Der BerG ist kulisse pilatus kulm - neu inszeniert - null41
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Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO. 11 November 2011 CHF 7.50 www.null41.ch pilatus kulm – neu inszeniert der BerG ist kulisse
ANZEIGEN RECTANGLE AND SQUARE VON PICASSO BIS JUDD. ERWERBUNGEN DER RUPF - STIFTUNG 14.09.2011- 08.01.2012 Hodlerstrasse 8 – 12 CH-3000 Bern 7 www.kunstmuseumBern.CH di 10H – 21H mi-so 10H – 17H Gut, Gemein und sehr, sehr lustiG. der BuNd jodie kate 111006_Ins_Kulturpool_Rectangle_and_Square_92x139mm.indd christoph 1 . john c06.10.2011 11:21:00 FOSTER WINSLET WALTZ REILLY CARNAGE DER Gott DEs GEmEtzEls Nach dem erfolgsstück «der gott des gemetzels» voN YasmiNa reza Ein FiLM VOn RomAN PolANsKI AB 1. DEZEmBER Im BOURBAKI 2
edi tor i a l Ein Dorf, das längst keins mehr ist Eine weitere Etappe Luzern. Wer Christoph auf dem Weg zu einer Fellmanns Geschichte grösseren Stadt Luzern über Kriens und seine steht an. Krienser, Ad Eigenheiten liest, kann ligenswiler und Ebiko sich ausmalen, wie sei ner entscheiden Ende ne Stimmbürger am 27. dieses Monats, ob ihre November entscheiden Agglomerationsgemein werden (Seite 12). de weiter dabei ist beim Fusionsprojekt – Emmen folgt mit einer Volksabstim Immerhin: Wenns um den Pilatus geht, werden Krien mung im März 2012. Es sind noch keine definitiven ser und Luzerner eins. Die Architekten Niklaus Gra Voten über einen Zusammenschluss, lediglich über ber und Christoph Steiger (auf dem Cover) entwarfen die Ausarbeitung eines Fusionsvertrags. Trotzdem die zeitgemässe und gelungene neue Panoramagale werden handfesten Vorteilen wie Steuersenkungen rie zwischen den schroffen Felsen des Berges. Damit die üblichen diffusen Verlustängste entgegengesetzt. machen sie einen Besuch auf dem Pilatus wieder loh Besonders Kriens, dessen Gemeinderat den Stimm nenswert. Der Architekturfotograf Dominique Marc bürgern einen Ausstieg aus dem Fusionsprojekt Wehrli hat für uns das Bauwerk in Szene gesetzt, empfiehlt, hat seinen dörflichen Charakter über die Thomas Stadelmann hat sich mit den Architekten Jahrzehnte gehegt und gepflegt wie keine andere unterhalten (Seite 6). Vorstadtgemeinde. Es soll sich nichts ändern, die Ge Die Aussicht auf dem Bild oben ist nicht jene vom meinde funktioniert, bietet ein gutes Angebot an Kul Pilatus, sondern die vom Gemsstock. Was es damit tur oder Sport und zahlreiche Bräuche und Vereine auf sich hat, lesen Sie ab Seite 10. zementieren die Dorfgemeinschaft. Überspitzt kann Bild Gemsstock: Franca Pedrazzetti/zvg man von einem «Krienser Separatismus» sprechen, schliesslich setzte sich das Dorf schon mehrfach er folgreich der Obrigkeit von Stadt und Kanton ent gegen, sei es bei einer Überbauung beim Krienser Jonas Wydler Schlössli oder bei den Siegen gegen den grossen FC wydler@kulturmagazin.ch 3
schön gesagt «Der Gemsstock könnte, ja müsste das Herzstück des alpinen Erlebnistrips der neuen Andermatter Gäste sein. Doch der Panoramablick von dort oben spielt in Samih Sawiris Ausbauplänen keine Rolle.» thomas bolli, Seite 10 au fgelist et gu t en tag Das Bundesamt für Kultur gab im Ok- Guten Tag, stadt luzern dem gleichen Problem wie Kulturbetriebe: tober die Liste der lebendigen Traditi- Du nimmst dich endlich der Probleme Sie stören die Anwohner – und haben im onen heraus. rund um die Strassenprostitution an. Und Stadtzentrum nichts mehr zu suchen. Wir Hier unsere Top 20 (alphabetisch). sorgst dich einmal mehr um das Wohl dei- warten auf das erste Prostitutions- und Al- ner Einwohnerschaft. Und ihrer Freier! ternativkulturquartier auf dem Littauer 1. Älplerchilbi Denn: Neben vielen Massnahmen, die jetzt Boden! 2. Bochselnacht durchgeführt werden, hast du auch ein so- Freier in der Meinung: 3. Chienbäse genanntes Laufhaus sowie Verrichtungs- 041 – Das Kulturmagazin 4. Chröpfelimeh boxen geprüft, jedoch wieder verworfen. 5. Eierleset «Ein Laufhaus bietet den Freiern nicht die 6. Fekker-Chilbi gleiche Anonymität wie der Strassen- 7. Gansabhauet strich», heisst es in der Mitteilung. Die An- Guten Tag, Arno Renggli 8. Hallauer Herbstsonntage onymität der Freier als oberstes Gebot! Du bist Leiter des Ressorts Gesellschaft 9. Hürnen und Mazza Cula Die wenig einfallsreichen Sofortmassnah- und Kultur der «Neuen Luzerner Zeitung» 10. Nünichlinger men gegen den Strich heissen: punktuelle und Mitglied der Chefredaktion. Aber 11. Pfingstblütter nächtliche Strassensperren und häufigere auch als passionierter Musical-Aktivist Reinigung derselben. Dadurch werde fällst du uns immer wieder auf. Vor allem 12. Pschuuri in Splügen «Einfluss auf die Standorte der Sexarbei- aber sticht die Berichterstattung über die 13. Rabadàn terinnen genommen». (Sexarbeiterin, was Produktionen, an denen du als musikali- 14. Scheibenschlagen für ein Wort – wir sind doch hier nicht im scher Leiter beteiligt bist, ins Auge. 15. Stäcklibuebe Ameisenhaufen!) Langfristig soll dann die Während andere Kulturschaffende froh 16. Töfflitreff Hauenstein Prostitution noch weiter eingedämmt res- sind, wenn die Monopolzeitung NLZ einen 17. Les Tschäggäggtä au Löschental pektive verdrängt werden: keine Prostitu- einzigen Bericht über ihre Veranstaltung 18. Wildheuen tion mehr in der Nähe von Wohnhäusern bringt, durftest du dich allein für deine ak- 19. Woldmanndli und ÖV-Haltestellen, bei öffentlichen An- tuelle Produktion «Hair» im Krienser Le 20. Zibelemärit lagen, Kirchen, Schulen, Sportanlagen Théâtre über sieben (!) redaktionelle Bei- und Altersheimen. Nun, reine Industriezo- träge freuen (bei Druck dieses Hefts). nen werden in der Stadt immer seltener, Herzlich gratuliert: und so stehen Sexarbeiterinnen bald vor 041 – Das Kulturmagazin ANZEIGE Die Abteilung Kultur und Sport der Stadt Luzern ist zuständig für die Umsetzung der sport- und kulturpolitischen Vorgaben und die laufende Weiterentwicklung der entsprechenden Grundlagen der Stadt Luzern. Wir verstehen uns als Drehscheibe zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen in Kultur und Sport sowie der Verwaltung. Wir suchen für unser motiviertes Team per 1. April 2012 oder nach Vereinbarung einen/eine Mitarbeiter/in Kultur und Sport Pensum 50% Gerne stellen wir Ihnen diese interessante Stelle auf unserer Homepage detailliert vor: www.stellen.stadtluzern.ch 4
Inhalt 6 15wohnen und arbeiten Wie sich die Stadt die Zukunft der Industriestrasse vorstellt 16 widerstand nützt Ein neues Modell für ein Miteinander von Wohnen und Kultur in der Stadt? 19 unprätentiöses handwerk Schneidern in Luzern 22 graeff in frankfurt Das Neuste von der Buchmesse ... 12 deal or no deal KOLUMNEN 23 Georg Anderhubs Hingeschaut Kriens vor dem Fusionsentscheid 24 Hingehört: Dany Schnyder 25 Olla Podrida! 26 Nielsen/Notter 27 Unterm Messer 83 Vermutungen SERVICE 28 Bau. Venedig oder Sursee? 29 Kunst. Wie modern darf Moderne sein? 33 Wort. The Adventures of German-Kid 36 Kino. In der Sauna sind sie alle gleich 39 Musik. Der Komponist Fritz Brun 43 Bühne. Porträt: Hajo Tuschy und Juliane Lang 47 Kids. Im Wald 48 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz KULTURKALENDER 49–73 Veranstaltungen 75–79 Ausstellungen Titelbild: Dominique Marc Wehrli 20 10 jahre pinkpanorama Das schwullesbische Festival PROGRAMME DER KULTURHÄUSER 54 Südpol / Treibhaus Bilder: Georg Anderhub/Daniela Kienzler 56 LSO / Luzerner Theater 58 HSLU Musik / Romerohaus 60 Théâtre la Fourmi / Zwischenbühne Horw 62 ACT / Kleintheater Luzern 64 Chäslager Stans / Stadtmühle Willisau 66 ACT 68 Kulturlandschaft 70 Stattkino 74 Kunstmuseum Luzern / Museum im Bellpark 76 Natur-Museum Luzern / Historisches Museum 5
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HÖHENWEG «Es ist an uns, zu bestimmen, was gute Architektur ist», so die beiden Architekten, die auf dem Pilatus die neue Panoramagalerie gebaut haben. Mehr dazu haben Graber tion anzugehören, die in der speziellen Aufgabe und im Ort die Herausforderung sucht, es aber dennoch wagt, im Entwurf und beim Bau eigenen Interessen und Ideen Panoramagalerie auf dem Pilatus, 2011 und Steiger im Gespräch mit dem Büro für Stadtfragen Ausdruck zu geben. Niklaus Graber & Christoph Steiger Architekten, Luzern erklärt. Und: Was es bedeutet, einer Architektengenera- Die Panoramagalerie auf dem Pilatus ist eine gelungene Zu den Personen Geboren in Luzern, aufgewachsen in Kriens und Meggen, Matura am Luzerner Alpenquai, beide mit Jahrgang 1968: Gebaut haben sie öffentliche und private Gebäude, in der Stadt Luzern allerdings noch nie. Ihre weitherum beachteten Niklaus Graber und Christoph 8 Steiger (Titelbild) haben Werke stehen u. a. in Buttikon, Wollerau, Hagendorn und 1995, nach Studien an der ETH Zürich und an der Colum- Altdorf: eine Schulanlage, ein Gemeindehaus, eine Fenster- bia University NY, in Luzern ihr Architekturbüro gegründet. fabrik, ein Therapiegebäude.
