DGKTJournal der Deutschen Gesellschaft - für künstlerische Therapieformen e.V.

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DGKT                                Journal der Deutschen Gesellschaft
                                    für künstlerische Therapieformen e.V.
                                                                                01.2020

Georg Franzen              Brigitte Michels                Karl-Heinz Menzen
Camille Claudel -          Kunsttherapeutische             Gedanken im Verlauf eines
Eine kunstpsychologische   Interventionen in schwierigen   dreijährigen Arbeitsprozesses
Betrachtung                Prüfungssituationen             Therapie mit Bildern
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Inhalt

Editorial                                                                                 3

Camille Claudel- Eine kunstpsychologische Betrachtung                                     4
Georg Franzen

Ich schaffe es !!!
Kunsherapeusche Intervenonen in schwierigen Prüfungssituaonen                         15
Brigitte Michels

Gedanken im Verlauf eines dreijährigen Arbeitsprozesses - Zu einer Therapie mit Bildern   18
Karl-Heinz Menzen

Im Memoriam PETER RECH 1943-2019 († 5.12.2019)                                            26
Karl-Heinz Menzen

Veranstaltungen
Online Tagung: Rezepve Kunsherapie                                                      30
Das künstlerische Bild im Leidenszusammenhang des Patienten

DGKT Mitgliederversammlung 2020                                                           31

Tagung der DGKT in Kooperaon mit der SFU Wien 2021                                       31
Die Psyche als Ort der Gestaltung – Wenn Bilder zu Bewusstsein kommen

Neuerscheinungen                                                                          32

Upgrading zum Master of Arts in Kunsherapie                                              33

Impressum                                                                                 34

Titelbild: Die Meere bergen die Erde – Peter Rech
DGKTJournal der Deutschen Gesellschaft - für künstlerische Therapieformen e.V.
Editorial

Liebe Leser*Innen,

viele von uns sind ja auf Grund der Covid-19 Pandemie in den therapeutischen Berufen in den letzten Mo-
naten besonders gefordert. Unsicherheiten, Ängste und sorgenvolle Prognosen scheinen oft den individu-
ellen Alltag unseres Klienten*innen fest im Griff zu haben, Einsamkeit wird durch den verordneten sozialen
Rückzug gesamtgesellschaftlich zu einer spürbaren Belastung. Diejenigen von uns die tagtäglich in der Klinik
oder in der Praxis tätig sind, haben erlebt wie manche Therapieprozesse stagnierten oder Symptome sich
wieder verstärkten. Sicherheitsabstände müssen eingehalten werden, Hygieneauflagen müssen streng be-
achtet werden. Die Nähe zum Patienten, das Anleiten einer kunsttherapeutischen Übung wird immer noch
durch die Hygieneauflagen bestimmt.

So gibt es auf allen Ebenen neue Herausforderungen für uns Kunsttherapeuten. Derzeit befinden wir uns
inmitten des Übergangs. Auch diese bringen neue und ungewohnte Herausforderung mit sich. Nach der
Krise wird vieles anders sein. Wir alle wissen noch nicht genau wie sein wird, aber eines ist ganz gewiss die
Kunst und die kunsttherapeutischen Verfahren werden es vielen Menschen ermöglichen das Unsagbare; das
erfahrene Leid aber auch die Hoffnung gestalterisch Ausdruck zu verleihen! Dem künstlerischen Werk und
dem symbolischen Bildinhalt eine eigenständige therapeutische Ressource zugewiesen, die aus sich heraus
Heilkräfte aktiviert und kann dann wie ein homöopathisches Mittel Wirkkräfte entfalten (vgl. Rech 1994,
S.110), die einen heilenden Prozess einleiten oder auslösen können.

Peter Rech, einer der bedeutenden deutschen Kunsttherapeuten, hat die Kraft der Kunsttherapie immer
wieder hervorgehoben. Er hat auch mit dazu beigetragen, dass mittlerweile fundierte und qualifizierte Aus-
bildungsstandards für die Kunsttherapie vorliegen und dass die Kunsttherapeut*Innen sich in einem Dach-
verband wie der DGKT organisieren und austauschen können.

