Europawahlen Dossier - Bundeszentrale für politische Bildung

 
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   Europawahlen

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Europawahlen Dossier - Bundeszentrale für politische Bildung
Dossier: Europawahlen (Erstellt am 24.06.2019)                                               2

Einleitung
Zum neunten Mal wurde 2019 das Europäische Parlament von den Bürgern der EU direkt gewählt.
Wie hat sich die Europawahl entwickelt? Nach welchen Regeln wird gewählt? Und welche Bedeutung
hat die Wahl?

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Inhaltsverzeichnis

 1.       Solidarunion auf Weltniveau?                             4

 2.       Einführung in das Wahlsystem                             13

 3.       Wie wählt Europa 2019?                                   17

 4.       Geschichte der Europawahlen                              22

 5.       Geschichte des Wahlrechts                                26

 6.       Warum ist die Europawahl so wichtig?                     30

 7.       Die Parteien vor der Europawahl                          37

 8.       Interesse und Einstellungen der Bevölkerung              41

 9.       Wahlkampf und Wahlbeteiligung                            45

 10.      Die Finanzierung des Europawahlkampfs                    51

 11.      Zivilgesellschaft in Europa                              59

 12.      Europawahl 2019 in Deutschland im europäischen Kontext   65

 13.      Redaktion                                                71

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Solidarunion auf Weltniveau?
Herausforderungen der EU
Von Dr. Mechthild Baumann                                                                         24.5.2019
 Dr. Mechthild Baumann ist Beraterin für EU-Forschungsprojekte(http://www.mbaumann.eu/).

Die Europäische Union (EU) wird sich in den nächsten Jahren großen Herausforderungen
stellen müssen. Besonders drängt das Management der verschiedenen Krisen, seien es
Finanzen, Flüchtlinge oder Brexit. Diese Herausforderungen lassen sich alle auf eine
grundlegende Frage zurückführen: Wofür steht die EU?

Was hält die EU zusammen? Aktuelle Entwicklungen stellen die Union auf die Probe. (© picture-alliance, chromorange)

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Das europäische Wir-Gefühl beginnt zu bröckeln
Schon seit langem versuchen viele Staaten, regional so eng und erfolgreich zusammenzuarbeiten wie
die EU. Sei es der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), die lateinamerikanisch
Regionalorganisation Mercosur oder die zahlreichen Zusammenschlüsse afrikanischer Staaten (z.B.
African Union oder ECOWAS). Sie alle versuchen, dieselbe Prosperität und dieselbe Stabilität zu
erzielen, wie die EU es in über 60 Jahren europäischer Integration geschafft hat. Nur in der EU selbst
scheint die Begeisterung für das große Integrationsprojekt zu bröckeln.

In den ersten vierzig Jahren übte die europäische Integration wegen ihres Erfolgs eine solch starke
Anziehungskraft auf alle europäischen Staaten aus, dass es nur eine Entwicklungsrichtung gab: Die
EU vertiefen (also immer mehr Befugnisse von nationalstaatlicher auf die europäische Ebene
verlagern) und erweitern (mehr Mitglieder aufnehmen).

Doch über 60 Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (der
Vorläuferin der EU) beschloss erstmals in der europäischen Geschichte ein Mitgliedstaat, die EU
wieder zu verlassen. Das Ergebnis der Volksbefragung in Großbritannien im Jahr 2016 erschütterte
Europa wie ein Erdbeben. Nicht nur wurde der bis dahin als unumkehrbar betrachtete
Integrationsprozess in Frage gestellt. Sondern es wollten auch, ganz offensichtlich, viele Bürger und
Bürgerinnen eines Landes nicht mehr zur EU gehören.

Dies war nicht das erste Referendum, mit dem die Bürger und Bürgerinnen der EU einen "Denkzettel"
verpassten. Auch in Frankreich und den Niederlanden wurde 2005 der europäische Verfassungsvertrag
zur Abstimmung gestellt und mit einem vernichtenden Ergebnis abgelehnt.

Es liegt eigentlich im rationalen und ökonomischen Interesse, Mitglied der Europäischen Union zu
sein – insbesondere für Staaten wie Deutschland, die in besonders hohem Maße vom europäischen
Binnenmarkt profitieren. Doch in den 1980er Jahren kritisierten insbesondere Sozialdemokraten die
europäischen Integration, weil sie eine Aushöhlung nationaler Sozialstandards zugunsten
marktliberaler Politiken befürchteten.

Seit Ende der 1990er Jahren sind es traditionell-nationalistische Parteien, die die EU ablehnen.[1]
Insbesondere rechtspopulistische Parteien sehen ihre nationale Identität durch die europäische
Integration bedroht. Sie definieren ihre nationale Identität als exklusiv, was bedeutet, dass weder eine
Ergänzung um eine europäische Identität noch die Aufnahme neuer Mitglieder (z.B. Migranten und
Migrantinnen) in die identitätsstiftende Gruppe gewünscht wird. In fast allen europäischen Ländern
erstarkt der Rechtspopulismus[2]. 2014 schlossen sich europakritische Fraktionen im Europäischen
Parlament zusammen, zum Beispiel zur Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), zur
Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) oder zur Fraktion der Europäischen
Konservativen und Reformer (EKR).

Befürworter und Befürworterinnen der europäischen Integration, die EU-Kommission und pro-
europäische Einrichtungen haben deshalb in den letzten zwei Jahrzehnten viel Zeit und Energie in
Kampagnen zur europäischen Bewusstseinsbildung investiert. Auch im Angesicht der Europawahl
2019 zogen hunderte zivilgesellschaftliche und staatliche Organisationen durch die europäischen
Straßen, priesen die Errungenschaften der EU und versuchten ein Wir-Gefühl zu schaffen. Aber worauf
soll sich ein europäisches Wir-Gefühl gründen?

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Die Kohäsionspolitik als Ausdruck europäischer Solidarität
Anders gefragt: Was ist das Besondere der EU? Sind es Frieden, Demokratie, Menschenrechte? Das
gibt es in Australien und Kanada auch. Ist es die supranationale Rechtskonstruktion, die
Zuständigkeiten von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert? Diese ganz eigenartige
Rechtskonstruktion, die deswegen auch sui generis genannt wird, ist sicher typisch EU, aber ist sie
der Kitt, der die EU zusammenhält?

Die zentralen Werte der EU, die sie von allen anderen Organisationen unterscheiden (wenn man den
Zusammenhalt über den Beistand im Verteidigungsfall hinaus definiert, wie ihn die Nato leistet), sind
neben dem gemeinsamen Rechtsraum Solidarität und Zusammenhalt.

Solidarität und Zusammenhalt (Kohäsion) fördert die EU mit einer eigenen Politik, der Kohäsionspolitik,
denn zwischen den Regionen Europas gibt es ein großes wirtschaftliches und soziales Gefälle. Die
Kohäsionspolitik soll dazu beitragen, die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen
und Mitgliedstaaten zu verkleinern. Dies ist sicher der stärkste Ausdruck europäischer Solidarität. Dafür
hat die EU allein zwischen 2007 und 2013 rund 355 Mrd. Euro investiert [3]. Das sind immerhin 35,6%
des Gesamtbudgets[4]. Die Maßnahmen sind ganz unterschiedlicher Natur, reichen von der Start-up-
Förderung über Straßenbau bis hin zum Breitbandzugang und dienen alle dem Zweck, gleichwertige
Lebensverhältnisse in der EU herzustellen.

