Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps Dokumentation des MainzerMedienDisputs Berlin vom 5. Oktober 2010
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps Inhalt Transkript des Mediendisputs Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku Soaps 3 Pressespiegel 19 „Sozialporno mit Kondom“ 19 ARD läuft Sturm gegen „Scripted Reality“ 19 "Casting ist Sozialporno statt Lebenshilfe" 19 ARD liebäugelt mit Scripted Reality 19 Sozial-Porno: Gegner formieren sich gegen Scripted Reality 20 Fast ein klassisches Drama 20 Impressum 23 2/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps Transkript des Mediendisputs Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku Soaps Willkommen in der Welt des pseudo- Interesse und ich hoffe, dass wir das Thema dokumentarischen Brüllfernsehens: Konflikte „Die gedopte Realität. Scripted Reality und neue wie "Nachbarin terrorisiert Familie", "14jährige Doku-Soaps“ interessant debattieren können. Tochter schwanger", "Prügelnder Vater ist Trin- Wir wollen zu Beginn über die klassische Scrip- ker" sind der tägliche Stoff für Scripted-Reality- ted Reality sprechen und später auch über echte Formate. "Familien im Brennpunkt", "Verdachts- Dokumentationen, weil wir hier mit Andreas fälle" oder "Die Schulermittler" aus der Werkstatt Veiel einen renommierten Dokumentarfilmer der Privaten überschwemmen die Kanäle und haben. Sie werden am Ende Gelegenheit haben, erzielen Traumquoten. Es wird gekreischt, ge- Fragen zu stellen – sofern Sie möchten. zankt, gepöbelt - alles perfekt gegen Gage und Zum Auftakt möchte ich von unseren Gästen nach Drehbuch inszeniert. wissen, wie sie Scripted Reality definieren. Frau Denn was echt wirken soll, ist nur ein Fake! Mit Löschburg, Sie sind Geschäftsführerin der Firma fiktiven Geschichten, die von Laiendarstellern Me, Myself & Eye, MME, und produzieren zahlrei- gespielt und im Stil des Dokumentarfilms prä- che Reality-Show-Formate. Was verstehen Sie sentiert werden, wollen die Macher dieser For- unter Scripted Reality? mate beim Zuschauer Realität suggerieren und Katrin Löschburg: Die Scripted-Reality-Formate mit angeblich authentischen Protagonisten laufen im Privatfersehen am Nachmittag sehr trumpfen. erfolgreich. Es sind Geschichten, die so daher Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Inszenie- kommen, als wären sie real. Es sieht aus, als ob rung verschwimmen. Ein Trend, der sich auch bei reale Menschen aus ihrem Leben Geschichten Doku Soaps, vermeintlich wahren Geschichten erzählen. Es sind Menschen, die auch hier im mit echten Betroffenen, zeigt: Auch hier bestim- Raum sitzen könnten. Doch wenn man genau men Regisseure zunehmend die "Realität". Was hinsieht, stellt man fest, dass diese sehr real ist also noch echt? Und was ist die totale Insze- wirkenden Menschen nach einem Drehbuch nierung? Wie beeinflussen die neuen Erfolgsfor- spielen. Die Geschichten sind also inszeniert. mate die Programmpolitik der öffentlich- Leif: Herr Beckmann, Sie als Programmdirektor rechtlichen Konkurrenz? Werden die ohnehin schmunzeln schon ein bisschen. Was ist aus raren hochwertigen Dokumentationen und Re- Ihrer Sicht die Definition? portagen in ARD und ZDF, wie "betrifft" (SWR), "45.00" (NDR), "die story" (WDR), "37o" (ZDF), Frank Beckmann: Ich bezweifle ganz stark, dass von diesem Trend beeinflusst? Was ist künftig irgendjemand, der bei Scripted Reality mitma- noch echt im TV? chen würde, hier in diesem Raum säße. (Gelächter) (Applaus) Darüber diskutierten am 5. Oktober beim Main- Bei Scripted Reality versucht man, eine Realität zer Mediendisput in Berlin: abzubilden, die keine Realität ist. Es ist eine Scheinrealität. Da werden Milieus vorgeführt. Frank Beckmann, Programmdirektor NDR Scripted Reality ist im übrigen nichts, was man Prof. Carl Bergengruen - Spielfilmchef SWR; fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen machen künftig Leiter Studio Hamburg könnte, jedenfalls nicht in der Form, in der das bei RTL im Moment Quoten bringt. Kathrin Löschburg, Geschäftsführerin der Pro- duktionsfirma MME Leif: Das ist eine steile These zur Definition. Herr Professor Bergengruen, Sie sind Fernsehfilmchef Prof. Dr. Bernhard Pörksen, Professor für Me- dienwissenschaft an der Universität Tübingen, beim SWR. Wie definieren Sie Scripted Reality? Herausgeber des Buches: "Die Casting- Prof. Dr. Carl Bergengruen: Fiktion im Fernsehen Gesellschaft" und im Kino bildet seit jeher die Wirklichkeit ab und inszeniert sie zugleich. Der einzige Unter- Andres Veiel, Regisseur und Dokumentarfilmer schied ist, dass man das bisher immer offen u.a. von "Black Box BRD" und "Der Kick" gelegt hat. Die Scripted-Reality-Formate hinge- Moderation: Prof. Dr. Thomas Leif (1. Vorsitzen- gen wirken von ihrer ganzen Machart wie Doku- der netzwerk recherche, www.2plusleif.de) mentationen, aber in Wirklichkeit spielen da Laiendarsteller. Das ist das Neue daran. Prof. Dr. Thomas Leif: Guten Abend, meine Da- Leif: Herr Veiel, Ihre Vision von Scripted Reality? men und Herren, schön, dass Sie zum Medien- Andres Veiel: Sie bewegt sich in einer Grauzone, Disput hier nach Berlin gekommen sind. Wir sind die so trennscharf gar nicht zu machen ist. Es ist über die Resonanz positiv überrascht. Die Refe- nicht neu, eine Plot-Point-getriebene Geschich- rentinnen und Referenten rechtfertigen sicher Ihr 3/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps ten zu entwickeln, Wirklichkeit zurechtzubiegen, lieber Speedboot fahren und ich, ich wäre so was so dass Cliffhanger und bestimmte Spannungs- wie eine abgetakelte Fregatte. Also geht’s noch? bögen entstehen. Die spannende Frage ist, wo Sprecher: Nun aber hat es endlich wieder ge- die Verführbarkeit des Publikum ist und warum funkt. Vor drei Wochen stellt die Verkäuferin ih- das so gut funktioniert. ren Kindern den 12 Jahre jüngeren Sascha vor. Mein Sohn ist 12 Jahre alt und er guckt sich die- Tochter Eileen ist skeptisch. se Formate an. Ich habe ihn heute Nachmittag Eileen: Der Typ ist der Aufreißer vor dem Herrn. noch gefragt, warum er sich das ansieht. Es fasz- Der gräbt alles an, was nicht bei Drei auf den niert ihn schlicht. Er weiß sehr genau, dass die Bäumen ist. Und meine Mutter ist aber so ver- Storys inszeniert sind. Hier wird Wirklichkeit knallt, die merkt das einfach nicht. Der will sich nicht nur frisiert, hier arbeiten die Produzenten nur aushalten lassen, aber sie fällt drauf rein. mit einem Kick-Prinzip. In jeder Szene sind Plot Points, jede Szene wird hoch getrieben wie in Freund: Melanie ist meine Traumfrau und es ist einem Durchlauferhitzer. Das heißt, ich bekom- mir wirklich scheißegal, ob sie älter ist, ob sie me in jeder Szene