Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft 2022 - Heinrich-Böll-Stiftung
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IMPRESSUM Der PESTIZIDATLAS 2022 ist ein Kooperationsprojekt von Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, PAN Germany und Le Monde Diplomatique. Inhaltliche Leitung: Christine Chemnitz, Heinrich-Böll-Stiftung (Projektleitung) Katrin Wenz, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. Susan Haffmans, Pestizid Aktions-Netzwerk e. V. Projektmanagement, Grafikrecherche: Martin Eimermacher Art-Direktion und Herstellung: Martina Puchalla, STOCKMAR+WALTER Kommunikationsdesign Textchefin: Carina Book Dokumentation und Schlussredaktion: Carina Book, Martin Pfaffenzeller Mit Originalbeiträgen von Johanna Bär, Ulrike Bickel, Wolfgang Bödeker, Silke Bollmohr, Carsten Brühl, Helmut Butscher-Schaden, Christine Chemnitz, Henrike von der Decken, Dave Goulson, Susan Haffmans, Johannes Heimrath, Falk Hilliges, Kristina L. Hitzfeld, Heike Holdinghausen, Carla Hoinkes, Jan Koschorreck, Dominic Lemken, Layla Liebetrau, Martha Mertens, Alexandra Müller, Moritz Nabel, Lars Neumeister, Anna Satzger, Achim Spiller, Katrin Wenz, Johann Zaller, Anke Zühlsdorf Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder. Die Flächenfarben der Landkarten zeigen die Erhebungsgebiete der Statistik an und treffen keine Aussage über eine politische Zugehörigkeit. Titel: © Martina Puchalla V. i. S. d. P.: Annette Maennel, Heinrich-Böll-Stiftung 1. Auflage, Januar 2022 Der Pestizidatlas liegt am 13. Januar 2022 der Gesamtauflage von Le Monde Diplomatique, deutsche Ausgabe, sowie am 15. Januar 2022 der Abonnementauflage der Tageszeitung „taz“ bei. ISBN 978-3-86928-242-8 Produktionsplanung: Elke Paul, Heinrich-Böll-Stiftung Druck: Bonifatius Druck, Paderborn. Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier. Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – 4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis Pestizidatlas, Eimermacher/Puchalla, CC BY 4.0 in der Nähe der Grafik steht (bei Bearbeitungen: Pestizidatlas, Eimermacher/Puchalla (M), CC BY 4.0.) BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin, www.boell.de/pestizidatlas Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V., Kaiserin-Augusta-Allee 5, 10553 Berlin, www.bund.net/pestizidatlas Pestizid Aktions-Netzwerk e.V. (PAN Germany), Nernstweg 32, 22765 Hamburg, www.pan-germany.org/pestizidatlas Der Pestizidatlas kann bei der Heinrich-Böll-Stiftung auch im Klassensatz für den Unterricht bestellt werden. Die Bestellbedingungen finden Sie auf unserer Website boell.de/publikationen. Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft 2022 DER PODCAST ZUM PESTIZIDATLAS Warum sind Pestizide ein gravierendes Problem für unsere Umwelt und Gesundheit? Warum werden sie nicht strenger kontrolliert und wie lassen sich Pflanzen und Ernten ohne Pestizide vor Schädlingen schützen? Um diese Fragen wird es in unserem Böll.Fokus zum Pestizidatlas gehen. Diesen und weitere Podcasts der Heinrich-Böll-Stiftung können Sie auf unserer Webseite, bei Soundcloud, Spotify, Apple-Podcasts oder in der Podcast-App Ihrer Wahl abonnieren. Um den Podcast zum Pestizidatlas zu hören, geben Sie folgenden Link ein: boell.de/pestizidatlas-podcast
INHALT 02 IMPRESSUM 18 GESUNDHEIT SCHWERE FOLGEN 06 VORWORT 385 Millionen Menschen erkranken jährlich an Pestizidvergiftungen. Ein internationaler 08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation ÜBER PESTIZIDE IN DER soll den weltweiten Umgang mit Pestiziden LANDWIRTSCHAFT verbessern und Vergiftungen vermeiden. Doch weil gesetzliche Regelungen fehlen, 10 PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT passiert wenig. GEFÄHRLICHE SUBSTANZEN Jedes Jahr geht auf der ganzen Welt 20 RÜCKSTÄNDE ein Teil der landwirtschaftlichen Produktion DRAUF UND DRAN durch Schädlingsbefall und Pestizidanwendung führt zu Rückständen Pflanzenkrankheiten verloren. in Lebensmitteln, denen vor allem im Pestizide sollen dagegen helfen. Dabei globalen Süden viele Menschen ausgesetzt verursachen sie neue Probleme. sind. Belastete Ware aus dem außereuropäischen Ausland, wo weniger reguliert wird, 12 KONZERNE landet als Import auch auf EU-Tellern. GROSSE GESCHÄFTE Der weltweite Pestizidmarkt wächst – und 22 BIODIVERSITÄT IN DEUTSCHLAND es sind nur eine Handvoll Konzerne, BEDROHTE VIELFALT die ihn untereinander aufteilen. Immer Seit Jahren warnen Fachleute: Auf Acker, stärker investieren sie in den Ländern Feld und Wiese geht in Deutschland die des globalen Südens, wo Pestizide weniger biologische Vielfalt verloren. Eine der streng reguliert werden. Ursachen ist der Einsatz von Pestiziden. 14 PESTIZIDEINSATZ IN DEUTSCHLAND 24 INSEKTENSTERBEN WENIG VIELFALT, EIN ÖKOLOGISCHES WENIG FORTSCHRITT ARMAGGEDON Seit 25 Jahren liegt in Deutschland der Insekten bestäuben Blüten, bekämpfen Absatz von Pestizidwirkstoffen auf Schädlinge und sorgen für reichhaltige relativ konstantem Niveau. Das bedeutet Ernten. Seit langem schrumpfen ihre jedoch nicht, dass die negativen Populationen dramatisch, was Mensch Auswirkungen auf die Umwelt konstant und Natur in Bedrängnis bringt. bleiben. Pestizide haben daran ihren Anteil. 16 ZULASSUNGSVERFAHREN 26 NÜTZLINGE GRÜNES LICHT FÜR RISIKEN NATÜRLICHE HELFER Bevor Pestizide auf den Markt kommen, Tiere wie Marienkäfer, Schlupfwespen durchlaufen sie einen Genehmigungsprozess, oder Ohrenkneifer sind natürliche in dem ihre Wirkungen getestet Schädlingsbekämpfer und wirkungsvolle werden. Die indirekten Folgen auf Pflanzenschützer. Sie sind gut für die Nahrungsketten und Biodiversität sowie Umwelt und sparen Kosten, doch ihr der schwer kalkulierbare Effekt von Lebensraum wird durch den Pestizideinsatz Pestizidmischungen finden kaum Beachtung. bedroht. 4 PESTIZIDATLAS 2022
