Der BerG ist kulisse pilatus kulm - neu inszeniert - null41

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Der BerG ist kulisse pilatus kulm - neu inszeniert - null41
Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender
NO. 11 November 2011 CHF 7.50 www.null41.ch

                                                              pilatus kulm – neu inszeniert
                                                                                              der BerG ist kulisse
Der BerG ist kulisse pilatus kulm - neu inszeniert - null41
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                       RECTANGLE AND SQUARE

                            VON PICASSO BIS JUDD.
                            ERWERBUNGEN DER RUPF - STIFTUNG
                                     14.09.2011- 08.01.2012

                                    Hodlerstrasse 8 – 12
                                    CH-3000 Bern 7
                                    www.kunstmuseumBern.CH
                                    di 10H – 21H mi-so 10H – 17H

             Gut, Gemein und sehr, sehr lustiG. der BuNd
             jodie                      kate
    111006_Ins_Kulturpool_Rectangle_and_Square_92x139mm.indd christoph
                                                              1                 .
                                                                          john c06.10.2011   11:21:00
         FOSTER                 WINSLET                  WALTZ           REILLY

                         CARNAGE
                         DER Gott DEs
                                      GEmEtzEls

         Nach dem erfolgsstück «der gott des gemetzels» voN YasmiNa reza
                          Ein FiLM VOn RomAN            PolANsKI
                            AB 1. DEZEmBER Im BOURBAKI

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Der BerG ist kulisse pilatus kulm - neu inszeniert - null41
edi tor i a l

                                                             Ein Dorf,
                                                     das längst keins mehr ist

                                         Eine weitere Etappe                                                                            Luzern. Wer Christoph
                                         auf dem Weg zu einer                                                                           Fellmanns Geschichte
                                         grösseren Stadt Luzern                                                                         über Kriens und seine
                                         steht an. Krienser, Ad­                                                                        Eigenheiten liest, kann
                                         ligenswiler und Ebiko­                                                                         sich ausmalen, wie sei­
                                         ner entscheiden Ende                                                                           ne Stimmbürger am 27.
                                         dieses Monats, ob ihre                                                                         November entscheiden
                                         Agglomerationsgemein­                                                                          werden (Seite 12).
                                         de weiter dabei ist beim
                                         Fusionsprojekt – Emmen folgt mit einer Volksabstim­         Immerhin: Wenns um den Pilatus geht, werden Krien­
                                         mung im März 2012. Es sind noch keine definitiven           ser und Luzerner eins. Die Architekten Niklaus Gra­
                                         Voten über einen Zusammenschluss, lediglich über            ber und Christoph Steiger (auf dem Cover) entwarfen
                                         die Ausarbeitung eines Fusionsvertrags. Trotzdem            die zeitgemässe und gelungene neue Panoramagale­
                                         werden handfesten Vorteilen wie Steuersenkungen             rie zwischen den schroffen Felsen des Berges. Damit
                                         die üblichen diffusen Verlustängste entgegengesetzt.        machen sie einen Besuch auf dem Pilatus wieder loh­
                                         Besonders Kriens, dessen Gemeinderat den Stimm­             nenswert. Der Architekturfotograf Dominique Marc
                                         bürgern einen Ausstieg aus dem Fusionsprojekt               Wehrli hat für uns das Bauwerk in Szene gesetzt,
                                         empfiehlt, hat seinen dörflichen Charakter über die         Thomas Stadelmann hat sich mit den Architekten
                                         Jahrzehnte gehegt und gepflegt wie keine andere             unterhalten (Seite 6).
                                         Vorstadtgemeinde. Es soll sich nichts ändern, die Ge­       Die Aussicht auf dem Bild oben ist nicht jene vom
                                         meinde funktioniert, bietet ein gutes Angebot an Kul­       Pilatus, sondern die vom Gemsstock. Was es damit
                                         tur oder Sport und zahlreiche Bräuche und Vereine           auf sich hat, lesen Sie ab Seite 10.
                                         zementieren die Dorfgemeinschaft. Überspitzt kann
Bild Gemsstock: Franca Pedrazzetti/zvg

                                         man von einem «Krienser Separatismus» sprechen,
                                         schliesslich setzte sich das Dorf schon mehrfach er­
                                         folgreich der Obrigkeit von Stadt und Kanton ent­
                                         gegen, sei es bei einer Überbauung beim Krienser
                                                                                                              Jonas Wydler
                                         Schlössli oder bei den Siegen gegen den grossen FC                   wydler@kulturmagazin.ch

                                                                                                 3
schön gesagt

«Der Gemsstock könnte, ja müsste das Herzstück des alpinen Erlebnistrips
der neuen Andermatter Gäste sein. Doch der Panoramablick von dort oben
spielt in Samih Sawiris Ausbauplänen keine Rolle.»
                                                                                                       thomas bolli, Seite 10

             au fgelist et                                                                 gu t en tag

Das Bundesamt für Kultur gab im Ok-             Guten Tag, stadt luzern                            dem gleichen Problem wie Kulturbetriebe:
tober die Liste der lebendigen Traditi-         Du nimmst dich endlich der Probleme                Sie stören die Anwohner – und haben im
onen heraus.                                    rund um die Strassenprostitution an. Und           Stadtzentrum nichts mehr zu suchen. Wir
Hier unsere Top 20 (alphabetisch).              sorgst dich einmal mehr um das Wohl dei-           warten auf das erste Prostitutions- und Al-
                                                ner Einwohnerschaft. Und ihrer Freier!             ternativkulturquartier auf dem Littauer
 1.   Älplerchilbi                              Denn: Neben vielen Massnahmen, die jetzt           Boden!
 2.   Bochselnacht                              durchgeführt werden, hast du auch ein so-          Freier in der Meinung:
 3.   Chienbäse                                 genanntes Laufhaus sowie Verrichtungs-             041 – Das Kulturmagazin
 4.   Chröpfelimeh                              boxen geprüft, jedoch wieder verworfen.
 5.   Eierleset                                 «Ein Laufhaus bietet den Freiern nicht die
 6.   Fekker-Chilbi                             gleiche Anonymität wie der Strassen-
 7.   Gansabhauet                               strich», heisst es in der Mitteilung. Die An-      Guten Tag, Arno Renggli
 8.   Hallauer Herbstsonntage                   onymität der Freier als oberstes Gebot!            Du bist Leiter des Ressorts Gesellschaft
 9.   Hürnen und Mazza Cula                     Die wenig einfallsreichen Sofortmassnah-           und Kultur der «Neuen Luzerner Zeitung»
10.   Nünichlinger                              men gegen den Strich heissen: punktuelle           und Mitglied der Chefredaktion. Aber
11.   Pfingstblütter                            nächtliche Strassensperren und häufigere           auch als passionierter Musical-Aktivist
                                                Reinigung derselben. Dadurch werde                 fällst du uns immer wieder auf. Vor allem
12.   Pschuuri in Splügen
                                                «Einfluss auf die Standorte der Sexarbei-          aber sticht die Berichterstattung über die
13.   Rabadàn
                                                terinnen genommen». (Sexarbeiterin, was            Produktionen, an denen du als musikali-
14.   Scheibenschlagen
                                                für ein Wort – wir sind doch hier nicht im         scher Leiter beteiligt bist, ins Auge.
15.   Stäcklibuebe
                                                Ameisenhaufen!) Langfristig soll dann die          Während andere Kulturschaffende froh
16.   Töfflitreff Hauenstein
                                                Prostitution noch weiter eingedämmt res-           sind, wenn die Monopolzeitung NLZ einen
17.   Les Tschäggäggtä au Löschental            pektive verdrängt werden: keine Prostitu-          einzigen Bericht über ihre Veranstaltung
18.   Wildheuen                                 tion mehr in der Nähe von Wohnhäusern              bringt, durftest du dich allein für deine ak-
19.   Woldmanndli                               und ÖV-Haltestellen, bei öffentlichen An-          tuelle Produktion «Hair» im Krienser Le
20.   Zibelemärit                               lagen, Kirchen, Schulen, Sportanlagen              Théâtre über sieben (!) redaktionelle Bei-
                                                und Altersheimen. Nun, reine Industriezo-          träge freuen (bei Druck dieses Hefts).
                                                nen werden in der Stadt immer seltener,            Herzlich gratuliert:
                                                und so stehen Sexarbeiterinnen bald vor            041 – Das Kulturmagazin

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                             Die Abteilung Kultur und Sport der Stadt Luzern ist zuständig für die Umsetzung der sport- und kulturpolitischen
                             Vorgaben und die laufende Weiterentwicklung der entsprechenden Grundlagen der Stadt Luzern. Wir verstehen uns
                             als Drehscheibe zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen in Kultur und Sport sowie der Verwaltung.

                             Wir suchen für unser motiviertes Team per 1. April 2012 oder nach Vereinbarung einen/eine

            Mitarbeiter/in Kultur und Sport
                             Pensum 50%

                             Gerne stellen wir Ihnen diese interessante Stelle auf unserer Homepage detailliert vor: www.stellen.stadtluzern.ch

                                                                       4
Inhalt

                                                        6                             15wohnen und arbeiten
                                                                                        Wie sich die Stadt die Zukunft der
                                                                                      	Industriestrasse vorstellt

                                                                                      16     widerstand nützt
                                                                                             Ein neues Modell für ein Miteinander von
                                                                                             Wohnen und Kultur in der Stadt?