Gratwanderung zwischen den Hotels Kulm und Bellevue, Räume und Aus- und Einsichten kommen in Bewegung. Architektur haben wir bei Hans Kollhoff in Berlin gelernt, neben schroffen Felsen und direkt auf einem noch Dass Graber und Steiger die Handlungsanleitung für eine die architektonische Welt der Wunder haben uns Jacques intakten Armeegebäude. Die neue Halle und das Son- zeitgemässe Tourismusarchitektur trotz der angenomme- Herzog und Pierre de Meuron eröffnet.» Weil sie beides nendeck verbinden, ermöglichen Anschluss und kragen nen neun Meter Schneelast mit Lust und einer gewissen vereint, wirkt die Panoramagalerie gleichzeitig solid und an gewissen Stellen schwindelerregend aus: Menschen, Leichtigkeit umsetzen können, ist kein Zufall: «Das Metier grosszügig. Der Architekturfotograf Dominique Marc Wehrli hat die Text Thomas Stadelmann, Bilder Dominique Marc Wehrli architektonische Gratwanderung auf dem Pilatus mit Zeitraffer-Filmstills ins Bild gesetzt. Dabei wurde die 9 Christoph Steiger unter: Interview mit Niklaus Graber und Kamera in fünf Zentimeter grossen Schritten durch und www.stadtfragen.ch über die Panoramagalerie geführt.
i nszen i ert e Berge Zur frohen Aussicht Auf den Innerschweizer Gipfeln wird gebaut, als ob die Welt neu zu erschaffen wäre. Ausgerechnet der Gemsstock scheint den Investoren nicht geheuer zu sein. Alles frisch auf dem Pilatus: Die grosse Terrasse Über Generationen hinweg wirkten die Berge ausschliesslich wurde mit einer gedeckten Galerie unterfüttert bedrohlich und abweisend. Sie waren Gelände, das gemieden sein und die zwei Hotels hat man umfassend saniert. wollte. Erst das 18. Jahrhundert hat die Berge als lohnendes Ziel Nun lässt sich flotter flanieren, ästhetisch organi- und Ort der ausserordentlichen Gefühle entdeckt. Mit dem auf- siert in die Weite schauen und eleganter schlafen. Auf dem kommenden Alpinismus und dem Erlebnistourismus im 19. Jahr- Stanserhorn dreht sich das Restaurant seit ein paar Jahren um hundert stieg die Aussicht zum erhabenen Moment auf. Seither 360 Grad und serviert dem Gast ein Breitleinwandspektakel; lässt sie sich kommerziell nutzen. Die Innerschweiz hat sich in demnächst kann er überdies in einer Cabriobahn zum Gipfelgrat diesem Markt früh eingenistet, exemplarisch auf dem Bürgen- schweben. Am Titlis sorgt die Karussellkabine schon bei der stock. Dort stehen die Hotels spektakulär über den Felswänden, Bergfahrt für den Rundblick. Oben pendeln die Besucher über der Weg zum Hammetschwandlift verlängert das süsse Schau- den Gletscher oder wählen zwischen diversen Restaurants. Auf dern ostwärts. Ähnliches gilt für die Rigi: Die Ausblicke wurden allen drei Gipfeln herrscht Panoramasicht. von Tolstoj gelobt, die Sonnenaufgänge von Mark Twain geadelt. Sowohl auf der Rigi als auch auf dem Bürgenstock soll die Tradi- Tourismus ist Industrie tion mit viel Investorengeld erneuert werden. Luxus inmitten Vor 100 Jahren sah der Mensch von dort oben das- halb gezähmter Natur scheint gefragt. selbe. Im Prinzip zumindest, denn die Gletscher leuchten winziger und die Täler sind überstellter. Aussicht ist – wie gesagt – auf unzähligen Gipfeln zu Neben Pilatus, Stanserhorn und Titlis gibt es unzählige weitere haben. Wer sie nicht inszeniert, verdient nichts. Wer Gipfel in der Innerschweiz. Ausblicke bietet jeder von ihnen. Wer sie nicht erneuert, bleibt nicht unübertrefflich. Das oben steht, erlebt das unmittelbar und authentisch. Erleben ist aber braucht es, um dem Aufregungsbedürfnis der eine existenzielle Kategorie. Pilatus, Stanserhorn und Titlis sind Menschen zu gefallen. Am kräftigsten investiert wird in den In- touristisch genutzte Berge. Tourismus ist eine wirtschaftliche Ka- nerschweizer Bergen zurzeit in Andermatt. Doch was geht am tegorie. Er inszeniert den Berg und simuliert die Aussicht als ein- Gemsstock, diesem Berg, der grandios aus dem Gotthardmassiv zigartige und unübertreffliche. So ergibt ein Gipfel Sinn im Ver- ragt, mit einer Seilbahn erschlossen ist und die perfekte Rund- kaufsprospekt, so bringt er etwas ein. sicht über die Zentralalpen ermöglicht? Heute findet die Aus- sichtsplattform nur, wer sich im Gebäude der Bergstation ganz nach oben verirrt. Es steht funktional kahl auf dem Grat, kein Kaffee, kein Kiosk, kein Restaurant, kein WC, nichts. 10
i nszen i ert e Berge Der Gemsstock bröckelt Die Touristiker in Andermatt inszenieren also den Der Gemsstock könnte, ja müsste das Herzstück des Berg light: Die Bühne ist zwar wild, aber nicht allzu alpinen Erlebnistrips der neuen Andermatter Gäste sehr, das Spektakel scheint gross, aber es ist gedämpft. sein. Doch der Panoramablick von dort oben spielt in Das geplante «alpine Erlebniszentrum» will ohne den Samih Sawiris Ausbauplänen keine Rolle. Sachliche Gründe genialen Panoramablick auskommen, den man gegenüber und sprächen dagegen, sagt Franz Steinegger, der den Verwaltungsrat auf anderen Touristenbergen in der Innerschweiz hat. Die Rund- der Andermatt Gemsstock Sportbahnen präsidiert und den Berg sicht als solche, bei der man von oben ins erstarrte Meer der Al- wie seinen Hosensack kennt. penfaltung schaut, dem Himmel näher steigt und sich die Natur theatralisch zu Leibe rücken lässt, ist eine kulturhistorische Er- Nun, der Permafrost lässt den Gemsstock bröckeln, was auf- rungenschaft. Sie hat in Andermatt wirtschaftlich besser nutzba- wendige Injektionen in den Fels erforderte. Der Grat verläuft aus- re Konkurrenz: Golfplatz im Sommer, geglättete Pisten im Win- gesprochen schmal, die Pfade, die hinunterführen, sind an- ter, Erlebnisbad, luxuriöse Appartements, Shopping-Strasse usw. spruchsvoll stotzig. Auf dem Gemsstock gibt es bis heute weder Der Berg ist Kulisse. Wasser noch Energie. Ursprünglich, sagt Franz Steinegger, hätten die Pioniere aber durchaus die Idee gehabt, den Gemsstock als Thomas Bolli Sommerausflugsberg mit optimaler Rundsicht zu konzipieren. Nun sei er aber vor allem ein Skiberg. Samih Sawiris zieht also den softeren Nätschen vor. Dieser Bergrücken auf der Nordostseite von Ander- matt taugt im Sommer und im Winter. Er verspricht mehr Sonne und leichter abrutschbare Hänge. Hier wandern auch Ungeübte locker, es braucht keine Steigeisen und keine Karten, die Biker können rauf und runter, was die schrof- fen Felsen am Gemsstock nicht erlauben. Zudem lässt sich auf dem Nätschen das Skigebiet mit den Sedruner Anlagen verknüp- fen. Das ist rein ökonomisch gedacht. 11
Glückliches Kriens: Die Menschen leben im Einklang mit sich und dem Ort. 12