Eine EU-interne Auswertung dieser Fünf-Jahres-Periode der Kohäsionspolitik kam zu dem Ergebnis,
dass jeder investierte Euro bis zum Jahr 2023 zusätzlich ca. 2,74€ Bruttoinlandsprodukt (BIP)
erwirtschaften wird [5]. 400.000 kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) wurden gefördert,
rund 1 Million Jobs sind aus den Fördermaßnahmen entstanden. Dies ist eine zunächst positive Bilanz,
insbesondere in Zeiten, in denen viele EU-Mitgliedstaaten noch unter den Folgen der Finanzkrise von
2008 leiden.

Allerdings, kritisieren die Autoren der Studie, würden zwar viele geförderte Projekte kurzfristige
Ergebnisse erbringen, es sei jedoch nicht ganz klar, ob sie auch die erwartete langfristige Wirkung in
der Region entfalten (z.B. ob die 400.000 KMUs sich dauerhaft am Markt behaupten können). Zu
diesem Ergebnis kamen schon mehrere Studien zuvor [6]. Ein Blick auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP)
bestätigt: Zwar leistet die Kohäsionspolitik einen wichtigen Beitrag zur Annäherung der Regionen,
Wunder kann aber auch sie nicht vollbringen. Trotz der hohen Investitionen ist das Arm-Reich-Gefälle
in der EU nach wie vor groß. Während Deutschland in 2018 ein BIP pro Kopf von 39.500€ erwirtschaftete
und sich damit im vorderen Drittel der EU-28 hinter Skandinavien und Luxemburg bewegt, erreichte
Bulgarien als ärmstes Land der EU nur 7.100€ [7]. Insgesamt bilden die Schlusslichter auf der BIP-
Skala die seit 2004 neu hinzugekommenen Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa sowie Griechenland.
Allerdings sind die Unterschiede auch innerhalb der Mitgliedstaaten zwischen den verschiedenen
Regionen sehr groß [8].

Die EU ist sich dieses Ungleichgewichts wohl bewusst und hat 2018 ihre Pläne für die Kohäsionspolitik
nach 2020 verfasst. Die Investitionen werden auf 373 Mrd. € erhöht [9]. Stark benachteiligte Regionen
in der Peripherie der EU werden stärker gefördert genauso wie Regionen, die überdurchschnittlich
von Jugendarbeitslosigkeit betroffen sind oder viele Migranten und Migrantinnen aufgenommen haben.

Sicher werden diese Maßnahmen allein nicht ausreichen, denn anders als viele andere Politiken
werden die Programme der Kohäsionspolitik in Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten auf lokaler und
regionaler Ebene umgesetzt. Eine groß angelegte Studie der Europäischen Kommission hat ermittelt,
dass viele Regionen aus Ost- und Südeuropa die investierten Gelder nicht effizient einsetzten, etwa
weil Korruption und Vetternwirtschaft ausgeprägt sind.[10] Dies hat zur Folge, dass das erhoffte
Wirtschaftswachstum geringer ausfällt als möglich.

Die Forscher Capello und Perucca haben noch etwas anderes aufgedeckt: Die ineffiziente Verwendung
der EU-Gelder durch lokale oder regionale Verwaltungen führt auch zu einer negativen Wahrnehmung

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der EU durch die Bürgerinnen und Bürger.[11] Es ist deshalb sowohl für den Erfolg der europäischen
Kohäsionspolitik als auch für die Akzeptanz der EU und die Herausbildung einer europäischen Identität
wichtig, dass sie begleitet wird von intelligenten und wachstumsfördernden Maßnahmen der
Mitgliedstaaten, die nach den Regeln des Guten Regierens [12] ausgeführt werden.

Flüchtlingspolitik – wie solidarisch ist die EU?
Die EU wird sich in den nächsten Jahren einer weiteren "solidarischen Herausforderung" stellen
müssen: der Flüchtlingspolitik. Der EU-Umgang mit Asylbewerbern und Asylbewerberinnen ist sicher –
und das nicht erst seit 2015, sondern schon seit den 1990er Jahren – ein trauriges Beispiel dafür, dass
Solidarität nur diejenigen Mitgliedstaaten versprechen, die sie gerade benötigen. Der Umgang der EU-
Mitgliedstaaten mit der jüngsten Flüchtlingskrise soll dies kurz illustrieren.

Nachdem Ungarn am 30. August 2015 einen Grenzzaun zu Slowenien, Kroatien und Serbien gebaut
hatte, weil es keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen konnte oder wollte, entschied
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland weiterreisen zu lassen.
Rund 50.000 Asylanträge wurden daraufhin jeden Monat in Deutschland gestellt [13]. Die Zahl der
einreisenden Flüchtlinge lag deutlich höher.

Wie auch schon der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bat Angela Merkel ihre europäischen
Partner, Flüchtlinge aufzunehmen. Doch die Partner versagten die Hilfe. Aus den Verhandlungen des
informellen EU-Gipfels stachen insbesondere die Reaktionen der mittel- und osteuropäischen EU-
Staaten hervor.[14] Sie weigerten sich, Flüchtlinge anzunehmen mit der Begründung, sie würden ihre
eigenen Landsleute damit überfordern.

Der Kommissar für Menschenrechte des Europarats, Nils Muižnieks, fand deutliche Worte für diese
Reaktion. Auch wenn er das Errichten eines Grenzzauns nicht für guthieß, kritisierte er harsch, dass
außer Ungarn und Deutschland kein anderer EU-Staat Flüchtlinge in substantieller Anzahl aufnahm:

Nils Muižnieks, Kommissar für Menschenrechte des Europarats

"Leider ignorieren Politiker Fakten. (…) Bedingt durch einen steilen Anstieg von Asylbewerbern und
wenig bis gar keiner Unterstützung ihrer EU-Partner, haben Bulgarien und Ungarn mit dem Versiegeln
ihrer Grenzen eine schlechte Wahl getroffen. Das ist sicher nicht die richtige Antwort für diejenigen,
die internationalen Schutz suchen. Aber die unbequeme politische Wahrheit ist, dass dies auch ein
Ergebnis des EU-Asylsystems ist, welches Staaten an den Außengrenzen Europas bestraft."

Originalzitat: "Regrettably politicians ignore facts. (…) With a steep increase in asylum applications
and little if any help from fellow EU countries, Bulgaria and Hungary have made the bad choice of
sealing off their borders. This is certainly not the right answer to those who seek international protection.
But the inconvenient political truth is that this comes also as the result of an EU asylum system which
penalises countries placed at the border of Europe."

http://www.coe.int/en/web/commissioner/-/europe-can-do-more-to-protect-refugees (http://www.coe.
int/en/web/commissioner/-/europe-can-do-more-to-protect-refugees)

Die Bitte nach einer Umverteilung der Flüchtlinge innerhalb der europäischen Gemeinschaft wurde
hier zwar zum ersten Mal von Deutschland vorgebracht, doch ist das Anliegen selbst fast genauso alt
wie die Regelung, die ihm zugrunde liegt: Das Schengener Durchführungsübereinkommen aus dem
Jahr 1995, das 1997 von der weithin bekannten Dublin-Konvention abgelöst wurde, regelt, dass
derjenige Staat, dessen Hoheitsgebiet ein Flüchtling zuerst betritt, für die Bearbeitung seines

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Asylantrags zuständig ist.