einen Konflikt geboten, der zwei Kinder hat. Und für mich kommt’s nur auf ausagiert wird, der vorangetrieben wird, der ge- die inneren Werte an. Also sie ist einfach mein tuned ist. Damit fehlt die Ambivalenz, die es in Goldstück. authentischen Stoffen gibt. Diese Scripted Reali- Melanie: Der hätte ja jede andere haben können. ty-Formate sind der Tod von Ambivalenz, der Tod Und, ja, da es jetzt so ist und wir sind zusammen, von Zwischentönen. Es ist alles sehr schnell klar, lasse ich mir das auch von keinem kaputt reden. weil die gesamte Handlung auf diese dramatur- gischen Höhepunkte zugetrieben wird. Sprecher: Die allein erziehende Mutter tut alles, um ihren neuen Freund glücklich zu machen. Zwei Fragen sind wichtig: Warum funktioniert Dazu gehören auch kostspielige Geschenke, dieses Konzept so gut beim Publikum? Und: denn der Fitnesstrainer ist chronisch pleite. Wirkt sich die Machart dieser Formate gewisser- maßen durch die Hintertür schleichend auf do- Eileen: Der Hohlkopf braucht nur mit dem Finger kumentarische Formate aus, gibt es hier eine auf was zu zeigen, dann kauft Mama ihm das. Anfälligkeit? Jetzt hat sie ihm eine Uhr für 220 Euro geschenkt. So was kriegen ich und mein Bruder noch nicht Leif: Dankeschön, darüber werden wir noch dis- mal zu Weihnachten. kutieren. Zunächst Herr Professor Pörksen, wie definieren Sie Scripted Reality? Kleiner Bruder: Der tolle Sascha kriegt immer alles. Das finde ich voll gemein. Prof. Dr. Bernhard Pörksen: Es ist ein Phänomen der Hybridisierung, ein versuchter Publikumsbe- Ende MAZ trug mit massiven Folgen für das zentrale Kapital von Massenmedien insgesamt. Denn ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in sie stehen Leif: Das war’s, glaube ich, und das reicht auch, dabei auf dem Spiel. das Muster, was Sie gesehen haben, ist wirklich typisch. Frau Löschburg, nach welcher Linie stri- Leif: Danke. (ans Publikum:) Damit Sie einen cken Sie diese Geschichten? kleinen visuellen Eindruck bekommen – sofern Sie diese vielen Serien nicht kennen, die mit Löschburg: Jetzt muss ich natürlich sagen, dass dreißigprozentiger Quote am Nachmittag laufen ich persönlich solche Formate nicht produziere. – wird Ihnen Frau Klotsikas, die diese Veranstal- Die MME gehört zu einer großen Holding. Unsere tung auch vorbereitet hat, einen kleinen Aus- Schwesterfirma, die Filmpool, produziert diese schnitt zeigen. Wir haben die Veranstaltung „ge- Formate. Das heißt, ich könnte jetzt nur für das dopte Realität“ genannt. Ich hielt dies für einen sprechen, was ich mache. Ich produziere zum schönen Begriff, den wir erfunden haben. Heute Beispiel die Sendung „Bauer sucht Frau“. sah ich Kabel1 und der Claim für den Sender Leif: Was ist das dramaturgische Prinzip, mit hieß: „Doping fürs Auge“. Da sehen Sie, wie dem Sie arbeiten? schnell man sich täuschen kann. Löschburg: Das dramaturgische Prinzip hat And- res Veiel gerade großartig beschrieben: Es wird MAZ: zugespitzt. Das Ganze ist soapig. Ansonsten werden da nicht Menschen auf etwas getrimmt, Sprecher: Am Stadtrand von Düsseldorf wohnt sondern es gibt Kleindarsteller. Das sind reale Familie Kästner. Seit Vater Jens vor zwei Jahren Menschen, die Lust haben, in so einem Format ausgezogen ist, leben die 17-jährige Eileen und mitzuspielen und die nach einem Drehbuch agie- der 10-jährige Jonas alleine mit ihrer Mutter. Die ren. Es ist gescripted, es ist geschrieben. Es ist Scheidung ist an Melanie nicht spurlos vorbei- etwas, das behauptet, Realität zu sein, aber gegangen. Die 37-Jährige ist verbittert. geschrieben wird. Melanie: Also nach 15 Ehejahren hat der Jens Leif: Und welche Rolle sollen die Menschen spie- mich einfach so gegen eine 22-Jährige ausge- len? In welche Richtung soll das gehen? tauscht. Und dann sagt der noch zu mir, er würde 4/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps Löschburg: Die Menschen agieren wie Schau- die eben nicht so in dieser Gesellschaft vor- spieler in einem fiktionalen Film. kommen, jedenfalls nicht jeden Nachmittag vier Stunden lang! Leif: Herr Beckmann, sehen Sie das auch so? Beckmann: Ich sehe es nicht ganz so, denn ich Veiel: Ich möchte kurz reagieren. Betrachten wir das Phänomen ganz nüchtern: Es geht hier dar- gucke mir natürlich immer an, wo das herge- um, mit möglichst wenig Geld – ich glaube, der kommen ist, weil es für mich üblich war, doku- Etat ist 30.000 Euro – schlicht Sendezeit zu fül- mentarisch zu arbeiten. Auch bei „Bauer sucht len, um eine optimale Produktverkäuflichkeit zu Frau“ wird teilweise gescripted. Das heißt, man erzielen. Das funktioniert und das muss man bringt die Menschen in bestimmte Situationen. Wir haben es zum Beispiel bei der Sendung ganz nüchtern festhalten. Der Marktanteil ist ja sehr hoch. Es wird von sehr vielen Menschen „Frauentausch“ gehabt, wo die Leute feststell- gesehen. Die Folge, und da gebe ich Ihnen erst ten, dass das Kamerateam nicht die Geschichte mal Recht, ist natürlich, dass sich diese Sehge- erzählen wollten, die sie am Anfang angekündigt wohnheiten auf andere dokumentarische Forma- haben. Sie wollten eigentlich Müll filmen, sie te niederschlagen. Aber Dokumentationen arbei- wollten das Abgründige filmen. Aber das war genau das, was die Leute eben nicht zeigen woll- ten mit Ambivalenzen, da wird nicht alles sofort so hoch getuned. Die Folge ist, dass die Men- ten, weil es auch nicht das war, wofür diese Leu- schen bei Dokumentationen sofort weiter schal- te standen. Einige Akteure haben dann versucht, ten, weil es eben nicht knallt, weil der Konflikt die Dreharbeiten oder zumindest die Ausstrah- nicht in den ersten zwei Minuten kommt. Die lung zu verhindern. Also hat RTL II, bei dem das Scripted-Reality-Formate zerstören also die Seh- Format läuft, die Teilnehmer mit einem Vertrag so weit gezwungen, dass die Ausstrahlung nicht gewohnheiten. Und wir können es nicht verbie- ten. Aber – und da bin ich wieder bei meinem verhindert werden kann. Das finde ich hoch 12jährigen Sohn – ich glaube, dass wir uns of- problematisch, fast skandalös. fensiv damit auseinander setzen müssen. Man Irgendwann hat man festgestellt, dass sich im- müsste diese Diskussion in die Schulen rein- mer weniger Menschen für diese Formate finden bringen und dafür sorgen muss, dass die Neu- lassen. Gleichzeitig brauchen die Produzenten, gierde an Dokumentationen wieder erzeugt wird. um immer den Thrill zu erhöhen, immer schlim- Leif: Herr Bergengruen, wie schätzen Sie das ein? mere Schicksale, eine immer größere Abwärts- spirale. Also ist man dazu übergegangen, gar Bergengruen: Ich würde mich Andres Veiel an- keine realen Menschen mehr zu suchen, denn schließen, dass Scripted Reality bestehende die findet man