Kr i ens Deal or No Deal Noch in diesem Monat treffen Kriens, Adligenswil und Ebikon einen Vorentscheid, ob sie mit der Stadt Luzern fusionieren möchten. Der Widerstand ist gross, oder: Warum Kriens nicht Littau ist. Von Christoph Fellmann; Bilder Daniela Kienzler Die Krienser wollten nach Luzern, und deutlicher hätten sie das als Schlafstadt nutzt und die schon lange keine Stadtgrenze mehr nicht ausdrücken können. 1267 von ihnen stimmten für die Fusi- wahrnimmt: Stimmt sie für die Fusion? Oder ist ihr das Thema so on mit der Zentrumsstadt, 253 dagegen. Es war der 25. März 1934, egal, dass sie gar nicht an die Urne geht? mitten in der Krise. Die Industrie in Kriens kämpfte gegen die So oder so: Im Vergleich zu ihren Nachbarn in Littau, das Pleite, die Patrons senkten die Löhne und entliessen Hunderte von 2009 mit Luzern fusioniert hat, stehen die Krienser einem Zu- Leuten. Die Gemeinde hatte kein Geld und keine Reserven. Aber sammenschluss skeptischer gegenüber. Und das ist auf den ersten nicht nur sie. Auch der Stadt Luzern ging es nicht gut, fünf Jahre Blick doch erstaunlich, schliesslich ähnelt kein Vorort der Stadt nach dem Börsenkrach von 1929. Sie war darum nicht scharf dar- Luzern so sehr wie Kriens. Die zwei Gemeinden haben einen auf, den tief in den roten Zahlen steckenden Vorort einzugemein- ähnlichen Bevölkerungsmix und eine ähnliche politische Ge- den. Also murmelte sie etwas von wegen Verhandlungen und be- schichte. Und Kriens und Luzern teilen sich sogar die Naherho- stellte zunächst einmal ein Gutachten. Als dieses Jahre später lungsgebiete auf dem Sonnenberg und am Pilatus. Warum also eintraf, war der Anlass dafür schon fast vergessen. Die Krise war tun sich die Krienser so schwer mit dem Gedanken, zur Stadt zu vorbei. Nach dem Krieg putzte sich die Stadt wieder für die Touris- gehören? Der Blick in die Geschichte liefert eine erste Antwort, ten heraus und suchte nach geeigneten Randlagen für die Indust- formuliert von Hilar Stadler, dem Leiter des Museums im Bell- rie. Aber am 28. März 1946 wiesen die Gemeinderäte aller Voror- park in Kriens: «Will eine Stadt einen Vorort eingemeinden, muss te, auch von Kriens, an einer Aussprache die Idee einer Einge- dort die Not gross sein. Oder aber sie bietet einen Deal an, der gut meindung weit von sich. ist und die Leute überzeugt.» Warum tut sich Kriens so schwer? Autark und bürgernah 65 Jahre später ist es wieder die Stadt Luzern, die Kriens – zu- In Littau war beides gegeben. Der am dichtesten besiedelte Ort sammen mit Emmen, Ebikon und Adligenswil – eingemeinden des Kantons hatte grosse finanzielle und etwas kleinere soziale möchte. Am 27. November stimmen die Luzerner und die Krien- Probleme. Die Steuern waren hoch und die Aussicht auf den ser ab, ob ein Fusionsvertrag ausgehandelt werden soll. Die Politik niedrigeren Luzerner Steuersatz war den Littauern offenbar Deal in Kriens hat schon mal Nein gesagt: Der Gemeinderat und das genug. Ganz anders ennet dem Renggloch: Kriens ist nicht in Not. Parlament möchten das Fusionsprojekt abbrechen. Was die Im Gegenteil, wen immer man fragt beschreibt die Gemeinde als Stimmbevölkerung betrifft, waren 50,6 Prozent von ihnen in ei- autark und funktionstüchtig, als fortschrittlich und bürgernah ner früheren Abstimmung dafür, eine Fusion zumindest zu prü- und also auch als selbstbewusst. Mit anderen Worten: Der Steuer- fen. Jetzt, da es langsam ans Eingemachte geht, ist diese Mehrheit fuss ist zwar auch in Kriens höher als in Luzern, aber trotzdem höchst gefährdet. leuchtet der Deal einer Fusion nicht auf Anhieb ein. Die gewich- Entscheidend wird wohl sein, wie sich die unbekannte Masse tigen, aber auch abstrakten Argumente der Befürworter haben es von Krienserinnen und Kriensern verhält, die ihre Gemeinde nur da schwer: die klügere Raumplanung, die in der Region möglich 13
kr i ens würde, oder die demokratische Mitsprache für alle in einem fand 1963 statt: Es war der Marsch vors kantonale Regierungsge- Grossraum, in dem sich die Stadtluzerner wie die Agglos längst bäude, in dem über 2000 Krienser erfolgreich gegen die drohende geschmeidig und grenzenlos bewegen. Überbauung der Wiese unterhalb des Krienser Schlösslis demons- trierten. Vollständige Gemeinde mit Spitzenleistungen Der Historiker Jürg Stadelmann bezeichnet diesen Marsch als Solche Argumente gleichen Wolkenschiebereien in einem «Gründungsakt des heutigen Krienser Selbstverständnisses». Und Land, das Freiheit und Identität von unten her definiert. Wer der Schriftsteller Heinz Stalder, 1967 nach Kriens gezogen, er- durch die Wohnquartiere von Kriens streift, kann sehen, dass die zählt, wie «den Kriensern heute noch die Tränen kommen, wenn Menschen hier im Einklang mit sich leben und mit dem Ort, in sie von der Schlössli-Demo erzählen. Wie sie nach Luzern mar- dem sie wohnen: Jedes Haus, jeder Garten ist, ganz anders als in schiert sind und wie sie später an einem Bazar ihre Bastelarbeiten Littau oder Emmen, zurechtgemacht und herausgeputzt. Offen- verkauft haben, um mit dem Erlös die Möblierung des Schlösslis bar gibt es in Kriens eine grosse Identifikation mit dem Terrain, zu finanzieren.» Es war nicht das letzte Mal, dass Kriens gegen das man besiedelt, auch wenn man auf diesem Terrain vor allem Stadt und Kanton Luzern kämpfte, denen man in Kriens noch schläft. Und das stimmt ja nicht einmal: Kriens macht gute Ange- heute gelegentlich wie einer Obrigkeit und also mit dem entspre- bote, notabene für die ganze Region – in der Kultur (Museum im chenden Abgrenzungsbedarf begegnet. In den 80er-Jahren war es Bellpark) ebenso wie im Sport (Schwimmbad, SC Kriens). Auch der Kampf gegen eine vom Kanton geplante Hochleistungsstrasse dies unterscheidet diese Gemeinde von Littau, Emmen oder Ebi- durch das Krienser Tal, der den Widerstand mobilisierte. In den kon. Kriens besteht als vollständige Gemeinde, und über Spitzen- späten 90ern jubelte man über die glorreichen Siege des SC Kriens leistungen in der Industrie, in der Kultur oder im Sport macht sie über den FC Luzern in der obersten Schweizer Fussballliga. immer wieder Angebote zur Identifikation. Man ist ausser sich, wenn der lokale Fussballclub den FC Luzern besiegt. Und man ist Vereine, Zunft und Kleingewerbe überzeugt, den originelleren Fasnachtsumzug zu stellen als die Mit dem separatistischen Erbe spielen die Krienser Gegner der Luzerner Grinden. Fusion heute raffiniert. Kein Wunder, ist ihr Anführer doch jener Alexander Wili, Rechtsanwalt und Erzfreisinniger, der 1963 schon Im Unterschied zu anderen Gemeinden der Agglomeration hat die Schlössli-Demo organisiert hatte. Ihm folgt getreu der typische sich Kriens im Zuge der Verstädterung einige Rituale und Symbo- Krienser Dorfersatz aus Vereinen, Zunft und Kleingewerbe. Der le erhalten, die noch heute für die Dorfgemeinschaft stehen, die rekrutiert sich zwar vor allem aus der FDP und neuerdings auch Kriens längst nicht mehr ist. Es waren ja gerade die Zuzüger der aus der SVP, ist aber doch überparteilich und damit jederzeit als ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Kriens zur Hochburg von «Bürgerinitiative» mobilisierbar. Zum Beispiel gegen das Verbot Brauchtum und Folklore machten und zu einer Gemeinde von der Krienser Fasnacht, gegen die Überbauung der Wiese unter- enormer Vereinsdichte. Diese Vereine, aber auch die Gallizunft halb des Schlösslis oder sogar des gesamten Sonnenbergs – alles funktionieren bis heute als «Kriensermacher» und damit auch als Dinge, welche die Stadt Luzern nach einer Fusion angeblich