Schon bald baten die Staaten an den Außengrenzen der EU, die Dublin-Regelung zu überarbeiten,
weil sie den politischen Bedingungen der 1990er Jahre, wie dem Jugoslawienkrieg und dem
Aufkommen der großen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer, nicht mehr gerecht wurde – sie war
nicht solidarisch.

Die EU-Mitgliedstaaten drückten alsbald ihren Willen zur Solidarität aus: Erstmals 1995 in einem
Entschluss zur Lastenverteilung hinsichtlich der Aufnahme und des vorübergehenden Aufenthalts von
Flüchtlingen [15], im Jahr 2001 folgte die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie [16]. Doch diese
Absicht wurde nie in die Tat umgesetzt. Die Mitgliedstaaten fanden immer gute Gründe, ihre Partner
nicht oder nur eingeschränkt zu unterstützen. Auch Deutschland hat sich lange gegen verbindliche
Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU ausgesprochen und auf die geltende
Dublin-Regelung verwiesen.

Im Jahr 2015 wendete sich das Blatt für Deutschland. Nun war es die Bundesrepublik, die die Solidarität
ihrer europäischen Partner bei der Aufnahme der 1 Million Flüchtlinge forderte. Diesmal ließen die
Partner Deutschland allein. Dieses Debakel führt zwei Probleme vor Augen: Erstens, ist die Dublin-
Regelung nicht geeignet, in der EU ankommende Flüchtlinge gerecht unter den Mitgliedstaaten zu
verteilen. Zweitens, waren und sind die EU-Mitgliedstaaten kaum bereit, über die Regelung hinaus
freiwillig Flüchtlinge aus anderen EU-Partnerstaaten aufzunehmen. Europäische Solidarität in der
Flüchtlingspolitik war und ist ein Lippenbekenntnis.

Seit 2016 gehen die Asylbewerberzahlen im Vergleich zu 2015/2016 zurück [17] und das Thema
Flüchtlinge wird nicht mehr mit derselben Dringlichkeit in der Tagespresse behandelt. Diese plötzlich
eingekehrte Ruhe liegt nicht etwa daran, dass auf einmal der Weltfrieden ausgebrochen ist, sondern
an einem Abkommen, das die EU mit der Türkei geschlossen hat. Die Türkei erhielt 6 Mrd. Euro bis
Ende 2018 dafür, dass sie Flüchtlinge, die im Land ankommen, von ihrer Weiterreise in die EU abhielt
[18].

Vor dem Hintergrund des angespannten EU-Türkei-Verhältnisses ist es nur eine Frage der Zeit, wann
der nächste Konflikt zwischen der EU und der Türkei ausbricht und die Türkei dieses Abkommen
einseitig kündigt. Dann wird die EU vor demselben Problem stehen und wieder keine tragfähigen und
solidarischen Lösungsmechanismen anwenden können.

Zwischen "Weltniveau" und Solidarität
Der Solidaritätsanspruch ist eines von mehreren Alleinstellungsmerkmalen der EU gegenüber anderen
Staaten oder Staatenzusammenschlüssen. Existierende Umverteilungsmechanismen (z.B.
Kohäsionspolitik) und solche, die von manchen Mitgliedern gewünscht werden (z.B. Flüchtlingspolitik),
machen einen Großteil der Legitimität der EU aus [19].

Doch der Wunsch nach der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse reibt sich an einem anderen
Anspruch der EU: dem, der dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Dieses
ehrgeizige Ziel hatte die EU sich im Jahr 2000 gesetzt [20]. Und war die EU im Jahr 2006 tatsächlich
der stärkste Wirtschaftsraum der Welt, so büßte sie zehn Jahre später den ersten Platz auf dem
Siegertreppchen ein. Insgesamt ist der Anteil der EU an der weltweiten Wirtschaftsleistung im Jahr
2016 auf rund 22% gesunken [21].

Der Gewinner ist China. Es konnte seine Wirtschaftsleistung innerhalb von zehn Jahren nahezu
verdreifachen. Die Zeichen des großen Reichs aus dem Osten stehen auf Expansion. Neue
Seidenstraße oder auch Ein Band-eine Straße-Politik wird Chinas größtes Handels- und
Infrastrukturprojekt genannt. Im Zentrum steht eine direkte Bahnverbindung von China über Russland
bis in die EU, mit der chinesische Produkte bis vor die Türen der Europäer geliefert werden, bis nach

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Warschau, Duisburg und Venedig. Gleichzeitig dient sie chinesischen Großlieferanten als
Transportweg, um nach China begehrte europäische Produkte, wie etwa Milchpulver, einzuführen.
Entlang dieses Bahnnetzes soll durch die Ansiedlung chinesischer Firmen eine neue große
Wirtschaftszone entstehen. China stellt heute die größte Konkurrenz für den europäischen Binnenmarkt
dar.

Will die EU ihren Wohlstand auch in Zukunft wahren und nicht nur ihre Waren, sondern auch Werte
wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Welt exportieren, dann muss sie wieder Nummer eins
in der Weltwirtschaft werden. Doch während die oben beschriebene Kohäsionspolitik geeignet ist, die
Basis der EU zu stärken und schrittweise den Wohlstand anzuheben, so kann eine Spitzenposition in
der Weltwirtschaft nur durch Exzellenz und Leistung erreicht werden (Weltniveau).

Auch hierfür gibt es eine europäische Politik, die eigens darauf ausgerichtet ist, Spitzenforschung und
bahnbrechende Innovation zu fördern. Das derzeitige Programm heißt "Horizont 2020" und ist das
größte Forschungsförderprogramm der Welt, das ein Volumen von 80 Mrd. € hat. Das Folgeprogramm
"Horizon Europe", das ab 2021 gelten wird, wurde kräftigt aufgestockt und wird für 7 Jahre 100 Mrd.
€ zur Verfügung stellen. Dieses Programm leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dringender
Probleme von Krebserkrankungen über Energiespeicher bis hin zu Cybercrime.

Die bisherige Bilanz ist ähnlich wie die der Kohäsionspolitik: ganz gut, aber nicht ausreichend, um der
dynamischste, wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Die Projektprozesse sind häufig
schwerfällig. Das hat zur Folge, dass, wenn die innovative Lösung nach mehreren Jahren erforscht,
entwickelt und zur Marktreife gebracht worden ist, sie manchmal gar nicht mehr gebraucht wird. Auch
schaffen es viele Forschungsprojekte überhaupt nicht bis zur Marktreife und enden als Abschlussbericht
in einer Schublade.

Ein anderes Problem stellt der Widerspruch zwischen Exzellenz und Kohäsion dar. Da die Gelder in
Spitzenforschung investiert werden sollen, werden sie nach Qualitätskriterien vergeben – nur die
besten Projekte sollen gefördert werden. Die Auswertung zeigt: Knapp die Hälfte der Fördergelder
gehen an Forscher und Forscherinnen aus Deutschland (ca. 22%), dem Vereinigten Königreich (ca.
15%) und Frankreich (ca. 10%). Die seit 2004 hinzugekommenen 10 Mitgliedstaaten stellen auch hier
das Schlusslicht dar. Diese Kluft wird von vielen kritisiert.

Deshalb sind Forschungskonsortien, die eine hohe geographische Abdeckung nachweisen, mit
anderen Worten Partner aus Nord-, Süd-, Ost- und West-Europa in sich vereinen, besonders
erwünscht. Ziel ist es, die Kraft der starken Zugpferde zu nutzen, damit diese die schwächeren Partner
mitziehen. Dies kann jedoch zu einem Problem werden: Wenn die Unterschiede an die Qualität
wissenschaftlichen Arbeitens zu groß sind, geht dies zulasten der Projektergebnisse. Diese erzielen
dann keine exzellenten, sondern vielleicht nur noch durchschnittliche Ergebnisse. Und dies wiederum
trägt nicht dazu bei, die EU zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt" zu machen.

