige Sache.
Ich bin wahrscheinlich mit Vorsatz missverstan-       Beckmann: Das machen wir, denn genau das ist
den worden oder ich habe ungenau gefragt. Nun         unsere Aufgabe. Auf den KIK-Film sind wir wirk-
schauen wir uns ein zweites Beispiel an. Wir          lich sehr, sehr stolz. Es geht natürlich darum,
wollen ja auch sehen, welche Alternativen es          Geschichten zu finden und zu recherchieren.
gibt. Vielleicht mal ein positives Beispiel, wie      Auch sehr, sehr arbeits- und zeitaufwendige
man mit wenig Geld auch hervorragendes Fern-          Recherchen. Doch dieser Film ist alles andere als
sehen machen kann. Wir schauen uns einen              günstig. Die Journalisten, die das recherchierten,
Ausschnitt aus der „KIK-Story“ der Panorama-          mussten mehrmals nach Bangladesch fliegen,
Reporter an.                                          um vor Ort zu recherchieren. Das sind Geschich-
                                                      ten, die über Monate gemacht werden. Das ist
                                                      alles andere als unaufwendig. Und natürlich sind
MAZ:                                                  dies Filme, die wir im Ersten und im NDR-
Sprecher: Am letzten Tag vor meinem Rückflug          Fernsehen vor allem wünschen. Wir orientieren
gehe ich noch einmal zu Alea. Ich will wissen, wie    uns an dieser Richtung. Nur lassen sich solche
es ihrem todkranken Cousin geht, den sie immer        Recherchen nicht am Fließband herstellen, weil
ihren Bruder nennt. Ich erlebe die erschütternds-     es dazu hervorragende Journalisten braucht,
ten Momente dieser Reise. Und ich sage zu mir:        eine hervorragende Ausstattung und Zeit, diese
Du musst dem Jungen hier irgendwie helfen.            Teams recherchieren zu lassen. Und es hat ein
Und: Du musst das fotografieren, dokumentieren        gewisses Risiko, denn im Zweifel kommt auch
und KIK-Chef Heinig zeigen, der die Menschen          mal bei einer Recherche nichts heraus und es
hier mit seiner Preisdrückerei in Armut hält.         entsteht kein Film. Das müssen Sie sich leisten
                                                      können.
Sprecher im On: Das kann man nicht beschrei-
ben. Der stirbt. Der stirbt.                          Leif: Doch die Zutaten haben Sie alle.

Sprecher: 48 Stunden später. Ich bin wieder in        Beckmann: Ja. Wir haben auch ausgebaut, bei-
Deutschland und weiß, dass ich Stefan Heinig an       spielsweise bei dem Dokumentationsplatz „45
diesem Abend in diesem Düsseldorfer Hotel an-         Min“. Wir wollen eine Zusammenführung aller
treffen kann.                                         Dokumentationen auf einem wöchentlichen
                                                      Platz, damit die Filme wahrgenommen werden.
Sprecher im On: Tag, Herr Heinig, Lütgert, nord-      Wir haben auch die Sendung „Panorama, die
deutsches Fernsehen. Ich bin gestern aus Bang-        Reporter“ verstärkt. Das ist eine Sendung, die
ladesch zurückgekommen. Würden Sie sich bitte         gab es vorher vielleicht vier- oder fünfmal im
dieses Bild mal ansehen? Da stirbt ein Junge.         Jahr. Wir haben sie nun versucht, so auszubau-
Seine Schwester ist KIK-Näherin. Und sie verdient     en, wie es mit dem Personal überhaupt möglich
so wenig, dass sie sich keinen Arzt für ihn leisten   ist. Die kommen irgendwann auch schlicht an
kann. Was sagen Sie dazu? Wollen Sie dazu             ihre Grenzen, denn sie können halt nicht die
nichts sagen? Die Gewerkschaft in Bangladesch         ganze Zeit durch die Welt reisen. Irgendwann
sagt uns, dass ...                                    muss man auch mal schlafen. Sie haben bei
Heinig: Ich denke mir, ich weiß, was ...              einer sehr eng geführten Crew nicht beliebig
                                                      viele Ausweitungsmöglichkeiten, da sind uns
Sprecher im On: Die Gewerkschaft in Bangla-           Grenzen gesetzt. Das Eigenrecherchierte ist das
desch sagt uns, dass KIK der schlimmste Kosten-       Wesentliche, was uns im Fernsehmarkt nach
drücker ist.                                          vorne bringt.