im Integrationsforen für Zugewanderte. Der freisinnige Krienser Ge- Schilde führt. «Als bodenständiger Krienser», so Alexander Wili, meindepräsident Otto Schnyder hatte 1970 gewarnt vor der Ano- «ist man gegen eine Fusion.» nymität in einer Vorstadt, die damals damit rechnete, bald 50'000 Gut möglich, dass dieser Rückgriff auf den «Krienser Separa- Einwohner zu haben. Er rief die Bevölkerung auf, auf die neuen tismus» am 27. November verfängt. Zumal, wie gesagt, viele Kri- Mitbürger zuzugehen, denn: «Damit hat die Einpassung bereits enser die Vorteile eines Fusionsdeals nicht recht sehen. Fast begonnen. Mit Takt und dem nötigen Gefühl für das Mass kann scheint es, dass nur die aktuelle Schieflage im Krienser Finanz- sie weitergeführt und vollendet werden. Damit ist wieder ein haushalt den Befürwortern einer Fusion helfen kann. Was für ei- Mensch der Anonymität entzogen worden.» ne Ironie: Hat diese Not ihren Ursprung doch in der Steuersen- kungspolitik ausgerechnet der FDP und SVP, der vehementesten Krienser Sepatarismus Fusionsgegner. Man kann heute über solche Worte lachen, aber man muss auch konstatieren: In Kriens hat die Integration weitgehend funktioniert. Das heisst aber auch: Um sich im Zuge der Verstäd- Abstimmung in Kriens, Emmen, Ebikon und Adligenswil cf. Nach der Fusion von Luzern und Littau sollen weitere Agglomerati- terung nicht zu verlieren, begann Kriens wie keine andere Ge- onsgemeinden zur Stadt Luzern stossen: In Kriens, Ebikon und Luzern meinde rund um Luzern, das Eigene, oder, wenn man so will: das wird am 27. November über die Ausarbeitung eines Fusionsvertrags abge- Dörfliche zu betonen. Diese Dörflichkeit existiert abgekoppelt stimmt. In Adligenswil entscheidet die Gemeindeversammlung am 29. No- von der suburbanen Lebensrealität der Krienser, ist darum aber vember. In Emmen findet die Urnenabstimmung erst im März 2012 statt, nicht weniger wirksam, wenn es darum geht, Eigenheit zu mar- hier als Reaktion auf eine Volksinitiative (das lokale Parlament hatte das kieren. Hilar Stadler spricht von einem «Krienser Separatismus», Fusionsprojekt zuvor gestoppt). Die Gemeinderäte von Emmen und Ebikon der sich gut erhalten habe und der sich nicht nur im Spiel auf der empfehlen den Stimmberechtigten ein Ja, die Exekutiven von Kriens und Adligenswil dagegen machen sich für den Ausstieg ihrer Gemeinden aus Halszither und im Fasnachtstreiben zeige, sondern gelegentlich dem Fusionsprojekt stark. Über allfällige Fusionen wird erst dann definitiv auch in spektakulären politischen Aktionen, in denen man sich entschieden, wenn die Fusionsverträge vorliegen. von der Stadt und vom Kanton Luzern absetzt. Die spektakulärste 14
Fr eir aum Industriewohnen und Geld in die Kasse An der Industriestrasse soll der neue Stadtteil Steghof seinen Anfang nehmen – das Projekt ist erkoren. Wär flott, wenn darin auch bezahlbarer Platz für den schwindenden Kulturraum gefunden würde. Von Tino Küng gerprojekt «Urban Industries» fasst mit drei L-förmi- gen Baukörpern einen Innenhof ein, der durch meh- rere verschiebbare Bäume in «Eisenbahntrögen» auf Schienen geprägt wird – als Reverenz an das Geleisela- ger der Eisenhandlung Stocker, die urzeitig diesen Platz nutzte. Ebenso erinnern die Sheddächer an alte Industriearchitektur und ermöglichen zugleich den optimalen Einsatz von Fotovoltaik-Panels. Das gesamtschweizerische Interesse an diesen in- nerstädtischen Parzellen war gross: 25 hochwertige Projekte gingen ein. Überblickt man sämtliche Wett- bewerbseingaben, kann man der Jury Respekt zollen – mit den sieben rangierten Projekten und dem daraus erkorenen Sieger hat sie ihre Arbeit gut gemacht. Die toprangierten Eingaben passen mit guten städtebauli- chen Lösungen und stimmiger Architektursprache ins Durchmischung von Wohnen und Arbeiten – das Siegerprojekt «Urban Industries». Visualisierung: zvg Quartier; mondäne Grossstadtprojekte und beliebige Lösungen, die überall auf einer gleich grossen Fläche Neben dem Grossgebiet Luzern Nord, einer zukünftigen Stadter- stehen könnten, blieben aussen vor. Leider auch die drei Einga- weiterung über den Seetalplatz, ist der Stadtteil zwischen Hallen- ben, die das alte Käselager an der Ecke Industrie-/Unterlachen- bad und Geissensteinring wohl das grösste innerstädtische Ge- strasse stehen lassen wollten (als Option in der Wettbewerbsaus- biet, wo in kommenden Jahrzehnten eine starke Entwicklung schreibung) – da wären halt doch zu viele Kompromisse nötig möglich ist. Die früheren Entwicklungsschwerpunkte heissen gewesen, sodass die Gesamtlösung darunter litt. heute Schlüsselareale, zu denen auch der Steghof gehört. In die- sem Gebiet wird in verschiedenen Etappen unabhängig vonein- 2013 passierts! ander eine Überbauung realisiert. Das Baufeld an der Industrie- Und wenn schon leider: Wenn die Stadt im nächsten Jahr das strasse gehört der Stadt, deshalb soll hier der Startschuss für den Areal für 18,7 Millionen Franken (das beste Angebot) verkauft, neuen Stadtteil Steghof fallen. können nach der Baueingabe 2013 die Bauarbeiten beginnen. Der Stadtrat lancierte vergangenen Februar einen Wettbewerb Spätestens dann werden auch die alten Häuser an der Industrie- für Architekten und Investoren. Für eine gute Durchmischung strasse mit ihrem kreativen Innenleben verschwinden. Nicht in von Wohnen und Arbeiten wurde neben Mietwohnungen auch den Dimensionen von Frigorex und La Fourmi – aber einmal ein Anteil an Dienstleistungs- und Gewerbeflächen vorgegeben. mehr. Weil, so Baudirektor Kurt Bieder, in den nächsten Jahren vor al- Ironischerweise berichtete just nach der Medienorientierung lem in der Nachhaltigkeitsdimension Wirtschaft Nachholbedarf zum Wettbewerb Industriestrasse der «Tages-Anzeiger» vor ei- bestehe und nirgends grössere Arbeitsplatzflächen bestünden, nem Monat über Zürichs Umgang mit den Kreativen. Unter dem sollte zudem für die Ansiedlung von grösseren Firmen eine zu- Titel «Das Basislager zieht neben Sexboxen und Asylunterkunft sammenhängende Fläche von 4000 bis 5000 Quadratmetern er- ein» war zu vernehmen, dass der Zürcher Stadtrat das Container- stellt oder zumindest baureif gemacht werden. dorf für Kreative (an der Binz) kaufen und nach Altstetten verle- gen will. Zugegeben: Luzern ist nicht Zürich. Aber scheinbar sind Eisenbahnbäume im Innenhof in beiden Städten die Möglichkeiten von Fluchten in andere zahl- Ein Bieterteam aus der Allreal Generalunternehmung Zürich, bare Objekte am Versiegen und neue Lösungsansätze anzuden- den Rüssli Architekten Luzern und Robert Gissinger, Land- ken – denn ohne Kreativboden vermag auch die Nachhaltigkeits- schaftsarchitekt Luzern, hat den Wettbewerb gewonnen. Ihr Sie- dimension Wirtschaft nicht in voller Blüte aufzuspriessen. 15