                                                                                      19     unprätentiöses handwerk
                                                                                             Schneidern in Luzern

                                                                                      22     graeff in frankfurt
                                                                                             Das Neuste von der Buchmesse ...

                                          12 deal or no deal                             KOLUMNEN
                                                                                      23	Georg Anderhubs Hingeschaut
                                          Kriens vor dem Fusionsentscheid             24	Hingehört: Dany Schnyder
                                                                                      25	Olla Podrida!
                                                                                      26	Nielsen/Notter
                                                                                      27 Unterm Messer
                                                                                      83 Vermutungen

                                                                                             SERVICE
                                                                                      28     Bau. Venedig oder Sursee?
                                                                                      29     Kunst. Wie modern darf Moderne sein?
                                                                                      33     Wort. The Adventures of German-Kid
                                                                                      36     Kino. In der Sauna sind sie alle gleich
                                                                                      39     Musik. Der Komponist Fritz Brun
                                                                                      43     Bühne. Porträt: Hajo Tuschy und Juliane Lang
                                                                                      47     Kids. Im Wald
                                                                                      48     Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz

                                                                                            KULTURKALENDER
                                                                                      49–73 Veranstaltungen
                                                                                      75–79	Ausstellungen

                                                                                             Titelbild: Dominique Marc Wehrli

                                               20 10 jahre pinkpanorama
                                                       Das schwullesbische Festival

                                                                                           PROGRAMME DER KULTURHÄUSER
                                                                                      54		 Südpol / Treibhaus
Bilder: Georg Anderhub/Daniela Kienzler

                                                                                      56		 LSO / Luzerner Theater
                                                                                      58		 HSLU Musik / Romerohaus
                                                                                      60		 Théâtre la Fourmi / Zwischenbühne Horw
                                                                                      62		 ACT / Kleintheater Luzern
                                                                                      64		 Chäslager Stans / Stadtmühle Willisau
                                                                                      66		 ACT
                                                                                      68		 Kulturlandschaft
                                                                                      70		 Stattkino
                                                                                      74		 Kunstmuseum Luzern / Museum im Bellpark
                                                                                      76		 Natur-Museum Luzern / Historisches Museum

                                                                            5
6
7
HÖHENWEG                                                 «Es ist an uns, zu bestimmen, was gute Architektur ist»,
                                                         so die beiden Architekten, die auf dem Pilatus die neue
                                                         Panoramagalerie gebaut haben. Mehr dazu haben Graber
                                                                                                                       tion anzugehören, die in der speziellen Aufgabe und im
                                                                                                                       Ort die Herausforderung sucht, es aber dennoch wagt,
                                                                                                                       im Entwurf und beim Bau eigenen Interessen und Ideen
Panoramagalerie auf dem Pilatus, 2011                    und Steiger im Gespräch mit dem Büro für Stadtfragen          Ausdruck zu geben.
Niklaus Graber & Christoph Steiger Architekten, Luzern   erklärt. Und: Was es bedeutet, einer Architektengenera-       Die Panoramagalerie auf dem Pilatus ist eine gelungene

Zu den Personen                                          Geboren in Luzern, aufgewachsen in Kriens und Meggen,
                                                         Matura am Luzerner Alpenquai, beide mit Jahrgang 1968:
                                                                                                                       Gebaut haben sie öffentliche und private Gebäude, in der
                                                                                                                       Stadt Luzern allerdings noch nie. Ihre weitherum beachteten
                                                         Niklaus Graber und Christoph  8 Steiger (Titelbild) haben     Werke stehen u. a. in Buttikon, Wollerau, Hagendorn und
                                                         1995, nach Studien an der ETH Zürich und an der Colum-        Altdorf: eine Schulanlage, ein Gemeindehaus, eine Fenster-
                                                         bia University NY, in Luzern ihr Architekturbüro gegründet.   fabrik, ein Therapiegebäude.
Gratwanderung zwischen den Hotels Kulm und Bellevue,      Räume und Aus- und Einsichten kommen in Bewegung.            Architektur haben wir bei Hans Kollhoff in Berlin gelernt,
neben schroffen Felsen und direkt auf einem noch          Dass Graber und Steiger die Handlungsanleitung für eine      die architektonische Welt der Wunder haben uns Jacques
intakten Armeegebäude. Die neue Halle und das Son-        zeitgemässe Tourismusarchitektur trotz der angenomme-        Herzog und Pierre de Meuron eröffnet.» Weil sie beides
nendeck verbinden, ermöglichen Anschluss und kragen       nen neun Meter Schneelast mit Lust und einer gewissen        vereint, wirkt die Panoramagalerie gleichzeitig solid und
an gewissen Stellen schwindelerregend aus: Menschen,      Leichtigkeit umsetzen können, ist kein Zufall: «Das Metier   grosszügig.

Der Architekturfotograf Dominique Marc Wehrli hat die     Text Thomas Stadelmann, Bilder Dominique Marc Wehrli
architektonische Gratwanderung auf dem Pilatus mit
Zeitraffer-Filmstills ins Bild gesetzt. Dabei wurde die                                 9 Christoph Steiger unter:
                                                          Interview mit Niklaus Graber und
Kamera in fünf Zentimeter grossen Schritten durch und     www.stadtfragen.ch
über die Panoramagalerie geführt.
i nszen i ert e Berge

Zur frohen Aussicht
Auf den Innerschweizer Gipfeln wird gebaut, als ob die Welt neu
zu erschaffen wäre. Ausgerechnet der Gemsstock scheint den
Investoren nicht geheuer zu sein.

                Alles frisch auf dem Pilatus: Die grosse Terrasse              Über Generationen hinweg wirkten die Berge ausschliesslich
                wurde mit einer gedeckten Galerie unterfüttert              bedrohlich und abweisend. Sie waren Gelände, das gemieden sein
                und die zwei Hotels hat man umfassend saniert.              wollte. Erst das 18. Jahrhundert hat die Berge als lohnendes Ziel
                Nun lässt sich flotter flanieren, ästhetisch organi-        und Ort der ausserordentlichen Gefühle entdeckt. Mit dem auf-
siert in die Weite schauen und eleganter schlafen. Auf dem                  kommenden Alpinismus und dem Erlebnistourismus im 19. Jahr-
Stanserhorn dreht sich das Restaurant seit ein paar Jahren um               hundert stieg die Aussicht zum erhabenen Moment auf. Seither
360 Grad und serviert dem Gast ein Breitleinwandspektakel;                  lässt sie sich kommerziell nutzen. Die Innerschweiz hat sich in
demnächst kann er überdies in einer Cabriobahn zum Gipfelgrat               diesem Markt früh eingenistet, exemplarisch auf dem Bürgen-
schweben. Am Titlis sorgt die Karussellkabine schon bei der                 stock. Dort stehen die Hotels spektakulär über den Felswänden,
Bergfahrt für den Rundblick. Oben pendeln die Besucher über                 der Weg zum Hammetschwandlift verlängert das süsse Schau-
den Gletscher oder wählen zwischen diversen Restaurants. Auf                dern ostwärts. Ähnliches gilt für die Rigi: Die Ausblicke wurden
allen drei Gipfeln herrscht Panoramasicht.                                  von Tolstoj gelobt, die Sonnenaufgänge von Mark Twain geadelt.
                                                                            Sowohl auf der Rigi als auch auf dem Bürgenstock soll die Tradi-
                Tourismus ist Industrie                                     tion mit viel Investorengeld erneuert werden. Luxus inmitten
                Vor 100 Jahren sah der Mensch von dort oben das-            halb gezähmter Natur scheint gefragt.
                selbe. Im Prinzip zumindest, denn die Gletscher
                leuchten winziger und die Täler sind überstellter.                      Aussicht ist – wie gesagt – auf unzähligen Gipfeln zu
Neben Pilatus, Stanserhorn und Titlis gibt es unzählige weitere                         haben. Wer sie nicht inszeniert, verdient nichts. Wer
Gipfel in der Innerschweiz. Ausblicke bietet jeder von ihnen. Wer                       sie nicht erneuert, bleibt nicht unübertrefflich. Das
oben steht, erlebt das unmittelbar und authentisch. Erleben ist                         aber braucht es, um dem Aufregungsbedürfnis der
eine existenzielle Kategorie. Pilatus, Stanserhorn und Titlis sind          Menschen zu gefallen. Am kräftigsten investiert wird in den In-
touristisch genutzte Berge. Tourismus ist eine wirtschaftliche Ka-          nerschweizer Bergen zurzeit in Andermatt. Doch was geht am
tegorie. Er inszeniert den Berg und simuliert die Aussicht als ein-         Gemsstock, diesem Berg, der grandios aus dem Gotthardmassiv
zigartige und unübertreffliche. So ergibt ein Gipfel Sinn im Ver-           ragt, mit einer Seilbahn erschlossen ist und die perfekte Rund-
kaufsprospekt, so bringt er etwas ein.                                      sicht über die Zentralalpen ermöglicht? Heute findet die Aus-
                                                                            sichtsplattform nur, wer sich im Gebäude der Bergstation ganz
                                                                            nach oben verirrt. Es steht funktional kahl auf dem Grat, kein
                                                                            Kaffee, kein Kiosk, kein Restaurant, kein WC, nichts.