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Mit der Pioniergruppe zum "Weltniveau"?
Dieser Grundkonflikt zwischen Exzellenz und Kohäsion oder zwischen "Weltniveau" und Solidarität
durchzieht die gesamte Debatte über die zukünftige Gestaltung der EU. Kann die EU mit ihren 28
(nach dem Austritt Großbritanniens nur noch 27) sehr heterogenen Mitgliedstaaten ihrem Anspruch
gerecht werden, der erfolgreichste Wirtschaftsraum der Welt zu sein und sich wirtschaftlich gegen
China und die USA durchsetzen? Soll sie sich – angesichts der EU-feindlichen und rechtspopulistischen
Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten – lieber darauf konzentrieren, gleichwertige Lebensverhältnisse
EU-weit zu schaffen und den Mehrwert der EU noch stärker zu kommunizieren?

Will sie Spitzensportlerin sein und Bestleistungen in Forschung und Wirtschaft erbringen
(Forschungsförderung) oder setzt sie auf Breitensport und will möglichst alle in eine gleich gute
Kondition versetzen (Kohäsionspolitik)? Beides, werden viele nun antworten. Doch beides hatte sich
die EU schon im Jahr 2000 in Lissabon auf die Fahne geschrieben und hat weder das eine noch das
andere vollständig erreicht.

Anlässlich des Brexits hat auch die Europäische Kommission diese Sinnfrage aufgeworfen und fünf
Szenarien skizziert, wie die EU sich weiter entwickeln könnte.[22] Da sich in einer großen Gruppe
von 28 selten alle einig sind und es auch jetzt schon einige Staatengruppen gibt, die sich untereinander
enger verbunden fühlen [23], ist es gut möglich, dass sich das Szenario, welches die Europäische
Kommission als die "Koalition der Willigen" bezeichnet, in Zukunft durchsetzen wird.

Dies wurde in der Vergangenheit schon häufig diskutiert, mal als "Avantgarde", mal als "Europa der
zwei Geschwindigkeiten" und mal als Pioniergruppe. Wenngleich die Details der Vorschläge variieren,
geht es im Kern doch immer um dasselbe Ansinnen: Die EU ist zu groß, um alle mitzuziehen und eine
Führungsrolle in Weltwirtschaft und -politik zu spielen. Eine Pioniergruppe könnte sich aus einigen,
wenigen Staaten zusammensetzen, die schneller vorangehen und eine tiefere Zusammenarbeit mit
strengen Regeln wünschen. Die Pioniergruppe könnte dann auch diejenigen wieder aus ihrer Gruppe
ausschließen, die nicht im selben Tempo mitziehen und die selbst gesteckten Regeln nicht
einhalten.[24]

Könnte diese Lösung beide Ansprüche vereinen? Könnte sie sozialen und wirtschaftlichen
Zusammenhalt für das Gros der 27 Mitglieder paaren mit dem energischen Voranschreiten einiger
weniger Leistungsträger in Forschung, Innovation und Wirtschaft? Das erscheint plausibel. Doch wäre
solch eine Lösung auch geeignet, ein europäisches Wir-Gefühl zu erzeugen? Wäre sie geeignet, die
europäische Identität zu stärken? Diese Frage bleibt offen.

                      Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                      de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
                      Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/3.0/de/ Autor: Dr. Mechthild Baumann für bpb.de

Fußnoten

1.    Vgl. Hooghe, Liesbet; Marks, Gary: A Postfunctionalist Theory of European Integration: From
      Permissive Consensus to ConstrainingDissensus, in: British Journal of Political Science, Vol. 3,
      No. 1, Jan 2009, S. 17.
2.    https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240093/rechtspopulismus-im-europaeischen-
      vergleich-kernelemente-und-unterschiede (http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240093/
      rechtspopulismus-im-europaeischen-vergleich-kernelemente-und-unterschiede)
3.    https://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ecofin/139831.pdf (https://
      www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ecofin/139831.pdf)
4.    http://ec.europa.eu/budget/explained/budg_system/fin_fwk0713/fin_fwk0713_en.cfm (http://ec.

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      europa.eu/budget/explained/budg_system/fin_fwk0713/fin_fwk0713_en.cfm)
5.    Commission staff working document. Ex post evaluation of the ERDF and Cohesion Fund 2007-13,
      Brussels, 19.9.2016 SWD(2016) 318 final, S. 3, https://ec.europa.eu/regional_policy/sources/
      docgener/evaluation/pdf/expost2013/wp1_synthesis_report_en.pdf (https://ec.europa.eu/regional_policy/
      sources/docgener/evaluation/pdf/expost2013/wp1_synthesis_report_en.pdf)
6.    Philipp Breidenbach, Timo Mitze, Christoph M. Schmidt: EU Regional Policy and the Neighbour's
      Curse: Analyzing the Income Convergence Effects of ESIF Funding in the Presence of Spatial
      Spillovers, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 57, Tobias Hagen and Philipp Mohl:
      Econometric Evaluation of EU Cohesion Policy –A Survey, TEW Discussion Paper No. 09-052,
      ftp://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp09052.pdf (ftp://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp09052.pdf)
7.    https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188766/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-pro-kopf-in-
      den-eu-laendern/ (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188766/umfrage/bruttoinlandsprodukt-
      bip-pro-kopf-in-den-eu-laendern/)
8.    https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=File:Gross_domestic_product_(GDP)
      _per_inhabitant,_by_NUTS_2_regions,_2016_(based_on_data_in_purchasing_power_standards_
      (PPS)_in_relation_to_the_EU-28_average,_EU-28_%3D_100)-RYB18.png (https://ec.europa.
      eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=File:Gross_domestic_product_(GDP)_per_inhabitant,
      _by_NUTS_2_regions,_2016_(based_on_data_in_purchasing_power_standards_(PPS)
      _in_relation_to_the_EU-28_average,_EU-28_%3D_100)-RYB18.png)
9.    http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-3885_en.htm#_ftn1 (http://europa.eu/rapid/press-
      release_IP-18-3885_en.htm#_ftn1)
10.   European Commission Directorate-General Regional Policy Directorate Policy Development.
      Brussels: European Commission. http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docgener/studies
      (http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docgener/studies) (Zugangsbeschränkung)
11.   Roberta Capello & Giovanni Perucca (2018) Understanding citizen perception of European Union
      Cohesion Policy: the role of the local context, Regional Studies, 52:11, 1451-1463, DOI:
      10.1080/00343404.2017.1397273
12.   Dazu gehören u.a. Rechtsstaatlichkeit, keine Korruption, effiziente Mittelverwendung.
13.   https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2015.
      pdf?__blob=publicationFile (https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/
      bundesamt-in-zahlen-2015.pdf?__blob=publicationFile)
14.   Vgl. Kai-Olaf Lang: Rückzug aus der Solidarität? Die Visegrád-Länder und ihre Reserviertheit in
      der Flüchtlingspolitik, SWP-Aktuell 84, Oktober 2015, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/
      contents/products/aktuell/2015A84_lng.pdf (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/
      aktuell/2015A84_lng.pdf)
15.   ENTSCHLIESSUNG DES RATES vom 25. September 1995 zur Lastenverteilung hinsichtlich der
      Aufnahme und des vorübergehenden Aufenthalts von Vertriebenen (95/C 262/01)
16.   Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung
      vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen
      zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser
      Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, ABl. L 212
      vom 7.8.2001, S. 12–23.
17.   https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2017/01/asylantraege-2016.html (https://
      www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2017/01/asylantraege-2016.html)
18.   https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/ (https://
      www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/)
19.   Vgl. Andrea Sangiovanni: Debating the EU's Raison d'Être: On the Relation between Legitimacy
      and Justice, in: Journal of Common Market StudiesVolume 57, Issue 1.
20.   Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Lissabon, 23. und 24. März 2000.
21.   https://ec.europa.eu/eurostat/documents/3217494/9066251/KS-EX-18-001-EN-N.pdf/64b85130-5de2-4c9b-
      aa5a-8881bf6ca59b (https://ec.europa.eu/eurostat/documents/3217494/9066251/KS-EX-18-001-
      EN-N.pdf/64b85130-5de2-4c9b-aa5a-8881bf6ca59b)
22.   Europäische Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 –
      Überlegungen und Szenarien. KOM (2017) 2025, 1. März 2017.