gar nicht mehr in der Form, wie Formate und Erzählweisen verdrängen kann. man sie braucht. Man hat daraus Scripting ge- Man kann dies sogar ganz konkret belegen. Arte macht. Geschichten, die man erfindet und von hat vor sieben, acht Jahren – bevor diese Forma- denen man so tut, als seien sie echt. te kamen – eine eigene Schiene für Doku-Soaps gehabt. Sie beschäftigte sich mit spannenden Für mich ist das etwas, das man ablehnen sollte Themen, die dem gar nicht so unähnlich waren, und als Problem brandmarken. Übrigens, Herr Veiel, Ihr Sohn mit seinen 12 Jahren sollte diese was die Privaten heute machen. Es ging um Themen wie Adoption oder Abnehmen. Arte hat Formate nicht sehen. Das sage ich Ihnen als alter es auf eine Weise erzählt, die nicht voyeuristisch Kinderkanalchef. Diese Formate sind für Kinder war, aber der Sender hat diese Schiene komplett nicht geeignet. Meine Lieblingsszene ist, dass aufgegeben. Die Öffentlich-Rechtlichen geben man da nachmittags – nachmittags! – einen halb solche Formate insgesamt auf. Denn wenn sie nackten Menschen hat, der sich mit Spaghetti überwirft, was dann seine Frau von ihm ab- nicht so auf die Tube drücken, funktionieren solche Sendungen beim Publikum heute nicht schleckt, weil sie das irgendwie erotisch findet. mehr. Andere derzeitige Sendungen, die den Das ist eine Szene, die ich so dargestellt gese- Voyeurismus bedienen und ihre Themen sehr hen habe. Ich glaube nicht, dass das Filme sind, stark zuspitzen, verändern nämlich den Publi- die für 12-Jährige geeignet sind. kumsgeschmack. Die Öffentlich-Rechtlichen Leif: Herr Beckmann, aber warum brandmarken? können und dürfen aber so etwas mit Gebühren- Was regt Sie an dieser Art der Darstellung der geldern nicht finanzieren. Menschen so auf? Dennoch muss man festhalten, dass es dieses Beckmann: Dass sein Sohn mit 12 Jahren das voyeuristische Bedürfnis bei den Menschen gibt. anguckt. Das regt mich auf. Deswegen ist es sogar legitim, dass ein Fern- (Durcheinanderreden) (Gelächter) sehmarkt solche Sendungen produziert. Nur die Öffentlich-Rechtlichen sollten es nicht tun. Und es regt mich auf, dass wir eine Abwärtsspi- rale haben. Diese Suche nach dem permanenten Wir sind derzeit also in der Klemme, das kann Abgrund, das ist das, was ich ganz schwierig man wirklich so sagen. Wie können wir doku- finde. Und wenn man es in der Realität nicht mentarische Formate anbieten, die auf Scripted- mehr findet, nimmt man das Etikett Doku. Es Reality-Elemente verzichten und dennoch erfolg- sieht aus wie Realität. Aber es werden Geschich- reich sind? Im Moment suchen wir noch nach ten erzählt, die eben nicht mehr wahr sind und Lösungen. In der ARD funktionieren im Moment 5/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps noch diese Tiergeschichten am Nachmittag, „Af- hatte einen Freund türkischer Abstammung, und fe, Eisbär & Co“ und andere. Sie kommen ohne zum Schluss ging der Vater nach vielen Brülle- solche Mittel aus. Die Doku-Soaps der normalen reien zur türkischen Familie und sagte, er will Machart, ohne Tiergeschichten, haben es in 20.000 Euro, wenn die Tochter heiraten soll. Das Konkurrenz gegen die Scripted-Reality-Formate war der Plot Point. Das ist eine diskriminierende, beim Publikum eher schwerer. unterschwellige Stofffüllung, die problematisch ist, oder? Leif: Das könnte man ja als Luxusproblem des öffentlich-rechtlichen Systems definieren. Man Löschburg: Es ist zugespitzt, das ist richtig. Aber könnte ja die Mittel der Scipted-Reality-Formate jeder hat doch eine Fernbedienung und kann ebenfalls nutzen, vielleicht wäre das eine Chan- entweder weiterzappen oder die Kiste ausma- ce? Das diskutieren wir später noch. Zunächst chen. Manchmal, wenn ich das so höre, und ich möchte ich von Ihnen, Herr Pörksen, wissen, ist höre Ihnen gerade zu, dann denke ich: Man kann es nur der Voyeurismus, der zu beklagen ist? sich halt sein Publikum auch nicht wählen. Ent- weder hat man Zuschauer oder man hat keine. Pörksen: Es gibt zwei Großtrends in der Medien- Und da muss man einfach eine Entscheidung gesellschaft, die sich wechselseitig bedingen und in eine Art symmetrische Eskalation einge- treffen. treten sind. Das eine ist tatsächlich der Voyeu- Leif: Und die Entscheidung, dass die Reizspirale rismus auf der Seite des Publikums, das andere irgendwo ein Ende hätte, könnten Sie sich das ist der Exhibitionismus großer Teile der Gesell- vorstellen? schaft. Beiden Trends reizen sich. Und wenn wir Löschburg: Selbstverständlich. Darum sitzen wir schon in eine Art Erregungsspirale über das For- hier. Das finde ich auch sehr interessant. Aber mat eintreten, dann würde ich gerne noch einen man muss natürlich auch bedenken, dass diese Beitrag dazu bringen. Wenn wir etwas aus dieser Formate gesehen werden. Es gibt Menschen, die geschlossenen Anstalt des Fernsehens heraus- sehen das richtig gerne, bis zu Herrn Veiels treten und auf die Gesellschaft gucken, dann 12jährigen Sohn. Und dann muss man sich na- sehen wir, dass hier eine Art heimlicher Lehrplan türlich auch fragen – das sind ja auch zum Teil vorliegt. Die Kernfrage ist: Wie kommt man in die öffentliche Gelder, die dafür benutzt werden – Medien? Das ist die große Schlüsselfrage, die hat man da nicht einen Auftrag? Was macht man Scripted-Reality-Formate, die Casting-Formate mit diesem Geld? und andere beantworten. Wenn ein Wissen- schaftler in die Medien will, bietet er scheinbar Veiel: Ich finde es ganz entscheidend, noch mal gesichertes Wissen an. Wenn ein Politiker in die den Unterschied klarzumachen: Sie müssen ein Medien will, bietet er irgendwie strategisch- Produkt verkaufen. Die Reality-Shows werden mit infiltrierte Informationen, idealerweise sind das wenigen Mitteln produziert und füllen einen Slot, Neuigkeiten von öffentlicher Relevanz. Was ma- der dann optimal verkauft wird. Der öffentlich- chen Leute, die keine Nachrichten, die keine rechtliche Rundfunk hat einen ganz anderen gesicherten Neuigkeiten anbieten können? Wie Auftrag. Die Frage ist die Immunisierung. Wie ist kommen die in die Medien? es möglich, den durch die Reality-Formate ge- prägten Sehgewohnheiten etwas entgegenzuset- Sie bekommen durch Scripted-Reality- und zen? Es ist Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen Casting-Formate eine Antwort. Sie erhalten ein hier eine sehr genaue Trennschärfe herzustellen. Tauschverhältnis angeboten. Und das heißt nicht Information gegen Publizität, sondern Stupidität, Leif: Ja, das ist klar. Aber wird nicht in den Pro- Vulgarität, Intimität, Primitivität gegen Publizität. grammen auch Asozialität kultiviert? Dieses Tauschverhältnis – und das ist das, was Bergengruen: Man muss die einzelnen Pro- mich eigentlich beschäftigt, wenn ich an meinen gramme unterscheiden. Es gibt ja ganz verschie- achtjährigen Sohn denke ... dene Scripted-Reality-Formate. Wenn man jetzt Leif: Sie haben die Punkte genannt: Stupidität „Rach, der Restauranttester“ nimmt, ist das et- und Intimität. Was geschieht mit dem Publikum, was, was amüsant ist und genauso bei den Öf- das solche Sendungen dauerhaft anschaut? fentlich-Rechtlichen laufen könnte. Diese Sen- Welche Verhaltensmuster werden vermittelt? dung erfüllt bestimmt nicht diese Kriterien, die wir hier alle geißeln. Am anderen Ende der Skala Pörksen: Das Muster oder der Imperator ist: Ver- steht für mich eine französische Serie, die hieß enge dich selbst auf einige wenige Schlüsselrei- „Trompe-moi si tu peux!