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i nszen i ert e Berge

          Der Gemsstock bröckelt                                                      Die Touristiker in Andermatt inszenieren also den
          Der Gemsstock könnte, ja müsste das Herzstück des                           Berg light: Die Bühne ist zwar wild, aber nicht allzu
          alpinen Erlebnistrips der neuen Andermatter Gäste                           sehr, das Spektakel scheint gross, aber es ist gedämpft.
          sein. Doch der Panoramablick von dort oben spielt in                        Das geplante «alpine Erlebniszentrum» will ohne den
Samih Sawiris Ausbauplänen keine Rolle. Sachliche Gründe                  genialen Panoramablick auskommen, den man gegenüber und
sprächen dagegen, sagt Franz Steinegger, der den Verwaltungsrat           auf anderen Touristenbergen in der Innerschweiz hat. Die Rund-
der Andermatt Gemsstock Sportbahnen präsidiert und den Berg               sicht als solche, bei der man von oben ins erstarrte Meer der Al-
wie seinen Hosensack kennt.                                               penfaltung schaut, dem Himmel näher steigt und sich die Natur
                                                                          theatralisch zu Leibe rücken lässt, ist eine kulturhistorische Er-
   Nun, der Permafrost lässt den Gemsstock bröckeln, was auf-             rungenschaft. Sie hat in Andermatt wirtschaftlich besser nutzba-
wendige Injektionen in den Fels erforderte. Der Grat verläuft aus-        re Konkurrenz: Golfplatz im Sommer, geglättete Pisten im Win-
gesprochen schmal, die Pfade, die hinunterführen, sind an-                ter, Erlebnisbad, luxuriöse Appartements, Shopping-Strasse usw.
spruchsvoll stotzig. Auf dem Gemsstock gibt es bis heute weder            Der Berg ist Kulisse.
Wasser noch Energie. Ursprünglich, sagt Franz Steinegger, hätten
die Pioniere aber durchaus die Idee gehabt, den Gemsstock als             Thomas Bolli
Sommerausflugsberg mit optimaler Rundsicht zu konzipieren.
Nun sei er aber vor allem ein Skiberg.

            Samih Sawiris zieht also den softeren Nätschen vor.
            Dieser Bergrücken auf der Nordostseite von Ander-
            matt taugt im Sommer und im Winter. Er verspricht
            mehr Sonne und leichter abrutschbare Hänge. Hier
wandern auch Ungeübte locker, es braucht keine Steigeisen und
keine Karten, die Biker können rauf und runter, was die schrof-
fen Felsen am Gemsstock nicht erlauben. Zudem lässt sich auf
dem Nätschen das Skigebiet mit den Sedruner Anlagen verknüp-
fen. Das ist rein ökonomisch gedacht.

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Glückliches Kriens: Die Menschen leben im Einklang mit sich und dem Ort.

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Kr i ens

                              Deal
                           or No Deal
         Noch in diesem Monat treffen Kriens, Adligenswil und Ebikon
      einen Vorentscheid, ob sie mit der Stadt Luzern fusionieren möchten.
         Der Widerstand ist gross, oder: Warum Kriens nicht Littau ist.
                                               Von Christoph Fellmann; Bilder Daniela Kienzler

Die Krienser wollten nach Luzern, und deutlicher hätten sie das             als Schlafstadt nutzt und die schon lange keine Stadtgrenze mehr
nicht ausdrücken können. 1267 von ihnen stimmten für die Fusi-              wahrnimmt: Stimmt sie für die Fusion? Oder ist ihr das Thema so
on mit der Zentrumsstadt, 253 dagegen. Es war der 25. März 1934,            egal, dass sie gar nicht an die Urne geht?
mitten in der Krise. Die Industrie in Kriens kämpfte gegen die                  So oder so: Im Vergleich zu ihren Nachbarn in Littau, das
Pleite, die Patrons senkten die Löhne und entliessen Hunderte von           2009 mit Luzern fusioniert hat, stehen die Krienser einem Zu-
Leuten. Die Gemeinde hatte kein Geld und keine Reserven. Aber               sammenschluss skeptischer gegenüber. Und das ist auf den ersten
nicht nur sie. Auch der Stadt Luzern ging es nicht gut, fünf Jahre          Blick doch erstaunlich, schliesslich ähnelt kein Vorort der Stadt
nach dem Börsenkrach von 1929. Sie war darum nicht scharf dar-              Luzern so sehr wie Kriens. Die zwei Gemeinden haben einen
auf, den tief in den roten Zahlen steckenden Vorort einzugemein-            ähnlichen Bevölkerungsmix und eine ähnliche politische Ge-
den. Also murmelte sie etwas von wegen Verhandlungen und be-                schichte. Und Kriens und Luzern teilen sich sogar die Naherho-
stellte zunächst einmal ein Gutachten. Als dieses Jahre später              lungsgebiete auf dem Sonnenberg und am Pilatus. Warum also
eintraf, war der Anlass dafür schon fast vergessen. Die Krise war           tun sich die Krienser so schwer mit dem Gedanken, zur Stadt zu
vorbei. Nach dem Krieg putzte sich die Stadt wieder für die Touris-         gehören? Der Blick in die Geschichte liefert eine erste Antwort,
ten heraus und suchte nach geeigneten Randlagen für die Indust-             formuliert von Hilar Stadler, dem Leiter des Museums im Bell-
rie. Aber am 28. März 1946 wiesen die Gemeinderäte aller Voror-             park in Kriens: «Will eine Stadt einen Vorort eingemeinden, muss
te, auch von Kriens, an einer Aussprache die Idee einer Einge-              dort die Not gross sein. Oder aber sie bietet einen Deal an, der gut
meindung weit von sich.                                                     ist und die Leute überzeugt.»

Warum tut sich Kriens so schwer?                                            Autark und bürgernah
    65 Jahre später ist es wieder die Stadt Luzern, die Kriens – zu-            In Littau war beides gegeben. Der am dichtesten besiedelte Ort
sammen mit Emmen, Ebikon und Adligenswil – eingemeinden                     des Kantons hatte grosse finanzielle und etwas kleinere soziale
möchte. Am 27. November stimmen die Luzerner und die Krien-                 Probleme. Die Steuern waren hoch und die Aussicht auf den
ser ab, ob ein Fusionsvertrag ausgehandelt werden soll. Die Politik         niedrigeren Luzerner Steuersatz war den Littauern offenbar Deal
in Kriens hat schon mal Nein gesagt: Der Gemeinderat und das                genug. Ganz anders ennet dem Renggloch: Kriens ist nicht in Not.
Parlament möchten das Fusionsprojekt abbrechen. Was die                     Im Gegenteil, wen immer man fragt beschreibt die Gemeinde als
Stimmbevölkerung betrifft, waren 50,6 Prozent von ihnen in ei-              autark und funktionstüchtig, als fortschrittlich und bürgernah
ner früheren Abstimmung dafür, eine Fusion zumindest zu prü-                und also auch als selbstbewusst. Mit anderen Worten: Der Steuer-
fen. Jetzt, da es langsam ans Eingemachte geht, ist diese Mehrheit          fuss ist zwar auch in Kriens höher als in Luzern, aber trotzdem
höchst gefährdet.                                                           leuchtet der Deal einer Fusion nicht auf Anhieb ein. Die gewich-
    Entscheidend wird wohl sein, wie sich die unbekannte Masse              tigen, aber auch abstrakten Argumente der Befürworter haben es
von Krienserinnen und Kriensern verhält, die ihre Gemeinde nur              da schwer: die klügere Raumplanung, die in der Region möglich