28 GEWÄSSER 38 BEHÖRDEN DA SCHWIMMT WAS MIT COPY & PASTE Umweltfachleute weisen regelmäßig nach, Bayer und andere Unternehmen kämpfen für die wie stark Flüsse, Seen, Küstengewässer Wiederzulassung von Glyphosat in der EU. Dazu und Grundwasser durch Pestizide belastet müssen sie beweisen, dass sein Wirkstoff nicht sind. Die Schadstoffe stammen häufig aus krebserregend ist. Doch die vorgelegten Studien der Landwirtschaft und gelangen durch sind alt – und deuten auf das Gegenteil hin. Versickerung, Oberflächenabfluss und Abdrift in die Gewässer. 40 JUGENDUMFRAGE VERÄNDERUNG GEWOLLT 30 FERNTRANSPORT Junge Menschen sind besorgt über den Einsatz VOM WINDE VERWEHT von Pestiziden in der Landwirtschaft und Pestizide bleiben nicht immer dort, wo sie fordern die Politik zum Handeln auf. Sie wollen ausgebracht werden. Sie gehen mehr Ökologie auf dem Acker und buchstäblich in die Luft: Wind weht sie auf plädieren für eine stärkere Unterstützung von benachbarte Grundstücke oder trägt sie landwirtschaftlichen Betrieben. teilweise viele hundert Kilometer weit. In Zulassungsverfahren spielt das kaum eine Rolle. 42 DIGITALISIERUNG WEM NUTZT DAS DIGITAL-UPDATE? 32 GENTECHNIK Roboter, Drohnen und Algorithmen in der VERÄNDERTE PFLANZEN, Landwirtschaft sind zu einem großen Geschäft MEHR PESTIZIDE mit großen Versprechungen geworden. Sie sollen Gentechnische Eingriffe in Saatgut sollten Betrieben dabei helfen, mit weniger Pestiziden den Einsatz von Chemie in der Landwirtschaft auszukommen. Ob das funktionieren wird, ist unklar. reduzieren, die Arbeitsbelastung verringern und höhere Ernteerträge ermöglichen. Realisiert 44 POLITIK haben sich diese Versprechungen nicht. EINIGES MUSS PASSIEREN Seit Jahrzehnten liegt in Deutschland der 34 KLEINBÄUERLICHE BETRIEBE Verkauf von Pestizidwirkstoffen weitgehend NEUE MÄRKTE, ALTE PROBLEME unverändert hoch bei circa 30.000 Tonnen. Auf dem afrikanischen Kontinent werden Zivilgesellschaftliche Initiativen fordern deutlich weniger Pestizide eingesetzt deshalb gesetzliche Regelungen und finanzielle als in anderen Weltregionen. Dennoch Anreize für Ökolandbau. geraten die 33 Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern immer stärker in den Fokus 46 PESTIZIDFREIE REGIONEN der Pestizidunternehmen. Ihnen wird auch ERFREULICHE ANSÄTZE verkauft, was in der EU verboten ist. Beispiele aus der ganzen Welt zeigen: Immer mehr Städte, Staaten und Regionen 36 IMPORTE UND EXPORTE versuchen, weniger Pestizide auf ihren Feldern VERBOTEN UND VERKAUFT und Flächen auszubringen – oder gar Viele Pestizidwirkstoffe haben ihre komplett auf chemische Mittel zu verzichten. Genehmigung in Europa verloren. Exportiert werden dürfen sie trotzdem: häufig in Länder 48 AUTORINNEN UND AUTOREN, des globalen Südens, wo viele Menschen QUELLEN VON DATEN, KARTEN ihnen oft schutzlos ausgeliefert sind. UND GRAFIKEN PESTIZIDATLAS 2022 5
VORWORT I m Bier und im Honig, auf Obst und Gemüse, im Gras auf Spielplätzen und sogar im Urin und in der Luft – „ Noch nie in der Geschichte wurden weltweit so viele Pestizide eingesetzt wie heutzutage überall lassen sich mittlerweile Spuren von Pestiziden aus der Landwirtschaft nachweisen. Dabei ist die Erkenntnis, mit großer Artenvielfalt hat der Anbau dass sich Pestizide negativ auf die von gentechnisch verändertem Soja menschliche Gesundheit auswirken, dazu beigetragen, dass der Pestizideinsatz keineswegs neu. Auch ist seit Jahren dramatisch steigt. bekannt, dass sie massiv Insekten und Pflanzen schädigen und Gewässer In Deutschland hat sich die eingesetzte kontaminieren. Pestizidmenge in den letzten Jahrzehnten nur minimal verringert. Bemühungen Bereits 1962 veröffentlichte Rachel um eine Reduktion des Pestizideinsatzes Carson ihr weltweit anerkanntes Buch und seiner schädlichen Auswirkungen auf „Silent Spring“ – der stumme Frühling, Mensch, Natur und Umwelt fehlte bislang in dem die Biologin die schädlichen offenkundig der politische Wille. Auswirkungen der Pestizidanwendung K beschrieb. Es gilt als wegweisend für aum ein Land weltweit hat eine die Umweltbewegung und als eines der ambitionierte Pestizid- einflussreichsten Sachbücher unserer Reduktionsstrategie oder gar Konzepte Zeit. Seitdem wurden viele Pestizide für eine Landwirtschaft, die wirklich vom Markt genommen. Neue kamen unabhängig vom chemischen mit dem Versprechen hinzu, sie seien Pflanzenschutz ist. Und das nicht ohne ungefährlicher für Gesundheit und Grund: Der Markt für Pestizide ist lukrativ. Umwelt. Ein Versprechen, das selten Nur wenige gut vernetzte und einflussreiche eingelöst wurde. Agrarchemiekonzerne teilen ihn unter sich auf. Ganz vorne mit dabei: deutsche T rotz vieler Verschärfungen in Unternehmen wie Bayer und BASF. Kein den Zulassungsverfahren und Wunder also, dass Deutschland einer der freiwilliger und verbindlicher größten Pestizidexporteure der Welt ist. Vereinbarungen zum Umgang mit Pestiziden werden sechzig Jahre nach Die vielversprechenden Wachstums- Carsons Buch weltweit so große Mengen märkte der Pestizidunternehmen liegen Pestizide ausgebracht wie nie zuvor. längst nicht mehr in Europa, sondern vor Laut einer aktuellen Studie ist die Zahl allem in Lateinamerika und Asien. Aber auch der jährlich von Pestizidvergiftungen in afrikanische Länder werden zunehmend betroffenen Menschen auf 385 Millionen Pestizide exportiert – nicht zuletzt solche, gestiegen, und der Pestizideinsatz ist als die in der EU aufgrund ihrer gesundheits- ein Hauptverursacher des Artenrückgangs oder umweltschädigenden Wirkung nicht anerkannt. Insbesondere in Ländern mehr zugelassen oder verboten sind. Eine 6 PESTIZIDATLAS 2022
langjährige Forderung der internationalen Zivilgesellschaft lautet deshalb: endlich Gesetze zu schaffen, die konsequenterweise „ Für eine ökologische Trendwende braucht es Umdenken in der Landwirtschaft – und politischen Willen diese giftigen Exporte verbieten. Dass die neue Bundesregierung sich in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet hat, Menschen keine Option. Es sollte ernsthafte entsprechend zu handeln, lässt hoffen. und wirksame Kontrollen und gleichzeitig Unterstützung für die Bäuerinnen und U m endlich die international Bauern geben, damit sie weniger Pestizide verpflichtenden Biodiversitätsziele verwenden. zu erreichen, schreitet die EU nun D voran: Sie fordert von den Mitgliedsländern urch die Klimakrise werden bis 2030 eine Reduktion des Pestizideinsatzes Pflanzenkrankheiten, Schädlingsbefall und der damit zusammenhängenden und Extremwetterlagen in vielen Risiken um fünfzig Prozent. Aus Sicht der Teilen der Welt zunehmen. Um den 1,2 Millionen europäischen Bürgerinnen dadurch erhöhten Druck auf nützliche und Bürger, die bis zum September 2021 die und unverzichtbare Insekten- und Bürgerinitiative „Save Bees and Farmers“ Pflanzenpopulationen zu verringern, unterschrieben haben, geht diese Forderung müssen sich unsere Agrarsysteme darauf jedoch nicht weit genug. Sie fordern einen einstellen, diesen Herausforderungen auch kompletten Ausstieg aus der Nutzung mit weniger Pestiziden zu begegnen. chemischer Pestizide bis 2035. Dafür müssen sie vielfältiger werden und Nützlinge als Verbündete schützen und In diesem Zusammenhang hat uns einsetzen. Den Kampf mit der Natur und interessiert, ob eine ambitionierte nicht gegen sie zu führen, ist eine enorme Politik zur Reduktion von Pestiziden Aufgabe. Für ihr Gelingen müssen wir die eine breitere Unterstützung auch unter Weichen jetzt stellen. Deshalb wollen wir jungen Menschen in Deutschland findet. mit diesem Atlas Daten und Fakten für eine Daher haben wir im Rahmen einer lebendige Debatte liefern. repräsentativen Umfrage junge Menschen befragt – und konnten feststellen: Die meisten wünschen sich eine sehr Barbara Unmüßig deutliche Reduktion des Pestizideinsatzes Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland, um insbesondere die Umwelt und Gewässer vor Einträgen zu Olaf Bandt schützen. Wie auch bei vorangegangenen Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland Umfragen zum Klimaschutz und zum Doris Günther Tierwohl ergibt sich aus der Umfrage Pestizid Aktions-Netzwerk ein klarer Handlungsauftrag für die neue Bundesregierung. Freiwillige Dorothee D’Aprile Beschränkungen sind für die jungen Le Monde Diplomatique PESTIZIDATLAS 2022 7