“, also „Betrüge mich, ze, beispielsweise auf den Schlüsselreiz der wenn du kannst!“ Einige von Ihnen werden sie Aggression, auf den Schlüsselreiz der Offenba- wahrscheinlich kennen. In der Sendung ging es rung von Intimem, auf den Schlüsselreiz von darum, dass man Paare, die eigentlich glücklich Sexualität. Am Ende entsteht eine totale Ambiva- zusammen waren, vor laufender Kamera im Ver- lenzfreiheit. lauf von Wochen dazu gebracht hat, sich gegen- Leif: Übertreibung auch? seitig zu betrügen. Schließlich kam es dazu, Pörksen: Ja, absolut. dass ein Teilnehmer Suizid begangen hat, weil er damit nicht klargekommen ist. Es war ekelhaft. Leif: Nehmen wir mal ein Beispiel aus der Sen- Es war auf der nach unten offenen Geschmacklo- dung „Familien im Brennpunkt“: Die Tochter sigkeitsskala wirklich ganz unten. Man muss 6/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps also bei jeder Sendung und jedem Format genau dungen sehen, sondern sie sehen auch andere differenzieren, mit welchen Mitteln da gearbeitet Sendungen, die ihnen ein Gesamtbild geben. Die wird. Auch muss offengelegt werden, wenn es Frage ist aber trotzdem: Wenn die Dosis und die sich um eine Fake-Doku handelt. Sehr wichtig ist Menge bei bestimmten Zielgruppen – das weiß auch die Frage, wie die Produzenten mit den man auch – sehr, sehr hoch ist, dann hat das Protagonisten der Sendung umgehen? Das ist ein auch eine Auswirkung auf deren Weltbild. Das ist entscheidendes Kriterium, das mir in unserer sicher. Das gilt auch in der Medienforschung als Diskussion viel zu kurz kommt. sicher. Es wäre ja geradezu verrückt anzuneh- men, dass Fernsehen keine Wirkung hätte, denn Es geht dabei um ganz zentrale moralische Fra- dann müsste jeder Werbetreibende sich darüber gen: Wird die Menschenwürde derer verletzt, die da eingeladen werden? Werden diese Menschen Gedanken machen, warum er Milliarden inves- tiert, um Produktideen an den Mann zu bringen. dazu gebracht, Dinge zu sagen bzw. tun, die sie Genauso wie man Produktideen an den Mann gar nicht tun wollen oder die schlecht für sie bringt, bringt man auch Werte an den Zuschauer. sind? Wie wird ihre Privatsphäre geschützt? Das führt am Ende dazu, dass wir über Dinge Leif: Noch einmal: Wie wirken solche Szenen auf diskutieren, die wir vielleicht lieber nicht disku- die Zuschauer? Wie reagieren sie darauf? Werden tieren möchten. sie durch das permanente Sehen solcher Sen- Leif: Herr Pörksen, sehen Sie diese Sendungen dungen geprägt? auch als stilbildend? Glauben Sie, dass der häu- Beckmann: Das ist ja fast eine rhetorische Frage. fige Konsum das eigene Leben verändert, die Leif: Eigentlich nicht. Sicht, die Kommunikationsmuster? Beckmann: Das, was Sie in die Frage legen, ist ja Pörksen: Ja, weil man die Imperative der Me- das, was Sie befürchten. Wenn man täglich vier diengesellschaft dadurch kennen lernt. Ich frage Stunden immer das Gleiche sieht, immer wieder mich, warum in vielen Reality-Dokus neuerdings auf diesem hohen Aggressionsniveau, dann Helfer dazu gestellt werden. Da taucht ein Coach wirkt das natürlich. Ja, Fernsehen wirkt. Fernse- auf, in der Rolle des Retters. Das hat psychologi- hen ist ein Leitmedium. Und man kann nicht sche Gründe. Mit einer Studie kann ich das lei- behaupten, dass das, was ich jeden Tag vier der nicht beweisen. Was wir hier vorfinden, ist Stunden auf den verschiedensten Kanälen sehe, eine Art Sozialporno, die Verengung auf einige nicht irgendwann auch Auswirkungen hat auf wenige Schlüsselreize in der Wahrnehmung. Und das Zusammenleben, auf das Werteraster dieser der Rest, der Kontext, die Ambivalenz, das alles Gesellschaft. interessiert überhaupt nicht mehr. Aber: Ich sehe darin fast einen gewissen Hoffnungsschimmer, Leif: Können Sie das bewerten? wenn der Coach in der Rolle als Retter auftaucht. Beckmann: Herr Leif, ich bin in diesem Punkt Das zeigt, dass die Privaten diesen Sozialporno nicht ganz bei Ihnen. Ich sage nicht: Für die Öf- nicht ohne scheinaufklärerische Unterzeile zu fentlich-Rechtlichen ist das nichts, die sind so- zeigen vermögen. Sie haben den Zusatzan- zusagen für die Qualität zuständig, und die spruch: „Wir wollen ja helfen, und deswegen Kommerziellen können sich damit rausreden, sie zeigen wir...“ Das zeigt ein kleines moralisches müssten am Ende nur Gewinne erzielen. Restgewissen. Ich finde, das ist ein völlig falscher Ansatz. Als Leif: Aber ist das nicht besonders bigott? die privaten Sender gegründet wurden, hatten Pörksen: Das kann man so sehen. Ich sehe es sie einen Startvorteil. Das setzt voraus, dass eher als kleinen Hoffnungsschimmer, als ein man gerade von diesen Sendern verlangen kann, Zeichen für ein Restgewissen. Und auch als Legi- dass sie der Gesellschaft zumindest ein Mini- timation für das Publikum, das gewissermaßen mum an Qualität garantieren und dass sie nicht den Sozialporno nicht in der nackten Form gebo- sagen: Ich stehle mich aus jeder Qualitätsdis- ten bekommt, sondern mit einer aufklärerischen kussion, weil ich Shareholder habe. Das geht Unterzeile. nicht. Leif: Also Sozialporno mit Kondom? Frau Lösch- Leif: Aber hier geht es ja nicht nur um Qualität, burg, wo ist Ihr Restgewissen? Das müssen wir sondern um Gesellschaftsbilder. Es geht um die jetzt mal herausfinden. Wo wären Grenzen, die Frage, wie man miteinander umgeht, wo es Gren- Sie – natürlich im Plural für die Privaten, denn zen gibt, wo der schlechte Geschmack begrenzt wir sind wirklich dankbar, dass Sie überhaupt werden muss. Wie schätzen Sie das ein, wie hier sind; das muss man fairerweise sagen, wir wirken diese Formate auf die Verhaltensmuster haben uns bei RTL und den Unterhaltungschefs der Rezipienten? nur Absagen eingeholt – von daher: Wo wäre Beckmann: Sie haben immer das Problem, dass eine Grenze, die Sie persönlich als Geschäftsfrau Sie es nie hinbekommen einen ganz kausalen bei solchen Scripted-Reality-Formaten nicht Zusammenhang zu finden. Das bestätigen zahl- mehr vertreten