                                                                       13
kr i ens

würde, oder die demokratische Mitsprache für alle in einem                fand 1963 statt: Es war der Marsch vors kantonale Regierungsge-
Grossraum, in dem sich die Stadtluzerner wie die Agglos längst            bäude, in dem über 2000 Krienser erfolgreich gegen die drohende
geschmeidig und grenzenlos bewegen.                                       Überbauung der Wiese unterhalb des Krienser Schlösslis demons-
                                                                          trierten.
Vollständige Gemeinde mit Spitzenleistungen                                   Der Historiker Jürg Stadelmann bezeichnet diesen Marsch als
    Solche Argumente gleichen Wolkenschiebereien in einem                 «Gründungsakt des heutigen Krienser Selbstverständnisses». Und
Land, das Freiheit und Identität von unten her definiert. Wer             der Schriftsteller Heinz Stalder, 1967 nach Kriens gezogen, er-
durch die Wohnquartiere von Kriens streift, kann sehen, dass die          zählt, wie «den Kriensern heute noch die Tränen kommen, wenn
Menschen hier im Einklang mit sich leben und mit dem Ort, in              sie von der Schlössli-Demo erzählen. Wie sie nach Luzern mar-
dem sie wohnen: Jedes Haus, jeder Garten ist, ganz anders als in          schiert sind und wie sie später an einem Bazar ihre Bastelarbeiten
Littau oder Emmen, zurechtgemacht und herausgeputzt. Offen-               verkauft haben, um mit dem Erlös die Möblierung des Schlösslis
bar gibt es in Kriens eine grosse Identifikation mit dem Terrain,         zu finanzieren.» Es war nicht das letzte Mal, dass Kriens gegen
das man besiedelt, auch wenn man auf diesem Terrain vor allem             Stadt und Kanton Luzern kämpfte, denen man in Kriens noch
schläft. Und das stimmt ja nicht einmal: Kriens macht gute Ange-          heute gelegentlich wie einer Obrigkeit und also mit dem entspre-
bote, notabene für die ganze Region – in der Kultur (Museum im            chenden Abgrenzungsbedarf begegnet. In den 80er-Jahren war es
Bellpark) ebenso wie im Sport (Schwimmbad, SC Kriens). Auch               der Kampf gegen eine vom Kanton geplante Hochleistungsstrasse
dies unterscheidet diese Gemeinde von Littau, Emmen oder Ebi-             durch das Krienser Tal, der den Widerstand mobilisierte. In den
kon. Kriens besteht als vollständige Gemeinde, und über Spitzen-          späten 90ern jubelte man über die glorreichen Siege des SC Kriens
leistungen in der Industrie, in der Kultur oder im Sport macht sie        über den FC Luzern in der obersten Schweizer Fussballliga.
immer wieder Angebote zur Identifikation. Man ist ausser sich,
wenn der lokale Fussballclub den FC Luzern besiegt. Und man ist           Vereine, Zunft und Kleingewerbe
überzeugt, den originelleren Fasnachtsumzug zu stellen als die                Mit dem separatistischen Erbe spielen die Krienser Gegner der
Luzerner Grinden.                                                         Fusion heute raffiniert. Kein Wunder, ist ihr Anführer doch jener
                                                                          Alexander Wili, Rechtsanwalt und Erzfreisinniger, der 1963 schon
    Im Unterschied zu anderen Gemeinden der Agglomeration hat             die Schlössli-Demo organisiert hatte. Ihm folgt getreu der typische
sich Kriens im Zuge der Verstädterung einige Rituale und Symbo-           Krienser Dorfersatz aus Vereinen, Zunft und Kleingewerbe. Der
le erhalten, die noch heute für die Dorfgemeinschaft stehen, die          rekrutiert sich zwar vor allem aus der FDP und neuerdings auch
Kriens längst nicht mehr ist. Es waren ja gerade die Zuzüger der          aus der SVP, ist aber doch überparteilich und damit jederzeit als
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Kriens zur Hochburg von           «Bürgerinitiative» mobilisierbar. Zum Beispiel gegen das Verbot
Brauchtum und Folklore machten und zu einer Gemeinde von                  der Krienser Fasnacht, gegen die Überbauung der Wiese unter-
enormer Vereinsdichte. Diese Vereine, aber auch die Gallizunft            halb des Schlösslis oder sogar des gesamten Sonnenbergs – alles
funktionieren bis heute als «Kriensermacher» und damit auch als           Dinge, welche die Stadt Luzern nach einer Fusion angeblich im
Integrationsforen für Zugewanderte. Der freisinnige Krienser Ge-          Schilde führt. «Als bodenständiger Krienser», so Alexander Wili,
meindepräsident Otto Schnyder hatte 1970 gewarnt vor der Ano-             «ist man gegen eine Fusion.»
nymität in einer Vorstadt, die damals damit rechnete, bald 50'000             Gut möglich, dass dieser Rückgriff auf den «Krienser Separa-
Einwohner zu haben. Er rief die Bevölkerung auf, auf die neuen            tismus» am 27. November verfängt. Zumal, wie gesagt, viele Kri-
Mitbürger zuzugehen, denn: «Damit hat die Einpassung bereits              enser die Vorteile eines Fusionsdeals nicht recht sehen. Fast
begonnen. Mit Takt und dem nötigen Gefühl für das Mass kann               scheint es, dass nur die aktuelle Schieflage im Krienser Finanz-
sie weitergeführt und vollendet werden. Damit ist wieder ein              haushalt den Befürwortern einer Fusion helfen kann. Was für ei-
Mensch der Anonymität entzogen worden.»                                   ne Ironie: Hat diese Not ihren Ursprung doch in der Steuersen-
                                                                          kungspolitik ausgerechnet der FDP und SVP, der vehementesten
Krienser Sepatarismus                                                     Fusionsgegner.
   Man kann heute über solche Worte lachen, aber man muss
auch konstatieren: In Kriens hat die Integration weitgehend
funktioniert. Das heisst aber auch: Um sich im Zuge der Verstäd-           Abstimmung in Kriens, Emmen, Ebikon und Adligenswil
                                                                           cf. Nach der Fusion von Luzern und Littau sollen weitere Agglomerati-
terung nicht zu verlieren, begann Kriens wie keine andere Ge-
                                                                           onsgemeinden zur Stadt Luzern stossen: In Kriens, Ebikon und Luzern
meinde rund um Luzern, das Eigene, oder, wenn man so will: das             wird am 27. November über die Ausarbeitung eines Fusionsvertrags abge-
Dörfliche zu betonen. Diese Dörflichkeit existiert abgekoppelt             stimmt. In Adligenswil entscheidet die Gemeindeversammlung am 29. No-
von der suburbanen Lebensrealität der Krienser, ist darum aber             vember. In Emmen findet die Urnenabstimmung erst im März 2012 statt,
nicht weniger wirksam, wenn es darum geht, Eigenheit zu mar-               hier als Reaktion auf eine Volksinitiative (das lokale Parlament hatte das
kieren. Hilar Stadler spricht von einem «Krienser Separatismus»,           Fusionsprojekt zuvor gestoppt). Die Gemeinderäte von Emmen und Ebikon
der sich gut erhalten habe und der sich nicht nur im Spiel auf der         empfehlen den Stimmberechtigten ein Ja, die Exekutiven von Kriens und
                                                                           Adligenswil dagegen machen sich für den Ausstieg ihrer Gemeinden aus
Halszither und im Fasnachtstreiben zeige, sondern gelegentlich
                                                                           dem Fusionsprojekt stark. Über allfällige Fusionen wird erst dann definitiv
auch in spektakulären politischen Aktionen, in denen man sich
                                                                           entschieden, wenn die Fusionsverträge vorliegen.
von der Stadt und vom Kanton Luzern absetzt. Die spektakulärste

                                                                     14
Fr eir aum

    Industriewohnen und Geld
    in die Kasse
    An der Industriestrasse soll der neue Stadtteil Steghof seinen Anfang
    nehmen – das Projekt ist erkoren. Wär flott, wenn darin auch bezahlbarer
    Platz für den schwindenden Kulturraum gefunden würde.
         Von Tino Küng

                                                                                                         gerprojekt «Urban Industries» fasst mit drei L-förmi-
                                                                                                         gen Baukörpern einen Innenhof ein, der durch meh-
                                                                                                         rere verschiebbare Bäume in «Eisenbahntrögen» auf
                                                                                                         Schienen geprägt wird – als Reverenz an das Geleisela-
                                                                                                         ger der Eisenhandlung Stocker, die urzeitig diesen
                                                                                                         Platz nutzte. Ebenso erinnern die Sheddächer an alte
                                                                                                         Industriearchitektur und ermöglichen zugleich den
                                                                                                         optimalen Einsatz von Fotovoltaik-Panels.
                                                                                                             Das gesamtschweizerische Interesse an diesen in-
                                                                                                         nerstädtischen Parzellen war gross: 25 hochwertige
                                                                                                         Projekte gingen ein. Überblickt man sämtliche Wett-
                                                                                                         bewerbseingaben, kann man der Jury Respekt zollen
                                                                                                         – mit den sieben rangierten Projekten und dem daraus
                                                                                                         erkorenen Sieger hat sie ihre Arbeit gut gemacht. Die
                                                                                                         toprangierten Eingaben passen mit guten städtebauli-
                                                                                                         chen Lösungen und stimmiger Architektursprache ins
Durchmischung von Wohnen und Arbeiten – das Siegerprojekt «Urban Industries». Visualisierung: zvg        Quartier; mondäne Grossstadtprojekte und beliebige
                                                                                                         Lösungen, die überall auf einer gleich grossen Fläche
    Neben dem Grossgebiet Luzern Nord, einer zukünftigen Stadter- stehen könnten, blieben aussen vor. Leider auch die drei Einga-
    weiterung über den Seetalplatz, ist der Stadtteil zwischen Hallen- ben, die das alte Käselager an der Ecke Industrie-/Unterlachen-
    bad und Geissensteinring wohl das grösste innerstädtische Ge- strasse stehen lassen wollten (als Option in der Wettbewerbsaus-
    biet, wo in kommenden Jahrzehnten eine starke Entwicklung schreibung) – da wären halt doch zu viele Kompromisse nötig
    möglich ist. Die früheren Entwicklungsschwerpunkte heissen gewesen, sodass die Gesamtlösung darunter litt.
    heute Schlüsselareale, zu denen auch der Steghof gehört. In die-
    sem Gebiet wird in verschiedenen Etappen unabhängig vonein- 2013 passierts!
    ander eine Überbauung realisiert. Das Baufeld an der Industrie-                               Und wenn schon leider: Wenn die Stadt im nächsten Jahr das
    strasse gehört der Stadt, deshalb soll hier der Startschuss für den Areal für 18,7 Millionen Franken (das beste Angebot) verkauft,
    neuen Stadtteil Steghof fallen.                                                         können nach der Baueingabe 2013 die Bauarbeiten beginnen.
        Der Stadtrat lancierte vergangenen Februar einen Wettbewerb Spätestens dann werden auch die alten Häuser an der Industrie-
    für Architekten und Investoren. Für eine gute Durchmischung strasse mit ihrem kreativen Innenleben verschwinden. Nicht in
    von Wohnen und Arbeiten wurde neben Mietwohnungen auch den Dimensionen von Frigorex und La Fourmi – aber einmal
    ein Anteil an Dienstleistungs- und Gewerbeflächen vorgegeben. mehr.
    Weil, so Baudirektor Kurt Bieder, in den nächsten Jahren vor al-                              Ironischerweise berichtete just nach der Medienorientierung
    lem in der Nachhaltigkeitsdimension Wirtschaft Nachholbedarf zum Wettbewerb Industriestrasse der «Tages-Anzeiger» vor ei-
    bestehe und nirgends grössere Arbeitsplatzflächen bestünden, nem Monat über Zürichs Umgang mit den Kreativen. Unter dem
    sollte zudem für die Ansiedlung von grösseren Firmen eine zu- Titel «Das Basislager zieht neben Sexboxen und Asylunterkunft
    sammenhängende Fläche von 4000 bis 5000 Quadratmetern er- ein» war zu vernehmen, dass der Zürcher Stadtrat das Container-
    stellt oder zumindest baureif gemacht werden.                                           dorf für Kreative (an der Binz) kaufen und nach Altstetten verle-
                                                                                            gen will. Zugegeben: Luzern ist nicht Zürich. Aber scheinbar sind
    Eisenbahnbäume im Innenhof                                                              in beiden Städten die Möglichkeiten von Fluchten in andere zahl-
        Ein Bieterteam aus der Allreal Generalunternehmung Zürich, bare Objekte am Versiegen und neue Lösungsansätze anzuden-
    den Rüssli Architekten Luzern und Robert Gissinger, Land- ken – denn ohne Kreativboden vermag auch die Nachhaltigkeits-
    schaftsarchitekt Luzern, hat den Wettbewerb gewonnen. Ihr Sie- dimension Wirtschaft nicht in voller Blüte aufzuspriessen.

