DENKFABRIK EINE WELT 2.0 DEKOLONISIERT EUCH! - Eine Initiative von Deutschlandradio und seinen drei Programmen

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DENKFABRIK EINE WELT 2.0 DEKOLONISIERT EUCH! - Eine Initiative von Deutschlandradio und seinen drei Programmen
DENKFABRIK
                 EINE WELT 2.0
                 DEKOLONISIERT EUCH!

Eine Initiative von Deutschlandradio
und seinen drei Programmen
DENKFABRIK EINE WELT 2.0 DEKOLONISIERT EUCH! - Eine Initiative von Deutschlandradio und seinen drei Programmen
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QR-Codes
                                                             In dieser Broschüre finden Sie QR-Codes, die Sie zu weiter­
                                                             führenden Informationen auf unseren Webseiten leiten.
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                                                             ruhig in Richtung des Codes. Wenn das Scannen nicht
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Impressum

Herausgeber
Deutschlandradio
Körperschaft des öffentlichen Rechts
Raderberggürtel 40, 50968 Köln

deutschlandradio.de/denkfabrik
denkfabrik@deutschlandradio.de

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Chrissie Salz (S. 34-35, 37), UHH/Dingler (S. 39), picture alliance/New-
scom/Brian Villanueva (S. 41), Underwood Archives/Getty Images (S. 42),
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File:Deutsche_kolonien_1885.jpg (S. 48), Jann Höfer (S. 50), Selma Nayin
(S. 54-55, 61), David Ertl (S. 56), Goethe-Institut/Loredana La Rocca (S. 63),
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Layout
Deutschlandradio Service GmbH

Stand
Dezember 2020
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KAPITEL 1

       DIE
    DENKFABRIK
    UNTERWEGS
         SEITE 8

        KAPITEL 2

  NUR WER WEISS,
 WOHER ER KOMMT,
WEISS, WOHIN ER GEHT
        SEITE 32

        KAPITEL 3

   PLÄDOYER FÜR
 EINEN PERSPEKTIV-
     WECHSEL
        SEITE 54

        KAPITEL 4

 NACHDENKEN ÜBER
 DEN JOURNALISMUS,
SPRACHE, UNS SELBST
        SEITE 70
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Dieses Beispiel westlicher Besitznahme, über das Sie in dieser
                                                                   Publikation noch mehr erfahren werden, mag keine direkten
                                                                   Auswirkungen auf die Leben vieler Menschen gehabt haben,
                                                                   andere dafür umso mehr. Auswirkungen, die seit Jahrhunderten
                                                                   bis heute spürbar sind.

                                                                   Mit dem Thema unserer diesjährigen Denkfabrik „Eine Welt 2.0 –
                                                                   Dekolonisiert Euch!“ wollten wir diesen Folgen nachspüren. Was
                                                                   ist auch bei uns von der kolonialen Vergangenheit geblieben – in
                                                                   Gesellschaft, Wirtschaft, Sprache und den Medien? Durch den
                                                                   gewaltsamen Tod des US-Amerikaners George Floyd und die Pro-
                                                                   teste der Black Lives Matter-Bewegung ist die Aktualität dieses
                                                                   Themas der Welt noch einmal schmerzhaft bewusst geworden.

                                                                   Wir haben 2020 viel diskutiert, durch Corona leider weniger
                                                                   bei Veranstaltungen mit unserem Publikum als geplant. Die
Liebe Leserinnen und Leser,                                        Reaktionen auf unsere Beiträge, Serien und Sendungen haben
                                                                   uns aber gezeigt, dass wir einen Nerv getroffen haben.
haben Sie sich schon einmal gefragt, welche Namen die Men-
schen in ihrer Heimat jenen exotischen Pflanzen gegeben            Ich hoffe, Sie finden die in dieser Publikation versammelten
haben, die wir heute in Botanischen Gärten bestaunen, bevor        Beispiele genauso interessant und anregend wie wir. Und
westliche Wissenschaftler sie nach Europa mitnahmen und            wenn Sie mehr über dieses Thema und unsere Denkfabrik
ihnen einen lateinischen Namen gaben?                              erfahren wollen, dann können Sie weiterlesen und -hören auf
                                                                   deutschlandradio.de/denkfabrik.
Wenn aus Humboldts Seekanne, der Nymphoides humboldtia-
na, wieder die Yvoty mboporã pónhuregua wird, die „Fünfblätt-      Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.
rige Blume des Geistes der Felder und Wälder: Du wirst eines
Tages fortgehen, aber ich nicht“, wie die Pflanze in der Sprache
der Guaraní heißt, dann öffnet sich der Blick auf eine Welt jen-   Ihr Stefan Raue
seits der westlichen (Sprach-)Ordnung.                             Intendant Deutschlandradio
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6   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                    DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   7

                    WAS FÜR EIN DENK­
                    WÜRDIGES THEMA!

                    Als alle Stimmen ausgezählt waren, waren wir überrascht. Und
                    ein bisschen ratlos. Die Auswahl unserer Hörerinnen und Nutzer
                    war zwischen vier starken Themen auf „Eine Welt 2.0 – Dekoloni-
                    siert Euch!“ gefallen.

                    Je weiter das Jahr voranschritt, umso vertrauter und wichtiger
                    wurde uns das Thema. Und es wuchs von Woche zu Woche.
                    Mit der aufgeregten Debatte um den kamerunischen Historiker
                    und Postkolonialismus-Theoretiker Achille Mbembe. Mit dem
                    gewaltsamen Tod von George Floyd und der Black Lives Matter-
                    Bewegung. Dem Anschlag von Hanau. Der Diskussion um die
                    Umbenennung von Straßennamen, wenn sie koloniales Unrecht
                    verharmlosen oder heroisieren. Unsere Hörerinnen und Nutzer        mitnehmen wollten, ein interaktives Quiz. Und uns stattdessen
                    hatten offensichtlich ein gutes Gespür, als sie sich für dieses    der Frage widmen, wie die Denkfabrik auch unter diesen Umstän-
                    Thema entschieden.                                                 den im Austausch mit dem Publikum bleiben konnte. So entstand
                                                                                       etwa die Idee zu einem Lesekreis, in dem ein gemeinsam ausge-
                    Auch wir selbst mussten erst einmal für uns das Thema sortie-      wähltes Buch anschließend gemeinsam gelesen wurde.
                    ren, uns klar werden, was dazugehört, was zu sehr abschweift
                    und welche Fragen wir stellen wollten. Zu den Folgen einer kur-    Auf den folgenden Seiten finden Sie einen kleinen Ausschnitt
                    zen Kolonialzeit, zu Machtstrukturen, die bis heute ihre Wirkung   von dem, was uns zu „Dekolonisiert Euch!“ eingefallen ist. Von
                    entfalten. Schnell war uns klar, wie wichtig es auch hier ist zu   der Politik über die Wirtschaft und den Sport bis hin zu künst-
                    verstehen, woher man kommt – und dass der Perspektivwechsel        lerischen Klanginstallationen. On Air, in der Audiothek, in Insta­
                    in diesem Jahr eine besondere Rolle spielen würde. Nicht nur in    stories, im Programmheft, in Podcasts. In Interviews, Essays,
                    der „Corso“-Serie „Durch deine Augen“, die ergründet, was es       Diskussionen, Lesungen. Ein Buch zum Lesen, zum Schauen,
                    braucht, um einander besser zu verstehen.                          zum genüsslichen Blättern – und zum Hören. An vielen Stellen
                                                                                       finden Sie QR-Codes, die Sie zum jeweiligen Beitrag bringen.
                    Die Denkfabrik will die großen Themen der Zeit diskutieren,
                    nicht im Elfenbeinturm, sondern im direkten Austausch mit          Was für ein spannendes, lehrreiches Denkfabrikjahr, aus dem wir
                    unserem Publikum, durchaus kontrovers, aber immer im Res-          alle verändert hervorgehen – von der Werkbank, an der fünfzehn
                    pekt vor der Meinung des anderen. Die Denkfabrik wollte im         Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen des Hauses regel-
                    Jahr 2020 vor allem eins sein: unterwegs, vor Ort, bei Ihnen.      mäßig stehen und die Denkfabrik begleiten, über Redakteurinnen
                    Dann kam Corona. Während die zahlreichen guten Ideen für           und Redakteure und die Verwaltung bis hin zum Intendanten.
                    unsere drei Programme umgesetzt wurden, mussten wir viele
                    Planungen und Ideen für Veranstaltungen einstampfen – Ideen        Viel Spaß beim Blättern, Schauen, Lesen – und Hören!
                    für Live-Sendungen und Diskussionsrunden vor Ort mit Publi-
                    kumsbeteiligung, für ein Barcamp, unseren Hörsessel, den wir       Dr. Eva Sabine Kuntz, Leiterin Hauptabteilung Intendanz, Koordinatorin Denkfabrik
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KAPITEL 1