Fr eir aum Vielleicht haben Emmi, Theaterpavillon und die Stadt Luzern für ein weniger konfliktträchtiges Kulturleben in der Innenstadt ein gangbares Modell erfunden. Vielleicht. Widerstand nützt Man rieb sich die Augen: Hatte die Stadt Luzern gar nichts aus Für den Fall, dass es trotzdem zu Reklamationen kommt, wird ei- dem Boa-Debakel gelernt? Da plante Emmi – im Einverständnis ne Schlichtungsstelle eingerichtet. Sollte auch dann keine Eini- mit der Stadt Luzern – in unmittelbarer Nachbarschaft des Thea- gung erzielt werden, kann ein Gremium mit je einem Vertreter der terpavillons und des Treibhauses zwei neue Geschäfts- und Wohn- Stadt, der Spielleute und der Stockwerkeigentümerschaft Lärm- häuser, und alle Involvierten sprachen bla, bla, bla, das geht dann schutzmassnahmen bei den beiden Betrieben veranlassen. Deren schon gut. Dabei musste die Boa exakt aus diesem lärmtechnisch Kosten werden auf maximal eine halbe Million Franken ge- heiklen Nebeneinander von Eigentumswohnungen und Kulturbe- schätzt, die von Stadt und Stockwerkeigentümerschaft je hälftig trieb den Kürzeren ziehen. Das Debakel war auch an der Theater- getragen würden. Aufgrund dieser Vereinbarungen haben die Lu- Treibhaus-Meile vorprogrammiert. Während die Frage erlaubt zerner Spielleute ihre Einsprache zurückgezogen und auch die an- war, wie weit Stadträte vernetzt denken können, reichten die Lu- dern Einsprecher dahingehend bewegt, dies zu tun. So konnte der zerner Spielleute (Theaterpavillon) – neben andern – eine Be- Stadtrat am 28. September das Baugesuch von Emmi bewilligen. schwerde ein. Zum Glück. Ende gut – alles gut? Das wird sich spätestens im Ernstfall weisen. Denn jetzt scheint alles gut. Aufgrund des Drucks haben sich die Papier ist Papier, aber die Absicht ist hehr und das Resultat viel- beteiligten Parteien an einen Tisch gesetzt und eine Lösung ausge- versprechend. Die gemeinsam am runden Tisch erarbeitete Verein- handelt, um potenzielle Konflikte zwischen den ungleichen Nach- barung darf als bemerkenswert und als dienlich für ein gutes barn – hier Bedürfnis nach Ruhe, dort Bedürfnis nach Lust und künftiges Nebeneinander bezeichnet werden. Die Stadt und Emmi Leben – möglichst zu vermeiden. In einer Vereinbarung und ei- geben zum Ausdruck, dass in der Stadt auch gelebt und gefeiert nem Dienstbarkeitsvertrag wird festgehalten, dass Personen, die in werden kann, während sich die Kulturhäuser bemühen, dass die der neuen Überbauung wohnen oder arbeiten werden, Lärmim- Emissionen von ihrer Seite in Grenzen gehalten werden. Es wäre missionen des Treibhauses und des Theaterpavillons zu dulden ein möglicher Weg, um dereinst auch eine Frigorex als Kultur- haben, wenn diese die gesetzlichen Vorgaben nicht überschreiten. raum im urbanen Umfeld zu behalten und akzeptabel zu machen. Diese Duldungspflicht wird sogar im Grundbuch eingetragen. Dafür fehlt nur noch der Wille der Stadt, dies bei Jost Schumacher Auch muss Emmi mit baulichen Massnahmen dafür sorgen, dass mit aller Hartnäckigkeit und Diplomatie anzumelden. mögliche Konflikte minimiert werden. Umgekehrt verpflichten sich der Theaterpavillon und das Treibhaus, Ruhe und Ordnung Pirmin Bossart einzuhalten. Darin werden sie auch von der Stadt unterstützt. ANZEIGE 16
Fr eir aum «Wir machen Ungenutztes nutzbar» Ein klärendes Gespräch rund um kulturellen Freiraum mit zwei Exponenten der Aktivistenszene. Von Pirmin Bossart Ihr setzt euch für mehr Freiraum ein, was fehlt, sind Orte, an denen Menschen auch Wie stellt ihr euch ein Zentrum ohne Geld für Räume meint ihr damit? willkommen sind, wenn sie nichts mit vor? Müsste man dieses erwerben, müsste Alex*: Räume, die nicht vordefiniert sind Geld anfangen können oder wollen. Es die Stadt euch ein Haus geben? und in denen man sich ausleben kann, die geht darum, dass man zum Ziel nicht Pro- Alex: Die Wahrscheinlichkeit, dass die man selber gestalten und verwalten kann. fit haben muss. Oft bestimmt die Frage, ob Stadt uns ein Haus schenkt, ist relativ ge- Chris*: Für mich ist Freiraum ein Ort, der man die Miete bezahlen und zudem noch ring ... frei ist von Konsumzwang und Leistungs- etwas Geld zur Seite legen kann, das Den- Chris: Was aber eigentlich ihre Pflicht wä- denken. Es herrscht eine Kultur des Mit- ken. Ich wünsche mir einen Raum, in dem re ... Wir sind Teil der Stadt. Sie müssen einanders und der Toleranz. Meinungsver- man nicht ans Geld denken muss. damit umgehen, dass Leute hier leben, die schiedenheiten werden durch Diskussio- nichts von Profit halten. nen gelöst. Dies sind Haupteigenschaften eines Freiraums. «Ja, wir können Der Wunsch, im Stadtzentrum zu bleiben, wird von der Realpolitik insofern verhin- Und solchen Freiraum gibt es in Luzern nicht? uns vorstellen, was dert, dass da nur sogenannt rentable und wertschöpfungsintensive Betriebe angesie- Alex: Es gibt kleinere Projekte und Ni- ihr wollt, aber das delt werden. Erträgt denn diese teure Zone schen, in denen immer wieder etwas ent- noch Freiraum? steht und läuft, teilweise auch im öffentli- ist jetzt halt einfach Alex: Also «Freiraum ertragen» klingt so, chen Raum. Ein Zentrum aber fehlt. Wer etwas veranstalten will, eine kleine Aus- nicht möglich.» als wäre es eine Belastung. Ich finde, der gehört einfach da hin. Jeder Mensch, der stellung, ein Konzert oder eine Diskussi- hier wohnt, hat ein Recht auf die Stadt und onsrunde, muss zuerst einen geeigneten auf seinen Platz. Die Behörden sehen alles Ort suchen. unter einem wirtschaftsorientierten Blick- Chris: Eine Eigenschaft von einem Frei- Was sind denn eure Ansprüche an einen winkel – die Stadt als Standortfaktor. Für raum muss auch sein, dass er über längere Raum oder eine Liegenschaft? uns ist die Stadt ein Ort des Zusammenle- Zeit besteht. Es braucht Konstanz, damit Chris: An das Gebäude haben wir nur bens. Menschen sind nicht wirtschaftliche Dinge wachsen und Platz ist für Spontanei- sehr wenig Ansprüche, Hauptsache, es gibt Ressourcen, sondern Menschen, die hier tät. irgendetwas. Wir haben schon verschiede- sind und Bedürfnisse haben – das muss im ne Gebäude für kurze Zeit belebt ... Zentrum der Stadtentwicklung stehen. Ich Was sind das für Menschen, von denen ihr plädiere hier sehr gerne für eine soziale sprecht? Wer kommt zu kurz mit Freiraum Das Geissmättli? Stadt. in Luzern? Chris: Zum einen, später den Adlerhorst Chris: Viele Ideen, die später in die Upper- Chris: Letztlich hat jeder Mensch das an der Haldenstrasse. Das sind ganz ver- class-Kultur Eingang gefunden haben, Recht auf einen Ort, an dem er sich wohl schiedene Gebäude, die im Moment ideal entstanden an unreglementierten Orten. und frei fühlt und sich ausleben kann. Was waren. Luzern hat eine Kunsti, mit der sie sich 17