können? reiche Studien. Die Medienwirkung ist zu viel- Löschburg: So etwas wie Gewissen muss jeder schichtig. Und es ist ja nicht so, dass die Leute für sich selber verantworten. Ich persönlich habe immer nur RTL gucken und immer nur diese Sen- eine klare Grenzen. Als Produzentin weiß ich, 7/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps dass ich bestimmte Dinge nicht mache. Zum schauer, Heranwachsende. Die einzige Chance, Beispiel Menschen in einer bestimmten Art und das zu verhindern, ist sich offensiv damit ausei- Weise vorführen, so dass sie hinterher nicht nanderzusetzen. Verbieten kann man diese Sen- damit leben können. Mit allen Protagonisten, mit dungen nicht und es wäre auch naiv, von RTL zu denen wir gedreht haben, haben wir auch nach fordern, die Formate aus dem Programm zu der Ausstrahlung noch Kontakt. Für mich ist das nehmen. auch ein Zeichen von Glaubwürdigkeit der For- Wir müssen also dafür sorgen, dass unsere Kin- mate, die ich betreue und verantworte. der damit nicht allein gelassen werden. Wir müs- Leif: Sie können aber nicht bestreiten, dass die sen dafür sorgen, dass Schulen und Eltern die Menschen in den Formaten, die Ihre Firma pro- Kriterien ausloten und den Jugendlichen ein duziert, vorgeführt werden. Medienbewusstsein vermitteln. Und wir müssen bei Heranwachsenden auch eine Neugierde auf Löschburg: Nein, das kann ich nicht. Aber noch andere Formate schaffen. einmal: Das ist nicht meine Firma! Bergengruen: Das reicht aber nicht aus. Es ist Leif: Diese Sendungen gehören zu Ihrem Unter- nehmen. auch wichtig, klar zu benennen, wo diese Forma- te bestimmte Grenzen überschreiten. Nämlich Löschburg: Ja, aber ich kann nicht verantworten, dort, wo sie die Mitwirkenden vorführen und der was die Kollegen machen. Jeder kann sein Ge- Lächerlichkeit preisgeben, und wo nur das Ge- wissen nur für sich selber verantworten. Ich per- fühl der Schadenfreude bei den Zuschauern sönlich muss jeden Morgen in den Spiegel bli- befriedigt wird. Natürlich bedienen längst nicht cken und sagen: „Ja, ich rede noch mit dir.“ Dar- alle Formate diese Gefühle, aber eben manche. um bin ich auch sehr dankbar für diesen Einwurf. Hinterher haben manche der bloßgestellten Pro- Man muss diese einzelnen Formate wirklich un- tagonisten im wirklichen Leben riesige Probleme. terscheiden. Das ist nicht in Ordnung. Sie haben natürlich Recht, man wollte bestimmte Für Coaching-Formate trifft das übrigens im All- Geschichten erzählen, hat dafür aber keine Men- gemeinen nicht zu. Sie vermitteln oft positive schen gefunden, keine Protagonisten, keinen Werte. Ein Produkt wie „Raus aus den Schulden“ Cast, der bereit war, solche Geschichten mitzu- mit Herrn Zwegat könnte sehr gut auch bei den tragen. Also hat man sich entschieden, Laien- Öffentlich-Rechtlichen laufen. Da werden die darsteller zu engagieren und zu inszenieren. Leute nicht verheizt und lächerlich gemacht. Das Trotzdem lassen sich nicht alle Sendungen über Format bedient nicht Schadenfreude, sondern ist einen Kamm scheren. der Versuch, den Menschen zu helfen. Leif: Das ist klar. Darum haben wir ja versucht, Leif: Herr Beckmann, Sie haben im Vorgespräch zu differenzieren. Trotzdem, Frau Löschburg, gesagt, „Bauer sucht Frau“ könnte ohne Proble- habe ich eine Frage an Sie: Ist denn „Bauer sucht me auch in der ARD laufen. Frau“ aus Ihrer Sicht auch ein Sozialporno? Beckmann: Der Norddeutsche Rundfunk hatte Löschburg: Nein, überhaupt nicht. ein Format, was vor „Bauer sucht Frau“ lief. Auch Leif: Nein? Da wird doch beispielsweise folgen- darin wurden Landwirte „verkuppelt“. Das ist dermaßen angeteasert: „Erik lebt seit 20 Jahren etwas, mit dem ich definitiv keine Probleme ha- alleine und sucht trächtige Erika.“ be. Die entscheidende Frage ist, mit welcher Intention diese Formate produziert werden. Wol- Löschburg: Nein. len wir tatsächlich den Menschen helfen und Leif: In den Teasern wird sexualisiert. stellen wir sicher, dass wir nicht Leute vorfüh- ren? Wollen wir tatsächlich Realität abbilden, so Löschburg: Nein. wie wir sie vorfinden? Man darf auch Impulse Leif: Nein? geben, aber am Ende des Tages dürfen diese nicht durch ein Kamerateam verschlimmert wer- Löschburg: Nein. den. Man darf nicht gezielt die Dinge filmen, die Leif: Und ist es gescripted? man im Kopf hat, aber nicht der Realität entspre- chen. Diese Regel gilt auch für Casting-Formate. Löschburg: Nein. Darum kann man auch nicht sagen, dass Leif: Herr Veiel, Sie schauen die Sendung ja auch Casting-Formate grundsätzlich nicht für öffent- regelmäßig. Ist es gescripted? lich-rechtliche Sender geeignet sind. Im Gegen- (Gelächter) teil. Aber die Öffentlich-Rechtlichen müssen klar machen, wo der qualitative Unterschied ist. Als Veiel: Da ist jetzt die Projektionsleinwand doch positives Beispiel wäre hier Stefan Raab bei uns größer als die Realität, Herr Leif. Ich wollte noch in der ARD zu nennen. In seiner Casting-Show auf einen Punkt zurück, und zwar die Frage nach wurden die Kandidaten nicht herabgewürdigt, der Verantwortung: Die Medien wirken leitmoti- hier ging es nicht darum, sich über sie lustig zu visch mit ihrer Art, wie sie bestimmte Konflikte machen. Es war tatsächlich das ehrliche Bemü- abbilden. Das führt dazu, dass Zuschauer dieses hen, ein Talent zu finden. Für uns war es großar- Verhalten kopieren – vor allem sehr junge Zu- tig zu erleben, wie die Medienöffentlichkeit dies 8/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps diskutiert hat. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Leif: Aber in etwas variierter Form? Casting-Show ein notleidendes Genre, das mit Beckmann: Nein, noch einmal. (lacht) der Figur Dieter Bohlen verbunden war – aber nun wurde jemand wie Lena gefunden, eine Leif: Ich frage nur nach, bis ich es verstehe. Künstlerin, die europaweit die Menschen und Beckmann: Wir analysieren diese Formate und ihre Herzen begeistern konnte. Das hat gezeigt: prüfen, wie viel Impuls wir zulassen können und Es geht auch anders. ab welchem Zeitpunkt es ein Format ist, das wir Leif: Bleiben wir noch einen Augenblick bei nicht anfassen würden. Scripted Reality. Herr Beckmann, Sie sind Me- Leif: Wie würden Sie als Vertreter einer anderen dienmanager: Wenn Sie hören, dass RTL mit öffentlich-rechtlichen Anstalt entscheiden? Wür- diesen Sendungen Nachmittagsquoten von 30 den Sie so etwas in variierter Form produzieren? Prozent hat, schrillen bei Ihnen da nicht die A- larmglocken? Bedeutet dies nicht, dass Sie sol- Bergengruen: Sie können uns noch so oft fragen: che Formate künftig im Vorabendprogramm der Diese Form der Scripted Reality findet in der ARD ARD machen müssen? Prüfen Sie deshalb, wie nicht statt. Aber natürlich