DIE
DENKFABRIK
UNTERWEGS
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10   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                               DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   11

                     Deutschlandfunk Kultur, Radiokunst, KIanginstallation im Botanischen Garten

                     NATUR. NACH HUMBOLDT
                     Auf den ersten Blick sieht sie aus wie eine zarte Seerose. Mit                Seit Jahrhunderten benennen Wissenschaftler
                     ihren filigranen Blüten bevölkert sie Sümpfe und Wasserflä-                   Lebewesen mit lateinischen Namen. Nun forsch-
                     chen in Südamerika. Die westliche Wissenschaft nennt sie:                     ten zwei Künstlerinnen (hier im Bild: die Kom-
                     Nymphoides humboldtiana, Humboldts Seekanne. Mindestens                       ponistin Lucrecia Dalt) nach indigenen Bezeich-
                     ebenso gut steht ihr aber der Name Yvoty mboporã pónhure-                     nungen für Pflanzen aus dem Botanischen
                     gua: „Fünfblättrige Blume des Geistes der Felder und Wälder:                  Garten in Berlin. Ihre 360°-Sound-Installation
                     Du wirst eines Tages fortgehen, aber ich nicht.“ Diese Bezeich-               war vom 24. Januar bis zum 2. Februar 2020 zu
                     nung stammt von dem Guaraní-Lehrer Maximino Rodrigues.                        erleben. Den Abschluss bildet eine „Art meets
                     Seine Vorfahren lebten in Südamerika, lange bevor Humboldt                    Science“-Matinee. Aufgrund der überwältigen-
                     dort auftauchte.                                                              den Resonanz wurde die Klanginstallation um
                                                                                                   zwei Wochen verlängert und erreichte vor Ort
                     Für die Klanginstallation „You Will Go Away One Day But I Will                15.000 Menschen. Deutschlandfunk Kultur sen-
                     Not“ suchten die Künstlerin Maria Thereza Alves und die Kom-                  dete am 6. März eine Radiofassung der Arbeit.
                     ponistin Lucrecia Dalt nach indigenen Namen für die Pflanzen
                     im Botanischen Garten Berlin. Mit ihrer Arbeit öffneten sie einen
                     Raum für die vielschichtigen Stimmen des Urwalds – organisch
                     und anorganisch, menschlich und nicht-menschlich, spekula-
                     tiv und real. Dabei zeigten sie auch, wie diese Stimmen durch
                     europäische Kolonisatoren zum Schweigen gebracht wurden.

                     Das Klangerlebnis im Tropenhaus des Botanischen Gartens ent-
                     stand mithilfe des immersiven Audiosystems usomo: Während
                     die Besuchenden mit Kopfhörern durch das Tropenhaus gingen,
                     erfassten die Geräte ihre Positionen für eine individuelle räum-
                     liche Hörerfahrung. So komponierten die Besuchenden durch                     Die Künstlerin Maria                        In Ihrem Projekt benennen Sie Pflanzen

                                                                                                   Thereza Alves im
                     die Bewegung im Raum ihre jeweils eigene Hörerfahrung. Die                                                                um. Warum? Im Tropenhaus des Bota-
                     Sound-Künstlerin Lucrecia Dalt schuf für die Arbeit erstmals eine                                                         nischen Garten gibt es eine Pflanze, die
                     nicht-lineare Komposition: Anhand rhythmisch sequenzierter
                     Muster der verschiedenen Stimmen des Waldes komponierte sie
                                                                                                   Gespräch zu ihrer                           nach Goethe benannt wurde. Und eine
                                                                                                                                               Pflanze, die nach dem deutschen Botani-
                     ein Klangstück in ständiger Veränderung, inspiriert von der tur-              Arbeit                                      ker Hoffmann benannt wurde. Und eine
                     bulenten, unberechenbaren und vielfältigen Natur.                                                                         mit dem Namen des Landschaftsarchitek-
                                                                                                                                               ten Roberto Burle Marx. Aber es gab keine
                     Ausgangspunkt für die Kooperation waren das Jahresthema                                                                   Pflanzen mit den Namen indigener Führer
                     „Naturgemälde“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der                                                                  oder Aktivisten. Ich habe mich gefragt:
                     Wissenschaften zum Humboldt-Jahr und das Thema der Denkfa-                                                                Wieso ist das so einseitig? Vor allem, weil
                     brik im Deutschlandradio „Eine Welt 2.0 – Dekolonisiert Euch!“.                                                           es sich um Pflanzen aus den Regionen
                     Auf Initiative der Abteilung Radiokunst im Deutschlandfunk Kul-                                                           indigener Menschen handelte. Also habe
                     tur beteiligten sich auch CTM Festival, Junge Akademie, Botani-                                                           ich mir einen Weg überlegt, die Geschich-
                     scher Garten und Botanisches Museum an dem Projekt.                                                                       te hineinzubringen, die normalerweise
                                                                                                                                               außen vor gelassen wird: Die Umbenen-
                     Marcus Gammel, Abteilungsleiter Radiokunst, Deutschlandfunk Kultur                                                        nung der Pflanzen durch Europa.
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12   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                      DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   13

                                                                                                                  Nymphoides
                                                                                                                 humboldtiana
                                                                                                                        Yvoty mboporã
                                                                                                                         pónhuregua

                                                                                                                    Fünfblättrige Blume des Geistes der
                                                                                                                     Felder und Wälder: Du wirst eines
                                                                                                                      Tages fortgehen, aber ich nicht.

                                                                                                                                     Pflanze gesucht, die nach ihm benannt
                                                                                                                                     ist. Die „Nymphoides humboldtiana“, wie
                                                                                                                                     sie auf Latein heißt, stammt aus Peru. Ich
                                                                                                                                     arbeite mit Guaraní, die leben dort nicht.
                                                                                                                                     Ich habe mit den Guaraní gesprochen und
                                                                                                                                     gesagt: Ich weiß, dass diese Blume nicht
                                                                                                                                     aus eurer Region ist. Sondern von etwas
                                                                                                                                     weiter nördlich. Aber ich würde sie gerne
                                                                                                                                     verwenden. So erhielt sie den Namen

                                                                                                Calathea
                                                                                                                                     „Fünfeckige Blume, die das Wesen der
                                                                                                                                     Felder und Wälder widerspiegelt. Du wirst

                                                                                                zebrina
     Wie haben Sie das gemacht? Ich habe mit     Blume voll Essenz, die den Menschen                                                 eines Tages fortgehen, aber ich nicht“.
     den Guaraní aus Grosso do Sul in Brasi-     bessert. Es ist eine Pflanze, die durch ihre
     lien gesprochen, mit denen ich seit 1980    farbenreichen Blüten die Aufmerksamkeit                                             Sie arbeiten schon sehr lange mit Guaraní-
     arbeitete und gefragt, ob sie daran inte-   der Menschen auf sich zieht, die durch          Rogue-pe pará                       Gruppen. Wie hat dieser künstlerische Pro-
     ressiert wären, daran mitzuarbeiten, den    Selbstverschulden hervorgerufene schwe-         ho‘ysavy apere                      zess begonnen? Ich war eine der ersten
     Botanischen Garten zu dekolonisieren. So    re Zeiten durchleben.“                              y‘uhe‘i                         in meiner Familie, die an der Universität
     weit wie das möglich ist. Sie waren sehr                                                                                        studiert hat. Und habe mich dann gefragt,
     interessiert.                               Der Titel der Arbeit, die Sie gemeinsam                                             was ich studieren könnte, damit es mei-
                                                 mit Lucrecia Dalt im Botanischen Gar-          Pflanze, die starb und dabei         nen Leuten nützt. Also widmete ich mich
     Welche Pflanzen wurden beispielsweise       ten zeigen, lautet „You Will Go Away One       den Namen eines gestreiften          Fragen der Menschenrechtsverletzung
                                                                                                    Tieres mit sich nahm.
     umbenannt? Insgesamt sind es sechs-         Day But I Will Not“. Was ist die Geschich-                                          indigener Gruppen und ging zum Inter-
     undzwanzig. Es gibt eine Pflanze, die auf   te dahinter? Die Arbeit ist benannt nach                                            national Indian Treaty Council. Ich wollte
     Latein „Costus cuspidatus“ heißt. Der       einer Pflanze, die nicht im Botanischen                                             schon immer die Anführer der Guaraní-
     Guaraní-Name lautet „Temitý-gue apere       Garten steht. Aber weil diese Ausstellung                                           Community kennenlernen. Ein Teil meiner
     ñemopu'ã“. Zu Deutsch: „Pflanze mit der     sich Humboldt widmet, habe ich eine                                                 Familie ist Guaraní, ein anderer Teil ist aus
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14   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                                 DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   15