Fr eir aum brüstet, gleichzeitig entzieht sie diesen Hausbesetzungen sind also ein gängiges Beispiel die Salle modulable, die genau Leuten Stück für Stück das Umfeld, in dem Mittel, um euren Anspruch zu markieren? dort stehen muss. sie Inspiration suchen und holen. Alex: Wir sprechen über Räume, die leer stehen. Es ist nicht so, dass wir einen Raum Aber wenn sich in Kriens oder Littau et- Aber man kann ja nicht einfach nur Kul- klauen oder jemandem etwas wegneh- was ergibt, kann man doch versuchen, da tur machen und soziale Gruppen zufrie- men. Wir machen Ungenutztes nutzbar. eine Bewegung wachsen zu lassen. Wäre denstellen, es muss Geld da sein. das nicht wertvoller, als auf stur zu ma- Chris: Das ist diese Realismusdiskussion. Stichwort Gentrifizierung, was gibt es da chen? Ein Ort, der keinen Profit bringt, tut Stadt zu sagen? Alex: Es ist mir lieber, dass man endlich und Wirtschaft nicht weh. Ich finde es le- Alex: Gentrifizierung ist ein Begriff, der irgendwo anfangen und es entwickeln las- gitim und nötig, mit der Logik des Kapita- in der letzten Zeit aufgekommen ist. Ich sen kann, anstatt immer nur kurze Projek- lismus zu brechen. Wenn wir das nicht verstehe es hauptsächlich als einen Ver- te durchzustieren. Vielleicht wäre es sinn- einmal bei – vorerst – einem lausigen Ge- drängungsprozess durch Aufwertung. voll, hier nachzugeben, mit dem Resultat, bäude hinkriegen, sind wir genau in dieser Stadtteile werden durch sogenannte Krea- etwas Langfristiges zu haben. Realo-Polito-Diskussion gefangen. tivmilieus aufgewertet. Mit der Folge, dass Chris: Aber ein solches Projekt lebt davon, Alex: Ein Bruchteil der Subventionen für die Leute, die eigentlich dort gewirkt ha- dass man sich spontan entscheiden kann das KKL würde reichen, um ein supertol- ben, nicht mehr dort sein können. und nach der Arbeit, vor dem Ausgang vor- les Kulturzentrum zu finanzieren. Aber es Chris: Es ist nicht wirklich steuerbar. Die beigeht. Bis diese Mentalität ins Laufen geht ja auch um günstigen Wohnraum. Baselstrasse ist ein gutes Beispiel, wo Men- kommt, braucht es in der Peripherie viel Immer mehr Menschen können die stets schen mit Migrationshintergrund woh- Zeit. Ein zentraler Standort ist wichtig, dass steigenden Mieten nicht mehr bezahlen nen. Jetzt kommen immer mehr Studis, sich möglichst viele Menschen beteiligen. und werden aus der Stadt gedrängt. weil es billig und so schön multikulti ist. Ich werde nicht aufgeben ... Wenn sie dann ihr Studium fertig haben, Gibt es Beispiele für eine Freiraumkultur, bezahlen sie gerne ein bisschen mehr Mie- * Namen geändert (der Redaktion bekannt). Die Ant- die in etwa erfüllt, was ihr euch für Luzern te als eine Migrantenfamilie. worten entsprechen ihrer persönlichen Meinung. vorstellt? Chris: In Bern existiert die Reitschule schon seit 20 Jahren und ist ein extrem wichtiger Ort für viele Menschen. Sie er- füllt ziemlich genau, was wir fordern. Zü- rich hat eine Tradition für Zwischennut- «Also ‹Freiraum ertragen› klingt so, zungen, die ziemlich gut funktioniert. Alex: Ein Vorbild ist Hamburg mit dem als wäre es eine Belastung. Ich finde, Gängeviertel und der Flora, wo die ganze «Recht auf Stadt»-Bewegung gross und er- der gehört einfach da hin.» folgreich ist. Es ist nicht die Stadt einer Re- gierung, sondern jene der Leute. Ist das in Luzern nicht der Fall? Alex: Es wird überhaupt nicht auf unsere Anliegen eingegangen. Wir haben verhan- delt und Gespräche geführt. Das ist an- Luzern wird grösser gedacht. Kriens und strengend und hat bis jetzt zu nichts ge- Littau sind nur wenige Kilometer vom führt. Wir wurden auf die lange Bank ge- Stadtzentrum weg. Vielleicht müsste man schoben und vertröstet. Vielfach wurde dort die Pflöcke einschlagen? gesagt: «Ja, wir können uns vorstellen, Alex: Im Vergleich zu grösseren Städten was ihr wollt, aber das ist jetzt halt einfach wie Zürich ist das wirklich sehr kleinräu- nicht möglich.» Was schlicht nicht stimmt, mig. Sobald man etwas verdrängen kann, die Stadt ist nicht so voll, dass es keinen muss man Luzern grösser denken – in Em- Flecken mehr gibt, den man für einen menbrücke hat es ja noch Platz. Geht es Freiraum nutzen könnte. Wir müssen aber um Sachen, die dem sauber geordne- mehr auf Eigeninitiative setzen und uns ten Tourismusimage entsprechen und Geld den Platz nehmen. Das ist sinnvoller – oder bringen, wird Luzern sehr klein gedacht, ökonomisch gesagt effizienter. dann ist das genau das Seebecken. Zum 18
A kt u ell Anna De Weerdt und Markus Elmiger verbinden hochwertige Materialien und altes Schneiderhandwerk. Produziert und verkauft werden Hosenträger und Kleider in ihrem neuen Geschäft. Von Aurel Jörg, Bild Daniela Kienzler Unprätentiöses Handwerk Jeder hat sie, sie begleiten uns durchs Le- ben. Sie bedecken, sie decken auf. Sind sie überholt, werden sie durch neue ersetzt. Es ist nicht, dass sie uns angeboren wären – nein, sie konstituieren uns, nach Zeit und Ort in verschiedenem Ausmass. Dort, wo sie sich verdichten, droht Uniformität. Nun, Vorurteile und Kleider – es liegt auf der Hand – unterliegen Moden. Mögen bei manchem geneigten Leser die Stichwörter Mode und Kleider Vorur- teile als spontane Reaktion hervorrufen: Oft werden Leute, die sich mit Mode befas- sen als – nomen est omen – oberflächlich bezeichnet. Dies geschieht zum Leidwesen derjenigen, die Kleider entwerfen, Stoffe schneiden, nähen, bügeln und zig Einzel- teile zu ganzen Kleidungsstücken verei- nen. Sie sind es, welche die allenthalben Markus Elmiger und Anna De Weerdt in ihrem Atelier, das auch Boutique ist. spriessenden Modeblogs und Lifestyle-Bei- lagen erst möglich machen. Dass die Schneiderei in erster Linie ein unprätentiöses Hand- raubender Schneiderarbeit zu klassisch geschnittenen Kleidern werk ist, beweisen Anna De Weerdt und Markus Elmiger, die nun gefertigt – bis jetzt von der Damenschneiderin De Weerdt alleine. seit bald zwei Monaten an der Bruchstrasse 45 in Luzern ein Verhältnismässig preiswerte Couture soll dabei entstehen. Wich- Schneideratelier mit angehängtem Laden betreiben. «Treger van tig ist dem Duo, bei den Kunden das Bewusstsein für die Entste- De Weerdt» heisst ihr erstes Kind. Unter diesem Namen – eine hung eines Kleidungsstückes zu wecken. Konsequenterweise sind Anspielung auf den Ursprung ihrer gemeinsamen Tätigkeit, die Verkaufsraum und eigentliche Wirkungsstätte kaum getrennt; Produktion von Hosenträgern, die sie bis anhin vorwiegend über Interessierte erhalten so ungeniert einen Blick hinter die Kulis- das Internet verkauft haben – betreiben sie heute eine Boutique. sen. Elmiger betont, man nehme schnell viel Geld für einen Am Anfang stand die Suche nach einem passenden Atelierraum, Handwerker in die Hand. Für die Qualität der Materialien und die gefunden haben sie ein Atelier mit Verkaufsfläche. Dort verkau- Schneiderarbeit, die in einem manuell gefertigten Kleidungsstück fen sie nebst den Trägern die Kleiderlinie «Van De Weerdt» – ein stecken, sei das Preisbewusstsein hingegen komplett abhanden kleines, aber feines Sortiment, das mit ausgesuchten Labels er- gekommen, ergänzt seine Freundin De Weerdt. gänzt wird. Im Gespräch merkt man schnell, nur ums Geld geht es den beiden nicht. Vielmehr ist es das Wagnis, einer Berufung in eige- Preisbewusstsein wecken ner Regie zu folgen. Elmiger, der für die Administration zustän- Dabei dienen die 1920er- bis 50er-Jahre als Inspirationsquelle: dig ist (und nebenbei als Geschäftsführer beim Zuger Radio In- Die hohen Qualitätsstandards von damals sollen mit den Ansprü- dustrie arbeitet), meint, vieles soll spontan je nach Geschäftsgang, chen des heutigen Alltags kombiniert werden. Ziel ist nicht eine Bedürfnis und Lust entstehen. Geplant ist, im kommenden Jahr plumpe Neuauflage von Altem, sondern eine zeitgemässe und äs- Nähkurse anzubieten. Die Idee ist nicht aus betriebswirtschaftli- thetisch überzeugende Interpretation. Hochwertige Materialien chen Überlegungen entstanden: Vielmehr hätten zahlreiche Be- wie Seide und Cashemere, aber auch Wollstoffe werden in zeit- kannte bereits nach einem solchen Kurs gefragt. 19