Heinig: Ich denke, das machen wir ein anderes         Leif: Würden Sie davon ausgehen, dass diese
Mal.                                                  Formate im ARD-Programm ausreichend gut plat-
Sprecher: Wir alarmieren das Kinderhilfswerk          ziert sind, ausreichend gut ausgestattet sind und
UNICEF und können erreichen, dass der todkran-        frühzeitig gesendet werden?
ke Rana aus dem Slum geholt und in ein Kran-          Beckmann: Das ist unsere Aufgabe. Die Aufgabe
kenhaus gebracht wird. Und wie reagierte KIK?         haben Sie als Fernsehdirektor. Sie müssen dafür
Ende MAZ                                              sorgen, dass solche Programme auch zu guten
                                                      Sendezeitungen gezeigt werden. KIK, um das mal
                                                      zu sagen, lief um 21.45 Uhr, das ist ein früher
Leif: Das war nur ein Beispiel. Interessant ist,      Sendetermin. Wir haben immer das Problem mit
dass sich niemand bei unserer ganzen Diskussi-        Dokumentationen. Man muss sich wohl überle-
on über Scripted Reality stark gemacht hat, dass      gen, wo man sie platziert – weil sie nun mal

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nicht Mainstream sind. Als Programmplaner            Beckmann: Durchhalteparolen sind für mich
haben sie also immer die Schwierigkeit: Wenn         nicht die Lösung, denn es geht nicht darum,
Sie einen sehr relevanten Stoff um 20.15 Uhr         dass wir etwas durchhalten, sondern es geht
zeigen, der aber kein großes Publikum findet,        darum, dass wir gemeinsam Rezepte finden, wie
dann sind auch alle nachfolgenden Sendungen          wir Leute für solche Themen begeistern. Das ist
automatisch davon betroffen. Darunter leiden         unsere Aufgabe. Nehmen wir zum Beispiel die
die politischen Magazine und die „Tagesthe-          Filme     „Mogadischu“ oder „Bis nichts mehr
men“. Deswegen versuchen wir große Dokumen-          bleibt“, ein Film über Scientology, da ist man mit
tationen auch in der Primetime zu zeigen oder an     einem fiktionalen Aufschlag in den Programm-
anderen Plätzen, wo es thematisch passt. Und         abend gestartet. Wir wissen, dass das funktio-
außerdem gibt es ja inzwischen die Mediathek,        niert. Wir müssen die Art von Geschichten erzäh-
in der die Zuschauer sich die Filme noch einmal      len, die funktionieren und sie so umsetzen, dass
ansehen können.                                      sie für die Menschen begreifbar sind und eine
                                                     Wirkung erzielen. Dafür ist allein ein verlässli-
Leif: Nur als Gegenkontrastbemerkung: Im ZDF
                                                     cher Sendeplatz viel wert, beispielsweise bei
laufen neue Produktionen um 1.40 Uhr am frü-
                                                     den „45-Min“-Dokumentationen. Wenn wir die-
hen Morgen. Herr Veiel, wie ist Ihre Wahrneh-
mung, sehen Sie auch, dass das Dokumentari-          sen festen Sendeplatz jede Woche mit ordentli-
                                                     chen Produktionen bestücken können und dort
sche so stark ist?
                                                     auch einen gewissen Qualitätsmaßstab haben,
Veiel: Ich mache jetzt seit 20 Jahre Dokumentar-     dann werden wir dort auch Menschen versam-
filme – und habe bei keinem einzigen Film vor-       meln. Da gehört der lange Atem dazu. Aber die
neweg vom Fernsehen Geld für eine Recherche          eigentliche Kunst gerade für die großen Werke
bekommen. Wenn, dann über die Filmförderung,         muss sein, sie so überzeugend zu machen, dass
was auch immer schwieriger wird. Das Fernsehen       sie prime-time-tauglich werden. Das kostet im
erwartet, dass man in Vorleistung geht und wenn      Übrigen sogar noch ein bisschen mehr als das,
es dann wirklich gut ist, steigt es mit ein. Ich     was gute Dokumentationsfilme kosten.