Wir bedauern sehr, dass wir von ihm als Menschen Abschied nehmen müssen. Seine wertvollen Gedanken
und seine Verdienste werden uns erhalten bleiben. Zwei Beiträge von Karl-Heinz Menzen, Hiltrud Zierl, Rolf
Schank u. Claus Richter würdigen seine Persönlichkeit und seine Verdienste.

Ein Artikel „Ich schaffe es“ zur kunsttherapeutischen Praxis von Brigitte Michels und ein Beitrag zur ange-
wandten Kunstpsychologie über ,Camille Claudel‘ von Georg Franzen bilden den praktisch-theoretischen
Rahmen der vorliegenden Ausgabe.

Hinweise auf Veranstaltungen und Neuerscheinungen finden Sie am Ende des Journals.

Ich wünsche Ihnen eine informative und hilfreiche Lektüre unserer Ausgabe 2020!

Georg Franzen

DGKT - JOURNAL        01.2020                                                                                 3
DGKTJournal der Deutschen Gesellschaft - für künstlerische Therapieformen e.V.
Camille Claudel- Eine kunstpsychologische Betrachtung

Georg Franzen 1

Einleitung

Die Kunstpsychologie ist einerseits Teilgebiet der
Psychologie, dessen Aufgabe die psychologische
                                                                                 „Wir sind immer in einem Ermatten,
Analyse von Sachverhalten ist, die dem Bereich der                               ob wir rüstig sind oder ruhn,
Kunst zugeordnet werden. Dazu gehört unter ande-                                 aber wir haben strahlende Schatten,
rem die Analyse über das Erleben und Verhalten des                               welche die ewigen Gesten tun.“
Künstlers, Interpreten und Kunstbetrachters. Ande-
rerseits kann die Kunstpsychologie auch als ein Teil-                                                Rainer Maria Rilke
gebiet der Kunstwissenschaft verstanden werden,
weil sie über die ikonographische und ikonologische
Betrachtung hinaus, wichtige Beiträge zur Psycho-                         Es geht darum, sich auf den künstlerischen Gegen-
logie des Kunstwerkes und zur psychohistorischen                          stand einzulassen und in der Gruppe das szenische/
Analyse liefern kann.                                                     symbolische Verstehen einzuüben. Emotional durch
                                                                          das Zulassen von Assoziationen am künstlerischen
Einen psychohistorisch orientierten Ansatz vertritt                       Ausdruck teilzuhaben.
der Psychoanalytiker Heinz Kohut. Für ihn spiegeln
künstlerische Werke psychologische Gegebenheiten                          Kunstwerke sind aus tiefenpsychologischer Sicht so-
der Epoche: „Dieser Hypothese zufolge spiegelt das                        wohl auf manifeste, bewusste Weise wie auch latent
Werk des großen Künstlers die dominierenden psycho-                       und unbewusst organisiert. „Um den unbewussten,
logischen Gegebenheiten seiner Epoche. Der Künstler                       latenten Inhalt zu entdecken, müssen wir herausfin-
fungiert gleichsam als Stellvertreter seiner Generati-                    den, wie er vom manifesten Inhalt angezeigt, sym-
on: nicht nur der allgemeinen Bevölkerung, sondern                        bolisiert und indirekt angedeutet ist (Kuhns, 1993,
sogar der wissenschaftliche Erforscher der sozialpsy-                     199).
chologischen Szene.“ (Kohut, 1993, S. 279).
                                                                           • Tiefenpsychologie
Vermittelt werden können bei der Betrachtung von                           • Ästhetik
Kunstwerken folgende Wirkungsweisen:                                       • Ikonologie

•    Szenisches Verstehens durch die Gruppe                               Bei der tiefenpsychologischen Betrachtung geht es
•    Symbolisches - phänomenologisches Verstehen                          um ein ,Sinn-Verstehen´ der unbewussten Bedeu-
•    Emotionale Teilhabe                                                  tung von Kunst. Dieser unbewusste Inhalt gibt dann
•    Inszenierung von Lebensentwürfen                                     bei genauer Analyse Aufschlüsse über mögliche Per-
•    Selbstobjektbeziehungen                                              sönlichkeitsaspekte des Künstlers und über die psy-
                                                                          chologisch-gesellschaftliche Situation seiner Zeit.