                                                 Begonia                                                                          det man dort. Das Gebetshaus im Reser-

                                                oxyphylla                                                                         vat wurde durch Brandstiftung vernichtet.
                                                                                                                                  Dieses Haus ist sehr wichtig, als Kultur-
                                                                                                                                  zentrum. Dort kommt nachts die ganze
                                                 Hoguerõ kulata                                                                   Gemeinschaft zusammen. Die Kinder spie-
                                                jova‘i pira ungue                                                                 len, die Teenager machen Musik. Es ist ein
                                                                                                                                  sehr starker Bezugsort im Alltag. Nachdem
                                                                                                                                  Bolsonaro gewählt wurde, kamen weiße
                                                  Blatt von den Ufern
                                                 des Sees, geboren aus                                                            Farmer in das Reservat, schossen und ver-
                                                      totem Fisch.                                                                wundeten 15 Menschen. Das ist die aktuel-
                                                                                                                                  le Situation in dem Reservat, das all diese
                                                                                                                                  erstaunlichen Songs hervorgebracht hat.
                                                                                                                                  Sie haben uns erlaubt, 30 Lieder für die
                                                                                                                                  Arbeit im Botanischen Garten zu verwen-
                                                             Paraná. Ich habe mich mit Marçal Tupã-i in                           den. Einige davon wurden in einem neuen
                                                             Mato Grosso do Sul getroffen. Er ist eigent-                         Gebetshaus produziert. Sie nehmen am

                  Hilleria                                   lich aus dem Reservat Jaguapiru. Aber er                             internationalen Kunstdiskurs teil, während
                                                             wurde durch die brasilianische Regierung                             Siedler auf sie schießen.

                  latifolia
                                                             von seiner Familie getrennt und ins Exil in
                                                             ein anderes Reservat gezwungen, weil er                              Sollen alle Pflanzen ihre ursprünglichen
                                                             Aktivist war. Ich habe mit ihm gesprochen,                           Namen zurückbekommen? Ich denke, wir
              Hoguerõ chukka                                 weil ich mit dem International Indian Treaty                         sollten die Gemeinden fragen, wie sie
                                                             Council eine nationale indigene Organisa-                            sich wünschen, dass man damit umgeht.
                                                             tion gründen wollte. Er sagte dann, dass                             Fragen Sie die Menschen, die dort leben.
           Langes Blatt, stellt einen Jungen
           auf dem Weg zum Erwachsenen                       so eine Organisation gerade gegründet
                                                                                                                                  Die Fragen stellte Caren Miesenberger, freie Mitarbeiterin
           dar. Es gibt keine Blume, weil die                wurde. Aber das stand nicht in den Zeitun-                           Online/Multimedia, Deutschlandfunk Kultur
                 Pflanze stets wächst.                       gen, weil diese Informationen dort nicht
                                                             landen. Ich dachte dann wow, was soll ich

                                                                                                                    Costus
                                                             jetzt machen?

                                                                                                                  cuspidatus
                                                             Und was haben Sie gemacht? Internationa-
                                                             le Politik studiert. Ich bin auch Künstlerin.
                                                             Und ich betrachte Kunst oder Politik nicht
                                                             als verschiedene Kategorien.                          Temitý-gue apere
                                                                                                                      ñemopu‘ã
                                                             Wie ist die Situation in dem Reservat, mit
                                                             dem Sie gearbeitet haben? Es ist sehr hart.
                                                                                                              Pflanze mit der Blume voll Essenz, die den
                                                             Am 3. Januar kam die Polizei in das Reser-       Menschen bessert. Es ist eine Pflanze, die
                                                             vat und erschoss sechs Personen. Einer            durch ihre farbenreichen Blüten die Auf-
                                                             wurde in ein Notfallkrankenhaus mit rassis-      merksamkeit der Menschen auf sich zieht,
                                                                                                             die durch Selbstverschulden hervorgerufene
                                                             tischem Personal gebracht, das sagt, das                schwere Zeiten durchleben.
                                                             Krankenhaus sei für Weiße. Wenn man also
                                                             nicht von der Polizei erschossen wird, lan-
16   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                        DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   17

                                                Deutschlandfunk Kultur, Radiokunst, Mit Kopfhörer und Smartphone rund um das Berliner Stadtschloss

                                                GROSSE GESTE
                                                WEISSE WELT

                                                Im September 2020 sollte das Humboldt Forum im wieder
                                                aufgebauten Berliner Stadtschloss seine Pforten öffnen. Doch
                                                daraus wurde nichts. Die Pandemie machte den Verantwortli-
                                                chen einen Strich durch die Rechnung. Der Radiowalk „Große
                                                Geste Weiße Welt“, geplant als kritisches Beiboot zur Eröff-
                                                nung, konnte aber glücklicherweise stattfinden. Unter freiem
                                                Himmel und mit viel Abstand
                                                liefen bei der Veranstaltung      Ist das umstrittene Ausstellungskonzept
                                                Ende September geladene           des Humboldt Forums noch zeitgemäß?
                                                Hörer*innen einmal um das
                                                Humboldt Forum und lauschten den Hörspielminiaturen des
                                                Autors Lorenz Rollhäuser. Angekommen im aktuellen Diskurs
                                                um Dekolonisierung, Raubkunst und Restitution scheint es
                                                zumindest widersprüchlich in einem nachgebauten Hohen-
                                                zollernschloss Teile einer 500.000 Objekte zählenden ethno-
                                                logischen Sammlung zu zeigen, die teilweise auf vielkritisier-
                                                ten Wegen nach Deutschland kamen. Die berühmten Beniner
                                                Bronzen beispielsweise sind in deutschen ethnologischen
                                                Museen eine Attraktion. Dass sie 1897 von britischen Truppen
                                                aus dem heutigen Nigeria geraubt wurden, war lange kein
                                                Thema. Wem gehören die Bronzen wirklich? Steckt womög-
                                                lich postkoloniale Ignoranz in der aktuellen Ausstellungspla-
                                                nung? All diese Aspekte beleuchtet der Radiowalk „Große
                                                Geste Weiße Welt“ genauer. Autor Lorenz Rollhäuser hat rund
                                                um das Schloss eine Reihe akustischer Miniaturen platziert, die
                                                mit Hilfe der „Radioortung“-App auf dem Smartphone gehört
18   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                     DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   19

                          werden können. Viele Akteur*innen, die mit den geplanten
                          Ausstellungen im Humboldt Forum in Verbindung stehen,
                          kommen zu Wort. Nachfahren der Herero und Nama sind           Sprecher:
                          ebenso zu hören wie der Präsident der Stiftung Preußischer    Es war immer mitten im Sommer, die
                          Kulturbesitz Hermann Parzinger, die Künstlerin und Theo-      Tage der Offenen Baustelle, an denen das
                          retikerin Grada Kilomba oder der international arbeitende     Volk geladen war, das wachsende Werk
                          Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Die Provenienz-       zu bewundern. Und sie kamen in Massen.
                          forscherin Christine Howald äußert sich zu den asiatischen    Ältere Herrschaften hauptsächlich, und
                          Sammlungen und Künstlerinnen aus Lateinamerika positio-       gar nicht zum Meckern aufgelegt.
                          nieren sich zu den peruanischen Artefakten in der Ausstel-
                          lung. Gad Shiynynuy, ein Berliner aus Kamerun und Ange-       Besucher:
                          höriger des Volks der Nso, erzählt, wie er in den Dahlemer    Ich bin insgesamt, von der ganzen Kon-
                          Depots die wichtigste und identitätsstiftende Statue seines   zeption, begeistert.
                          Volkes entdeckte, die 1901 von deutschen Kolonialtruppen
                          geraubt wurde. Natürlich kommen auch die Befürworter          Und wir freuen uns als Berliner.
                          des Schlossneubaus zu Wort. Und schließlich kommt die
                          Stadtforscherin und Aktivistin Noa K. Ha zu dem radikalen     Ist schön für Berlin, und notwendig für     Bonaventure Soh Bejeng Ndikung:
                          Schluss, dass es im Grunde nur eine Möglichkeit gebe: Das     Berlin.                                     Es könnte das wichtigste Projekt Europas
                          Schloss muss wieder abgerissen werden.                                                                    sein, wenn man die richtigen Leute an
                                                                                        Das musste so sein, das gehört zu Berlin.   Bord hat, und ein Konzept dafür hat.
                          Katrin Moll, Redakteurin Radiokunst, Deutschlandfunk Kultur