überlegen wir, welche weit die ARD oder der NDR mit solchen Formaten Doku-Soaps für uns möglich sind, die mit der gehen kann? privaten Konkurrenz mithalten können. Bei- spielsweise produzieren wir mit Frau Löschburg Beckmann: Nein, in der Form, in der wir über derzeit eine wunderbare Serie über Dörfer in Scripted Reality reden, geht gar nichts. Wir kön- Deutschland und das Leben dort. Dabei gehen nen an der Stelle nichts machen. Und es ist auch wir auch sehr nah an die Menschen heran. Wir nicht möglich, dass wir ein Format erfinden, das versuchen also innerhalb unserer Grenzen, mit dokumentarisch daherkommt, nur um, die Fall- dem, was wir mit Gebührengeld verantworten höhe zu vergrößern. können, genauso die Zuschauer zu erreichen wie Leif: Geht es denn etwas milder? die Privaten. Aber ich sage auch ganz offen: Es ist in der jetzigen Lage wirklich schwer. Den Beckmann: Es gibt Grenzfälle, darüber hat Herr Dammbruch können und wollen wir bei uns nicht Bergengruen ja gerade geredet. Es gibt viele zulassen. Das geht mit Gebührengeldern nicht. Dokumentationen, in denen das Kamerateam Trotzdem konkurrenzfähig zu bleiben ist schwer. Impulse setzt und beispielsweise Menschen zusammenführt. Das geschieht natürlich auch Insgesamt ist übrigens meine These, dass die nur, weil es inszeniert ist. Was sich aus diesem Entwicklung wieder zum fiktionalen Erzählen Impuls aber entwickelt, muss echt sein. Da kann zurückgehen wird. Dies ist eine Entwicklung, die man nicht anfangen, den Menschen ein X für ein in anderen Ländern – nehme Sie England oder U vorzumachen. die USA– auch schon stattfindet. Denn die dra- maturgischen Variationsmöglichkeiten und Leif: Ist Scripted Reality eine Chance für den Spielräume sind bei der Fiktion einfach größer. NDR? Ich vermute, dass die Öffentlich-Rechtlichen, Beckmann: Man darf zumindest keine Denkver- aber auch die Privaten, in ein paar Jahren wieder bote verhängen. Egal welche Formate im Moment mehr zu fiktionalen Serien zurückkehren werden. auf dem Markt sind: Man muss sie analysieren Derzeit erleben wir wohl den Peak der Scipted- und herausfinden, was das Publikum daran so Reality-Formate. fasziniert. Und man muss das Publikum analy- Leif: Aber der Erfolgsdruck, unter dem Sie derzeit sieren. Dann weiß man, dass zwei Drittel der stehen, ist doch beachtlich? Zuschauer von Scripted-Reality-Formaten ältere Frauen sind. Wir Programmmacher müssen eine Bergengruen: Damit haben wir gelernt zu leben. Vorstellung davon haben, welche Zielgruppe Wir geben unsere Prinzipien nicht auf. Noch sich für diese Formate interessiert. einmal: Wir haben Gebührengelder zu verantwor- ten, und da gehen bestimmte Sachen nicht. Auf Leif: Und wie fließt das in einen NDR-Film ein? der anderen Seite beschäftigen auch wir uns Beckmann: Wenn wir die Analyse abgeschlossen immer damit, wie wir in unseren fiktionalen Fil- haben, fragen wir uns, was mit dem Geld ist, men Realität abbilden und ihnen einen doku- dem Production Value. Diese Formate werden mentarisch-authentischen Charakter verleihen sehr günstig produziert. Man kann sie für einen können. Ich nenne als Beispiel den Film „Moga- Preis produzieren, mit dem sich fiktionale Ge- dischu“ über die Entführung der Landshut. Der schichten nicht erzählen lassen. Insofern lernen arbeitet ja auch mit solchen Mitteln – beispiels- wir von diesen Formaten. Trotzdem bleiben die weise dem permanenten Einsatz der Handkame- Grenzen, die ich bereits skizziert habe. Men- ra. Dieser Film hat sehr viele semi- schen herabwürdigen und bloß zu stellen, nur dokumentarische Elemente. um ein Milieu zu schildern, ist ein Tabu. Leif: Herr Pörksen, Sie kennen diese Medienwelt. Leif: Und trotzdem kommt demnächst ein ver- Nehmen Sie den beiden Herren diese ökonomi- gleichbares Produkt auch beim NDR an den sche Vision ab, dass man keinen Dammbruch Start? eingehen würde? Oder ist der Druck so groß, dass man sich verändern muss? Beckmann: In dieser Form nicht, nein. 9/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps Pörksen: Sie spielen auf ein internes Papier der werden sollten. Sie haben sich zu Recht über die ARD an, in dem es um ein Scripted-Reality- Herabwürdigung in Casting-Shows aufgeregt. Format für das Öffentliche-Rechtliche geht. Die- Doch haben Sie einfach mal „Pocher und ses Papier habe ich auch gelesen. Es ist der Vor- Schmidt“ eingeschaltet und den Fall Ringele schlag einer Scripted-Reality-Fassung in Light- nachvollzogen? Dort geschah eine Herabwürdi- Form. Ich bin offen gestanden nicht sicher, wie gung zweiter Ordnung. (Anmerkung: Pocher und das funktionieren soll – vor allem aus Zuschau- Schmidt machten sich über die Ausstrahlung des ersicht. Wenn man über Sendeplätze, Programm- Auftritts eines 17-jährigen Kandidatens bei formate und diese scheinbar so sauberen Ab- „Deutschland sucht den Superstar“ lustig.) grenzungen argumentiert, ist die Sicht des Zu- Mein Problem ist: Bei den Öffentlich-Rechtlichen schauers doch eine andere. gibt es eine pauschale Glorifizierung dieser Pro- Leif: Scripted Reality Light, gibt’s das? minenten, die mit ähnlichen Mitteln entweder auf einem anderen Sender oder aber unter der Beckmann: Für uns geht es darum herauszufin- Rubrik Satire operieren. Wenn sich Pocher und den, wie wir Fiction günstiger machen können. Schmidt über die schlimmen Castingfälle bei Wir wollen Geschichten erzählen, das ist die Grundvoraussetzung. Möglicherweise kann man Bohlen lustig machen, unterscheidet sich dies nicht von Bohlen selbst. die Geschichten auf einem Produktionslevel erzählen, das einen günstigen Minutenpreis hat. (Applaus) Es geht ja um Strecken am Nachmittag, da müs- Beckmann: Also ich würde mich gerne zu Stefan sen Sie Stunden von Programm füllen! Da su- Raab äußern. Ich habe die Casting-Shows gese- chen die Produzenten nach Formaten, die nicht hen. Der Norddeutsche Rundfunk hat sie für die so teuer sind – und trotzdem bei uns reinpassen. ARD außerdem verantwortet. Ich war hellauf Sie müssen ja unseren Qualitätsanforderungen begeistert, weil wir gezeigt haben, dass es ohne genügen. Wenn wir da etwas finden, dann ist es Herabwürdigung geht. Es war ein Risiko, zumin- zunächst ein Experiment, das sich lohnen könn- dest live on tape, bei der man nicht steuern te. Schließlich gibt es Graustellen, über die man kann, was am Ende dabei herauskommt. Stefan reden sollte. Wo beginnt denn bei einem Journa- Raab hatte uns gegenüber immer gesagt, dass listen die Inszenierung? In jedem journalisti- die Musik und das Talent im Vordergrund steht. schen Beitrag gibt es diese Graustellen. Mal hat Und das war auch so. Halten Sie diese Sendung die Kamera gestreikt, dann muss man die Szene gegen die von Dieter Bohlen und Sie