12 KURZE LEKTIONEN ÜBER PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT 1 Der Einsatz von Pestiziden steigt weltweit, obwohl die gesundheitlichen und ökologischen Folgen lange bekannt sind. Die internationalen Ziele zum SCHUTZ DER BIODIVERSITÄT können nur erreicht werden, wenn ihre Nutzung von Pestiziden deutlich verringert wird. 2 Herbizide werden gegen ungewollte Pflanzen ausgebracht und sind die MEISTGENUTZTE WIRKSTOFFGRUPPE. Insektizide wirken gegen schädliche Insekten – häufig schon in kleinsten Mengen und auch bei den Insekten, die nicht gemeint sind. 3 Jährlich kommt es weltweit zu rund 385 Millionen PESTIZIDVERGIFTUNGEN. Vor allem Menschen im globalen Süden, die auf dem Land arbeiten, sind betroffen. 4 Pestizide, die in Europa AUS ÖKOLOGISCHEN ODER GESUNDHEITLICHEN GRÜNDEN NICHT ZUGELASSEN sind, werden dennoch hier produziert und in andere Länder exportiert. Auch deutsche Unternehmen beteiligen sich an diesem Geschäft. 5 In der EU existieren strenge Kriterien für die Zulassung von Pestiziden. Die schädlichen AUSWIRKUNGEN VON PESTIZIDEN AUF GANZE ÖKOSYSTEME werden dabei jedoch nicht berücksichtigt. 6 Pestizidwirkstoffe bleiben meist nicht dort, wo sie ausgebracht werden. Sie können versickern, verwehen oder durch die Luft sehr weit transportiert werden – manche BIS ÜBER 1.000 KILOMETER WEIT. 8 PESTIZIDATLAS 2022
PESTIDATLAS 2022 / PUCHALLA 7 Pestizidrückstände in Lebensmitteln können GESUNDHEITSSCHÄDLICH sein. Trotz des Versuchs, sich weltweit zu einigen, weichen die erlaubten Höchstwerte von Land zu Land stark voneinander ab. 8 Auf langjährig ökologisch bewirtschafteten Flächen, auf denen keine chemisch-synthetischen Pestizide eingesetzt werden, wachsen 17-MAL SO VIELE UNTERSCHIEDLICHE PFLANZEN wie auf Flächen, die erst wenige Jahre zuvor auf ökologische Landwirtschaft umgestellt wurden. 9 Nützlinge sind die NATÜRLICHEN FEINDE VON SCHÄDLINGEN. Sie zu fördern, kann dabei helfen, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren. 10 JUNGE MENSCHEN FORDERN, dass sich die Regierung stärker dafür einsetzt, DASS WENIGER PESTIZIDE GENUTZT WERDEN. Besonders giftige Pestizide sollten verboten werden. 11 Der SCHUTZ VON SAUBEREM WASSER und der biologischen Vielfalt sind jungen Menschen besonders wichtig. Sie wollen nicht, dass diese durch Pestizide belastet oder gefährdet werden. 12 In einigen Regionen der Welt werden bereits weniger Pestizide eingesetzt und besonders gefährliche Pestizide verboten. Doch einen verbindlichen internationalen VERTRAG ZUR REDUKTION VON PESTIZIDEN gibt es bislang nicht. PESTIZIDATLAS 2022 9
PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT GEFÄHRLICHE SUBSTANZEN Jedes Jahr geht auf der ganzen Welt gleicher Kulturpflanzen etablieren. Das Ergebnis: Ohne ein Teil der landwirtschaftlichen Pestizide ist die heutige industrielle Landwirtschaft großen- Produktion durch Schädlingsbefall teils nicht mehr vorstellbar. Durch kapitalintensive Inputs stiegen in vielen Industrieländern seit den 1950er-Jahren und Pflanzenkrankheiten verloren. die Erträge und damit das Angebot an landwirtschaftlichen Pestizide sollen dagegen helfen. Produkten deutlich schneller als die Nachfrage – was im Re- Dabei verursachen sie neue Probleme. sultat zu immer billigeren landwirtschaftlichen Produkten und schlechterem Einkommen für die Landwirtinnen und G ravierende Hungersnöte und ökonomische Umbrü- Landwirte führt. Parallel zum Pestizideinsatz intensivierte che nach Ernteausfällen gab es in der Geschichte sich die wissenschaftliche Forschung. Immer mehr Erkennt- schon immer. Stets haben Menschen dagegen ge- nisse haben Fachleute darüber gewinnen können, wie sich kämpft – zum Beispiel durch bestimmte Anbaumethoden Pestizide auf die menschliche Gesundheit auswirken und und Fruchtfolgen, die Unkräuter und Schädlinge vermeiden die Umwelt belasten können. sollten. Im Rahmen der industriellen Revolution entstanden Heute liegt die jährlich ausgebrachte Pestizidmenge schließlich die ersten chemisch-synthetischen Pestizide: bei circa 4 Millionen Tonnen weltweit. Fast die Hälfte da- Sie versprachen den Schutz der Ernte bei gleichzeitiger von sind Herbizide, die gegen Unkräuter verwendet wer- Arbeitserleichterung. Ab den 1940er-Jahren begannen den; knapp 30 Prozent sind Insektizide, die gegen schäd- Chemieunternehmen damit, Pestizidprodukte mit einem liche Insekten wirken und etwa 17 Prozent sind Fungizide breiten Wirkungsspektrum zu vermarkten. Sie waren für gegen Pilzbefall. Marktanalysen bezifferten den globalen ganze Gruppen von Organismen giftig und erwiesen sich Pestizid-Marktwert im Jahr 2019 auf fast 84,5 Milliarden US- im Vergleich zu den zuvor verfügbaren Mitteln als beson- Dollar. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate lag ders effektiv. seit 2015 bei mehr als 4 Prozent – für die kommenden Jahre Die eingesetzte Pestizidmenge steigt seit Jahrzehnten könnte sie steigen. Bis 2023 wird eine Wachstumsrate von an: Zwischen 1990 und 2017 um etwa 80 Prozent. Das Zu- 11,5 Prozent und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden sammenspiel von Pestiziden, Dünger und technischem US-Dollar Marktwert prognostiziert. Zusammen hängt die- Fortschritt trug dazu bei, dass sich die landwirtschaftliche ser deutliche Anstieg auch mit der Klimakrise: Ein US-For- Produktion grundlegend verändert hat. Da Bäuerinnen schungsteam der Universität von Seattle hat kalkuliert, dass und Bauern Krankheiten und Schädlinge nun durch Pesti- pro Grad Erderwärmung die Ernteerträge von Reis, Mais zide statt durch Fruchtfolgen und Fruchtkombinationen und Weizen um 10 bis 25 Prozent sinken könnten. Die Grün- in Schach hielten, konnten sich enge Fruchtfolgen immer de dafür sind vielfältig. So verändert der Klimawandel