                                                                                        Bin ich ganz begeistert.                    Sprecher:
                                                                                                                                    Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, interna-
     Noa K. Ha:                                                                         Phänomenal ...                              tional arbeitender Kurator und Leiter des
     Das Gebäude mit dem Inhalt, mit dem gan-                                                                                       Ausstellungsraums Savvy Contemporary
     zen Prozess ist eigentlich eine Rekolonisie-                                       Freu mich über jeden Baustein und bin       in Berlin.
     rung, eine koloniale Geste, und insofern                                           glücklich.
     ist nicht die Frage, was wir an den Inhalten                                                                                   Bonaventure Soh Bejeng Ndikung:
     darin verändern können, das wird die große                                         Wunderbar! Wunderbar!                       Mir fehlt, und nicht nur mir, eine klare Idee,
     koloniale Geste als solche nicht abschaffen.                                                                                   was das sein sollte und wer das macht. Es
                                                                                                                                    geht sowieso gar nicht, dass Institutionen
     Sprecher:                                                                                                                      heutzutage noch von rein weißen Männern
     Noa K. Ha forscht zu Raum und Gesell-                                                                                          sozusagen besetzt werden in einer Gesell-
     schaft am Zentrum für Integrationsstudien                                                                                      schaft wie in Berlin, wo einer von drei oder
     der Uni Dresden.                                                                                                               vier Leuten kommt von irgendwo anders.
                                                                                                                                    Die Frage ist tatsächlich: Wer macht was?
     Noa K. Ha:                                                                                                                     Es geht nicht um die Leute, die da rumput-
     Daher denke ich, das Humboldt Forum                                                                                            zen, sondern um die Leute, die die kurato-
     sollte man abbauen. Und das als einen                                                                                          rische Entscheidungsmacht haben.
     Anfangspunkt eines Prozesses der Dekolo-
     nisierung begreifen.
20   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                        DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   21

                                                Deutschlandfunk Kultur, Wortwechsel und Diskurs, Drei Diskussionen mit René Aguigah

                                                RÜCKBLICK AUF
                                                DREI GESPRÄCHE ZUR
                                                DEKOLONISIERUNG

                                                Eine erste Reaktion auf das Wort „Dekolonisierung“, die mir
                                                vor einem Jahr häufig begegnet ist, war die Frage: ob das
                                                Thema überhaupt kontrovers sei, ob es sich nicht schon
                                                um 1960 erledigt habe, als die afrikanischen Staaten in die
                                                Unabhängigkeit aufbrachen? Und dann kamen 2020 neue
                                                Diskussionen um die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter aus
                                                europäischen Museen auf, ein neues Ringen um Reparatio-
                                                nen für den deutschen Völkermord an den Herero und Nama,
                                                im Herbst wurde über den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz
                                                gestritten, nicht nur in den USA bekam die „Black Lives Mat-
                                                ter“-Bewegung neuen Auftrieb; Denkmäler stürzten, eher-
                                                ne Figuren wie Bismarck stehen seitdem neu zur Debatte.

                                                Auch in jenen Sendungen, die Fragen aufwarfen, die nicht die
                                                Tagesaktualität auf die Agenda setzten, war der Gesprächsbe-
                                                darf groß – wie in jenen Diskussionsrunden, die Deutschland-
                                                funk Kultur gemeinsam mit der VolkswagenStiftung ausrichtete.
                                                Zusammen mit dem Kooperationspartner hatte die „Diskurs“-
                                                Redaktion zu drei Terminen exquisite Gäste zusammengebracht:
                                                die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und die bri-
                                                tisch-deutsche Autorin Sharon Dodua Otoo, den aus Kamerun
                                                stammenden Hamburger Erziehungswissenschaftler Louis Henri
                                                Seukwa und den Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer, die
                                                Kuratorinnen Christiane Bürger und Mareike Späth, die Histori-
                                                ker_innen Gesine Krüger und Andreas Eckert. Die versammelte
                                                Expertise ging aus von der Notwendigkeit von weiterer Deko-
                                                lonisierung. Aber die Vielzahl der Perspektiven erzeugte einen
                                                lebendigen Austausch.

                                                Von den vielen erhellenden Gesprächsmomenten ragt in meiner
                                                Erinnerung einer heraus: ein Lachen aus dem vollbesetzten Saal
                                                – es war die Zeit vor der Pandemie –, Ende Januar im Schloss
                                                Herrenhausen in Hannover. Albert Gouaffo, Kulturwissenschaft-
                                                ler aus Kamerun, sprach über die Frage, wem jenes größte
22   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   23

                                                                                                           Europas koloniales Erbe in Afrika

                                                                                                                     Prof. Dr. Andreas Eckert
                                                                                                                     Institut für Asien- und Afrikawissenschaften,
                                                                                                                     Humboldt-Universität zu Berlin

                                                                                                                     Prof. Dr. Albert Gouaffo
                                                                                                                     Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft sowie interkulturelle
                                                                                                                     Kommunikation, University of Dschang, Kamerun

                                                                                                                     Prof. Dr. Gesine Krüger
                                                                                                                     Historisches Seminar, Universität Zürich

                                                                                                                     Dr. Christiane Bürger
                     Dinosaurierskelett gehört, das im Berliner Naturkundemuseum                                     Kuratorin, Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
                     steht und dessen Knochen aus Tansania stammen. Seine Ant-
                     wort: Darüber müsse verhandelt, jedenfalls die Herkunftskultur
                     gefragt werden. „Und wenn sie sagt, wir brauchen den Dino-                                         Versöhnung gelingt nur durch Gerechtigkeit
                     saurier hier, dann glaube ich, Deutschland muss einfach mal
                     gehorchen. Und wenn die Deutschen den Dinosaurier besich-                                                      Prof. Dr. Louis Henri Seukwa
                     tigen wollen, dann bitte in Tansania.“ Lachen. Ein freundliches                                                Professor für Erziehungswissenschaften,
                     Lachen, begleitet von Beifall. Und zugleich zeigte es, dass die                                                HAW Hamburg
                     Idee, Verantwortliche aus Tansania und Deutschland würden
                                                                                                                                    Mareike Späth
                     heute so miteinander verhandeln können, dass die Vertreter
                                                                                                                                    Kuratorin, Landesmuseum Hannover
                     der ehemaligen Kolonialmacht von „Deutsch-Ostafrika“ einmal
                     klein beigeben könnten, eben so wenig selbstverständlich ist,                                                  Prof. Dr. Jürgen Zimmerer
                     dass nicht Applaus oder Widerspruch, sondern Gelächter die                                                     Kolonialismus/Postkolonialismus, Geschichte Afrikas an
                     spontane Reaktion ist.                                                                                         der Universität Hamburg

                     Dieses „so wenig selbstverständlich“ gilt für viele Dinge, die
                     in diesen Gesprächen thematisiert wurden. Zum Beispiel: Die
                     Restitution von Kulturgütern und ihre praktischen Schwierig-                            Entkolonisiert Euch!
                     keiten sind nur ein kleiner Teil in den komplizierten Beziehun-
                     gen zwischen Afrika und Europa. Dazu gehören nicht zuletzt                                        Prof. Dr. Bénédicte Savoy
                     wirtschaftliche Verwerfungen, die sich spektakulär etwa in gif-                                   Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen
                     tigen Müllhalden auf dem afrikanischen Kontinent zeigen. Die                                      Universität Berlin
                     Beziehungen neu zu gestalten, auf Augenhöhe, ist vor allem
                                                                                                                       Katharina Oguntoye
                     eine Frage des politischen Willens. Und die Corona-Pandemie                                       Historikerin und Gründungsmitglied der Initiative
                     treibt Machtungleichheiten zwischen verschiedenen Bevölke-                                        Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD)
                     rungsgruppen ebenso wie zwischen unterschiedlichen Staaten
                     schärfer hervor. Die drei Gesprächsrunden gehören zu den                                          Sharon Dodua Otoo
                                                                                                                       Schriftstellerin und Publizistin
                     anregendsten, auch aufwühlendsten, die ich in diesem Jahr
                     moderiert habe. Denn sie zeigen, dass der Imperativ „Dekolo-                                      Prof. Dr. Christian Geulen
                     nisiert Euch!“ sich längst nicht erledigt hat.                                                    Professor für Neuere und Neueste Geschichte,
                                                                                                                       Universität Koblenz-Landau
                     René Aguigah, Ressortleitung Literatur Philosophie Religion, Deutschlandfunk Kultur
24   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                        DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   25