                                                                                15
Fr eir aum

          Vielleicht haben Emmi, Theaterpavillon und die Stadt
          Luzern für ein weniger konfliktträchtiges Kulturleben
          in der Innenstadt ein gangbares Modell erfunden.
          Vielleicht.

          Widerstand nützt
          Man rieb sich die Augen: Hatte die Stadt Luzern gar nichts aus             Für den Fall, dass es trotzdem zu Reklamationen kommt, wird ei-
          dem Boa-Debakel gelernt? Da plante Emmi – im Einverständnis                ne Schlichtungsstelle eingerichtet. Sollte auch dann keine Eini-
          mit der Stadt Luzern – in unmittelbarer Nachbarschaft des Thea-            gung erzielt werden, kann ein Gremium mit je einem Vertreter der
          terpavillons und des Treibhauses zwei neue Geschäfts- und Wohn-            Stadt, der Spielleute und der Stockwerkeigentümerschaft Lärm-
          häuser, und alle Involvierten sprachen bla, bla, bla, das geht dann        schutzmassnahmen bei den beiden Betrieben veranlassen. Deren
          schon gut. Dabei musste die Boa exakt aus diesem lärmtechnisch             Kosten werden auf maximal eine halbe Million Franken ge-
          heiklen Nebeneinander von Eigentumswohnungen und Kulturbe-                 schätzt, die von Stadt und Stockwerkeigentümerschaft je hälftig
          trieb den Kürzeren ziehen. Das Debakel war auch an der Theater-            getragen würden. Aufgrund dieser Vereinbarungen haben die Lu-
          Treibhaus-Meile vorprogrammiert. Während die Frage erlaubt                 zerner Spielleute ihre Einsprache zurückgezogen und auch die an-
          war, wie weit Stadträte vernetzt denken können, reichten die Lu-           dern Einsprecher dahingehend bewegt, dies zu tun. So konnte der
          zerner Spielleute (Theaterpavillon) – neben andern – eine Be-              Stadtrat am 28. September das Baugesuch von Emmi bewilligen.
          schwerde ein. Zum Glück.                                                   Ende gut – alles gut? Das wird sich spätestens im Ernstfall weisen.
          Denn jetzt scheint alles gut. Aufgrund des Drucks haben sich die           Papier ist Papier, aber die Absicht ist hehr und das Resultat viel-
          beteiligten Parteien an einen Tisch gesetzt und eine Lösung ausge-         versprechend. Die gemeinsam am runden Tisch erarbeitete Verein-
          handelt, um potenzielle Konflikte zwischen den ungleichen Nach-            barung darf als bemerkenswert und als dienlich für ein gutes
          barn – hier Bedürfnis nach Ruhe, dort Bedürfnis nach Lust und              künftiges Nebeneinander bezeichnet werden. Die Stadt und Emmi
          Leben – möglichst zu vermeiden. In einer Vereinbarung und ei-              geben zum Ausdruck, dass in der Stadt auch gelebt und gefeiert
          nem Dienstbarkeitsvertrag wird festgehalten, dass Personen, die in         werden kann, während sich die Kulturhäuser bemühen, dass die
          der neuen Überbauung wohnen oder arbeiten werden, Lärmim-                  Emissionen von ihrer Seite in Grenzen gehalten werden. Es wäre
          missionen des Treibhauses und des Theaterpavillons zu dulden               ein möglicher Weg, um dereinst auch eine Frigorex als Kultur-
          haben, wenn diese die gesetzlichen Vorgaben nicht überschreiten.           raum im urbanen Umfeld zu behalten und akzeptabel zu machen.
          Diese Duldungspflicht wird sogar im Grundbuch eingetragen.                 Dafür fehlt nur noch der Wille der Stadt, dies bei Jost Schumacher
          Auch muss Emmi mit baulichen Massnahmen dafür sorgen, dass                 mit aller Hartnäckigkeit und Diplomatie anzumelden.
          mögliche Konflikte minimiert werden. Umgekehrt verpflichten
          sich der Theaterpavillon und das Treibhaus, Ruhe und Ordnung               Pirmin Bossart
          einzuhalten. Darin werden sie auch von der Stadt unterstützt.

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Fr eir aum

«Wir machen Ungenutztes nutzbar»
Ein klärendes Gespräch rund um kulturellen Freiraum mit
zwei Exponenten der Aktivistenszene.
    Von Pirmin Bossart

Ihr setzt euch für mehr Freiraum ein, was      fehlt, sind Orte, an denen Menschen auch     Wie stellt ihr euch ein Zentrum ohne Geld
für Räume meint ihr damit?                     willkommen sind, wenn sie nichts mit         vor? Müsste man dieses erwerben, müsste
Alex*: Räume, die nicht vordefiniert sind      Geld anfangen können oder wollen. Es         die Stadt euch ein Haus geben?
und in denen man sich ausleben kann, die       geht darum, dass man zum Ziel nicht Pro-     Alex: Die Wahrscheinlichkeit, dass die
man selber gestalten und verwalten kann.       fit haben muss. Oft bestimmt die Frage, ob   Stadt uns ein Haus schenkt, ist relativ ge-
Chris*: Für mich ist Freiraum ein Ort, der     man die Miete bezahlen und zudem noch        ring ...
frei ist von Konsumzwang und Leistungs-        etwas Geld zur Seite legen kann, das Den-    Chris: Was aber eigentlich ihre Pflicht wä-
denken. Es herrscht eine Kultur des Mit-       ken. Ich wünsche mir einen Raum, in dem      re ... Wir sind Teil der Stadt. Sie müssen
einanders und der Toleranz. Meinungsver-       man nicht ans Geld denken muss.              damit umgehen, dass Leute hier leben, die
schiedenheiten werden durch Diskussio-                                                      nichts von Profit halten.
nen gelöst. Dies sind Haupteigenschaften
eines Freiraums.
                                                «Ja, wir können                             Der Wunsch, im Stadtzentrum zu bleiben,
                                                                                            wird von der Realpolitik insofern verhin-
Und solchen Freiraum gibt es in Luzern
nicht?
                                                uns vorstellen, was                         dert, dass da nur sogenannt rentable und
                                                                                            wertschöpfungsintensive Betriebe angesie-
Alex: Es gibt kleinere Projekte und Ni-         ihr wollt, aber das                         delt werden. Erträgt denn diese teure Zone
schen, in denen immer wieder etwas ent-                                                     noch Freiraum?
steht und läuft, teilweise auch im öffentli-    ist jetzt halt einfach                      Alex: Also «Freiraum ertragen» klingt so,
chen Raum. Ein Zentrum aber fehlt. Wer
etwas veranstalten will, eine kleine Aus-
                                                nicht möglich.»                             als wäre es eine Belastung. Ich finde, der
                                                                                            gehört einfach da hin. Jeder Mensch, der
stellung, ein Konzert oder eine Diskussi-                                                   hier wohnt, hat ein Recht auf die Stadt und
onsrunde, muss zuerst einen geeigneten                                                      auf seinen Platz. Die Behörden sehen alles
Ort suchen.                                                                                 unter einem wirtschaftsorientierten Blick-
Chris: Eine Eigenschaft von einem Frei-        Was sind denn eure Ansprüche an einen        winkel – die Stadt als Standortfaktor. Für
raum muss auch sein, dass er über längere      Raum oder eine Liegenschaft?                 uns ist die Stadt ein Ort des Zusammenle-
Zeit besteht. Es braucht Konstanz, damit       Chris: An das Gebäude haben wir nur          bens. Menschen sind nicht wirtschaftliche
Dinge wachsen und Platz ist für Spontanei-     sehr wenig Ansprüche, Hauptsache, es gibt    Ressourcen, sondern Menschen, die hier
tät.                                           irgendetwas. Wir haben schon verschiede-     sind und Bedürfnisse haben – das muss im
                                               ne Gebäude für kurze Zeit belebt ...         Zentrum der Stadtentwicklung stehen. Ich
Was sind das für Menschen, von denen ihr                                                    plädiere hier sehr gerne für eine soziale
sprecht? Wer kommt zu kurz mit Freiraum        Das Geissmättli?                             Stadt.
in Luzern?                                     Chris: Zum einen, später den Adlerhorst      Chris: Viele Ideen, die später in die Upper-
Chris: Letztlich hat jeder Mensch das          an der Haldenstrasse. Das sind ganz ver-     class-Kultur Eingang gefunden haben,
Recht auf einen Ort, an dem er sich wohl       schiedene Gebäude, die im Moment ideal       entstanden an unreglementierten Orten.
und frei fühlt und sich ausleben kann. Was     waren.                                       Luzern hat eine Kunsti, mit der sie sich