nehme das ja sehr gerne wahr, was Sie jetzt
                                                     Leif: Herr Bergengruen, hat Herr Veiel Ihnen aus
sagen, Herr Beckmann, aber das wäre wirklich
ein Epochenwechsel, wenn Sie sagen: Wir unter-       dem Herzen gesprochen?
stützen Leute, die recherchieren, und dabei kann     Veiel: Die Gefahr ist doch, dass Wirklichkeit
auch mal nichts herauskommen. Das ist wirklich       durch die Hintertür doch in eine bestimmte Rich-
neu und das finde ich großartig. Und da werden       tung gelenkt wird, dass bestimmte Thesen, die
Sie auch beim Wort genommen.                         einen Stoff spannender machen, verfolgt wer-
(Gelächter) (Applaus)                                den. Die Recherche würde eigentlich in eine
                                                     vielleicht offenere Betrachtungsweise führen,
Leif: Herr Veiel, kommen Sie mit Ihren Dokumen-      aber es muss dann eben doch zugespitzt wer-
tationen vor, so wie Sie das möchten? Werden         den. Wir haben vorher über die Herausforderung
Sie so gefördert, haben Sie solche Entfaltungs-      gesprochen, Ambivalenzen zuzulassen. Das
spielräume, wie es nötig wäre?                       bedeutet, eben nicht sofort schnell etwas attrak-
Veiel: Ich arbeite derzeit an einem historischen     tiv zu verpacken, sondern einen Zuschauer in
Film und bin bei den Recherchen dazu gekom-          einen Stoff hineinzuführen, bei dem er nicht
men, viele frühere Produktionen von vor bis zu       sofort belohnt wird.
40 Jahren zu sehen. Das Fernsehen hat damals         Beckmann: Damit hätte ich Schwierigkeiten.
viele Qualitätsstandards gesetzt. Nur wenig ist
heute davon noch übrig. Es ist an der Zeit, dass     Veiel: Die Belohnung kommt danach.
das öffentlich-rechtliche Fernsehen wieder den       Beckmann: Nein, nein, der Dissens an der Stelle
Mut hat, etwas zu wagen – auch wenn das Publi-       wäre, dass Sie sagen, es müsste immer mundge-
kum nicht sofort aufspringt. Das ist unser Auf-      recht sein, und egal, was die Recherche sagt, wir
trag, wir gewöhnen das Publikum da wieder da         spitzen es auf jeden Fall zu. Das stimmt nicht
dran, wir schaffen eine Neugierde für etwas, das     und das ist auch nicht das, was die Leute von
vielleicht jetzt so noch nicht da ist. Derzeit do-   uns erwarten. Die Leute erwarten von uns, dass
miniert aber ein vorauseilender Gehorsam. Man        wir ein wahrhaftiges Bild der Wirklichkeit zeich-
orientiert sich an einer Produktverkäuflichkeit,     nen. Nur: Wir müssen sie dafür begeistern. Ein
auch wenn es vordergründig immer heißt, dies         Journalist muss sich darüber Gedanken machen,
stimme nicht und der Auftrag sei ein ganz ande-      wie er eine Geschichte erzählt. Da springen die
rer. De facto wissen wir alle, dass es die große     Journalisten für mich eine Nummer zu kurz. Wir
Angst am Abend gibt: Man guckt auf die Quote.        müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die The-
Die Gefahr ist groß, dass eine Sendung schnell       men vermittelt werden.
abgesetzt wird, obwohl sie qualitativ gut war,
                                                     Veiel: Wir haben über den Ethos des Dokumenta-
wenn die Quoten schlecht waren. Da wird nicht
                                                     rischen gesprochen. Die Frage ist: Was heißt das
auf einen längeren Atem gesetzt. Der Bildungs-
                                                     ganz praktisch für diese Formate? Wir haben
auftrag gerät schnell außer Acht.                    festgehalten, dass die Akteure nicht vorgeführt
(Applaus)                                            werden dürfen. Und gleichzeitig geht es darum,
                                                     einen bestimmten Spannungsmoment in einer

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