                     Deutschlandfunk Kultur, Lesart, Lesekreis mit Hörerinnen und Hörern

                                                                                                              „Sie sagt, das sei ein dreifaches Problem für sie: Erstens als
                     WENN DIE EIGENE                                                                          Menschen mit Schwarzer Hautfarbe, weil da eine Affen-

                     HAUTFARBE nicht die Norm IST
                                                                                                              Metapher aufsteigt und sich darüber lustig gemacht werden
                                                                                                              kann. Zweitens, weil sie aus Ostdeutschland kommt und
                                                                                                              die Banane als Südfrucht für die wirtschaftliche Überlegen-
                                                                                                              heit des Westens steht. Und dann drittens als Frau, weil sie
                                                                                                              sexuell konnotiert werden kann als Erniedrigung der Frau.
                  Ungewöhnliche Umstände haben auch ihr Gutes: Sie regen                                      Sie nimmt einen so sehr gut mit in ihr eigenes Bedeutungs-
                  neue Ideen an. So haben wir im März, als erstmals große Zusam-                              geflecht, das mir ansonsten weniger zugänglich wäre.“
                  menkünfte abgesagt werden mussten, beschlossen: Wir wollen
                  mit unseren Hörer*innen gemeinsam lesen und haben den „Les-
                                                    art“-Lesekreis ins Leben geru-                         Lesekreis-Teilnehmer Hannes Otto
     Hörerinnen und Hörer und die Redaktion         fen. Zur Lektüre ausgewählt
     lasen gemeinsam: im Lesekreis der „Les-        wurde in einer Abstimmung
     art“ zu Olivia Wenzels „1000 Serpentinen       „1000 Serpentinen Angst“, das
     Angst“ – ein Roman über Alltagsrassismus. Romandebüt von Olivia Wenzel.
                                                    Eine junge Frau, der – abwesen-
                  de – Vater aus Angola, die Mutter Deutsche, wächst in Thürin-                                                      „Was ich auch noch ganz interessant finde: Dass sie sich ja
                  gen auf und erlebt dort, aber auch im Nachwende-Deutschland,                                                       eigentlich gar nicht unbedingt mit dem Thema Rassismus
                  beständigen, mal direkteren, mal subtileren Alltagsrassismus.                                                      auseinandersetzen will. Am liebsten würde sie, glaube ich,
                  Wie findet man seinen Platz in einer Gesellschaft, die einem                                                       gar nicht darüber reden müssen, aber man merkt einfach:
                  aufgrund der Hautfarbe permanent signalisiert, dass man nicht                                                      Es ist so präsent in ihrem Alltag.“
                  die Norm ist? Und wie erzählt man darüber? Olivia Wenzel, 1985
                  in Weimar geboren, deren Biographie unverkennbare Nähe zu
                  jener ihrer Protagonistin aufweist, findet hierfür eindrückliche,                                              Wiebke Porombka
                  symptomatische Szenen: Das befreiende Gefühl der namenlo-
                  sen Erzählerin etwa, als sie sich bei einem Besuch in New York
                  traut, eine Banane auf der Straße zu essen, was ihr in Deutsch-
                  land unmöglich scheint. Zudem überzeugt der Roman durch
                  seine Form: kein geschlossenes, sondern ein offenes Erzählen,
                  eine beständige Selbst- und Fremdbefragung.                                                        „Mich berührt, dass es eine Reise zu sich selbst ist der Ich-
                                                                                                                     Erzählerin. Und dass trotz der traurigen Erfahrungen, die sie
                     Wiebke Porombka, Redakteurin Lesart, Deutschlandfunk Kultur                                     vor allem mit dem alltäglichen Rassismus macht, dass sie
                                                                                                                     trotzdem diese Kreativität hat und so viele kraftvolle Bilder
                                                                                                                     auch in ihrer eigenen Sprache entwickelt. Das gibt einem als
                                                                                                                     Leser doch sehr viel Hoffnung, dass sie ihren eigenen Weg,
                                                „Wir haben alle viel mehr das Bedürfnis nach Austausch.              ihren eigenen Lebensweg beschreitet. Und es macht sehr
                                                Dafür müssen wir ja gerade neue Formen des sozialen Mit-             viel Spaß, sie dabei zu begleiten.“
                                                einanders, der Kommunikation finden – und wir dachten
                                                uns, ein Lesekreis könnte ein solches Miteinander sein.“
                                                                                                                  Lesekreis-Teilnehmerin Susanne Schlesinger

                                         Wiebke Porombka
26   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                           DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   27

                     Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova

                     DIE DENKFABRIK IN
                     DEN SOZIALEN MEDIEN
28   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                                           DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   29

                                                                                                                      Zahlreiche partizipative Formate wie Repair- und Schreibwerk-
                                                                                                                      stätten, Erzählcafés, eine wachsende „Library of Resistance“
                                                                                                                      und Live-Speaker mit denen Besucher*innen ins Gespräch kom-
                                                                                                                      men können, bieten eine Plattform für kritische Auseinanderset-
                     Deutschlandfunk, Aktuelle Kultur, Kooperation mit dem Rautenstrauch-Joest-Museum                 zung mit der kolonialen Vergangenheit und seinen Kontinuitäten
                                                                                                                      und schaffen zudem Räume fürs Sprechen lassen, für Zuhören,
                     RESIST! DIE KUNST                                                                                Vernetzung, Zusammensein und Solidarität.

                     DES WIDERSTANDS                                                                                  Vera Marušić, Referentin Direktion, Rauchenstrauch-Joest-Museum

                     „RESIST!“ beleuchtet 500 Jahre antikolonialen Widerstand im
                     Globalen Süden und erzählt über koloniale Unterdrückung und                                                                                       Nanette Snoep als
                                                                                                                                                                       Gesprächsgast in
                     ihre Auswirkungen bis heute. Die Ausstellung ist eine Hommage
                     an die Frauen, Männer und Kin-
                     der, die auf unterschiedlichs-
                     te Art und Weise Widerstand
                                                        Die Denkfabrik begleitet die Sonderausstel-
                                                        lung „RESIST!“ des Kölner Rauchenstrauch-
                                                                                                                                                                       den „Kulturfragen“,
                     geleistet haben und deren          Joest-Museums als Kooperationspartner.                                                                         Deutschlandfunk
                     Geschichten bis heute kaum         Neben gemeinsamen Veranstaltungen,
                     erzählt oder gehört werden.        Gesprächsrunden und einer Hörstation
                     In einer labyrinthisch-futuristi-  sind auch Schreibwerkstätten im Rah-                                                                           Es hat eine Aufsehen erregende Initiati-
                     schen Architektur von Rohren,      men des von Deutschlandfunk mitinitiier-                                                                       ve des französischen Staatspräsidenten
                     Balken und Stahlelementen,         ten Bundeswettbewerbs lyrix geplant.                                                                           Macron gegeben, der die in Deutschland
                     entworfen von raumlaborberlin,                                                                                                                    und Paris lebende Wissenschaftlerin Béné-
                     erzählen die Arbeiten von über 40 zeitgenössischen Künstler*in-                                                                                   dicte Savoy und ihren Kollegen Felwine
                     nen aus dem Globalen Süden und der Diaspora die Geschichten                                                                                       Sarr aus Afrika beauftragt hat: Überprüft
                     von Rebellion und Krieg, Gewalt und Trauma sowie Überleben                                                                                        die französischen Sammlungen. Und wenn
                     und Resilienz. Ihre Erzählungen werden ergänzt von histori-                                                                                       ihr der Meinung seid, dass sich da etwas
                     schen Dokumenten und zahlreichen Objekten aus der Samm-                                                                                           unrechtmäßig in den Museen unseres
                     lung des RJM, stumme Zeugen von Momenten des Widerstands.                          Nanette Jacomijn Snoep ist                                     Landes befindet, sollten wir über Rück-
                     Innerhalb des Labyrinths eröffnen vier autonom kuratierte                          seit Januar 2019 Direktorin                                    gabe nachdenken. Halten Sie so etwas für
                     Räume weitere Perspektiven: Die nigerianische Künstlerin Peju                      des Rautenstrauch-Joest-                                       Deutschland auch für sinnvoll? Da wurde
                     Layiwola beschäftigt sich mit den geraubten Kulturgütern aus                       Museums. Von Februar 2015                                      großartige Arbeit von Bénédicte Savoy und
                     dem Königreich Benin (Nigeria), von denen sich zahlreiche auch                     bis Dezember 2018 leitete                                      Felwine Sarr geleistet. Und obwohl es sehr
                     in der Sammlung des RJM befinden und nimmt dabei Bezug                             sie die drei Ethnologischen                                    großen Widerstand dagegen gab, hatte der
                     auf die aktuelle #BlackLivesMatter-Bewegung. Die namibi-                           Museen in Leipzig, Dresden                                     Bericht trotzdem unglaublichen Einfluss –
                     schen Aktivistinnen Esther Utjiua Muinjangue und Ida Hoffmann                      und Herrenhut. Zuvor war                                       auch auf die Politik in Deutschland.
                     erzählen vom Genozid an den Herero und Nama in Namibia.                            sie 15 Jahre lang am Musée
                     Die ungarische Kuratorin Tímea Junghaus hat Sinti- und Roma-                       du Quai Branly in Paris tätig,                                 Sie waren in Dresden. Sie sind jetzt in
                     Künstler*innen eingeladen, die ihren Kampf um Selbstbestim-                        zuletzt als Hauptkustodin                                      Köln. Diesen Widerstand spüren Sie hier
                     mung thematisieren. Schließlich klagt der Kölner postmigranti-                     der Sammlung Historical and                                    in Deutschland nicht? Doch, es gibt auch
                     sche Verein In-Haus e. V. koloniale Kontinuitäten an.                              Contemporary Globalisation.                                    in Deutschland Widerstand.
30   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                                                 DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   31