zum Beispiel Schädlingspopulationen und das Verhältnis von Schädlingen und Nützlingen. Hinzu kommt, dass die Wi- derstandskraft der Pflanzen gegen Schädlinge infolge von WER HAT, DER NIMMT klimabedingtem Stress sinkt. Umsätze der Pestizidsparten der vier größten Konzerne in 2020 und gemeinsamer Weltmarktanteil, in Prozent Historisch betrachtet geht die Nutzung von Pestiziden in unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlicher Intensi- tät und zeitlichem Ablauf einher. Die 1960er-Jahre gelten als Zeitalter der „Grünen Revolution“, in der die Landwirt- schaft in den Ländern des globalen Südens den Entwicklun- gen im globalen Norden durch Technologietransfer folgen sollte. Das erklärte Ziel war, durch den Einsatz von Pestizi- Syngenta Bayer Corteva BASF den, Düngern, Hochertragssorten und Bewässerung den Er- 9,9 Mrd. 9,8 Mrd. 5,7 Mrd. 5,5 Mrd. trag deutlich zu steigern. Zivilgesellschaftliche Organisatio- Euro Euro Euro Euro nen und Wissenschaftler sehen in der „Grünen Revolution“ den Beginn einer gescheiterten landwirtschaftlichen Ent- wicklung, durch den viele Bäuerinnen und Bauern seitdem in verzweifelte Lebenssituationen gerieten. Zum Beispiel haben sich im globalen Süden viele Menschen verschuldet, PESTIZIDATLAS 2022 / ARCHIV, CLAPP 29 um teure Produktionsmittel zu kaufen. Die Selbsttötungen 53 70 von Bäuerinnen und Bauern mit Hilfe von Pestiziden wird 1994 2009 2018 Wenige Konzerne aus dem Norden teilen sich den milliardenschweren Pestizidmarkt auf 10 PESTIZIDATLAS 2022
KEIN WENIGER IN SICHT Pestizideinsatz in Tonnen nach Kontinenten im Jahr 2019 und Veränderung seit 1999 Kilogramm Pestizide pro Hektar über 5 bis 4 bis 3 Europa bis 2 Nordamerika bis 1 + 28,9 % Asien 478.389 + 3,6 % 495.475 + 3,0 % 2.171.017 Afrika 91.600 Zentralamerika + 38,4 % 107.864 Südamerika 767.443 Ozeanien +71,1 % 69.719 PESTIZIDATLAS 2022/ FAOSTAT + 143,5 % + 86,5 % Jährlich erleiden auf der ganzen Welt von der Weltgesundheitsorganisation WHO als globales 385 Millionen Menschen eine Pestizidvergiftung. Problem anerkannt – selbst vorsichtigen Schätzungen zufol- Für einige endet sie tödlich ge liegt die Zahl der jährlichen Opfer über 100.000. Einige Staaten haben darauf bereits mit dem Verbot von besonders giftigen Stoffen reagiert. Wegen hoher Gewinnspannen und zum Teil ungenü- NICHT NUR SCHÄDLINGE UNTER DEN OPFERN gender staatlicher Regulierungen nimmt seit einiger Zeit Rückgang der Population von insektenfressenden Vögeln der Handel mit billigen Nachahmer-Produkten zu. Und in den USA zwischen 2008 und 2014 im Zusammenhang auch der Verkauf von gefälschten Pestiziden hat sich zu mit Insektizideinsatz einem profitablen Geschäft entwickelt. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 wurden in der EU und sechs weiteren Nicht-EU-Staaten wie Kolumbien, Schweiz und USA illegale Pestizide im Wert von bis zu 94 Millionen Euro beschlagnahmt. Die Anwendung solcher Pestizide gefähr- det Bäuerinnen und Bauern besonders, da die Inhaltsstoffe und ihre Konzentrationen falsch oder fehlerhaft angegeben sein können – was ihre Wirkung und Giftigkeit unvorher- sehbar werden lässt. Ein Element einer veränderten Politik muss also sein, Bäuerinnen und Bauern weltweit über die Gefahren von Pestiziden zu informieren, Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen und handhabbare Alternativen für den Pflanzen- schutz anzubieten. Ideen dazu gibt es viele, auch wenn die Forschung für ökologischen Pflanzenschutz nach wie vor Rückgang unterfinanziert ist. mehr als 50 Prozent PESTIZIDATLAS 2022 / LI ET AL. 10 bis 50 Prozent 5 bis 10 Prozent bis 5 Prozent Neonikotinoide werden in geringerer Dosis als herkömmliche kein Rückgang Pestizide auf den Acker ausgebracht, aber sind dafür umso keine Daten giftiger. Bei insektenfressenden Vögeln in den USA sorgen sie für eine jährliche Rückgangsrate von 3 Prozent PESTIZIDATLAS 2022 11
KONZERNE GROSSE GESCHÄFTE Der weltweite Pestizidmarkt wächst – und sektor – der heute von genau denselben Konzernen ange- es sind nur eine Handvoll Konzerne, die führt wird – stieg der Anteil der größten Vier im selben Zeit- ihn untereinander aufteilen. Immer stärker raum von 21 auf 57 Prozent. Die Macht dieser Akteure und die Verschmelzung der investieren sie in den Ländern des beiden Geschäftsfelder wirken sich auf das Produktean- globalen Südens, wo Pestizide weniger gebot und auf die Landwirtschaft weltweit aus. So haben streng reguliert werden. Saatgutproduzenten, die gleichzeitig Pestizide verkaufen, ein Interesse, dass beim Anbau der Saat auch ihre Agrarche- D ie meisten Agrochemiekonzerne wie Bayer oder mikalien verwendet werden. Im Fokus stehen die züchteri- Syngenta entstanden aus Chemie- oder Pharmafir- sche Weiterentwicklung und gentechnische Veränderung men, deren Gründungen teils bis ins 19. Jahrhun- weniger Kulturpflanzen, für die es große Absatzmärkte gibt, dert zurückgehen. Zu ihrer heutigen Form haben sie sich allen voran Soja und Mais, die zusammen knapp zwei Drittel entwickelt, als sie mit dem Aufkommen der Gentechnik in des Saatgutmarkts ausmachen. Bayer erzielt mit Mais und der Landwirtschaft ab Mitte der 1990er-Jahre ein neues Ge- Soja etwa 75 Prozent seiner Saatgut-Umsätze, Syngenta 55 schäftsmodell in der Kombination von Pestizid- mit Saatgut- Prozent und Corteva gar 85 Prozent. verkäufen entdeckten. In großer Zahl kauften sie kleinere Die Konzerne haben in den letzten Jahren viel Geld für Saatguthersteller auf und spalteten rund um die Jahrtau- Forschung ausgegeben, um Saatgut weiterzuentwickeln. sendwende die Agrarsparte vom restlichen Geschäft ab, um Gleichzeitig stagnieren diese Ausgaben im Bereich der Ag- neue spezialisierte Konzerne zu bilden. In den letzten Jah- rarchemie. Im Jahr 2000 waren noch 70 Prozent der ver- ren haben sich die Anteile dieser Konzerne am Weltmarkt markteten Pestizidsubstanzen mit einem Patent geschützt. nochmals stark vergrößert. 2017 übernahm das chinesische Viele davon sind mittlerweile ausgelaufen: Auf nur noch 15 Staatsunternehmen ChemChina den Schweizer Agrarkon- Prozent der Pestizide wird ein Patent gehalten; neue werden zern Syngenta, zusätzlich fusionierten die beiden US-Unter- kaum noch angemeldet. Eine Ursache dafür sind strengere nehmen Dow Chemicals und Dupont, um ihre Pestizid- und Zulassungsanforderungen vor allem in der EU, derentwe- Saatgutgeschäfte 2019 in Corteva Agrisciences zusammen- gen sich die Kosten für die Markteinführung eines neuen zulegen. 