sehen einen noch einmal nachdrehen. Mal ist der O-Ton zu ganz deutlichen Unterschied. Es ist wichtig, dass lang, dann lässt man sich den noch einmal kür- gerade das Öffentlich-Rechtliche Beispiele zeigt, zer geben. Da inszenieren auch die Journalisten dass es auf einem bestimmten Niveau geht – die Wirklichkeit, damit sie so komprimiert wird, sogar mit vielen Zuschauern. Wir haben nach 28 dass sie auch für das Medium funktioniert. Jahren den Grand Prix geholt und wir sind immer Pörksen: Ich wollte noch eine Nachfrage stellen. noch stolz drauf. Ich habe es natürlich einfach, ich sitze im Elfen- Leif: Okay. Ich glaube, die Positionen sind ver- beinturm, trage meine normativen Ansprüche an ständlich geworden. Ich würde gerne zum die Welt und sehe, dass die Welt diesen Ansprü- Schluss dieses ersten Blocks noch mal Frau chen leider nicht genügt. Löschburg fragen: Sie haben jetzt genau zuge- Beckmann: Sie können gerne bei uns ein Prakti- hört, wie sich die Herren Scripted-Reality- kum machen. Formate vorstellen. Könnten Sie sich denn vor- (Gelächter) stellen, dass Sie mit einer Ihrer Firmen diesen Dienstleistungswünschen entgegenkommen und Leif: So aufgeklärt ist Ihre Rolle, das ist ja schon so etwas produzieren? etwas. Löschburg: Das machen wir ja bereits. Wir pro- Pörksen: Mich wundert dieses Lob für Stefan duzieren Doku-Soaps, und zwar solche, die man Raab. Ich beobachte das, wie Intellektuelle sa- auch so definieren würde: Auf der einen Seite gen: „Ja, was für ein toller Typ, was für ein wun- der Blick auf die Realität und auf der anderen derbarer Mensch, was für ein genialer Musik, Seite das Soapig-Aufbereitete. Da wird nicht was für ein genialer Promoter.“ Es spielt keine gescripted, da wird für die Kamera inszeniert, Rolle, was der in seinem daily Life tut. Erinnern wie Herr Beckmann eben erklärt hat. Da macht wir uns mal an den Fall Lisa Loch! (Anmerkung: man einen Gang noch mal. Da gibt man auch Eine Minderjährige, die Stefan Raab in seiner Impulse an die Menschen rein – und ansonsten Show aufgrund ihres Namens in einen lächerlich beobachtet man die Menschen dabei, was sie machenden, sexualisierten Kontext darstellte; tun. Raab wurde später zu 70.000 Euro Schadenser- Leif: Gut, aber ich meine konkrete Scripted- satz verurteilt) Ich würde behaupten, ein Prob- Reality-Formate. Würden sie solche auch produ- lem der Öffentlich-Rechtlichen ist es, dass sie Hybridfiguren zulassen. Personen wie Stefan zieren – in einer soften Form, wie hier skizziert? Raab sind Grenzgänger, die von den Öffentlich- Löschburg: Soweit ich ihn verstanden habe, Rechtlichen mit moralischen Fragen konfrontiert sollen es Formate sein, die eher in die Richtung 10/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps Fiction gehen. Die Anfänge waren Telenovelas. man auch mit klassischer Dokumentation oder Und da muss ich mal sagen, weiß ich nicht, ob mit klassischer Reportage ein Publikum errei- das noch billiger geht. Für diese Formate braucht chen kann. Dieser Film des NDR, der in der ARD es Schauspieler, Künstler, Regisseure, Kamera- lief, war ein großer Erfolg – auch publizistisch, leute, Beleuchter, die natürlich ein sehr profes- denn die Recherchen haben etwas bewirkt. Herr sionelles Handwerk liefern. Und da ist die Tele- Beckmann, warum bauen Sie nicht mehr auf novela schon der Bodensatz. diese Art Journalismus und versuchen, das im Programm prominent zu platzieren? Leif: Kommunikation ist eine schwierige Sache. Ich bin wahrscheinlich mit Vorsatz missverstan- Beckmann: Das machen wir, denn genau das ist den worden oder ich habe ungenau gefragt. Nun unsere Aufgabe. Auf den KIK-Film sind wir wirk- schauen wir uns ein zweites Beispiel an. Wir lich sehr, sehr stolz. Es geht natürlich darum, wollen ja auch sehen, welche Alternativen es Geschichten zu finden und zu recherchieren. gibt. Vielleicht mal ein positives Beispiel, wie Auch sehr, sehr arbeits- und zeitaufwendige man mit wenig Geld auch hervorragendes Fern- Recherchen. Doch dieser Film ist alles andere als sehen machen kann. Wir schauen uns einen günstig. Die Journalisten, die das recherchierten, Ausschnitt aus der „KIK-Story“ der Panorama- mussten mehrmals nach Bangladesch fliegen, Reporter an. um vor Ort zu recherchieren. Das sind Geschich- ten, die über Monate gemacht werden. Das ist alles andere als unaufwendig. Und natürlich sind MAZ: dies Filme, die wir im Ersten und im NDR- Sprecher: Am letzten Tag vor meinem Rückflug Fernsehen vor allem wünschen. Wir orientieren gehe ich noch einmal zu Alea. Ich will wissen, wie uns an dieser Richtung. Nur lassen sich solche es ihrem todkranken Cousin geht, den sie immer Recherchen nicht am Fließband herstellen, weil ihren Bruder nennt. Ich erlebe die erschütternds- es dazu hervorragende Journalisten braucht, ten Momente dieser Reise. Und ich sage zu mir: eine hervorragende Ausstattung und Zeit, diese Du musst dem Jungen hier irgendwie helfen. Teams recherchieren zu lassen. Und es hat ein Und: Du musst das fotografieren, dokumentieren gewisses Risiko, denn im Zweifel kommt auch und KIK-Chef Heinig zeigen, der die Menschen mal bei einer Recherche nichts heraus und es hier mit seiner Preisdrückerei in Armut hält. entsteht kein Film. Das müssen Sie sich leisten können. Sprecher im On: Das kann man nicht beschrei- ben. Der stirbt. Der stirbt. Leif: Doch die Zutaten haben Sie alle. Sprecher: 48 Stunden später. Ich bin wieder in Beckmann: Ja. Wir haben auch ausgebaut, bei- Deutschland und weiß, dass ich Stefan Heinig an spielsweise bei dem Dokumentationsplatz „45 diesem Abend in diesem Düsseldorfer Hotel an- Min“. Wir wollen eine Zusammenführung aller treffen kann. Dokumentationen auf einem wöchentlichen Platz, damit die Filme wahrgenommen werden. Sprecher im On: Tag, Herr Heinig, Lütgert, nord- Wir haben auch die Sendung „Panorama, die deutsches Fernsehen. Ich bin gestern aus Bang- Reporter“ verstärkt. Das ist eine Sendung, die ladesch zurückgekommen. Würden Sie sich bitte gab es vorher vielleicht vier- oder fünfmal im dieses Bild mal ansehen? Da stirbt ein Junge. Jahr. Wir haben sie nun versucht, so auszubau- Seine Schwester ist KIK-Näherin. Und sie verdient en, wie es mit dem Personal überhaupt möglich so wenig, dass sie sich keinen Arzt für ihn leisten ist. Die kommen irgendwann auch schlicht an kann. Was sagen Sie dazu? Wollen Sie dazu ihre Grenzen, denn sie können halt nicht die nichts sagen? Die Gewerkschaft in Bangladesch ganze Zeit durch die Welt reisen. Irgendwann sagt uns, dass ... muss man auch mal schlafen. Sie haben bei Heinig: Ich denke mir, ich weiß, was ... einer sehr eng geführten Crew nicht beliebig viele Ausweitungsmöglichkeiten, da sind uns Sprecher im On: Die