                                                                   17
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brüstet, gleichzeitig entzieht sie diesen         Hausbesetzungen sind also ein gängiges         Beispiel die Salle modulable, die genau
Leuten Stück für Stück das Umfeld, in dem         Mittel, um euren Anspruch zu markieren?        dort stehen muss.
sie Inspiration suchen und holen.                 Alex: Wir sprechen über Räume, die leer
                                                  stehen. Es ist nicht so, dass wir einen Raum   Aber wenn sich in Kriens oder Littau et-
Aber man kann ja nicht einfach nur Kul-           klauen oder jemandem etwas wegneh-             was ergibt, kann man doch versuchen, da
tur machen und soziale Gruppen zufrie-            men. Wir machen Ungenutztes nutzbar.           eine Bewegung wachsen zu lassen. Wäre
denstellen, es muss Geld da sein.                                                                das nicht wertvoller, als auf stur zu ma-
Chris: Das ist diese Realismusdiskussion.         Stichwort Gentrifizierung, was gibt es da      chen?
Ein Ort, der keinen Profit bringt, tut Stadt      zu sagen?                                      Alex: Es ist mir lieber, dass man endlich
und Wirtschaft nicht weh. Ich finde es le-        Alex: Gentrifizierung ist ein Begriff, der     irgendwo anfangen und es entwickeln las-
gitim und nötig, mit der Logik des Kapita-        in der letzten Zeit aufgekommen ist. Ich       sen kann, anstatt immer nur kurze Projek-
lismus zu brechen. Wenn wir das nicht             verstehe es hauptsächlich als einen Ver-       te durchzustieren. Vielleicht wäre es sinn-
einmal bei – vorerst – einem lausigen Ge-         drängungsprozess durch Aufwertung.             voll, hier nachzugeben, mit dem Resultat,
bäude hinkriegen, sind wir genau in dieser        Stadtteile werden durch sogenannte Krea-       etwas Langfristiges zu haben.
Realo-Polito-Diskussion gefangen.                 tivmilieus aufgewertet. Mit der Folge, dass    Chris: Aber ein solches Projekt lebt davon,
Alex: Ein Bruchteil der Subventionen für          die Leute, die eigentlich dort gewirkt ha-     dass man sich spontan entscheiden kann
das KKL würde reichen, um ein supertol-           ben, nicht mehr dort sein können.              und nach der Arbeit, vor dem Ausgang vor-
les Kulturzentrum zu finanzieren. Aber es         Chris: Es ist nicht wirklich steuerbar. Die    beigeht. Bis diese Mentalität ins Laufen
geht ja auch um günstigen Wohnraum.               Baselstrasse ist ein gutes Beispiel, wo Men-   kommt, braucht es in der Peripherie viel
Immer mehr Menschen können die stets              schen mit Migrationshintergrund woh-           Zeit. Ein zentraler Standort ist wichtig, dass
steigenden Mieten nicht mehr bezahlen             nen. Jetzt kommen immer mehr Studis,           sich möglichst viele Menschen beteiligen.
und werden aus der Stadt gedrängt.                weil es billig und so schön multikulti ist.    Ich werde nicht aufgeben ...
                                                  Wenn sie dann ihr Studium fertig haben,
Gibt es Beispiele für eine Freiraumkultur,        bezahlen sie gerne ein bisschen mehr Mie-        * Namen geändert (der Redaktion bekannt). Die Ant-
die in etwa erfüllt, was ihr euch für Luzern      te als eine Migrantenfamilie.                    worten entsprechen ihrer persönlichen Meinung.
vorstellt?
Chris: In Bern existiert die Reitschule
schon seit 20 Jahren und ist ein extrem
wichtiger Ort für viele Menschen. Sie er-
füllt ziemlich genau, was wir fordern. Zü-
rich hat eine Tradition für Zwischennut-              «Also ‹Freiraum ertragen› klingt so,
zungen, die ziemlich gut funktioniert.
Alex: Ein Vorbild ist Hamburg mit dem                 als wäre es eine Belastung. Ich finde,
Gängeviertel und der Flora, wo die ganze
«Recht auf Stadt»-Bewegung gross und er-              der gehört einfach da hin.»
folgreich ist. Es ist nicht die Stadt einer Re-
gierung, sondern jene der Leute.

Ist das in Luzern nicht der Fall?
Alex: Es wird überhaupt nicht auf unsere
Anliegen eingegangen. Wir haben verhan-
delt und Gespräche geführt. Das ist an-           Luzern wird grösser gedacht. Kriens und
strengend und hat bis jetzt zu nichts ge-         Littau sind nur wenige Kilometer vom
führt. Wir wurden auf die lange Bank ge-          Stadtzentrum weg. Vielleicht müsste man
schoben und vertröstet. Vielfach wurde            dort die Pflöcke einschlagen?
gesagt: «Ja, wir können uns vorstellen,           Alex: Im Vergleich zu grösseren Städten
was ihr wollt, aber das ist jetzt halt einfach    wie Zürich ist das wirklich sehr kleinräu-
nicht möglich.» Was schlicht nicht stimmt,        mig. Sobald man etwas verdrängen kann,
die Stadt ist nicht so voll, dass es keinen       muss man Luzern grösser denken – in Em-
Flecken mehr gibt, den man für einen              menbrücke hat es ja noch Platz. Geht es
Freiraum nutzen könnte. Wir müssen                aber um Sachen, die dem sauber geordne-
mehr auf Eigeninitiative setzen und uns           ten Tourismusimage entsprechen und Geld
den Platz nehmen. Das ist sinnvoller – oder       bringen, wird Luzern sehr klein gedacht,
ökonomisch gesagt effizienter.                    dann ist das genau das Seebecken. Zum

                                                                       18
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Anna De Weerdt und Markus Elmiger verbinden hochwertige
Materialien und altes Schneiderhandwerk. Produziert und verkauft
werden Hosenträger und Kleider in ihrem neuen Geschäft.
    Von Aurel Jörg, Bild Daniela Kienzler

Unprätentiöses Handwerk
Jeder hat sie, sie begleiten uns durchs Le-
ben. Sie bedecken, sie decken auf. Sind sie
überholt, werden sie durch neue ersetzt. Es
ist nicht, dass sie uns angeboren wären –
nein, sie konstituieren uns, nach Zeit und
Ort in verschiedenem Ausmass. Dort, wo
sie sich verdichten, droht Uniformität.
Nun, Vorurteile und Kleider – es liegt auf
der Hand – unterliegen Moden.
    Mögen bei manchem geneigten Leser
die Stichwörter Mode und Kleider Vorur-
teile als spontane Reaktion hervorrufen:
Oft werden Leute, die sich mit Mode befas-
sen als – nomen est omen – oberflächlich
bezeichnet. Dies geschieht zum Leidwesen
derjenigen, die Kleider entwerfen, Stoffe
schneiden, nähen, bügeln und zig Einzel-
teile zu ganzen Kleidungsstücken verei-
nen. Sie sind es, welche die allenthalben         Markus Elmiger und Anna De Weerdt in ihrem Atelier, das auch Boutique ist.
spriessenden Modeblogs und Lifestyle-Bei-
lagen erst möglich machen.
    Dass die Schneiderei in erster Linie ein unprätentiöses Hand- raubender Schneiderarbeit zu klassisch geschnittenen Kleidern
werk ist, beweisen Anna De Weerdt und Markus Elmiger, die nun gefertigt – bis jetzt von der Damenschneiderin De Weerdt alleine.
seit bald zwei Monaten an der Bruchstrasse 45 in Luzern ein Verhältnismässig preiswerte Couture soll dabei entstehen. Wich-
Schneideratelier mit angehängtem Laden betreiben. «Treger van tig ist dem Duo, bei den Kunden das Bewusstsein für die Entste-
De Weerdt» heisst ihr erstes Kind. Unter diesem Namen – eine hung eines Kleidungsstückes zu wecken. Konsequenterweise sind
Anspielung auf den Ursprung ihrer gemeinsamen Tätigkeit, die Verkaufsraum und eigentliche Wirkungsstätte kaum getrennt;
Produktion von Hosenträgern, die sie bis anhin vorwiegend über Interessierte erhalten so ungeniert einen Blick hinter die Kulis-
das Internet verkauft haben – betreiben sie heute eine Boutique. sen. Elmiger betont, man nehme schnell viel Geld für einen
Am Anfang stand die Suche nach einem passenden Atelierraum, Handwerker in die Hand. Für die Qualität der Materialien und die
gefunden haben sie ein Atelier mit Verkaufsfläche. Dort verkau- Schneiderarbeit, die in einem manuell gefertigten Kleidungsstück
fen sie nebst den Trägern die Kleiderlinie «Van De Weerdt» – ein stecken, sei das Preisbewusstsein hingegen komplett abhanden
kleines, aber feines Sortiment, das mit ausgesuchten Labels er- gekommen, ergänzt seine Freundin De Weerdt.
gänzt wird.                                                                Im Gespräch merkt man schnell, nur ums Geld geht es den
                                                                       beiden nicht. Vielmehr ist es das Wagnis, einer Berufung in eige-
Preisbewusstsein wecken                                                ner Regie zu folgen. Elmiger, der für die Administration zustän-
    Dabei dienen die 1920er- bis 50er-Jahre als Inspirationsquelle: dig ist (und nebenbei als Geschäftsführer beim Zuger Radio In-
Die hohen Qualitätsstandards von damals sollen mit den Ansprü- dustrie arbeitet), meint, vieles soll spontan je nach Geschäftsgang,
chen des heutigen Alltags kombiniert werden. Ziel ist nicht eine Bedürfnis und Lust entstehen. Geplant ist, im kommenden Jahr
plumpe Neuauflage von Altem, sondern eine zeitgemässe und äs- Nähkurse anzubieten. Die Idee ist nicht aus betriebswirtschaftli-
thetisch überzeugende Interpretation. Hochwertige Materialien chen Überlegungen entstanden: Vielmehr hätten zahlreiche Be-
wie Seide und Cashemere, aber auch Wollstoffe werden in zeit- kannte bereits nach einem solchen Kurs gefragt.