1 Prof. Dr. phil. habil. Georg Franzen, Psychologischer Psychotherapeut
  Anschrift: Bahnhofsplatz 9, D-29221 Celle, www.kunstpsychologie.de, DrGeorgFranzen@gmail.com

4                                                                                                DGKT - JOURNAL     01.2020
DGKTJournal der Deutschen Gesellschaft - für künstlerische Therapieformen e.V.
In der ästhetischen Kategorie verlangt der Gebrauch     „Da aber diese, wie jedes von der Intuition abhän-
des Kunstwerks, der Gebrauch der Symbolik, Prozes-      giges Verfahren, subjektiv gefärbt, also von der
se des symbolischen Verstehens. Das szenische Ver-      persönlichen Psychologie und Weltanschauung des
stehen im Sinne Lorenzers setzt die Einbeziehung        Interpreten beeinflusst ist, bedarf es hier besonders
eigener Lebensentwürfe voraus und das symboli-          dringend eines Korrektivs. Das hat die sogenannte
sche Verstehen, die Reflektion des künstlerischen       Geschichte kulturelle Symptome zu leisten.“; laut
Prozesses.                                              Panofsky ist dies die „Einsicht in die Art und Weise,
                                                        wie unter wechselnden historischen Bedingungen
Klaus Matthies (1988, 48) verweist darauf, dass         wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes
es in den Künsten um sinnliche Erfahrung und ih-        durch Themen und Vorstellungen ausgedrückt wur-
ren Ausdruck in sinnlich erfahrbaren Werken geht.       den.“ (Panofsky, 1978, 48, in: P. Schmidt,1989,16).
„Dass damit Einsicht in die Wirklichkeit und Zusam-
menfassung von Wirklichkeitserfahrung und ‚Ent-         Symbolisches Verstehen ist in der Gesamtheit mög-
würfe von Erfahrungshorizonten’ vermittelt werden,      lich, wenn die genannten drei Ebenen Tiefenpsy-
macht die Tiefendimension des Künstlerischen aus.“      chologie, Ästhetik und Ikonologie sich vernetzen
(Matthies, 1988, 48).                                   und verzahnen, damit der manifeste und latente
                                                        Sinn-Gehalt eines Kunstwerkes erschlossen werden
Schließlich spricht Wilhelm Salber (1999, 39) von       kann. Zugleich ist es dabei notwendig auf eine The-
der „Psychästhetik“ und versteht diesen Begriff als     orie der Symbole zurückgreifen zu können.
ein globaler Hinweis darauf, dass hier Seelisches
und Kunst zusammengebracht werden: sie verdeut-         In der Definition der Neopsychoanalyse und den
lichen sich gegenseitig, sie haben eine gemeinsame      Konzepten der humanistischen Psychologie, steht
Struktur. „Das Seelische folgt ‚ästhetischen’ Geset-    das Symbol für etwas, was wir fühlen. Für Erich
zen – so wie Kunst den gleichen Sinnzusammenhang        Fromm (1982, 18) ist die Symbolsprache, die Spra-
von Wirklichkeit voraussetzt wie das Seelische. ‚Vor-   che, in der wir innere Erfahrungen so zum Ausdruck
gestaltliches’, Vages, Komplexes, Verdichtetes sind     bringen, als ob es sich dabei um Sinneswahrneh-
nicht Mängel, sondern lebenswichtige Wirklichkei-       mungen handelt, um etwas, was wir tun, oder um
ten; sie sind unumgänglich, wenn wir mit der Vielfalt   etwas, was uns in der Welt der Dinge widerfährt.
und dem Werden von Wirklichkeit zurande kommen          Hinter dem Symbol stehen vielfältige Beziehungs-
wollen – wenn wir Leben gestalten wollen.“ (Salber,     muster, die stets einen subjektiven-individuellen
1999, 40).                                              biographischen Hintergrund haben.