Gewerkschaft in Bangla- Grenzen gesetzt. Das Eigenrecherchierte ist das desch sagt uns, dass KIK der schlimmste Kosten- Wesentliche, was uns im Fernsehmarkt nach drücker ist. vorne bringt. Heinig: Ich denke, das machen wir ein anderes Leif: Würden Sie davon ausgehen, dass diese Mal. Formate im ARD-Programm ausreichend gut plat- Sprecher: Wir alarmieren das Kinderhilfswerk ziert sind, ausreichend gut ausgestattet sind und UNICEF und können erreichen, dass der todkran- frühzeitig gesendet werden? ke Rana aus dem Slum geholt und in ein Kran- Beckmann: Das ist unsere Aufgabe. Die Aufgabe kenhaus gebracht wird. Und wie reagierte KIK? haben Sie als Fernsehdirektor. Sie müssen dafür Ende MAZ sorgen, dass solche Programme auch zu guten Sendezeitungen gezeigt werden. KIK, um das mal zu sagen, lief um 21.45 Uhr, das ist ein früher Leif: Das war nur ein Beispiel. Interessant ist, Sendetermin. Wir haben immer das Problem mit dass sich niemand bei unserer ganzen Diskussi- Dokumentationen. Man muss sich wohl überle- on über Scripted Reality stark gemacht hat, dass gen, wo man sie platziert – weil sie nun mal 11/23
nr-Dossier 5 Die gedopte Realität: Scripted Reality und neue Doku-Soaps nicht Mainstream sind. Als Programmplaner Beckmann: Durchhalteparolen sind für mich haben sie also immer die Schwierigkeit: Wenn nicht die Lösung, denn es geht nicht darum, Sie einen sehr relevanten Stoff um 20.15 Uhr dass wir etwas durchhalten, sondern es geht zeigen, der aber kein großes Publikum findet, darum, dass wir gemeinsam Rezepte finden, wie dann sind auch alle nachfolgenden Sendungen wir Leute für solche Themen begeistern. Das ist automatisch davon betroffen. Darunter leiden unsere Aufgabe. Nehmen wir zum Beispiel die die politischen Magazine und die „Tagesthe- Filme „Mogadischu“ oder „Bis nichts mehr men“. Deswegen versuchen wir große Dokumen- bleibt“, ein Film über Scientology, da ist man mit tationen auch in der Primetime zu zeigen oder an einem fiktionalen Aufschlag in den Programm- anderen Plätzen, wo es thematisch passt. Und abend gestartet. Wir wissen, dass das funktio- außerdem gibt es ja inzwischen die Mediathek, niert. Wir müssen die Art von Geschichten erzäh- in der die Zuschauer sich die Filme noch einmal len, die funktionieren und sie so umsetzen, dass ansehen können. sie für die Menschen begreifbar sind und eine Wirkung erzielen. Dafür ist allein ein verlässli- Leif: Nur als Gegenkontrastbemerkung: Im ZDF cher Sendeplatz viel wert, beispielsweise bei laufen neue Produktionen um 1.40 Uhr am frü- den „45-Min“-Dokumentationen. Wenn wir die- hen Morgen. Herr Veiel, wie ist Ihre Wahrneh- mung, sehen Sie auch, dass das Dokumentari- sen festen Sendeplatz jede Woche mit ordentli- chen Produktionen bestücken können und dort sche so stark ist? auch einen gewissen Qualitätsmaßstab haben, Veiel: Ich mache jetzt seit 20 Jahre Dokumentar- dann werden wir dort auch Menschen versam- filme – und habe bei keinem einzigen Film vor- meln. Da gehört der lange Atem dazu. Aber die neweg vom Fernsehen Geld für eine Recherche eigentliche Kunst gerade für die großen Werke bekommen. Wenn, dann über die Filmförderung, muss sein, sie so überzeugend zu machen, dass was auch immer schwieriger wird. Das Fernsehen sie prime-time-tauglich werden. Das kostet im erwartet, dass man in Vorleistung geht und wenn Übrigen sogar noch ein bisschen mehr als das, es dann wirklich gut ist, steigt es mit ein. Ich was gute Dokumentationsfilme kosten. nehme das ja sehr gerne wahr, was Sie jetzt Leif: Herr Bergengruen, hat Herr Veiel Ihnen aus sagen, Herr Beckmann, aber das wäre wirklich ein Epochenwechsel, wenn Sie sagen: Wir unter- dem Herzen gesprochen? stützen Leute, die recherchieren, und dabei kann Veiel: Die Gefahr ist doch, dass Wirklichkeit auch mal nichts herauskommen. Das ist wirklich durch die Hintertür doch in eine bestimmte Rich- neu und das finde ich großartig. Und da werden tung gelenkt wird, dass bestimmte Thesen, die Sie auch beim Wort genommen. einen Stoff spannender machen, verfolgt wer- (Gelächter) (Applaus) den. Die Recherche würde eigentlich in eine vielleicht offenere Betrachtungsweise führen, Leif: Herr Veiel, kommen Sie mit Ihren Dokumen- aber es muss dann eben doch zugespitzt wer- tationen vor, so wie Sie das möchten? Werden den. Wir haben vorher über die Herausforderung Sie so gefördert, haben Sie solche Entfaltungs- gesprochen, Ambivalenzen zuzulassen. Das spielräume, wie es nötig wäre? bedeutet, eben nicht sofort schnell etwas attrak- Veiel: Ich arbeite derzeit an einem historischen tiv zu verpacken, sondern einen Zuschauer in Film und bin bei den Recherchen dazu gekom- einen Stoff hineinzuführen, bei dem er nicht men, viele frühere Produktionen von vor bis zu sofort belohnt wird. 40 Jahren zu sehen. Das Fernsehen hat damals Beckmann: Damit hätte ich Schwierigkeiten. viele Qualitätsstandards gesetzt. Nur wenig ist heute davon noch übrig. Es ist an der Zeit, dass Veiel: Die Belohnung kommt danach. das öffentlich-rechtliche Fernsehen wieder den Beckmann: Nein, nein, der Dissens an der Stelle Mut hat, etwas zu wagen – auch wenn das Publi- wäre, dass Sie sagen, es müsste immer mundge- kum nicht sofort aufspringt. Das ist unser Auf- recht sein, und egal, was die Recherche sagt, wir trag, wir gewöhnen das Publikum da wieder da spitzen es auf jeden Fall zu. Das stimmt nicht dran, wir schaffen eine Neugierde für etwas, das und das ist auch nicht das, was die Leute von vielleicht jetzt so noch nicht da ist. Derzeit do- uns erwarten. Die Leute erwarten von uns, dass miniert aber ein vorauseilender Gehorsam. Man wir ein wahrhaftiges Bild der Wirklichkeit zeich- orientiert sich an einer Produktverkäuflichkeit, nen. Nur: Wir müssen sie dafür begeistern. Ein auch wenn es vordergründig immer heißt, dies Journalist muss sich darüber Gedanken machen, stimme nicht und der Auftrag sei ein ganz ande- wie er eine Geschichte erzählt. Da springen die rer. De facto wissen wir alle, dass es die große Journalisten für mich eine Nummer zu kurz. Wir Angst am Abend gibt: Man guckt auf die Quote. müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die The- Die Gefahr ist groß, dass eine Sendung schnell men vermittelt werden. abgesetzt wird, obwohl sie qualitativ gut war, Veiel: Wir haben über den Ethos des Dokumenta- wenn die Quoten schlecht waren. Da wird nicht rischen gesprochen. Die Frage ist: Was heißt das auf einen längeren Atem gesetzt. Der Bildungs- ganz praktisch für diese Formate? Wir haben auftrag gerät schnell außer Acht. festgehalten, dass die Akteure nicht vorgeführt (Applaus) werden dürfen. Und gleichzeitig geht es darum, einen bestimmten Spannungsmoment in einer 12/23
Sie können auch lesen