2018 übernahm der deutsche Chemiekonzern Bay- Pestizidwirkstoffs deutlich erhöhen. Weniger neue Wirk- er die US-amerikanische Firma Monsanto und verkaufte Tei- stoffe bedeutet aber nicht, dass insgesamt weniger Pestizide le seines Geschäfts an die deutsche Chemiefirma BASF, die vermarktet werden. Vielmehr greifen die großen Firmen damit ins Saatgutgeschäft einstieg. 2020 schließlich wurden auf teilweise Jahrzehnte alte Pestizide zurück – die sie in Syngenta, der Pestizidhersteller Adama aus Israel und Sino- chem aus China in der neuen Syngenta Group vereint. Die vier Konzerne – die Syngenta Group, Bayer, Corteva Das internationale Pesticide Action Network listet in seiner und BASF – teilten sich 2018 etwa 70 Prozent des Weltmark- HHP-Liste aktuell 338 hochgefährliche Pestizide auf, tes für Pestizide. Zum Vergleich: 1994 betrug der Markt- die zum Beispiel als krebserregend, erbgutverändernd, anteil der vier größten Anbieter 29 Prozent. Im Saatgut- fortpflanzungsschädigend oder hoch bienengefährlich gelten TOXISCHE TOPSELLER Die umsatzstärksten Substanzen unter den hochgefährlichen Pestiziden (HHPs, Highly Hazardous Pesticides) im Jahr 2018, pro Konzern in Millionen US-Dollar Bayer Glyphosat: Von der Krebsforschungsagentur der WHO als „vermutlich krebserregend“ eingestuft 841 Mio. US-Dollar Syngenta Thiamethoxam: Wegen Bienenschädlichkeit auf EU-Äckern verboten 242 Mio. US-Dollar BASF Glufosinat: Laut der Europäischen Chemikalienagentur „fortpflanzungsgefährdend“ 227 Mio. US-Dollar PESTIZIDATLAS 2022 / PUBLIC EYE FMC Chlorantraniliprol: Hochgefährlich für Wasserorganismen 255 Mio. US-Dollar Corteva Cyproconazol: Laut EU „fortpflanzungsgefährdend“ 144 Mio. US-Dollar 12 PESTIZIDATLAS 2022
HOCHGEFÄHRLICH UND HOCHPROFITABEL Anteil hochgefährlicher Substanzen am Umsatz der fünf größten Pestizidunternehmen in Prozent und Umsatz mit hochgefährlichen Substanzen auf ihren fünf wichtigsten Märkten im Jahr 2018, in Millionen US-Dollar Deutschland: 649 Kanada: 625 12 % USA: 2.890 23 % Bayer Crop 36 % Science FMC 36,7 % 51,5 % Corteva Frankreich: 784 32 % 11 % BASF Syngenta 24,9 % 39,2 % Umsätze mit hochgefährlichen Pestiziden nach Verkaufsländern Anteil der im Land verkauften Brasilien: 3.300 PESTIZIDATLAS 2022 / PUBLIC EYE hochgefährlichen Pestizide Anteil hochgefährlicher Pestizide am Umsatz 49 % Schätzungen auf Basis der besten verfügbaren Marktdaten; reale Umsatzzahlen deutlich größer Drei Viertel der Pestizide ohne EU-Zulassung, immer neuen Produktmischungen und Kombinationen ver- deren Export im Jahre 2018 bewilligt wurde, treiben. Zu den meistverkauften Pestizidprodukten gehö- landen auf Feldern im globalen Süden ren das unter Krebsverdacht stehende Herbizid Glyphosat (patentiert im Jahr 1971, auf dem Markt seit 1974), das für Menschen hochgiftige Paraquat (Wirkung als Herbizid ent- Noch werden in Afrika mit durchschnittlich unter 0,4 deckt 1955, auf dem Markt seit 1962), das im Wasser lang- Kilogramm pro Hektar Anbauland bislang am wenigsten lebige und hormonaktive Atrazin (auf dem Markt seit 1958) Pestizide verwendet – weltweit liegt die Zahl bei etwa 2,6 oder die für Bienen hochgiftigen Insektizide der Klasse der Kilogramm pro Hektar. Doch längst hat die Industrie den Neonikotinoide (entwickelt 1985, auf dem Markt seit 1991). afrikanischen Kontinent als größten Wachstumsmarkt aus- In den Industriestaaten verkaufen die fünf größten gemacht. Mit der zunehmenden Präsenz der Agrarindustrie Produzenten insgesamt weniger hochgefährliche Pestizi- verbreitet sich auch die Verwendung von hochgefährlichen de als in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas: Pestiziden. Während sie in Deutschland 12 und in Frankreich 11 Pro- zent am gesamten Pestizidumsatz der fünf größten Firmen ausmachen, sind es in Brasilien 49 Prozent und in Indien VERKAUFT, VERSCHIFFT, VERGIFTET 59 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass die EU und die Staaten EU-Exportvolumen von Pestiziden der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mehrere hochgefährliche Pestizide verboten haben. Anderswo aller- Anteil hochgefährlicher Stoffe an weltweit verwendeten Pestiziden dings sind sie aufgrund lückenhafter Gesetzgebungen und industrienaher Regulierungsbehörden weiter zugelassen – 20.000 15,7 Milliarden insbesondere in Südamerika, Asien und zunehmend Afrika, US-Dollar wo die Pestizidverkäufe steigen. Das kontinuierliche Wachs- tum des globalen Pestizidmarkts um durchschnittlich 15.000 30 % PESTIZIDATLAS 2022 / FAOSTAT, PAN GERMANY 4,1 Prozent pro Jahr geht vor allem auf die Verkäufe in die- sen Weltregionen zurück. 10.000 In den letzten 30 Jahren hat sich das finanzielle 5.000 4,0 Milliarden Exportvolumen aus der EU mehr als verdreifacht. Exportiert US-Dollar werden auch hochgefährliche Substanzen. Sie machen 0 rund ein Drittel der über 1000 Wirkstoffe aus, 1989 1994 1999 2004 2009 2014 2019 die weltweit verwendet werden PESTIZIDATLAS 2022 13
PESTIZIDEINSATZ IN DEUTSCHLAND WENIG VIELFALT, WENIG FORTSCHRITT Seit 25 Jahren liegt in Deutschland der nen Mengen und mit seltener Anwendung große Schäden Absatz von Pestizidwirkstoffen auf relativ verursachen. konstantem Niveau. Das bedeutet jedoch Auf einem großen Teil der Ackerflächen in Deutsch- land werden mehrmals pro Jahr Pestizide eingesetzt: Laut nicht, dass die negativen Auswirkungen Berechnungen des Umweltbundesamts auf jedem Hektar auf die Umwelt konstant bleiben. landwirtschaftlicher Nutzfläche durchschnittlich 2,8 Kilo- gramm Pestizidwirkstoffe. Diese Daten sind jedoch nur be- Z wischen 27.000 und 35.000 Tonnen Pestizidwirkstoffe dingt akkurat: Landwirtschaftliche Betriebe müssen zwar insgesamt werden hierzulande pro Jahr verkauft. Die den Pestizideinsatz auf ihren Flächen dokumentieren, doch Menge schwankt vor allem aufgrund von Witterungs- diese Daten werden von den Behörden nicht systematisch bedingungen und aufgrund von unterschiedlichen Preisen erfasst und nicht veröffentlicht. Es fehlt somit an Transpa- für Agrar- und Pestizidprodukte. Der überwiegende Teil renz und an Informationen, die beispielsweise einen Ver- wird in der Landwirtschaft eingesetzt. Im Durchschnitt der gleich zwischen Bundesländern ermöglichen oder räumli- Jahre 2015 bis 2020 waren Herbizide, die als Mittel gegen che Hotspots identifizierbar machen würden. Beikräuter verwendet werden, mit durchschnittlich 49 Pro- Um die Intensität des Pestizideinsatzes darzustellen, ver- zent die größte Gruppe der eingesetzten Pestizide, gefolgt wenden Behörden den Behandlungsindex (BI). Dieser Wert von Fungiziden gegen Pilze mit 37 Prozent. Insektizide – beschreibt, wie oft eine Anbaukultur auf der ganzen Fläche Mittel gegen schädliche Insekten – machen knapp 3 Prozent mit der maximal erlaubten Aufwandsmenge eines Pesti- aus und