Das LesBiSchwule Festival PinkPanorama feiert dieses Jahr sein 10-Jahre-Jubiläum. Die ProgrammmacherInnen Christina Niederer und Peter Leimgruber erzählen im Interview, welche Themen sie bewegen und wo PinkPanorama heute steht. Von Martina Egli, Bild Georg Anderhub Peter Leimgruber und Christina Niederer blicken zurück auf zehn Jahre PinkPanorama. «Das ist Hardcore» Ihr habt PinkPanorama vor zehn Jahren zeigen können. Einmalig ist dabei wohl, Im Zentrum von PinkPanorama steht die mitbegründet. Wie kam damals die Idee dass wir durch Peters Funktion als Leiter lesbisch-schwule Kultur. Erreicht ihr da- für ein schwullesbisches Festival in Luzern des Stattkinos von Beginn an über eine mit auch ein heterosexuelles Publikum? zustande? passende Plattform verfügten. Niederer: Die Idee hat Bestand, unser Christina Niederer: Mit Pink Apple in Peter Leimgruber: Unser grosser Vorteil Festivalprogramm für ein breiteres Publi- Zürich und Queersicht in Bern gab es vor war dabei auch, dass im Stattkino von An- kum, wenn man so will für ein Heteropu- uns schon zwei schwullesbische Filmfesti- fang an finanzielle Mittel vorhanden wa- blikum, zu öffnen. Es gibt jedoch verschie- vals in der Schweiz, doch die Mobilität ren, um schwule und lesbische Filme zu dene Gründe dafür, dass wir dieses Ziel zwischen den Städten blieb jeweils relativ zeigen. Gleichzeitig können wir einige der bisher nicht erreicht haben. Einerseits wa- klein. Wir wollten hier in der Zentral- Filme, die fürs Festival programmiert sind, ren wir in den Medien jeweils nur spora- schweiz einen eigenen Ort schaffen, wo jeweils auch ins normale Programm über- disch. Anderseits ist PinkPanorama mit wir kontinuierlich schwullesbische Filme nehmen. rund zwanzig Programmfilmen pro Jahr 20
A kt u ell ein vergleichsweise kleines Festival, dem- Niederer: Wir wollen unterschiedliche le Frauen haben keine Produktionsfirma entsprechend richtet sich unsere Auswahl Lebensentwürfe, aber auch politische Situ- und weniger finanzielle Mittel, um ihre auch an ein relativ kleines Publikum. ationen von Lesben und Schwulen thema- Filme zu drehen. Das spiegelt sich natür- Leimgruber: Aber man kann dieselbe Be- tisieren. Homosexualität wird nach wie lich auch in der Breite und der Qualität der obachtung sowohl in Luzern als auch in vor in über 70 Ländern als Delikt geahndet Angebote wider. Allerdings gibt es inzwi- anderen Städten machen: An lesbisch- und strafbar gemacht. Dokumentarfilme schen schon deutlich mehr Filme im lesbi- schwulen Festivals finden sich im Publi- wie auch Spielfilme von ausländischen Re- schen Bereich als zu unserem Festivalstart kum hauptsächlich Schwule, Lesben und gisseurinnen und Regisseuren führen uns vor zehn Jahren. einige Transgender. Man bleibt in lesbisch- diese Situation vor Augen. Da muss ich oft schwulen Filmen mehr Was sind die Pläne für die Zukunft von oder weniger unter sich. PinkPanorama? Eine gute Ausnahme «Wir leben nach wie vor in einer von Niederer: Wir kommen bald zu einem hat vor einigen Jahren Männern definierten Gesellschaft.» Punkt, wo wir uns entscheiden müssen: die Hollywood-Produk- grösser werden oder klein bleiben. Es wür- tion «Brokeback Moun- de uns natürlich freuen, hätten wir mehr tain» bewiesen, die mit der Geschichte von leer schlucken, wenn ich sehe, was 2011 Publikum und volle Säle, eine ganze Wo- zwei schwulen Cowboys ein breites Publi- noch mit Schwulen und Lesben passiert. che lang. Gleichzeitig haben wir mit die- kum erreichte. Da hat wohl der Topos Wil- Das ist Hardcore. sem Programmumfang die Möglichkeit, der Westen die Brücken geschlagen. Leimgruber: Im Kleinen bestehen viele uns auf das zu reduzieren, was wir auch Problemherde auch hier noch: von homo- wirklich zeigen wollen. Uns ist wichtig, Im Mainstream-Kino werden Schwule phoben Äusserungen über Diskriminie- dass dies Filme sind, in denen wir uns als und Lesben ja oft zu Klischeecharakteren rungen bis zu körperlicher Gewalt. Ein Lesben und Schwule anders erkennen als stilisiert. Coming-out ist auch in der Schweiz noch in Mainstreamfilmen. Daher ist es auch Leimgruber: Es ist für uns o. k., dass es lange keine selbstverständliche Sache, da- eine Realität, dass PinkPanorama unge- im Mainstreamkino und den Soapoperas her wollen wir auch die sozialen Dimensi- fähr in diesem Grössenrahmen bleiben den Quotenschwulen und die Quotenlesbe onen der lesbischen und schwulen Lebens- wird: ein kleines, feines, spezielles Festival. gibt, doch darum geht es uns hier nicht. führung immer wieder aufzeigen. Die Wir gehen mit PinkPanorama und unse- Filme, die wir in unser Programm aufneh- rem Kinoprogramm in die andere Rich- men, müssen uns betreffen, auch wenn es tung. Wir wollen schwule und lesbische nicht um unsere eigene Welt geht. Wenn 20 Filme und ein Konzert meg. Vom 3. bis 9. November sieht man im Filme mit einer eigenen künstlerischen wir einen Film über männliche Prostituti- Bourbaki Panorama pink: Das LesBiSchwule Aussage, einer eigenen Sprache zeigen – on zeigen, dann ist das relativ weit weg Festival PinkPanorama feiert dieses Jahr sein auch anspruchsvolle Filme, schockierende von mir oder von uns. Aber es ist ungeheu- 10-Jahre-Jubiläum. Ein vielseitiges Programm Filme. Als Leiter des Stattkinos weiss ich, er wichtig, solche Filme und Themen auf- aus zwanzig lesbischen und schwulen Filmen, wie schwierig es ganz allgemein ist, dem zugreifen. zusammengestellt von Christina Niederer und Publikum anspruchsvolle Filme schmack- Peter Leimgruber, erwartet die Zuschauer. Die haft zu machen. Heute sind die Sehge- «Brokeback Mountain», «La mala educati- Filmauswahl dokumentiert unterschiedlichste wohnheiten der meisten Leute von den on», «Milk», «A Single Man» – in der Film- Perspektiven von Homosexualität und Queer: etwa vom Mädchen, das lieber ein Junge wäre Massenmedien, vom Privatfernsehen ge- welt scheinen Schwule besser vertreten zu («Tomboy»), von der Unterdrückung schwuler prägt. sein als Lesben. Wie ist das Verhältnis zwi- Männer in Ägypten («All my Life»), von einer Niederer: Zudem sind wir als Homosexu- schen lesbischen und schwulen Filmen? indischen Filmemacherin, die nach elf Jahren elle wirklich eine Minderheit. Diese Min- Leimgruber: Wir leben nach wie vor in erstmals wieder in ihre Heimat zurückkehrt derheit aufzurütteln und abzuholen ist einer von Männern definierten Gesell- («I AM») oder von Homosexualität in der Rap- wahnsinnig schwierig. Denn wir haben schaft. Das zeigt sich auch darin, dass perszene («Off beat»). In je eigener Bildspra- politisch