Als dritte Kategorie kommt der Begriff der „synthe-
tischen Intuition“, zum Tragen, der durch Panofsky
(1980, 43) definiert wurde und auch als eine psy-
chologisch-philosophisch kunstwissenschaftliche
Methode verstanden werden kann. Panofsky be-
zeichnet die „synthetische Intuition“ als das Hand-
werkszeug für die ikonologische Interpretation und
umschreibt diese mit einer „Vertrautheit mit we-
sentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes.“

DGKT - JOURNAL        01.2020                                                                              5
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Die Flehende                                             Oft bleibt das letzte ,Flehen´ ungehört, auch in un-
                                                         serem alltäglichen Umgang miteinander, weil die
Im Rahmen meiner gruppentherapeutischen Tätig-           Sensibilität für den oder die andere fehlt. Die Kunst
keit mit Patient*Innen einer psychiatrischen Tages-      hat diese große Gabe uns diese Brüche vor Augen zu
klinik lag es für mich nahe, einmal des Lebenswerk       führen und zum Nachdenken anzuregen.
Camille Claudels vorzustellen, da die Künstlerin
selbst die letzten dreißig Jahre ihres Lebens unter      Camille Claudel ist eine der großen Künstlerinnen
den schwersten Bedingungen in der Psychiatrie ver-       unseres Jahrhunderts. In ihren Werken vermischen
brachte. Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts,         sich verschiedene Ebenen. Hier soll der Versuch
wo die Psychiatrie in Europa von Reformen noch           unternommen werden, sich ihr von einem kunstan-
weit entfernt war.                                       thropologischen Blickwinkel zu nähern. Gemeint ist
                                                         ein tiefenhermeneutischer (Lorenzer 1986) Zugang
Besonders angetan waren die Klient*Innen ,Die Fle-       zum Werk. Unbewusste Bedeutungsinhalte zu ent-
hende´ (Abb. 1). Ohne die Vorgeschichte der Künst-       decken und diese aber auch mit den bereits unter-
lerin zu kennen, charakterisierten sie diese als einen   nommenen kunsthistorischen Untersuchungen zu
,Hilferuf´ ein ,Flehen´ in einer schweren Lebenskrise.   vergleichen. Eine kunstpsychologische Deutung soll
Tatsächlich charakterisiert diese Skulptur               hier nicht die Künstlerin in Frage stellen, vielmehr
einen großen Bruch im Leben dieser                       Ebenen des symbolischen Verstehens eröffnen.
begabten Künstlerin. Ein letztes
,Flehen´, das ungehört blieb und
zu einer psychischen Erkran-
kung führte, die letztendlich
zum größten Teil aus den
persönlichen, sozialen und
gesellschaftlichen Bedin-
gungen resultierte, de-                                  Hinter jedem Kunstwerk steht ein Künstlerleben,
nen die Künstlerin                                       ein komplexer Versuch, ein Ringen um Ausdruck.
unterlag.                                                All das hat bei dem bedeutenden Künstler*Innen
                                                         letztendlich auch eine seismographische Funktion
                                                         (Schelling, 1988, 262), die Ebenen des gesellschaft-
                                                         lichen Erlebens spiegeln, ebenso wie das individuel-
                                                         le Leiden an der Zeit.
       Abb. 1:
                                                         Ohne mit dem Werk Camille Claudels groß vertraut
                                                         zu sein, besuchte ich in Düsseldorf eine Ausstellung
                                                         des bedeutenden französischen Bildhauers Auguste
                                                         Rodin (1840-1917). Einige wenige Skulpturen schie-
                                                         nen mir einen tiefen geistig-seelischen Aspekt zu
                                                         vermitteln. Erst beim näheren Hinsehen entdeck-
                                                         te ich den Unterschied zu den körperlich-erotisch
                                                         orientierten Skulpturen Rodins: Es waren die Wer-
                                                         ke seiner Schülerin und Geliebten Camille Claudel.
                                                         Ihre Arbeiten zeichnen sich durch die Einbeziehung
                                                         eines geistig-seelischen Aspektes aus. Sie themati-