Wachtumsregulatoren, die beispielsweise das Län- zidprodukts behandelt wurde. Demnach ist die pestizidin- genwachstum von Getreidehalmen verkürzen, 9 Prozent. tensivste Anbaukultur in Deutschland der Apfelanbau mit Sonstige Mittel, darunter unter anderem solche gegen Na- einem Behandlungsindex im Jahr 2020 von 28,2 – gefolgt ger und Schnecken, machen weniger als 2 Prozent aus. von Wein mit 17,1 und Hopfen mit 13,7. Aussagen über die Die Absatzmenge von Pestiziden allein sagt aber wenig Gesundheits- oder Umweltauswirkungen der Spritzungen über die Risiken für Mensch, Tier und Natur aus. Weitere erlaubt der BI nicht. Die geringe genetische Vielfalt bei den Faktoren wie die Gesundheitsgefährlichkeit oder Umwelt- typischerweise durch Klonung vermehrten Dauerkulturen gefährlichkeit der Mittel, die Art und Weise der Ausbrin- (zum Beispiel Apfel oder Wein) macht die Pflanzen anfällig gung, der Anwendungstermin und die Anwendungshäu- und führt zu hohem Einsatz von Fungiziden. Fehlt die natür- figkeit spielen ebenso eine Rolle. Vor allem Insektizide liche Artenvielfalt, inklusive der Nützlinge, steigt der Insek- wirken häufig in niedrigen Konzentrationen bereits hoch- tizideinsatz. Auch Forderungen nach optisch makelloser giftig – nicht nur für die Zielorganismen, sondern auch für Ware führen zu einem vermehrten Einsatz von Pestiziden andere Tiere wie Bienen. Sie können daher bereits in klei- im Obst- und Gemüsesektor. Insbesondere wenn man die Umweltauswirkungen be- trachtet, spielt auch die insgesamt behandelte Fläche eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel bietet der Einsatz von Her- SCHLECHTE NACHRICHTEN FÜR APFEL-FANS biziden. Wird wiederholt und großflächig der Bewuchs Der Behandlungsindex zeigt an, wie intensiv in Deutschland welche Pflanze mit Pestizid behandelt wird, Stand 2020 totgespritzt, hat dies erhebliche Auswirkungen auf den Lebensraum von Pflanzen und Tieren. Viele Herbizide sind zudem giftig für Algen und Wasserpflanzen und können Apfel 28,2 das Grundwasser verschmutzen. So können auch auf den Wein 17,1 ersten Blick wenig pestizidintensive, aber viel Fläche ein- Hopfen 13,7 nehmende Ackerkulturen wie Mais, der gut 22 Prozent des Ackerlands einnimmt, dennoch von großer Relevanz für die Kartoffeln 11,8 Umwelt und die Gewässergüte sein. Zuckerrüben 4,6 Hinsichtlich der Giftigkeit der Spritzmittel lässt sich seit Winterraps 6,4 Jahrzehnten ein Trend zu Mitteln beobachten, die schon in Winterweizen 4,6 geringer Dosierung sehr wirksam sind. Die nahezu konstant Wintergerste 3,9 bleibende Absatzmenge in Deutschland bedeutet also nicht, PESTIZIDATLAS 2022 / JKI Mais 1,9 Von allen Anbaukulturen in Deutschland ist der Zahlen aus 2020 Apfelbau der Pestizid-intensivste. Apfelbäume werden zwischen 20 bis 30 Mal pro Saison gespritzt 14 PESTIZIDATLAS 2022
PESTIZIDATLAS 2022 / FAOSTAT EINSATZBEREITSCHAFT 132 1.108 Insgesamt ausgebrachte Pestizide in der EU 2019, in Tonnen FI 24 1.232 428 47 375 46 SE 152 EE 29 107 254 2.012 76 1.199 9.567 438 LV 1.833 4.288 DK 575 Insektizide 29 IE 213 965 36 Herbizide 6.522 602 2.978 LT Fungizide * 13.972 UK NL 18.598 2.328 11.685 6.718 10.222 2.450 BE 2.743 PL 362 DE 34.392 2.071 2.796 1.151 AT 3.906 6.180 1.619 702 39.112 HU 583 FR RO 3.052 1.711 PT 16.593 IT 1.899 8.825 1.579 BG 6.488 24.114 730 2.084 10.810 2.674 4.340 4.183 ES 38.067 3.358 2.801 GR * und Bakterizide Angegeben sind Wirkstoffmengen (nicht Produktmengen). Die Menge der Insektizide beinhaltet inerte Gase, die im Vorratsschutz verwendet werden. Pestizide werden auch in Privatgärten, dass es keine Änderung hinsichtlich der negativen Auswir- Parks und an Gleisanlagen kungen auf die Umwelt oder die biologische Vielfalt gab. eingesetzt, hauptsächlich jedoch Eine effektive Politik, die zu einer Reduktion des Pestizid- in der Landwirtschaft einsatzes führt, gibt es in Deutschland nicht. Auf Betriebs- ebene werden verbotene chemisch-synthetische Pestizide in der Regel durch andere chemisch-synthetische Pestizide 1995 wurden in Deutschland 220 verschiedene Pestizid- ersetzt – die Abhängigkeit vom chemischen Pflanzenschutz wirkstoffe verkauft. Etwa die Hälfte davon hatte bis 2019 be- wird nicht reduziert. reits die Zulassung verloren. Trotzdem befanden sich 2019 wieder 251 Wirkstoffe auf dem Markt. Das bestärkt zivil- gesellschaftliche Organisationen in der Annahme, dass die Der Toxic Load Indicator ist Ausdruck der Reduzierung der Abhängigkeit vom chemischen Pflanzen- Giftigkeit eines Pestizids für Menschen und schutz - so wie es von der europäischen Pestizidgesetzge- Tiere und seines Verbleibs in der Umwelt bung gefordert wird - bislang nicht erfolgt. PESTIZIDATLAS 2022 / NEUMEISTER RISIKODETEKTOR Mit Hilfe des Toxic Load Indicators lassen sich Pestizide bewerten und vergleichen Giftigkeit für Menschen und Säugetiere Giftigkeit für die Umwelt Umweltverhalten Halbwertzeit auf Pflanzen annehmbare Tagesdosis Versickerungspotenzial Anwenderexposition/ Wasserflöhe, Fisch Akut (oral, dermal, Bioakkumulation Karzinogenität Reproduktion Annehmbare Honigbienen Mutagenität Flüchtigkeit Persistenz respirativ) Nützlinge Algen Vögel PESTIZIDATLAS 2022 15
ZULASSUNGSVERFAHREN GRÜNES LICHT FÜR RISIKEN Bevor Pestizide auf den Markt kommen, Ebene der Mitgliedsstaaten statt. In Deutschland ist in die- durchlaufen sie einen Genehmigungsprozess, sem Kontext die wichtigste Behörde das Bundesamt für Ver- in dem ihre Wirkungen getestet werden. braucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) – im Ein- vernehmen mit dem Umweltbundesamt (UBA) und unter Die indirekten Folgen auf Nahrungs Einbindung weiterer Fachbehörden wie dem Bundesinsti- ketten und Biodiversität sowie der schwer tut für Risikobewertung (BfR) und dem Julius Kühn-Institut kalkulierbare Effekt von Pestizidmischungen für Kulturpflanzen (JKI). finden kaum Beachtung. So prüft das Julius Kühn-Institut, ob ein Pestizid ausrei- chende Wirkung gegenüber dem Schadorganismus ent- wickelt. Auch mögliche Schäden an anderen Pflanzen und I n der Europäischen Union funktioniert das Zulassungs- die Beeinträchtigung von Nützlingen wie zum Beispiel dem verfahren von Pestiziden zweistufig: Im ersten Schritt Marienkäfer werden berücksichtigt. Das BfR prüft die Aus- werden Wirkstoffe EU-weit genehmigt. Im zweiten wirkungen auf die menschliche Gesundheit und legt Grenz- Schritt werden die in der Praxis eingesetzten Produkte, die werte fest, wie stark Menschen dem jeweiligen Pestizid ohne den Wirkstoff schließlich enthalten, durch die einzelnen gesundheitliche Folgen ausgesetzt sein können. Eine zen- Mitgliedsstaaten zugelassen. Federführend