schon viel erreicht, wir haben ei- Schwule gegenüber Lesben oft besser orga- che drücken die insgesamt zwanzig Spiel- und Dokumentarfilme einerseits aus, was eine ge- nen extremen Schritt nach vorne gemacht. nisiert und vernetzt sind. Schliesslich zeigt sellschaftliche Minderheit beschäftigt, werfen Gleichzeitig muss ich sagen: Wir sind noch sich das auch in der Programmierung: zugleich aber auch gesellschaftspolitische Fra- nirgends. Die Lesben und Schwulen, die Christina hat etwas mehr Schwierigkeiten, gen auf, die ebenso eine Mehrheit betreffen. sich mit Cheminee, Beamer und Sofa ge- an die Filme für das lesbische Programm Für Diskussionen steht täglich ab 18 Uhr die mütlich zu Hause einrichten, sollte man zu kommen. PinkBar offen. Am 5. November gibt zudem unbedingt wach behalten für die Proble- Niederer: Peter kriegt die Filme für das der renommierte Schwule Männerchor Zürich me, die nach wie vor bestehen. schwule Programm in den meisten Fällen – bekannt unter dem Kürzel schmaz – im Süd- pol ein Jubiläumskonzert. via Filmverleiher. In der lesbischen Film- Programm im Kulturkalender (Seite 52) Wie zeigt sich dies in eurer Programmie- szene hingegen muss man öfters auch di- www.pinkpanorama.ch rung? rekt bei den Regisseurinnen anfragen. Vie- 21
Buch m esse Frischer Wind aus Nord-Süd oder Begegnungen mit Abwesenden MC Graeff schlendert über die Buchmesse Frankfurt, findet weder Hot Spots noch geheime Ecken und schreibt folglich abermals am Thema vorbei. Vorab: Den anwesenden Luzerner Verlegern und AutorInnen geht der Überzahl sein. Das muss die Autoren der Zukunft nicht son- es gut, sie lassen grüssen, werden aber aus Platzgründen nicht derlich ärgern, denn sie sind in diesen Modellen als Empfänger weiter erwähnt. von Gegenwerten ihres Schaffens sowieso nicht mehr vorgese- Das war es wieder: 7384 Aussteller aus 106 Ländern, 3200 Veran- hen. staltungen mit etwa 280'000 Besuchern … In Zeiten der Energie- Messegeplauder am Würstchenstand 3: Die Ghostwriter erle- sparlampen kein schlechter Auftrieb für Hotlist-Titel wie «Bleib, ben beruflichen Aufschwung und dank allen Bohlens und zu wie du bist», «Wie wir werden, was wir waren», «Wie wir endlich Guttenbergs ein neues Selbstverständnis; es gibt inzwischen eine werden könnten, was wir nie werden wollten», «Wie wir würden, Berufsvertretung. Würstchenstand 4 ist bezüglich Skandalösitä- was wir sollten, wenn wir müssten» und derlei mehr. Am Stand ten ergiebiger: Die deutschen Buchhändlerschulen hätten das von Philo Fine Arts finde ich meine Wunsch-Messemotti: «Die Fach Literaturkunde abgeschafft, weil die grossen Handelsketten Lust am Unseriösen» (sie fehlt inzwischen leider fast ganz …), verstärkt auf Nonbook-Sortimente setzen werden. Leider wahr, «Praktiken des Sehens im Felde der Macht» (… genau wie die ei- genauso wie es unwahr ist, dass Migrosmitarbeiter demnächst li- gentlich wohlverdiente Alters-Weitsicht als Ausgleich der media- terarisch ausgebildet werden, nur weil (leider halbwahr) der Ge- len Kurzsichtigkeit), «Immer radikal, niemals konsequent» (eine müseverteiler demnächst den Schweizer Buchhandel übernimmt. Dokumentation über den berüchtigten, stets konkursen MÄRZ- Ach ja, richtig, es geht um die Messe: alles in allem eher eine Verlag) und «Derrida ist nicht zu Hause. Begegnungen mit Abwe- Rückschau denn eine Zukunftsorientierung. Nostalgisches Bad in senden». (Eben: Am stärksten definiert sich diese Messe durch all der Machtlosigkeit der Inhaltserzeuger. Doch immer noch ein die, welche nicht mehr dabei sind und all jene, die nächstes Mal bunter, verlockender Supermarkt der teuren Träume, in den man nicht mehr kommen wollen.) Und «Merve oder Was war Theo- sich – wie schon seit über 500 Jahren – mit letztem zusammenge- rie?» – Solche Titel kann man heute nur noch mit einem starken kratztem Taschengeld einzukaufen hofft. Doch mit Empathie, Financier drucken lassen; den hat der Verlag. Doch es heisst, er Sucht und Begeisterung, mit der Lust zu lesen hat das Ganze mo- wolle das Projekt nun in die Gewinnzone bringen. Das ist bitter, mentan nicht mehr viel zu tun. Ein Restcharme ist geblieben, denn dann wird auch er bald abwesend sein. wenn die letzten Verlegerrocker sich einig sind, in ihren Stiefeln Auf dem Hof neben dem zweitgenutzten Audi-Pavillon der sterben zu wollen. IAA («Vorsprung durch Technik» wird zum Schicksalsspruch der Ein Tag später: «Der Berg liest». Nicht der Pilatus, sondern der Literatur) übt die ultraorthodoxe Mangajugend Pornoposen fürs «Ölberg», das grösste erhaltene Gründerzeitwohnviertel Europas Multichanneling. In der wunderschönen Island-Halle saufen die in Wuppertal, wo die Frühindustrialisierung das erste deutsche Nordländer, bis die Lesebrillen beschlagen. Dazwischen schnat- Proletariat bildete. Letzteres feiert heuer als Präkariat in der abge- tert das Heer der Pinguine über die Elektronisierung des Lesens. wirtschafteten 350'000-Seelen-Stadt Hochkonjunktur. Doch die Nein, des Vertreibens, doch nicht der Zeit, sondern des Produkts. langen Jahre der Korruption führen zu widerständigen Phänome- Das «Börsenblatt des Deutschen Buchhandels» wildert im Werk nen: Eines von mittlerweile vielen ist dieser lesende Ölberg, ein von Tomas Tranströmer und klabustert den lyrischen Opener: Tagesfestival mit 200 Lesungen im Quartier, in fast 100 Wohnun- «Die Mutlosigkeit unterbricht ihren Lauf». Das bringt Zwischen- gen, Läden, Imbissbuden, in allen Sprachen der Bewohner bis hin wind fürs Weihnachtsgeschäft, in dem man noch einmal – das E- zum Tamil, aus Lieblingsbüchern, Arztromanen, Selbstgeschrie- Book nimmt durch Marktbesetzung mit Sackgassentechnologie benem, Klassischem von den «Brüdern Grimm» über Richard rapide zu, aber die Massentendenz heisst: abwarten – ganz auf das Brautigan bis, spät abends, zur «Marquise von O.». Social Media P-Book setzen wird. Die Branche ist tot, es lebe die Branche. Es paradox: Man trinkt auf den Strassen herum und berichtet einan- gibt einen neuen E-Book-Literaturaward, und (das Erstaunen ist der gerade Gehörtes, Bücher-Tauschkisten überall, Applaus aus der Skandal) es haben sich sogar echte Autoren daran beteiligt. vielen Fenstern, Kinderhorden ziehen marodierend zum nächs- Die Formen haben den Inhalt längst besiegt; die Büchse macht ten Jandl-Vortrag; kein Touchscreen, kein Prospekt, keinerlei Pro- den Fisch, die Dose ist teurer als der Keks. Die Entwickler propa- minenz, nur gelebter Anspruch auf gemeinsam initiiertes Kultur- gieren das «Reading on demand»: Zahle nur für das, was du vom erlebnis inmitten des Stigmas. Lustvoll, lehrreich, barrierefrei. gekauften Buch wirklich gelesen hast. Im breiten Markt ist dieser Eine Schocktherapie für den klagebedürftigen Berufspessimisten Anteil bekanntlich nicht sehr hoch; die nur gekauften, aber unge- neuester Frankfurter Schule, dem hier dann doch noch, uner- lesenen und die lediglich angelesenen Werke werden immer in wartet, eine durchaus prachtvolle Messe gelesen wird! 22
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