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Dossier: Europawahlen (Erstellt am 24.06.2019)                                                                12

23. Z. B. die "Hanseatische Liga", ein Netzwerk aus 12 nördlichen EU-Staaten, das unter Führung
    der Niederlande versucht, einen Gegenpol zur engen deutsch-französischen Zusammenarbeit in
    der Finanz- und Währungspolitik zu setzen; oder die Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien,
    Slowakei und Ungarn), die eine restriktive Haltung in der Flüchtlingspolitik einnehmen.
24. Europäische Kommission: Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 –
    Überlegungen und Szenarien. COM(2017) 2025, 1. März 2017 Christian Calliess: Zur Zukunft der
    Europäischen Union –Überlegungen im Lichte von Rom-Deklaration und Weißbuch der
    Kommission, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht. Berlin e-Working Papers on European
    Law, Nr. 110, 01.03.2018, https://www.jura.fu-berlin.de/forschung/europarecht/bob/berliner_online_beitraege/
    Paper110-Calliess1/Paper110---Christian-Calliess---Zur-Zukunft-der-Europaeischen-Union-_-Ueberlegungen-
    im-Lichte-von-Rom-Deklaration-und-Weissbuch-der-Kommission.pdf (https://www.jura.fu-berlin.
    de/forschung/europarecht/bob/berliner_online_beitraege/Paper110-Calliess1/Paper110---Christian-
    Calliess---Zur-Zukunft-der-Europaeischen-Union-_-Ueberlegungen-im-Lichte-von-Rom-Deklaration-
    und-Weissbuch-der-Kommission.pdf)

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Einführung in das Wahlsystem
Von Wichard Woyke                                                                                               21.3.2019
 Wichard Woyke ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster. Sein Standardwerk "Stichwort: Wahlen"
 ist mittlerweile in 12. Auflage erhältlich.

Auch bei der neunten Wahl zum EP gibt es kein einheitliches Wahlsystem in allen
Mitgliedsstaaten, denn nach wie vor ist das Wahlrecht im Wesentlichen national geregelt. Es
gelten nur ein paar wenige einheitliche Vorschriften, welche die Mitgliedsländer beachten
müssen.

Ein Blick auf die EU-Landkarte zeigt: Trotz kontinuierlicher Anpassungen ist das Wahlrecht von Land zu Land nach
wie vor unterschiedlich geregelt. (© picture-alliance/dpa)

Das heutige Europäische Parlament (EP) geht auf die Gemeinsame Versammlung der Europäischen
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zurück, begründet durch den 1951 unterzeichneten Vertrag
von Paris. Die 78 Mitglieder der Versammlung bildeten die "Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft
zusammengeschlossenen Staaten" (Art.21, 3 EGKSV), die von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten
entsandt wurden.

Im EWG-Vertrag (unterzeichnet 1957) wurde im Art. 138 die Versammlung der sechs Mitgliedsstaaten
damit beauftragt, "Entwürfe für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren
in allen Mitgliedsstaaten auszuarbeiten". Aufgrund dieser Vorgaben verabschiedete die Versammlung
bereits 1960 einen "Entwurf eines Abkommens betreffend die Wahl des EP in allgemeiner unmittelbarer
Wahl" und legte im Januar 1975 einen neuen Entwurf eines "Vertrags zur Einführung allgemeiner
unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments" vor.

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Doch es sollte noch bis 1976 dauern, ehe der (Minister-)Rat im September den Rechtsakt über die
Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen zum EP erließ. Darin übernahm der Rat einige
Vorstellungen aus den Entwürfen des Parlaments und harmonisierte die Bestimmungen vor allem in
folgenden Punkten:

•     Die Mandatsdauer beträgt fünf Jahre;

•     es besteht das freie Mandat;

•     die Wahl der Abgeordneten zur Versammlung (EP) erfolgt zu einem festgelegten Termin, der für
      alle Mitgliedsstaaten in einem festgelegten Zeitraum von Donnerstagmorgen und dem unmittelbar
      nachfolgenden Sonntag liegt;

•     die Ermittlung des Wahlergebnisses erfolgt nach Abschluss der Wahl in allen Mitgliedsstaaten;

•     die konstituierende Sitzung des EP ist am ersten Dienstag einen Monat nach der Wahl;

•     es gibt eine generelle Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat mit der Mitgliedschaft in der
      Regierung eines Mitgliedsstaats und von politischen Ämtern oder Verwaltungsämtern bei
      Institutionen der Gemeinschaft;

•     und es gibt eine prinzipielle Vereinbarkeit von europäischem Mandat und nationalem Mandat
      (Doppelmandat).

Wahlen zum EP: Frei, direkt, aber nicht gleich
Die Zielsetzung eines einheitlichen Wahlsystems blieb zwar bestehen, doch wurde faktisch mit dem
Ratsbeschluss der individuellen Wahl jedes Mitgliedsstaats Rechnung getragen. Man suchte nach
einem Wahlsystem, das im Interesse eines möglichst gleichen Stimmengewichts ein Höchstmaß an
Einheitlichkeit gewährleisten, der politischen Kultur der Mitgliedsländer entsprechen und eine
unmittelbare Beziehung zwischen Wählern und Gewählten herstellen sollte.

Nachdem Großbritannien auch von seinem zunächst praktizierten Mehrheitswahlsystem abgerückt
war, kamen die EG-Mitglieder zwar überein, das Verhältniswahlsystem anzuwenden. Dieses wird
jedoch nach unterschiedlichen nationalen Anwendungsregeln praktiziert.

So kennt das Wahlrecht in den Mitgliedsstaaten die Grundsätze allgemein, frei, geheim und direkt seit
den ersten Direktwahlen 1979, den Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit erfüllt es jedoch nicht. Die
Gleichheit scheitert an der Zusammensetzung des EP, das gemäß der "degressiven Proportionalität"
gestaltet ist. Staaten mit einer relativ geringen Einwohnerzahl sind überproportional stark im EP
vertreten, während die Länder mit den höchsten Bevölkerungsanteilen unterrepräsentiert sind.

Das aktive Wahlrecht setzt in fast allen Ländern mit 18 Jahren ein (in Österreich schon ab 16), während
die Gewährung des passiven Wahlalters zwischen 18 und 25 Jahren differiert.