auf Europäi- trale Rolle spielt das Umweltbundesamt, ohne dessen Zu- scher Ebene ist die Europäische Behörde für Lebensmittel- stimmung kein Pestizidprodukt in Deutschland zugelassen sicherheit (EFSA). Sie beauftragt ein Mitgliedsland, das von werden kann. Das Amt bewertet auf Basis der eingereichten dem Hersteller erstellte Wirkstoff-Dossier zu prüfen. Die Studien die zu erwartenden Auswirkungen auf die Umwelt, beauftragte Zulassungsbehörde des Mitgliedslands be- Gewässer, Boden, Luft und die dort lebenden Organismen. wertet die Studien der Herstellerfirmen und andere Infor- Kommt es zum Ergebnis, dass keine „unannehmbaren“ Aus- mationen – und interpretiert sie mit Blick auf das Risiko für wirkungen auf die Umwelt zu erwarten sind, stimmt das Mensch und Umwelt. Wird ein Wirkstoff zugelassen, gilt UBA einer Zulassung zu. Das bedeutet: Nachteilige Auswir- die Genehmigung meist für zehn Jahre. Vor einer Verlänge- kungen auf die Umwelt oder Nützlingsorganismen werden rung müssen neue Daten in die Entscheidung einbezogen werden. Die EU-weite Genehmigung eines Wirkstoffes bedeutet Die Erkenntnisse aus Zulassungstests mit nur wenigen noch keine automatische Zulassung von Pestizidprodukten, Arten sind mit Unsicherheiten behaftet. Eingerechnete die diesen Wirkstoff enthalten. Die wiederum findet auf der Sicherheitsfaktoren sollen diese Unsicherheiten kompensieren PESTIZIDATLAS 2022 / EUKOM NATUR LÄSST SICH SCHWER NACHBAUEN Standard-Zulassungsprüfungen betrachten nur einen Ausschnitt möglicher Pestizideffekte auf die Umwelt 4 wird geprüft x wird nicht geprüft Vereinfachte Test-Umwelt 4 Wirkung einzelner Pestizide 4 Auswirkungen auf wenige Arten x Sicherheitsfaktor Komplexe echte Umwelt x Wirkungen von Pestizid-Gemischen x Wirkungen auf Nahrungsnetze & Ökosysteme 16 PESTIZIDATLAS 2022
ALS RISIKO ERKANNT – UND DOCH NICHT GEBANNT Anzahl der weiterhin verwendeten Pestizide im Jahr 2021, die laut EU-Regularien ersetzt werden sollten (Substitutionskandidaten), nach Mitgliedsland; Anzahl biologischer Schädlingsbekämpfungsmittel (Biopestizide) im Jahr 2020 auf dem Weg zur Marktreife in der EU bis 19 Dänemark Schweden Irland Estland 20 bis 29 21 30 bis 39 14 19 40 bis 49 34 über 50 Niederlande Pestizidwirkstoffe, die für 34 Polen die Gesundheit oder Umwelt besonders gefährlich sind, de- Deutschland finiert die EU als Substitutions- 45 kandidaten. Im Zulassungsver- fahren müssen diese Wirkstoffe 39 daraufhin überprüft werden, ob sie durch ungefährlichere Frankreich Alternativen ersetzt werden Ungarn können. Trotz der offiziellen Gefahrenprognose dürfen 44 Substitutionskandidaten, wenn auch verkürzt auf sieben Jahre, Italien Slowenien 51 wiederholt genehmigt werden Spanien 48 32 42 PESTIZIDATLAS 2022 / IBMA, PAI Biopestizide in der EU Biopestizide bestehen aus natürlichen Wirksubstanzen, die 104 aus Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen oder bestimmten bereits im Zulassungsverfahren Viren entwickelt werden. Sie gelten in der Regel als weniger noch nicht im Zulassungsverfahren problematisch. Die Nachfrage nach Biopestiziden wächst, aber 102 ihr Anteil am Weltmarkt für Pestizide ist immer noch gering Obwohl EU-Mitglieder gehalten sind, besonders akzeptiert, wenn sie als vertretbar eingestuft werden – zum gefährliche Wirkstoffe möglichst schnell zu ersetzen, Beispiel, wenn zu erwarten ist, dass sich Nützlingsbestände werden sie noch in vielen Ländern eingesetzt. nach einem Spritzgang erholen. Als Alternativen könnten Biopestizide dienen. Obwohl in der EU strenge Kriterien für eine Pestizidzu- Die werden aber zu langsam zugelassen lassung existieren, kann die derzeitige Umweltrisikobewer- tung offenbar nicht verhindern, dass zugelassene Pestizide schädliche Auswirkungen auf die Umwelt haben. Die EFSA gesunken. Auch experimentell konnte der Zusammenhang hat Richtlinien ausgearbeitet, wie Pestizidwirkstoffe im Hin- zwischen Herbizideinsatz, Insektenvorkommen und dem blick auf Vögel, Säugetiere, Honigbienen, Wildbienen oder Überleben von Rebhuhnküken bereits in den 1980ern ge- Regenwürmer bewertet werden sollen. Zivilgesellschaftli- zeigt werden. chen Organisationen reicht das nicht. Sie fordern, dass auch Außerdem finden in den meisten landwirtschaftlichen die Auswirkungen auf Amphibien, Fledermäuse, Reptilien Kulturen mehrere Pestizide pro Saison Anwendung. Äpfel oder Wildkräuter Berücksichtigung finden. werden am häufigsten pro Saison gespritzt. Bei einzelnen Fachleute kritisieren zudem die geringe Aufmerksam- Behandlungen können auch mehrere Pestizide gleichzeitig keit, die indirekte Auswirkungen auf Nahrungsketten oder zum Einsatz kommen. Trotzdem wird in Zulassungsverfah- die biologische Vielfalt auf der Anbaufläche erhalten. So ren bloß die Anwendung eines Wirkstoffs oder eines Pesti- werden in Zulassungsverfahren Wechselwirkungen zwi- zidprodukts bewertet. Effekte dieser Mischungen auf die schen Organismen nicht bewertet – wodurch indirekte Umwelt sind bislang weitestgehend unbekannt – Hinweise Pestizideffekte außer Acht bleiben. So ist es möglich, dass mehren sich, dass sie stärker sein können als die jeweiligen ein Herbizid wie Glyphosat keine akut toxische Wirkung Einzelwirkungen. Auch für die menschliche Gesundheit auf Insekten und Vögel zeigt, jedoch dazu beiträgt, Kräu- könnte die Belastung mit Pestizidmischungen gefährlicher ter auf Feldern zu reduzieren. Bestäubende und pflanzen- sein als bisher bekannt. Um Pestizidschäden rasch zu er- fressende Insekten finden dadurch weniger Nahrung, was kennen, fordern zivilgesellschaftliche Organisationen und sich wiederum auf die Nahrungsgrundlage vieler anderer Fachleute eine verbesserte, an der landwirtschaftlichen Pra- Tiere auswirkt. So sind etwa die Bestände der Feldvögel in xis orientierte Überprüfung der Anwendungen über einen der EU in den letzten vierzig Jahren um mehr als 30 Prozent längeren Zeitraum. PESTIZIDATLAS 2022 17