     Aber? Hier gibt es mehr öffentlichen            Musée de Quai Branly in Paris. Dort habe
     Druck und ich glaube, hier sind die Öffent-     ich für eine Ausstellung mit einem Voo-
     lichkeit und die Medien viel kritischer, viel   doo-Priester aus Togo zusammengearbei-                            Bundeswettbewerb lyrix, Workshops mit Temye Tesfu und Tanasgol Sabbagh

     besser informiert als in Frankreich. Natür-     tet. Wir haben einen Altar aufgerichtet und
     lich herrscht auch hier Uneinigkeit und         er sagte zu mir: Nanette, ich fühle mich                          WER NICHT ERZÄHLT,
                                                                                                                       WIRD ERZÄHLT
     die Debatten sind sehr komplex. Jedoch          hier nicht wohl. Die Objekte, die hier sind
     ist die Bereitschaft, sie zu führen, über-      – und er sprach nicht nur über Objekte
     all groß – egal ob in Berlin, Leipzig, Köln,    aus Togo –, werden nicht mehr gepflegt
     Hamburg oder Stuttgart.                         und nicht mehr geliebt. Sie werden nicht
                                                     mehr gefüttert, bekommen ihre Geträn-
     Es scheint auch viel Unkenntnis über die        ke nicht mehr und sie hören nicht mehr,                                                                              Der von Deutschlandfunk und Deutschen
     Verhältnisse in Afrika zu geben. Es scheint     dass wir für sie singen. Sie sind wie Kinder                                                                         Philologenverband initiierte Gedicht-
     Kolleginnen und Kollegen von Ihnen zu           ohne Eltern. Wir im Museum lieben unse-                                                                              wettbewerb lyrix veranstaltet bundes-
     geben, die der Meinung sind: Wenn wir           re Objekte auch, aber das ist eine völlig                                                                            weit Schreibwerkstätten mit zeitgenös-
     Dinge zurückgeben, dann landen die in           andere Beziehung als beispielsweise für                                                                              sischen Lyrikerinnen und Lyrikern – auch
     irgendwelchen ungesicherten Bretterbuden        einen Voodoo-Priester oder Schamanen.                             Was in Geschichtsbüchern                           im Rahmen der Ausstellung „RESIST!“
     oder Scheunen in Afrika. Ja, ich finde, das                                                                       steht – es ist weniger eine
     ist immer noch ein sehr kolonialer Gedan-       Müssten Sie nicht eigentlich, wenn man                            Frage der Wahrheit als der Kuration. In welchem Licht erschei-
     ke. Ich möchte nicht in die Details gehen,      das konsequent weiter denkt, die Schlie-                          nen die Ereignisse, in welches werden sie gerückt? Welche Fra-
     aber man muss, wenn man andere so kriti-        ßung der ethnologischen Museen, die                               gen stehen im Raum? Welche nicht?
     siert, schon auch seine eigenen Bedingun-       Rückgabe der Artefakte an die Herkunfts-
     gen anschauen. Die deutschen ethnologi-         länder fordern, oder was sonst könnte                             Anhand historischer Objekte und zeitgenössischer Werke, mit
     schen Museen hatten jahrzehntelang nicht        noch geschehen? Eine rein materielle Res-                         Performances, Diskussionen und Workshops, will eine Son-
     die finanziellen Mittel, um ihre Sammlun-       titution ist für mich zu einfach. Ich denke,                      derausstellung unter dem Titel „RESIST!“ die ausgeblendeten
     gen wirklich gut pflegen oder digitalisieren    es gibt darüber hinaus noch viele, viele                          Geschichten antikolonialen Widerstands nachzeichnen, Konti-
     zu können. Im Vergleich mit ihren Nachbar-      weitere Formate. Ich sehe das Museum                              nuitäten besprechen und sichtbar machen. Schon der Ort, das
     ländern haben die deutschen Institutionen       eher als eine Plattform, als ein Forum für                        Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum, ist ein koloniales Relikt.
     wirklich einen Nachholbedarf. Ich kenne         Austausch – auch für Menschen aus ande-                           Ethnologie war der Kompass eines Europas, das sich die Welt
     die Zustände in afrikanischen Museen gut:       ren Ländern, die bei uns in der Diaspora                          untertan machen, katalogisieren und zuhause zur Schau stel-
     Auch in Afrika gibt es sehr gute Museen         leben. Die Reihe „Dekolonisiert Euch!“ des                        len wollte. An diesem Ort läuft Kritik Gefahr, selbst als Gimmick
     und Depots. Wir glauben, Museen seien           Deutschlandradio ist ein Prozess, den die                         ausgestellt und eingehegt zu werden, zur Abschweifung in einer
     nur für uns und wir sammeln für die Ewig-       ethnologischen Museen begleiten können                            Erzählung mit gleichbleibendem Ausgang.
     keit. Aber muss das so sein? Müssen             – als Orte, an denen Gespräche stattfinden
     Objekte in Museen „eingefroren“ werden?         und an denen sich auch Menschen aus den                           Die kanonisierten Narrative mit anderen Perspektiven herauszu-
     Ich spreche dabei nicht nur von „Rem-           Ländern angesprochen fühlen, aus denen                            fordern, ist indes keine eitle Debattierübung. Wer nicht erzählt,
     brandts“, sondern auch über unzählige           die Sammlungsobjekte stammen. Wir                                 wird erzählt und fällt schon bald fremden Behauptungen über
     Sakralobjekte, die sich mit der Zeit verän-     müssen ganz neu denken und das ist eine                           sich anheim, statt sich selbst zu behaupten. Insofern könnte
     dern und nicht mehr benutzt werden.             spannende Zeit. Es gibt viel zu tun.                              unser Workshop, der in Kooperation mit dem Bundeswettbewerb
                                                                                                                       für junge Lyrik stattfinden wird, mehr sein als Museumspädago-
                                                     Die Fragen stellte Stefan Koldehoff, Redakteur Aktuelle Kultur,
     Sie haben mir mal vom Besuch einer Dele-        Deutschlandfunk                                                   gik; vielleicht bekommen die Jugendlichen beim Schreiben ja
     gation erzählt, die sich bestimmte Stü-                                                                           eine Ahnung davon, dass sie selbst beginnen, wo Widerstand
     cke angeguckt und Ihnen dann hinterher                                                                            anfängt und Geschichte endet: als Möglichkeit. Als Fiktion.
     gesagt hat: Wir spüren, dass sich diese
     Dinge nicht wohlfühlen … Das war im                                                                               Temye Tesfu (Lyriker) und Tanasgol Sabbagh (Lyrikerin), für lyrix im Rauchenstrauch-Joest-Museum
KAPITEL 2

NUR WER WEISS,
WOHER ER KOMMT,
WEISS,
WOHIN ER GEHT
34   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                     DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   35

                                                           Deutschlandfunk Nova, Eine Stunde History, Interview mit Matthias von Hellfeld

                                                           WAS HAT GESTERN
                                                           MIT HEUTE ZU TUN?

                                                           In den Rückspiegel schauen, um die Gegenwart zu verstehen,
                                                           so lautet das Motto des Formats, das wöchentlich im linearen
                                                           Programm von Deutschlandfunk Nova läuft und sich vor allem
                                                           als außergewöhnlich erfolgreicher Podcast in Deutschland etab-
                                                           liert hat. Das „Eine Stunde History-Team“ ist regelmäßig Gast bei
                                                           Podcastfestivals mit Livepublikum.