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Dossier: Europawahlen (Erstellt am 24.06.2019)                                                       15

Änderungen durch Reformen
Der EU-Vertrag, der die Unionsbürgerschaft begründet, garantiert den Unionsbürgern in Artikel 8 b
Absatz 2 das Recht auf Teilnahme an den Wahlen zum EP in dem Mitgliedsstaat, in dem sie ihren
Wohnsitz haben, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen. Somit wurde erstmals für die vierten
Direktwahlen zum EP 1994 den Unionsbürgern die Gelegenheit gegeben, ihre neuen Rechte
wahrzunehmen und sich der EU durch den Wahlakt bewusst zu werden. Die Richtlinie 93/109/EG des
Rats vom 6. Dezember 1993 regelt die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts
bei den Wahlen zum EP für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat, dessen
Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen.

Die Richtlinie legt auch die erforderlichen Bedingungen für den Inhaber des aktiven und passiven
Wahlrechts im Wohnsitzmitgliedsstaat fest: Unionsbürgerschaft, Wohnsitz am Ort der Wahl oder der
Kandidatur; und die Erfüllung der für die Staatsangehörigen geltenden Bestimmungen des
Wohnsitzmitgliedsstaats für das aktive und passive Wahlrecht.

Inhaltlich zielt der Vorschlag darauf ab, den betroffenen Bürgern die Ausübung dieser Rechte zu
erleichtern und geht von folgenden politischen Orientierungen aus: eine Minimalregelung, die sich
jeglicher Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften enthält; der Grundsatz der
Nichtdiskriminierung zwischen in- und ausländischen Wählern bzw. Kandidaten; der Grundsatz der
freien Auswahl des Mitgliedsstaats, in dem die betroffenen Unionsbürger ihr aktives und passives
Wahlrecht ausüben; die Vermeidung doppelter Stimmabgabe und doppelter Kandidatur und die
gegenseitige Anerkennung der Gründe für den Ausschluss vom Wahlrecht.

Bestimmungen von Maastricht, Nizza und Lissabon
Auch der Maastrichter Vertrag sah in Art. 190 Abs. 4 EGV vor, dass das EP einen Entwurf für allgemeine,
unmittelbare Wahlen nach einheitlichem Verfahren in allen Mitgliedstaaten ausarbeiten sollte. Doch
mehrere vom EP vorgelegte Entwürfe scheiterten am Rat. 2002 änderte der Rat auf Vorschlag des
EP die Bestimmungen über den Wahlakt von 1976, so dass für die Europawahlen von 2004 erstmals
ein Verfahren nach gemeinsamen Grundsätzen galt: Einheitlich waren der Termin, das
Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen (Ausnahme Nordirland und Irland, wo das
Verhältniswahlsystem mit übertragbaren Einzelstimmen Anwendung fand) und die Bestimmungen über
die Unvereinbarkeit eines Mandats im EP mit einem nationalen Mandat (Ausnahmeregelung für
Großbritannien und Irland bis 2009). Regionalen Besonderheiten, z.B. sprachlichen Minderheiten,
konnte durch Sonderbestimmungen Rechnung getragen werden.

Die Mehrzahl der Regeln für Stimmabgabe und Wahl ist somit nach wie vor von Land zu Land
verschieden und wird durch nationale Wahlgesetze geregelt. Die gilt z.B. für Wahltermine – von
Donnerstag bis Sonntag -, die Einteilung der Wahlkreise, die Bedingungen für das aktive und passive
Wahlrecht, die Altersgrenze für die Wählbarkeit der Kandidaten und die Sperrklauseln für die Parteien.
Auch hinsichtlich der Stimmabgabe bestehen Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedsländern. So
kann z.B. in Deutschland nur eine Stimme abgegeben werden, in Irland und Luxemburg z.B. mehrere
Stimmen. Auch kann in einigen Ländern die Reihenfolge der Liste geändert werden. Die Mehrzahl
der Mitgliedsstaaten hat sich für einen einzigen Wahlkreis auf ihrem Staatsgebiet entschieden.

Seit der Europawahl im Juni 2004 saßen bis Januar 2007 736 Abgeordnete aus den 25 Mitgliedsstaaten
im Europäischen Parlament. Mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2007 erhöhte
sich die Gesamtzahl der EU-Abgeordneten bis zur Europawahl 2009 auf insgesamt 785. Entsprechend
des Vertrags von Nizza reduziert sich die Zahl der Sitze im EP von 785 (2007) auf 736 (2009) für die
27 EU-Länder. Mit dem Breitritt Kroatiens 2013 erhöhte sich die Abgeordnetenzahl noch einmal auf
766 Mandate. Der Vertrag von Lissabon - der im Dezember 2009 in Kraft trat - sieht 751 Abgeordnete
vor, wobei ein Staat mindestens mit sechs und höchstens mit 96 Repräsentanten vertreten sein kann.

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Europäisches Parlament 2019–2024
Für die neunte Wahlperiode 2019–2024 sind nur noch 705 Abgeordnete vorgesehen, wenn der Brexit
Ende März 2019 wirksam wird. Von den bisherigen 73 Sitzen des Vereinigten Königreichs werden 27
Sitze unter jenen14 Mitgliedstaaten aufgeteilt, die bisher im EP leicht unterrepräsentiert waren. Die
restlichen Mandate werden für zukünftige EU-Erweiterungen aufgespart.

                     Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                     de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
                     Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/3.0/de/ Autor: Wichard Woyke für bpb.de

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Wie wählt Europa 2019?
Von Dieter Nohlen                                                                                                 22.3.2019
 Dieter Nohlen, Dr. phil. Dr. h.c. mult., Professor (em.) für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg, befasst sich seit
 Jahrzehnten in etlichen Forschungsvorhaben vergleichend mit Fragen des Wahlrechts und der Wahlsysteme. Für seine
 Wahlforschungen erhielt er 1991 den Max-Planck-Forschungspreis und 2005 das Diplom h.c. für Wahladministration der Université
 Panthéon Paris II.

In allen Mitgliedsländern werden die Abgeordneten des Europaparlaments nach Verhältniswahl
gewählt. Doch die Ausgestaltung der Wahl ist in den Ländern verschieden, etwa hinsichtlich
der Wahlkreiseinteilung, der Anwendung gesetzlicher Sperrklauseln und der Übertragung von
Stimmen in Mandate. Bis auf ein paar wenige EU-Vorgaben herrscht in den Mitgliedsländern
immer noch ein bunter Mix von Wahlverfahren.

Wer es nicht in die Wahlkabine schafft, kann seine Stimme auch per Briefwahl abgeben. Wahlhelfer zählen die Stimmen
nach Abschluss der Europawahl aus – wie hier in einer Messehalle in München. (© picture-alliance/dpa)

Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (EP) ist größtenteils national geregelt und damit häufig
unterschiedlich in den einzelnen Ländern. Nur einige Eckwerte wurden in den bisherigen
Gemeinschaftsverträgen festgeschrieben, vor allem die Zahl der Mitglieder des EP und ihre Verteilung
auf die Mitgliedsländer. Für die Wahlen von 2019 gilt der Lissaboner Vertrag von 2007. Er legte die
Zahl der Mitglieder des EP auf 751, die Höchstzahl der Abgeordneten eines Landes auf 96 und die
Mindestvertretung eines Landes auf sechs Abgeordnete fest. Im Rahmen dieser Vorgaben erfolgt die
Verteilung der Sitze auf die einzelnen EU-Länder nach der sog. degressiven Proportionalität: Nach
Bevölkerung größere Länder erhalten absolut mehr, aber proportional im Verhältnis zur Bevölkerung
weniger Sitze als kleinere Länder (siehe Tabelle). Die degressive Proportionalität ist mit dem Nachteil

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verbunden, dass sie ein gleiches Wahlrecht für alle EU-Bürger ausschließt, was vielfach als
undemokratisch kritisiert wird. Sie ermöglicht es aber, die Mitgliederzahl des Parlaments in Grenzen
zu halten, ohne die Zahl der Abgeordneten kleiner Länder derart zu dezimieren, dass deren Vertretung
nicht mehr zählt.