6                                                                           DGKT - JOURNAL         01.2020
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siert zugleich das eigene Leiden und Erleben, der        312). Francois Lhermitte und Jean-Francois Allilaire
unbewusste Bedeutungsinhalt liegt näher an der           schließen aus, dass der „Fall Camille Claudel“ un-
Oberfläche als bei Rodin.                                ter heutigen Bedingungen anders verlaufen wäre:
                                                         „Wir kommen zur gleichen Schlussfolgerung: selbst
Von ihrem wirklichen Talent überzeugt, versucht          wenn durch einen glücklichen und unwahrschein-
Camille Claudel durch eine erste Trennung Rodin zu       lichen Zufall die Umstände mitgespielt hätten und
entkommen, „und formt ‚eine kniende Frau mit aus-        die Chance (!) eines Vertrauensverhältnisses zu ei-
gestreckten Händen, schön in jeder Bewegung ihres        nem Arzt und vielleicht auch die Einnahme von rein
Körpers, mit nach hinten geneigten Oberkörper, das       sedierenden Medikamenten genutzt worden wäre,
Gesicht erhoben“, die diese Trennung verkörpert,         hätte Camille, weil der Wahn mit ihr ‚durchging’,
aber auch die Trauer, sich eingestehen zu müssen,        sich früher oder später von allem abgeschottet. Ein-
dass Rodin ihren Absolutheitsanspruch nicht erwi-        halt geboten hätte ihr auch in diesem Fall nur (...)
dern kann. Diese Figur wird unter dem Titel „Der         die öffentliche Gewalt“ (Paris, 1987, 182).
entflogene Gott oder Die Flehende 1894“ in der
SNBA ausgestellt und Camille nimmt das Motiv in          Camille Claudel wird 19 Jahre nach der Beendigung
ihrem Meisterwerk „Das reife Alter“, einer Allegorie     ihrer Skulptur „Die Flehende“ am 10. März 1913 in
ihres endgültigen Bruchs mit Rodin, wieder auf“ (Ri-     die Nervenheilanstalt Ville-Evrard eingeliefert. Dr.
vière, 1986, 30).                                        Maurice Ducoste diagnostiziert einen systemati-
                                                         schen Verfolgungswahn. Die Einweisung erfolgt auf
„In ihrer Suche nach der absoluten Liebe enttäuscht“,    Veranlassung ihres Bruders Paul Claudel. Am 19.
arbeitet Camille unterdessen für ihren ersten staat-     September 1913 erscheint ein Artikel in einer Pro-
lichen Auftrag an einer Gruppe, die später „Der Weg      vinzzeitung aus der Heimat der Claudels, L‘Avenir de
des Lebens“ heißen wird. Der resignierte Mann gibt       L‘Aisne, der Camille Claudel als Künstlerin vorstellt
der drängenden alten Frau nach, die ihn mit ihren        und ihre Internierung als unrechtmäßig anklagt
Armen umfängt, während die junge Frau, flehend,          (Flagmeier, 1990, 65).
mit ausgestreckten Armen zurückgelassen wird. Der
Bruder von Camille, Paul Claudel skizziert die Situa-    Die Psychiater Lhermitte und Allilaire (1987, 156)
tion: „Meine Schwester Camille, flehend, erniedrigt,     sprechen von einer paranoiden Psychose bei Ca-
kniend, nackt! Alles zu Ende! Das hat sie uns für im-    mille Claudel: „Im November 1905 wurde der psy-
mer zum Betrachten hinterlassen! Und wissen Sie,         chotische Zustand offenkundig. Sie berichtet Asselin
was sich ihr, gerade in diesem Moment, von ihren         streng vertraulich, zwei Individuen hätten versucht,
Augen, entreißt, ist ihre Seele! Alles auf einmal, die   ihre Fensterläden aufzubrechen, und sie habe sie
Seele, das Genie, die Vernunft, die Schönheit, das       identifiziert als zwei italienische Modelle Rodins, der
Leben, ja selbst der Name“ (Rivière, 1986, 44).          ihnen befohlen habe, sie zu töten. Für sie war die
                                                         Situation klar: Sie stand Rodin im Wege; also setzte
Renate Flagmeier (1988, 36) sieht jedoch die Re-         er alles daran, sie beseitigen zu lassen.“ (1987, 161).
zeption von Camille Claudels Werken auf der Basis        „Nach außen offenkundig wurde Camilles Wahn
einer persönlichen Biographie, wie ihr Bruder oder       1904. Begonnen hatte er schon früher: schon gegen
R. M. Paris, die 1984 eine Monographie über Leben        1899 oder 1900 waren gewisse Anzeichen erkenn-
und Werk Claudels veröffentlichte als zu einfach an,     bar, aber das ist unwichtig“ (1987, 164).
und sie schreibt: „Meines Erachtens wird die psy-
chische Erkrankung Claudels nicht im Sinne eines         Unwichtig? In der Skulptur „Die Flehende“ scheint
traditionellen Künstlerbildes gewertet, sondern als      mir die Krise, d. h. die Kränkung, schon angedeutet.
rein biographische Problematik.“ (Flagmeier, 1989,       Es fehlte die Sensibilität ihres Umfelds damit umzu-