                                                                   19
Das LesBiSchwule Festival PinkPanorama feiert dieses Jahr sein
10-Jahre-Jubiläum. Die ProgrammmacherInnen Christina
Niederer und Peter Leimgruber erzählen im Interview, welche
Themen sie bewegen und wo PinkPanorama heute steht.
    Von Martina Egli, Bild Georg Anderhub

                                                                   Peter Leimgruber und Christina Niederer blicken zurück auf zehn Jahre PinkPanorama.

«Das ist Hardcore»
Ihr habt PinkPanorama vor zehn Jahren         zeigen können. Einmalig ist dabei wohl,           Im Zentrum von PinkPanorama steht die
mitbegründet. Wie kam damals die Idee         dass wir durch Peters Funktion als Leiter         lesbisch-schwule Kultur. Erreicht ihr da-
für ein schwullesbisches Festival in Luzern   des Stattkinos von Beginn an über eine            mit auch ein heterosexuelles Publikum?
zustande?                                     passende Plattform verfügten.                     Niederer: Die Idee hat Bestand, unser
Christina Niederer: Mit Pink Apple in         Peter Leimgruber: Unser grosser Vorteil           Festivalprogramm für ein breiteres Publi-
Zürich und Queersicht in Bern gab es vor      war dabei auch, dass im Stattkino von An-         kum, wenn man so will für ein Heteropu-
uns schon zwei schwullesbische Filmfesti-     fang an finanzielle Mittel vorhanden wa-          blikum, zu öffnen. Es gibt jedoch verschie-
vals in der Schweiz, doch die Mobilität       ren, um schwule und lesbische Filme zu            dene Gründe dafür, dass wir dieses Ziel
zwischen den Städten blieb jeweils relativ    zeigen. Gleichzeitig können wir einige der        bisher nicht erreicht haben. Einerseits wa-
klein. Wir wollten hier in der Zentral-       Filme, die fürs Festival programmiert sind,       ren wir in den Medien jeweils nur spora-
schweiz einen eigenen Ort schaffen, wo        jeweils auch ins normale Programm über-           disch. Anderseits ist PinkPanorama mit
wir kontinuierlich schwullesbische Filme      nehmen.                                           rund zwanzig Programmfilmen pro Jahr

                                                                  20
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ein vergleichsweise kleines Festival, dem- Niederer: Wir wollen unterschiedliche            le Frauen haben keine Produktionsfirma
entsprechend richtet sich unsere Auswahl Lebensentwürfe, aber auch politische Situ-         und weniger finanzielle Mittel, um ihre
auch an ein relativ kleines Publikum.        ationen von Lesben und Schwulen thema-         Filme zu drehen. Das spiegelt sich natür-
Leimgruber: Aber man kann dieselbe Be- tisieren. Homosexualität wird nach wie               lich auch in der Breite und der Qualität der
obachtung sowohl in Luzern als auch in vor in über 70 Ländern als Delikt geahndet           Angebote wider. Allerdings gibt es inzwi-
anderen Städten machen: An lesbisch- und strafbar gemacht. Dokumentarfilme                  schen schon deutlich mehr Filme im lesbi-
schwulen Festivals finden sich im Publi- wie auch Spielfilme von ausländischen Re-          schen Bereich als zu unserem Festivalstart
kum hauptsächlich Schwule, Lesben und gisseurinnen und Regisseuren führen uns               vor zehn Jahren.
einige Transgender. Man bleibt in lesbisch- diese Situation vor Augen. Da muss ich oft
schwulen Filmen mehr                                                                        Was sind die Pläne für die Zukunft von
oder weniger unter sich.                                                                    PinkPanorama?
Eine gute Ausnahme
                             «Wir leben nach wie vor in einer von                           Niederer: Wir kommen bald zu einem
hat vor einigen Jahren       Männern definierten Gesellschaft.»                             Punkt, wo wir uns entscheiden müssen:
die Hollywood-Produk-                                                                       grösser werden oder klein bleiben. Es wür-
tion «Brokeback Moun-                                                                       de uns natürlich freuen, hätten wir mehr
tain» bewiesen, die mit der Geschichte von leer schlucken, wenn ich sehe, was 2011          Publikum und volle Säle, eine ganze Wo-
zwei schwulen Cowboys ein breites Publi- noch mit Schwulen und Lesben passiert.             che lang. Gleichzeitig haben wir mit die-
kum erreichte. Da hat wohl der Topos Wil- Das ist Hardcore.                                 sem Programmumfang die Möglichkeit,
der Westen die Brücken geschlagen.           Leimgruber: Im Kleinen bestehen viele          uns auf das zu reduzieren, was wir auch
                                             Problemherde auch hier noch: von homo-         wirklich zeigen wollen. Uns ist wichtig,
Im Mainstream-Kino werden Schwule phoben Äusserungen über Diskriminie-                      dass dies Filme sind, in denen wir uns als
und Lesben ja oft zu Klischeecharakteren rungen bis zu körperlicher Gewalt. Ein             Lesben und Schwule anders erkennen als
stilisiert.                                  Coming-out ist auch in der Schweiz noch        in Mainstreamfilmen. Daher ist es auch
Leimgruber: Es ist für uns o. k., dass es lange keine selbstverständliche Sache, da-        eine Realität, dass PinkPanorama unge-
im Mainstreamkino und den Soapoperas her wollen wir auch die sozialen Dimensi-              fähr in diesem Grössenrahmen bleiben
den Quotenschwulen und die Quotenlesbe onen der lesbischen und schwulen Lebens-             wird: ein kleines, feines, spezielles Festival.
gibt, doch darum geht es uns hier nicht. führung immer wieder aufzeigen. Die
Wir gehen mit PinkPanorama und unse- Filme, die wir in unser Programm aufneh-
rem Kinoprogramm in die andere Rich- men, müssen uns betreffen, auch wenn es
tung. Wir wollen schwule und lesbische nicht um unsere eigene Welt geht. Wenn                 20 Filme und ein Konzert
                                                                                              meg. Vom 3. bis 9. November sieht man im
Filme mit einer eigenen künstlerischen wir einen Film über männliche Prostituti-
                                                                                              Bourbaki Panorama pink: Das LesBiSchwule
Aussage, einer eigenen Sprache zeigen – on zeigen, dann ist das relativ weit weg
                                                                                              Festival PinkPanorama feiert dieses Jahr sein
auch anspruchsvolle Filme, schockierende von mir oder von uns. Aber es ist ungeheu-           10-Jahre-Jubiläum. Ein vielseitiges Programm
Filme. Als Leiter des Stattkinos weiss ich, er wichtig, solche Filme und Themen auf-          aus zwanzig lesbischen und schwulen Filmen,
wie schwierig es ganz allgemein ist, dem zugreifen.                                           zusammengestellt von Christina Niederer und
Publikum anspruchsvolle Filme schmack-                                                        Peter Leimgruber, erwartet die Zuschauer. Die
haft zu machen. Heute sind die Sehge- «Brokeback Mountain», «La mala educati-                 Filmauswahl dokumentiert unterschiedlichste
wohnheiten der meisten Leute von den on», «Milk», «A Single Man» – in der Film-               Perspektiven von Homosexualität und Queer:
                                                                                              etwa vom Mädchen, das lieber ein Junge wäre
Massenmedien, vom Privatfernsehen ge- welt scheinen Schwule besser vertreten zu
                                                                                              («Tomboy»), von der Unterdrückung schwuler
prägt.                                       sein als Lesben. Wie ist das Verhältnis zwi-     Männer in Ägypten («All my Life»), von einer
Niederer: Zudem sind wir als Homosexu- schen lesbischen und schwulen Filmen?                  indischen Filmemacherin, die nach elf Jahren
elle wirklich eine Minderheit. Diese Min- Leimgruber: Wir leben nach wie vor in               erstmals wieder in ihre Heimat zurückkehrt
derheit aufzurütteln und abzuholen ist einer von Männern definierten Gesell-                  («I AM») oder von Homosexualität in der Rap-
wahnsinnig schwierig. Denn wir haben schaft. Das zeigt sich auch darin, dass                  perszene («Off beat»). In je eigener Bildspra-
politisch schon viel erreicht, wir haben ei- Schwule gegenüber Lesben oft besser orga-        che drücken die insgesamt zwanzig Spiel- und
                                                                                              Dokumentarfilme einerseits aus, was eine ge-
nen extremen Schritt nach vorne gemacht. nisiert und vernetzt sind. Schliesslich zeigt
                                                                                              sellschaftliche Minderheit beschäftigt, werfen
Gleichzeitig muss ich sagen: Wir sind noch sich das auch in der Programmierung:               zugleich aber auch gesellschaftspolitische Fra-
nirgends. Die Lesben und Schwulen, die Christina hat etwas mehr Schwierigkeiten,              gen auf, die ebenso eine Mehrheit betreffen.
sich mit Cheminee, Beamer und Sofa ge- an die Filme für das lesbische Programm                Für Diskussionen steht täglich ab 18 Uhr die
mütlich zu Hause einrichten, sollte man zu kommen.                                            PinkBar offen. Am 5. November gibt zudem
unbedingt wach behalten für die Proble- Niederer: Peter kriegt die Filme für das              der renommierte Schwule Männerchor Zürich
me, die nach wie vor bestehen.               schwule Programm in den meisten Fällen           – bekannt unter dem Kürzel schmaz – im Süd-
                                                                                              pol ein Jubiläumskonzert.
                                             via Filmverleiher. In der lesbischen Film-
                                                                                              Programm im Kulturkalender (Seite 52)
Wie zeigt sich dies in eurer Programmie- szene hingegen muss man öfters auch di-
                                                                                              www.pinkpanorama.ch
rung?                                        rekt bei den Regisseurinnen anfragen. Vie-