Mehr heterogen als homogen
Im Wahlrecht zum EP lässt sich unterscheiden, was einheitlich und was national verschieden gestaltet
ist. Große Einheitlichkeit herrscht im engeren Wahlrecht bei der aktiven Wahlberechtigung. Sie setzt
mit der Ausnahme von Österreich (16 Jahre) und Griechenland (17) Jahre) überall mit 18 Jahren ein.
Einheitlich ist seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 auch, dass alle Unionsbürger in allen EU-
Ländern, in denen sie wohnhaft sind, das Wahlrecht besitzen. Beim passiven Wahlrecht gibt es
Unterschiede in der Altersbedingung. Wie in anderen 14 Ländern kann sich in Deutschland jeder
Wahlberechtigte bewerben, in zehn Ländern ist ein Alter von 21, in einem von 23 und in zwei von 25
Jahren vorgeschrieben. Wahlpflicht besteht in vier Ländern (Belgien Griechenland, Luxemburg und
Zypern).

Beim Wahlsystem ist vor allem das Repräsentationsprinzip einheitlich. Das EP wird nach Verhältniswahl
gewählt. Die politische Vertretung der Einzelstaaten im EP soll in etwa die parteipolitischen Präferenzen
der Wählerschaft widerspiegeln. Einheitlich ist des Weiteren der Mehrpersonenwahlkreis mit
unterschiedlich vielen Abgeordneten. Im Grunde wird somit das EP nach Verhältniswahl in
Mehrpersonenwahlkreisen unterschiedlicher Größe gewählt.

Jenseits der genannten Merkmale ist vieles nach Ländern unterschiedlich, weshalb das Wahlsystem
zum EP auch als polymorphe oder heterogene Verhältniswahl bezeichnet wird. So ist unterschiedlich,
ob das nationale Wahlgebiet in mehrere Mehrpersonenwahlkreise aufgeteilt ist oder nicht, wie die
Listen gestaltet sind, ob gesetzliche Sperrklauseln bestehen und welches Verrechnungsverfahren
angewandt wird.

Schauen wir hier genauer auf die technischen Details, von denen natürlich politische Wirkungen
ausgehen. Sie beeinflussen die Chancen der Parteien, Mandate zu erringen, insbesondere die
Chancen von kleinen Parteien. Auch können sie den Bürgerinnen und Bürgern eine größere
Auswahlmöglichkeit einräumen, etwa indem er nicht nur unter Parteien, sondern auch unter Personen
innerhalb seiner Parteipräferenz auswählen kann.

Wahlkreise
In 22 EU-Ländern bildet das ganze Land einen einzigen Wahlkreis. In sechs Ländern ist das Wahlgebiet
in Wahlkreise unterteilt. Kleine Abweichungen kommen hinzu. So können in Deutschland (in Bayern)
und in Finnland einzelne Parteien auf subnationaler Ebene, das heißt in Teilen des Landes, zur Wahl
antreten. Italien ist zwar in fünf Wahlkreise untergliedert, aber nur für Zwecke der Stimmabgabe. Die
Mandate werden auch hier den Parteien auf nationaler Ebene nach Proporz zugeteilt. Ähnliches gilt
für Polen (13 Wahlkreise), wo die national den Parteien nach Proporz zugewiesenen Mandate
anschließend auf die Wahlkreise verteilt werden.

So sind letztlich nur Belgien (4 Wahlkreise), Frankreich (8), das Vereinige Königreich (12) und Irland
(4) in Mehrpersonenwahlkreise eingeteilt, in denen tatsächlich die Mandatsverteilung stattfindet.
Besonders in Belgien (mit Flandern, Wallonien, der deutschsprachigen Region und Brüssel), aber
auch im Vereinigten Königreich (mit neun Wahlkreisen für England und je einem für Schottland, Wales
und Nordirland) wurde bei der Wahlkreiseinteilung die regional-kulturelle Untergliederung des Landes
berücksichtigt.

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Wahlbewerbung und Stimmgebung
Bei der Wahlbewerbung spielt zunehmend eine Rolle, ob und wie für eine Gleichstellung der Frauen
in der politischen Repräsentation jenseits aller positiven Bekundungen in den Wahlsystemen Sorge
getragen wird. In acht Ländern (Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland, Polen, Portugal, Slowenien,
Spanien) ist inzwischen eine Genderquote gesetzlich vorgeschrieben, die in Höhe und die Parität
sichernden Bestimmungen jeweils unterschiedlich ausfällt. In 15 Ländern, darunter Deutschland, sind
verschiedene Parteien in unterschiedlichen Quotenregelungen freiwillige Verpflichtungen
eingegangen, den Anteil der Frauen in den Parlamenten aller Ebenen zu heben.

Bei Wahlbewerbung und Stimmgebungsverfahren fällt für die EP-Wahlen die häufige Verwendung der
lose gebundenen Liste auf, auch Präferenzstimmgebung genannt, auf. Wählerinnen und Wähler
können in zwölf Ländern für einen Kandidaten oder eine Kandidatin stimmen und mit ihrer
Präferenzstimme deren Reihenfolge auf den Parteilisten verändern. In zwei Ländern (Irland und
Luxemburg) und einer Region (Nordirland) sind die Listen sogar frei. In Luxemburg haben die
Wählerinnen und Wähler so viele Stimmen, wie Mandate zu vergeben sind, und sie können
panaschieren, d.h. ihre Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listen verteilen. In Irland, Malta und
Nordirland wird im System der übertragbaren Einzelstimmgebung (single transferable vote) von den
Wählerinnen und Wählern auf dem Stimmzettel per Nummerierung angegeben, in welcher Reihenfolge
sie die Bewerberinnen und Bewerber gewählt sehen möchten. In 13 Ländern, u.a. Deutschland,
Frankreich, Großbritannien, Polen und Spanien, sind die Listen starr. Die Wählerinnen und Wähler
sind an die Vorgaben der Parteien gebunden. Sie kreuzen eine Parteiliste an, können die Reihenfolge
auf ihr aber nicht ändern.

Sitzzuteilungsverfahren
Die größte Vielfalt herrscht in der polymorphen Verhältniswahl zum EP bei den Verrechnungsverfahren.
Sie dienen dazu, Stimmen in Mandate zu übertragen. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie kleinere
Parteien proportional benachteiligen oder gleichstellen können. In den meisten Ländern (15) werden
das Höchstzahlverfahren d´Hondt oder Varianten (z.B. Hare plus d´Hondt) angewandt. Beim
d'Hondtschen Verfahren, das kleinere Parteien eher benachteiligt, werden durch Division der auf die
Parteien entfallenen Stimmen durch die Zahlreihe 1, 2, 3, etc. Quotienten gebildet, nach deren Höhe
die Mandate vergeben werden. Die Methoden Sainte-Laguë und modifizierter Sainte-Laguë sind
ebenfalls Höchstzahlverfahren, allerdings mit unterschiedlichen Divisorenreihen (1, 3, 5 etc. bzw. 1.4,
3, 5 etc.). Sie wirken proportional ausgewogener und werden in drei Ländern angewandt. Beim Verfahre
Hare-Niemeyer errechnet sich der Quotient folgendermaßen: Zahl der Stimmen für eine Partei
multipliziert mit der Zahl der zu vergebenden Mandate, dividiert durch die Gesamtzahl der abgegebenen
Stimmen. In seiner Wirkung proportionaler als d'Hondt, wird es ebenfalls in drei Ländern angewandt.