GESUNDHEIT SCHWERE FOLGEN 385 Millionen Menschen erkranken jährlich geschlagen fühlen und wie bei einer Grippe an Kopf- und an Pestizidvergiftungen. Ein internationaler Gliederschmerzen leiden. Darüber hinaus wird häufig der Verhaltenskodex der Weltgesundheits Magen-Darm-Trakt angegriffen – die Folgen sind Übel- keit, Erbrechen oder Durchfall. Folgen zeigen sich auch im organisation soll den weltweiten Umgang menschlichen Nervensystem. Bei schweren Verläufen ver- mit Pestiziden verbessern und Vergiftungen sagen schließlich die Organe: Herz, Lunge oder die Nieren vermeiden. Doch weil gesetzliche setzen bei einer solchen Pestizidvergiftung aus. Etwa 11.000 Regelungen fehlen, passiert wenig. Menschen sterben unbeabsichtigt daran, Jahr um Jahr. Weil Pestizide nur schwer zu kontrollieren sind und sie leicht Gegenstände und Lebensmittel kontaminieren, sind auch Menschen außerhalb des Agrarsektors gefährdet. We- M enschen kommen in unterschiedlichen Situatio- gen unzureichender oder nicht eingehaltener Sicherheits- nen mit Pestiziden in Berührung: auf dem Feld vorkehrungen können schnell auch Unfälle passieren. Zwei und im Forst, durch Lebensmittel oder Trink- Beispiele: Weil ihr Mittagessen mit einem Speiseöl zuberei- wasser. Treten Krankheitssymptome kurz nach Kontakt tet wurde, das durch das Pestizid Monocrotophos verunrei- auf, spricht man medizinisch von einer akuten Pestizidver- nigt war, starben 2013 im indischen Bihar 23 Schulkinder. giftung. Deren Opfer können sich schlapp, müde und ab- Im gleichen Jahr erlitten im brasilianischen Rio Verde über 90 Kinder und Erwachsene eine Vergiftung, weil der Pilot eines Agrarflugzeugs versehentlich den falschen Knopf drückte – und über einer Schule, die in der Nähe von Mais- GEHT AUF DIE GESUNDHEIT UND AN DEN GELDBEUTEL und Sojafeldern liegt, ein Insektizid versprühte. Folgekosten in Milliarden Euro im Gesundheitssystem in der EU durch hormonschädliche Chemikalien, Studie aus 2015 Viele der Betroffenen leiden an langanhaltenden Fol- gen. Pestizide verursachen nämlich nicht nur akute Ver- giftungen, sondern können auch chronische Krankheiten Krankheiten auslösen. Wissenschaftliche Studien belegen einen Zusam- Neurologische Folgen menhang zwischen Pestiziden und Parkinson sowie Leukä- Adipositas und Diabetes mie im Kinderalter. Außerdem werden Pestizide mit einem Fortpflanzungsstörungen erhöhten Risiko für Leber- und Brustkrebs, für Typ-II-Dia- betes und Asthma, für Allergien, Adipositas und Störungen der Hormondrüsen in Verbindung gebracht. Auch Fehlbil- dungen, Frühgeburten und Wachstumsstörungen lassen 4 15 132 sich auf Kontakt mit Pestiziden zurückführen. In den letzten Jahren wurde die wohl bekannteste Pestiziddebatte um den Wirkstoff Glyphosat geführt. Zahlreiche Menschen, die mit dem Herbizid in Kontakt gekommen und an Krebs erkrankt sind, haben den Pestizidhersteller Bayer auf Schadensersatz Hormonschädliche Chemikalien und ihr Anteil an den Kosten verklagt: Rund 30.000 dieser Klagen sind noch offen, wäh- Pestizide rend der Konzern in den letzten Jahren bereits Vergleiche Plastik und Weichmacher mit rund 96.000 Klägern erreichte – und verschiedene Ge- Flammschutzmittel 1,2 % richtsprozesse verlor. Die Kosten für die Vergleiche werden Chemiemischungen 5,7 % bislang auf 11,6 Milliarden Euro geschätzt. Im März 2015 stufte die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) – eine Unterorganisation der Weltgesundheitsorganisation 16,5 % (WHO) – Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ ein. Eine wissenschaftliche Metastudie der Universität Washing- ton aus dem Jahr 2019 ermittelte für Menschen, die dem Pestizid ausgesetzt sind, einen deutlichen Anstieg des rela- PESTIZIDATLAS 2022 / TRASANDE ET AL. tiven Risikos um 41 Prozent, am Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken. 76,4 % Bereits bei geringer Konzentration gefährden Konservative Schätzungen; tatsächliche Kosten dürften deutlich höher liegen. Diverse mit hormonschädlichen Chemikalien zusammenhängende Krankheiten hormonschädliche Chemikalien, sogenannte Endocrine wie Parkinson sind aufgrund der Datenlage nicht berücksichtigt Disrupting Chemicals (EDC), die Gesundheit. Enthalten sind sie zum Beispiel in Kosmetik oder Pestiziden 18 PESTIZIDATLAS 2022
GELITTEN UND GESTORBEN WIRD VOR ALLEM IM GLOBALEN SÜDEN Pestizidvergiftungen pro Jahr, Studie aus 2020 nicht-tödliche Vergiftungen tödliche Vergiftungen 180.303.510 211.580 Südasien 9.401 Nordeuropa 1 1.377 139.357 Osteuropa 75 Nordamerika 6 3.663.972 Westeuropa 7 1.268.217 Westasien 39 16.696.758 576.445 Südeuropa 14 Zentralasien 4 Karibik 8 9.647.501 Ostasien 338 3.835.727 Zentralamerika 296 Nordafrika 154 55.243.562 50.936.173 Südostasien 159 33.833.710 Ostafrika 81 7.934.306 PESTIZIDATLAS 2022 / BOEDEKER ET AL. Westafrika Südamerika 229 1.251 21.213.838 Ozeanien 3 Mittel- und südliches Afrika 67 Konservative Berechnung. Tatsächliche Todeszahlen vermutlich deutlich höher Betroffen von Vergiftungen sind 44 Prozent aller Studien zeigen, dass berufliche Pestizidvergiftungen Beschäftigten der Landwirtschaft weltweit – seit Jahren stark ansteigen. So schätzte man 1990 etwa eine in ärmeren Ländern wie Burkina Faso sogar 83 Prozent Million Pestizidvergiftungen mit schwerwiegenden Folgen pro Jahr, darunter 20.000 Todesfälle. Rechnet man hier noch die Fälle mit milderem Verlauf hinzu, kommt man gen der klimatischen Bedingungen nicht getragen wird. auf eine Zahl von 25 Millionen Vergiftungen im Beruf. Ein Zweitens werden diejenigen, die die Pestizide anwenden, Grund für den Anstieg auf mittlerweile 385 Millionen dürf- oft nicht ausreichend über die Gefahren von Pestiziden in- te sein, dass auf der ganzen Welt immer mehr Pestizide zum formiert und zu selten in der Handhabung von Chemikalien Einsatz kommen. 2017 wurden etwa 80 Prozent mehr Pesti- und Sprühgeräten geschult. Drittens fehlt häufig die Mög- zide angewendet als noch 1990. In manchen Weltregionen lichkeit, benutzte Geräte und Arbeitskleidung getrennt von fällt der Anstieg sogar noch deutlicher aus. In Südamerika den Wohnbereichen aufzubewahren. zum Beispiel beträgt er im gleichen Zeitraum fast 500 Pro- Um die hohe Zahl an Pestizidvergiftungen zu senken, zent, während in Europa ein Rückgang von 3 Prozent zu ver- hat die WHO zusammen mit der Welternährungsorgani- zeichnen ist. sation (FAO) einen Verhaltenskodex für den Umgang mit Gehäuft lassen sich Pestizidvergiftungen vor allem in Pestiziden verabschiedet. Er besagt unter anderem, dass auf den Ländern des globalen Südens beobachten: In Südasi- Pestizide verzichtet werden sollte, deren Anwendung per- en, gefolgt von Südostasien und Ostafrika. Es gibt mehrere sönliche Schutzausrüstung erfordert, die unbequem oder Gründe, warum hier die Menschen besonders betroffen teuer ist. Zudem empfiehlt die WHO den Einsatz von agrar- sind. So ist in den Regionen der Anteil hochgefährlicher ökologischen Alternativen und ein Verbot von besonders Pestizide oft besonders groß. Zudem sind die Menschen giftigen Pestiziden. Diese Empfehlungen wurden jedoch schlechter geschützt. Erstens weil Schutzkleidung oft nicht bislang kaum umgesetzt und nicht auf eine verbindliche vorhanden oder vor Ort unbezahlbar ist oder weil sie we- Rechtsgrundlage gestellt. PESTIZIDATLAS 2022 19
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