                                                           Unser Deutschlandfunk Nova-Historiker Dr. Matthias von Hell-
                                                           feld beleuchtet jede Woche in „Eine Stunde History“ ein histori-
                                                           sches Ereignis beziehungsweise eine geschichtliche Epoche.

                                                Lieber Matthias, worin liegt die Besonder-                    von ihren Kolonialmächten – unter ande-
                                                heit und Stärke des Formats „Eine Stunde                      rem Frankreich, Spanien, Portugal, Groß-
                                                History“? Und wie kamt Ihr auf die Idee,                      britannien, Belgien und Italien – „in die
                                                das Thema Dekolonisation sowie das „afri-                     Freiheit entlassen“. Auch hier ging es uns
                                                kanische Jahr“ 1960 zu beleuchten? Die                        darum, aufzuzeigen, wie aktuelle Proble-
                                                Stärke des Formats liegt darin, dass wir                      me und Konflikte mit der Kolonialzeit und
                                                Geschichte nicht nur als Geschichte                           den Jahren danach zusammenhängen.
                                                betrachten, sondern in die Gegenwart
                                                holen. Wir versuchen denjenigen, die uns                      In der Folge kommen hochkarätige
                                                zuhören, zu erläutern, warum – und wie                        Expert*innen zu Wort. Wie wurden die
                                                – die Gegenwart mit dem, was vor uns                          Interviewten für das Thema ausgewählt?
                                                passiert ist, zusammenhängt. Kurz gesagt:                     Was macht sie besonders? Wenn wir die
                                                Wir versuchen, Geschichte für uns heute                       Sendungen planen und uns einem Thema
                                                erfahrbar zu machen. Ab dem Jahr 1960                         nähern, dann suchen wir erst einmal Auto-
                                                wurden sehr viele afrikanische Staaten                        ren und Expertinnen, die uns erklären
36   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                                                          DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte       37

     können, was eigentlich passiert ist. Alles                    zurückdrehen und die Grenzen verän-                             machen, wie das Thema angehen – ins-           schichte zu suchen sind. Da ist Aufklärung
     beginnt mit einer Stichwortsuche im Netz:                     dern, denn das geht immer nur zu Lasten                         besondere als Medienmacher*innen? Als          wirklich der erste Weg zu Verständnis
     Wer hat zu dem Thema ein pointiertes                          von irgendjemandem, birgt also großes                           Europäer tragen wir eine Verantwortung,        und Besserung, hoffe – nein: glaube – ich
     Buch geschrieben? Wer hat sich dezidiert                      Konfliktpotenzial.                                              müssen aber aufhören, uns direkt in die        jedenfalls.
     in einem Artikel oder einer Diskussion                                                                                        Konflikte einzumischen. Stattdessen kön-
     geäußert? Wir versuchen auch, diversere,                      In vielen Ländern Afrikas übernahmen                            nen wir anbieten, als Mediatoren aufzutre-           „Ich glaube es muss beides – Ent-
     jüngere und weibliche Stimmen zu fin-                         nach der Unabhängigkeitserklärung Dikta-                        ten, um in den Dialog zu kommen. Auch                schuldigung und Wiedergutmachung
     den sowie Positionen, die direkt involviert                   toren und Militärchefs die Regierungsge-                        müssen wir alle – Deutschland und die                – stattfinden. Aber das kann nicht von
     sind, aber das ist nicht immer so einfach.                    walt. Heute steht mehr als die Hälfte der                       restliche Welt – aufhören, Waffen zu lie-            Europa allein entschieden werden, wie
     Diesmal ist es uns aber sehr gut gelungen,                    afrikanischen Länder unter autokratischer                       fern. Das klingt so einfach, ist aber natür-         das stattfindet. Die europäischen Län-
     zum Beispiel mit Bartholomäus Grill oder                      Herrschaft. Wahlen werden manipuliert,                          lich sehr kompliziert.                               der müssen sich mit den Ländern des
     Veye Tatah.                                                   die Opposition unterdrückt, Demonstra-                                                                               Südens […] zusammensetzen und Rah-
                                                                   tionen gewaltsam aufgelöst. Was muss                            1960 haben wir – die europäischen Kolo-              menbedingungen schaffen, wie eine
          „Die Spätfolgen sind bis heute zu spüren,                sich ändern, damit sowohl die politischen                       nialmächte – die Staaten nach hunderten              Wiedergutmachung stattfinden kann.“
          zum Beispiel an den Grenzziehungen,                      als auch wirtschaftlichen Probleme vor                          Jahren Tabula rasa einfach ihrem Schick-             Veye Tatah, Chefredakteurin des Magazins „Africa Positive“
                                                                                                                                                                                        und Informatikerin
          die die Kolonialherren damals gemacht                    Ort überwunden werden können? Die                               sal überlassen. „Kolonialismus ist die
          haben. Grenzen, die Völker, Sprachge-                    unterschiedlichen Konflikte in den ein-                         schlimmste Form des Imperialismus“ –
                                                                                                                                                                                  Die Fragen stellte Philippa Halder, Trainee, Abteilung Kommunika-
          meinschaften, Kulturgemeinschaften                       zelnen Ländern und Regionen müssen                              das ist unser Schlagwort in der Sendung.       tion und Marketing
          durchschneiden und bis heute vorhan-                     voneinander gelöst betrachtet und jeder                         Natürlich hatten die afrikanischen Länder
          den sind.“                                               einzeln für sich angegangen werden. Ein                         in den letzten 60 Jahre Zeit, eigene Struk-
          Bartholomäus Grill, ehemaliger Afrikakorrespondent und   Schritt nach dem anderen. Aber dazu                             turen aufzubauen, die vielleicht besser
          Buchautor
                                                                   kommt es gar nicht, weil immer noch viel                        funktionieren als das, was sie jetzt haben.
                                                                   zu viele externe Staaten in diese Konflik-                      Aber Kolonialismus bedeutet ja nicht ein-
     Bartholomäus Grill spricht in der Sen-                        te verwickelt sind und eigene Interessen                        fach nur das Wegnehmen von Boden-
     dung die willkürlichen Grenzziehungen                         haben. Dabei geht es zum Beispiel um                            schätzen, sondern auch eine kulturelle
     durch die Kolonialmächte an, auf die viele                    den Zugang zu Ressourcen, es geht um                            Ausplünderung und eine gesellschaftliche
     heutige Probleme zurückgeführt werden                         Hegemonialmacht. Und solange das so                             Traumatisierung. Das muss man sich mal
     können. Woran liegt es, dass diese Struk-                     ist, wird es weitergehen.                                       vorstellen: Da kommen auf einmal Koloni-
     turen fortbestehen? Ganz einfach: Weil                                                                                        alherren aus Europa an und sagen „Ich will
     sie nicht geändert wurden. Es wäre auch                          „Die europäischen Länder nutzen immer                        alles!“, beherrschen das Land, zwingen
     eine ziemliche Katastrophe, wenn man                             noch indirekte Wege, um sich in die                          die Menschen zur Arbeit und verschlep-
     das jetzt einfach machen würde. Damals                           Abläufe dieser Länder einzumischen.“                         pen sie sogar. Das hat langfristige Folgen!
     wurden schnurgerade Grenzen gezo-                                Veye Tatah, Chefredakteurin des Magazins „Africa Positive“   Mit „Eine Stunde History“ versuchen wir
                                                                      und Informatikerin
     gen, dabei müssten sie vielmehr nach                                                                                          rüberzubringen, wie die Dinge zusammen-
     geografischen, kulturellen, ethnischen,                                                                                       hängen. Zum Beispiel, dass Ursachen der
     sprachlichen, religiösen Zugehörigkeiten                      Inwiefern sehen Sie Europa in der Ver-                          Proteste gegen Polizeigewalt und Rassis-
     verlaufen. Man kann den Prozess nicht                         antwortung? Was können wir von hier aus                         mus in den USA auch in der Kolonialge-
38   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                               DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   39