Nur wenige Länder verwenden Wahlzahlverfahren (Hare, Hare-Niemeyer, Droop; siehe Tabelle), bei
denen durch Division der insgesamt abgegebenen Stimmen durch die Zahl der zur Verfügung
stehenden Mandate eine Wahlzahl entsteht. Sie bildet den Divisor, der zur Berechnung der den Parteien
zustehenden Mandate auf Grund der auf sie abgegebenen Stimmen dient. Die einfache Wahlzahl
(Verfahren Hare) kann man um eins erhöhen (dann handelt es sich um das Verfahren Droop) und die
damit erfolgende Division mit eins addieren (dann heißt das Verfahren Droop/STV). Wahlzahlverfahren
wirken in der Regel proportionaler als das Verfahren d’Hondt. Es bleiben aber Restmandate übrig. Um
sie zu vergeben wird meistens die Methode des größten Überrests angewandt. Von der Wahl des
Verfahrens zur Vergabe von Restmandaten hängt ebenfalls die proportionale Auswirkung eines
Wahlzahlverfahrens ab.

Deutschland hat bisher drei Verrechnungsverfahren zur Wahl seiner EU-Abgeordneten angewandt:
zunächst die Methode d’Hondt, also das zur Wahl des EP meist genutzte Verfahren, dann das Hare/
Niemeyer-Verfahren, seit 2008 das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren. Mit den Reformen wurde
versucht, den bestmöglichen Proporz herzustellen, freilich ohne Rücksicht auf die in den
Gemeinschaftsverträgen angestrebte Vereinheitlichung des EP-Wahlsystems. Sainte-Laguë/

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Schepers gilt als exakt proportionales Verfahren. Es lässt sich am einfachsten als Höchstzahlverfahren
mit der Divisorenreihe 1,3,5, etc. beschreiben.

Sperrklauseln
Gesetzliche Sperrklauseln bestehen in 14 Ländern (in 13 von ihnen national, in Frankreich in den
Wahlkreisen), deren Höhe mehrheitlich fünf Prozent, in Österreich, Italien und Schweden vier, in
Griechenland drei und in Zypern 1,8 Prozent beträgt. In Deutschland galt bis zu den Europawahlen
von 2009 eine Fünfprozentklausel. Sie wurde im November 2011 vom Bundesverfassungsgericht für
verfassungswidrig erklärt. Das gleiche Schicksal erlitt im Februar 2014 die Dreiprozentklausel, die der
Bundestag zwischenzeitlich beschlossen hatte. Die Begründung lautete jeweils, dass der
Gleichheitsgrundsatz im Wahlrecht nicht nur die Zählwertgleichheit, sondern auch die
Erfolgswertgleichheit der Stimmen erfordere, das heißt, dass jede Stimme die gleiche Chance haben
müsse, die Zusammensetzung des Parlaments zu beeinflussen. Die Erfolgswertgleichheit könne nur
durch funktionale Erfordernisse eingeschränkt werden, im parlamentarischen System durch das
Erfordernis der Mehrheitsbildung und einer stabilen Regierung. Aus dem EP gehe jedoch keine
Regierung hervor, weshalb eine Einschränkung des Proporzes verfassungswidrig sei.

Das Bundesverfassungsgericht verweist auch darauf, dass es in einigen anderen Mitgliedsländern
ebenfalls keine Sperrklausel gebe. Es verkennt dabei, dass aufgrund der begrenzten Zahl der den
Ländern zustehenden Mandate faktisch überall natürliche Sperrklauseln bestehen. Je kleiner die
Wahlkreise, desto höher die natürliche Sperrklausel. Diese natürliche Hürde liegt in den Ländern, die
keine gesetzliche Sperrklausel kennen, in 14 Fällen über fünf Prozent und in zwei Fällen um die drei
Prozent. In Wahrheit ging Deutschland mit der Abschaffung der gesetzlichen Sperrklausel einen
Sonderweg in Europa. Mit der Einführung einer Sperrklausel von 2 bis 5%, die der Europäische Rat
Juli 2018 für die Wahlen ab 2024 beschloss, dürfte wieder ein Mehr an Einheitlichkeit erreicht werden.

Einigkeit in der Verhältniswahl
Trotz aller Variationsvielfalt in den technischen Details der Wahlsysteme lässt sich feststellen, dass
die Verhältniswahl in den einzelnen Ländern so gestaltet ist, dass das Verhältnis von Stimmen und
Mandaten recht proportional ist, auch wenn Länder mit eher kleinen und mittelgroßen Wahlkreisen
(etwa Luxemburg und Malta) im Proporzgrad der Wahlergebnisse nicht an Länder mit großen
Wahlkreisen (Deutschland und Spanien) heranreichen. Aber der unterschiedliche Grad an
Proportionalität von Stimmen und Mandaten lässt ohnehin keinen Schluss auf die Struktur der
Parteiensysteme zu. Nach reinem Proporz wird 2019 nur in Deutschland gewählt. In allen anderen
Ländern wirkt entweder die Wahlkreisgröße oder die gesetzliche Sperrklausel einer exakten
Entsprechung von Stimmen und Mandaten entgegen.

Die polymorphe Verhältniswahl zum Europäischen Parlament
 LandBelgienB­                                   Wahlkreise4nat.   Form der            Verrechnungs­
                                                                                                         Sperrklauselk­
 ulgarienDäne­                                   WKnat.            Listelose geb.      verfahrend'Ho­
                                                                                                         einekeinekein­
 markDeutschl­                                   WKnat.            Listestarre         ndtHare/
                                                                                                         ekeinekeinek­
 andEstlandFi­                                   WKnat.            Listelose geb.      Niemeyerd'H­
                     Zahl der                                                                            eine5% (im
 nnlandFrankr­                                   WKnat.            Listestarre         ondtSainte-
                     Mandate (a)                                                                         WK)3%
 eichGriechenl­                                  WK8nat.           Länder- oder        Laguë/
                     21171496714                                                                         keine4%5%
 andIrlandItali­                                 WK45/nat.         Bundeslistestarre   Schepersd'Ho­
                     79211376128                                                                         5%5%
 enKroatienLet­                                  WKnat.            Listelose geb.      ndtd'HondtHare/
                     116629195221                                                                        keinekeinekei­
 tlandLitauenL­                                  WKnat.            Listestarre         d'HondtDroop/
                     33211485921                                                                         ne4%5%
 uxemburgMal­                                    WKnat.            Listestarre         größter
                     21-6                                                                                keine5%4%
 taNiederlande                                   WKnat.            Listefreie          ÜberrestDroop/
                                                                                                         5%4%
 ÖsterreichPol­                                  WKnat.            Liste/STVlose       STVHare/
                                                                                                         keine5%5%
 enPortugalRu­                                   WKnat.            geb. Listelose      größter
                                                                                                         keinekeine
 mänienSchw­                                     WKnat. WK13/      geb. Listelose      Überrestd'Ho­

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