                                                                  21
Buch m esse

Frischer Wind aus Nord-Süd
oder Begegnungen mit Abwesenden
MC Graeff schlendert über die Buchmesse Frankfurt,
findet weder Hot Spots noch geheime Ecken und schreibt
folglich abermals am Thema vorbei.

Vorab: Den anwesenden Luzerner Verlegern und AutorInnen geht              der Überzahl sein. Das muss die Autoren der Zukunft nicht son-
es gut, sie lassen grüssen, werden aber aus Platzgründen nicht            derlich ärgern, denn sie sind in diesen Modellen als Empfänger
weiter erwähnt.                                                           von Gegenwerten ihres Schaffens sowieso nicht mehr vorgese-
Das war es wieder: 7384 Aussteller aus 106 Ländern, 3200 Veran-           hen.
staltungen mit etwa 280'000 Besuchern … In Zeiten der Energie-                Messegeplauder am Würstchenstand 3: Die Ghostwriter erle-
sparlampen kein schlechter Auftrieb für Hotlist-Titel wie «Bleib,         ben beruflichen Aufschwung und dank allen Bohlens und zu
wie du bist», «Wie wir werden, was wir waren», «Wie wir endlich           Guttenbergs ein neues Selbstverständnis; es gibt inzwischen eine
werden könnten, was wir nie werden wollten», «Wie wir würden,             Berufsvertretung. Würstchenstand 4 ist bezüglich Skandalösitä-
was wir sollten, wenn wir müssten» und derlei mehr. Am Stand              ten ergiebiger: Die deutschen Buchhändlerschulen hätten das
von Philo Fine Arts finde ich meine Wunsch-Messemotti: «Die               Fach Literaturkunde abgeschafft, weil die grossen Handelsketten
Lust am Unseriösen» (sie fehlt inzwischen leider fast ganz …),            verstärkt auf Nonbook-Sortimente setzen werden. Leider wahr,
«Praktiken des Sehens im Felde der Macht» (… genau wie die ei-            genauso wie es unwahr ist, dass Migrosmitarbeiter demnächst li-
gentlich wohlverdiente Alters-Weitsicht als Ausgleich der media-          terarisch ausgebildet werden, nur weil (leider halbwahr) der Ge-
len Kurzsichtigkeit), «Immer radikal, niemals konsequent» (eine           müseverteiler demnächst den Schweizer Buchhandel übernimmt.
Dokumentation über den berüchtigten, stets konkursen MÄRZ-                    Ach ja, richtig, es geht um die Messe: alles in allem eher eine
Verlag) und «Derrida ist nicht zu Hause. Begegnungen mit Abwe-            Rückschau denn eine Zukunftsorientierung. Nostalgisches Bad in
senden». (Eben: Am stärksten definiert sich diese Messe durch all         der Machtlosigkeit der Inhaltserzeuger. Doch immer noch ein
die, welche nicht mehr dabei sind und all jene, die nächstes Mal          bunter, verlockender Supermarkt der teuren Träume, in den man
nicht mehr kommen wollen.) Und «Merve oder Was war Theo-                  sich – wie schon seit über 500 Jahren – mit letztem zusammenge-
rie?» – Solche Titel kann man heute nur noch mit einem starken            kratztem Taschengeld einzukaufen hofft. Doch mit Empathie,
Financier drucken lassen; den hat der Verlag. Doch es heisst, er          Sucht und Begeisterung, mit der Lust zu lesen hat das Ganze mo-
wolle das Projekt nun in die Gewinnzone bringen. Das ist bitter,          mentan nicht mehr viel zu tun. Ein Restcharme ist geblieben,
denn dann wird auch er bald abwesend sein.                                wenn die letzten Verlegerrocker sich einig sind, in ihren Stiefeln
    Auf dem Hof neben dem zweitgenutzten Audi-Pavillon der                sterben zu wollen.
IAA («Vorsprung durch Technik» wird zum Schicksalsspruch der                  Ein Tag später: «Der Berg liest». Nicht der Pilatus, sondern der
Literatur) übt die ultraorthodoxe Mangajugend Pornoposen fürs             «Ölberg», das grösste erhaltene Gründerzeitwohnviertel Europas
Multichanneling. In der wunderschönen Island-Halle saufen die             in Wuppertal, wo die Frühindustrialisierung das erste deutsche
Nordländer, bis die Lesebrillen beschlagen. Dazwischen schnat-            Proletariat bildete. Letzteres feiert heuer als Präkariat in der abge-
tert das Heer der Pinguine über die Elektronisierung des Lesens.          wirtschafteten 350'000-Seelen-Stadt Hochkonjunktur. Doch die
Nein, des Vertreibens, doch nicht der Zeit, sondern des Produkts.         langen Jahre der Korruption führen zu widerständigen Phänome-
Das «Börsenblatt des Deutschen Buchhandels» wildert im Werk               nen: Eines von mittlerweile vielen ist dieser lesende Ölberg, ein
von Tomas Tranströmer und klabustert den lyrischen Opener:                Tagesfestival mit 200 Lesungen im Quartier, in fast 100 Wohnun-
«Die Mutlosigkeit unterbricht ihren Lauf». Das bringt Zwischen-           gen, Läden, Imbissbuden, in allen Sprachen der Bewohner bis hin
wind fürs Weihnachtsgeschäft, in dem man noch einmal – das E-             zum Tamil, aus Lieblingsbüchern, Arztromanen, Selbstgeschrie-
Book nimmt durch Marktbesetzung mit Sackgassentechnologie                 benem, Klassischem von den «Brüdern Grimm» über Richard
rapide zu, aber die Massentendenz heisst: abwarten – ganz auf das         Brautigan bis, spät abends, zur «Marquise von O.». Social Media
P-Book setzen wird. Die Branche ist tot, es lebe die Branche. Es          paradox: Man trinkt auf den Strassen herum und berichtet einan-
gibt einen neuen E-Book-Literaturaward, und (das Erstaunen ist            der gerade Gehörtes, Bücher-Tauschkisten überall, Applaus aus
der Skandal) es haben sich sogar echte Autoren daran beteiligt.           vielen Fenstern, Kinderhorden ziehen marodierend zum nächs-
Die Formen haben den Inhalt längst besiegt; die Büchse macht              ten Jandl-Vortrag; kein Touchscreen, kein Prospekt, keinerlei Pro-
den Fisch, die Dose ist teurer als der Keks. Die Entwickler propa-        minenz, nur gelebter Anspruch auf gemeinsam initiiertes Kultur-
gieren das «Reading on demand»: Zahle nur für das, was du vom             erlebnis inmitten des Stigmas. Lustvoll, lehrreich, barrierefrei.
gekauften Buch wirklich gelesen hast. Im breiten Markt ist dieser         Eine Schocktherapie für den klagebedürftigen Berufspessimisten
Anteil bekanntlich nicht sehr hoch; die nur gekauften, aber unge-         neuester Frankfurter Schule, dem hier dann doch noch, uner-
lesenen und die lediglich angelesenen Werke werden immer in               wartet, eine durchaus prachtvolle Messe gelesen wird!

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