                     Gastkommentar von Jürgen Zimmerer, Programmheft Das Magazin 03/2020

                     MENSCHEN,
                     NICHT NUR OBJEKTE                                                     ren, sich in der Außen-, Sicherheits- und auch Flüchtlingspoli-
                                                                                           tik innerhalb kolonialer Vorstellungs- und Diskurskontinuitäten
                                                                                           zu bewegen. Zwar gelang es in den letzten Jahren insbesonde-
                                                                                           re zivilgesellschaftlichen Gruppen und der Wissenschaft nicht
                  2019 jährte sich das formale Ende des deutschen Kolonialrei-             zuletzt durch den Katalysator Humboldt Forum, eine Auseinan-
                  ches zum 100., der Beginn der Berliner Afrika- oder „Kongo“-             dersetzung mit dem kolonialen Erbe zu erzwingen. Allerdings,
                  Konferenz zum 135. Mal. Beides sind Daten von erheblicher sym-           und das erweist sich nun als Hypothek, verschob die Politik die
                  bolischer Bedeutung, gerade auch für Deutschlands Geschichte             Frage kolonialer Aufarbeitung in den Bereich des Kulturellen
                                                    in der Welt. Im öffentlichen,          und ins Ausland. Über (einzelne) Objekte wird diskutiert, Muse-
     Die Debatte um das Erbe des Kolonialis-        insbesondere im politischen            umsgespräche werden (in der ganzen Welt)
     mus ist eine der zentralen Zukunftsde-         Diskurs blieben sie weitgehend         abgehalten, Bundestagsdebatten zum Thema
     batten unserer Zeit. Die deutsche Poli-        unbemerkt.                             finden für 30 Minuten (spät) abends statt.
     tik reduziert sie jedoch auf den Bereich
     der Kultur. Dabei geht es um weit mehr:        Dabei ist das Interesse am             Die breite politische und gesellschaftliche
     um postkoloniale Identitäten, die Deko-        (deutschen) Kolonialismus der-         Auseinandersetzung über die Folgen des
     lonisierung der internationalen Ordnung        zeit größer, als es seit dem           Kolonialismus, die kulturellen, sozialen, öko-
     und globale soziale Gerechtigkeit.             Ende des Zweiten Weltkrie-             nomischen oder epistemischen, scheint nicht
                                                    ges jemals war. Die koloniale          gewollt, sondern wird in Gremien, Kommis-
                  Heroisierung, die nostalgisierende Verniedlichung, die koloniale         sionen und Förderzentren entsorgt.
                  Amnesie ist am Schwinden. Der koloniale Kern des Humboldt
                  Forums in Berlin, die Frage kolonialer Raubkunst in deutschen            Über die Gründe mag man spekulieren: Die
                  Museen und auch der nicht aufgearbeitete Genozid an den                  generelle Entpolitisierung des Politischen       Jürgen Zimmerer ist Professor
                  Herero und Nama sind Themen, die es immer wieder über die                in der Ära Merkel oder die Angst vor einem       für Globalgeschichte an der
                  Wahrnehmungsschwelle in den öffentlichen Diskurs schaffen.               Querschnittsthema, das Fragen der Identi-        Universität Hamburg und leitet
                  Dennoch kein Wort der Kanzlerin zur Raubkunst, kein Wort der             tät, des Rassismus, der (globalen) sozialen      den dortigen Projektverbund
                  Kanzlerin zur Berliner Afrika-Konferenz, kein Wort zum Genozid           Ungleichheit, aber auch der Geflüchteten-        „Forschungsstelle‚ Hamburgs
                  an den Herero und Nama.                                                  politik im Mittelmeer und anderswo sowie die     (post-)koloniales Erbe’“.
                                                                                           Entwicklungs- und Sicherheitspolitik in einen
                     Dabei wäre heute eine kritische Auseinandersetzung mit                diskursiven Zusammenhang bringt, in dem
                     Deutschlands kolonialem Erbe, das ja weit über die 30 Jahre for-      die Privilegien der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft
                     maler deutscher Kolonialherrschaft hinausreicht, notwendiger          noch privilegierter erscheinen. Wo offen zutage träte, auf wel-
                     denn je; in einem Deutschland, in dem (wieder) offen rassisti-        chen rassistischen und ausbeuterischen Grundlagen der Wohl-
                     sche Positionen artikuliert und als politische Vorschläge disku-      stand Deutschlands, ja, Europas beruht.
                     tiert werden, in dem latent koloniale Positionen allerorten mar-
                     kiert werden können. Dabei hatte die vierte Regierung Merkel          Wenn es denn unbedingt sein muss, gibt man doch lieber ein-
                     die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit erstmals in der         zelne Stücke kolonialer Beutekunst zurück, als dass man die
                     Geschichte der Bundesrepublik zum Regierungsziel erhoben.             grundsätzlichen Fragen der Zukunft angeht. Lieber teilt man die
                     Allerdings scheint beides problemlos Hand in Hand zu gehen:           geraubten Kunstschätze als die noch verbleibenden Ressourcen
                     in der politischen Rhetorik koloniale Aufarbeitung zu reklamie-       der Erde.
40   DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte                                                                                                                       DENKFABRIK – Große Themen, faire Debatte   41

                     Deutschlandfunk, Sportredaktion, 12-teilige Reihe „Weltspiele“ zu Sport und Kolonialismus

                     DER SPORT IN DER KOLONIAL­
                     GESCHICHTE – ZWISCHEN
                     UNTERDRÜCKUNG UND
                     BEFREIUNGSKAMPF

                                                                         Der Sport ist aus der Kolonialgeschichte
                                                                         nicht wegzudenken. In der Reihe „Welt-
                                                                         spiele“ wollen wir Einblicke in die Rolle
                                                                         des Sports während der Kolonialzeit
                                                                         bieten – und wie imperiale Denkmuster
                                                                         auch in der Gegenwart noch immer zum
                                                                         Ausdruck kommen, zum Beispiel in Aus-
                                                                         tralien, Algerien, Namibia und den USA.

                     Die Washington „Redskins“, Rothäute. Dieser Vereinsname                                         landfunks steuert die zwölfteilige Serie „Weltspiele“ bei. Und
                     stammt aus den 1930er Jahren, aus einer Zeit, in der US-Behör-                                  am Beispiel USA werden die Dimensionen des Sports deutlich.
                     den indigene Amerikaner in Reservaten festhalten, ihren Besitz                                  Einerseits können Vereinsnamen, Symbole und Maskottchen
                     beschlagnahmen, ihre Zeremonien verbieten. Jahrzehnte                                           Denkmuster gegen indigene Amerikaner festigen. Andererseits
                     später leben Indigene mehrheitlich in Städten, gut integriert.                                  bietet Sport eine Bühne des Protests gegen strukturelle Diskri-
                     Trotzdem weisen Symbole des Sports im 21. Jahrhundert in die                                    minierung. Davon kann Douglas Cardinal berichten, ein Archi-
                     Vergangenheit. In Profiligen, Universitäten, Schulen: Hunderte                                  tekt indigener Herkunft aus dem kanadischen Ottawa. 2016, vor
                     Teams bezeichnen sich in den USA als „Indianer“, „Krieger“ oder                                 dem Baseballspiel der Cleveland „Indians“ in Toronto, beantragt
                     „Rote Männer“.                                                                                  Cardinal eine einstweilige Verfügung. Er möchte nicht, dass in
                                                                                                                     Kanada das Logo der „Indians“ zu sehen ist, eine Karikatur eines
                     „Der Alltag indigener Menschen wird selten in den Medien dar-                                   Anführers mit roter Haut. Cardinal trägt dazu bei, dass der Ver-
                     gestellt“, sagt Rebecca Nagle, Aktivistin der indigenen Chero-                                  ein 2019 das Logo ganz ablegt.
                     kee, die seit Jahren über Diskriminierung aufklärt. „Wir werden
                     auf das Exotische, auf das Wilde reduziert.“ Lange ist der „Toma-                               Ein Jahr später dann die Proteste gegen Rassismus nach dem
                     hawk Chop“ ein beliebtes Stadionritual: Fans singen und bewe-                                   Mord an George Floyd. Mehrere Vereine beugen sich dem Druck
                     gen ihren Unterarm mit geöffneter Handfläche. Sie simulieren                                    und legen ihre klischeebeladenen Namen ab, darunter der Ame-
                     eine Streitaxt, wollen kampfbereit wirken, wie europäische Sied-                                rican-Football-Klub Washington „Redskins“. Viele Fans fühlen
                     ler Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Jagd nach einem Skalp.                                  sich jedoch um ihre Tradition beraubt. „Wenn man ein Maskott-
                     Rebecca Nagle: „Das hat negative Folgen für die Selbstachtung                                   chen verbietet, bedeutet das nicht, dass sich die Einstellungen
                     junger Menschen. Sie fühlen sich entmenschlicht.“                                               der Menschen über Nacht ändern“, sagt Lisa King, die sich an
                                                                                                                     der Universität von Tennessee mit indigenen Kulturen beschäf-
                     „Eine Welt 2.0 – Dekolonisiert Euch!“ Die Denkfabrik von                                        tigt. „Nach Jahrzehnten von Verletzungen und Ohnmachtsge-
                     Deutschlandradio blickt in vielen Facetten auf die Kolonial-                                    fühlen hilft behutsame Kommunikation.“
                     geschichte und ihre Folgen. Die Sportredaktion des Deutsch-
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