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gehen. Wenn noch heute von Psychiatern nur der          andauern und manchmal lebenslang bestehen. Als
Ausbruch einer schweren seelischen Krankheit be-        diagnostische Leitlinien sind die Wahnvorstellungen
deutsam ist, wenn man wie Lhermitte und Allilaire       das auffälligste oder einzige klinische Charakteris-
(1987, 177) psychische Erkrankungen nur persönlich      tikum. Sie müssen mindestens seit 3 Monaten be-
betrachtet, dann soll uns das Drama und Leiden psy-     stehen, eindeutig auf die Person bezogen und nicht
chisch Kranker in unserer heutigen Zeit nicht wun-      subkulturell bedingt sein.
dern.
                                                        Viel naheliegender ist es jedoch, von einer paranoi-
Die Erfahrungen der Sozialpsychiatrie lehren uns et-    den Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Menschen
was anderes: es ist möglich, seelischen Krisen durch    mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung, so
Akzeptanz und Verständnis zu begegnen, und den          C. Rohde-Dachser (1991,107), tendieren zu pro-
Ausbruch einer psychischen Erkrankung bestimmt          jektiven Verarbeitungen vor allem im aggressiven
nicht nur der Einzelne, sondern das gesellschaftlich-   Bereich. Sie sind dauernd auf der Hut vor Angrif-
familiäre Umfeld ist dabei in einem großen Maße         fen, wobei sie dazu neigen, das Verhalten anderer
beteiligt.                                              als feindlich oder verächtlich zu missdeuten. „Der
                                                        Versuch des Gegenübers, diese Wahrnehmung zu
Zwei Psychiater scheinen uns Camille Claudel hier       korrigieren wird in der Regel als Bestätigung der ur-
vorzuführen als müssten wir trennen zwischen Kunst,     sprünglichen Befürchtungen gewertet (paranoider
Mensch und seelischer Erkrankung. Unabhängig von        Denkstil). Fanatismus, Querulantentum, pathologi-
den sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen       sche Eifersucht, chronische Streitsucht und Recht-
sollen wir glauben, dass Camille Claudel letztendlich   haberei können das Erscheinungsbild prägen. Die
Opfer ihrer persönlichen Entwicklung war.               ICD-10 Klassifikation findet sich unter F 60.0 und
                                                        meint eine deutliche Unausgeglichenheit in den Ein-
Es steht außer Zweifel, dass Camille Claudel seelisch   stellungen und im Verhalten in mehreren Funktions-
erkrankte, doch die Dimension, die Diagnose, kann       bereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle,
in ihrer Heftigkeit und in ihrem Ausmaß angezwei-       Wahrnehmen und Denken sowie in Beziehungen zu
felt werden.                                            anderen. Was einhergeht mit übertriebener Emp-
                                                        findsamkeit bei Rückschlägen und Zurücksetzung.
Diagnose                                                Hier liegt eine schwere Störung der charakterlichen
                                                        Konstitution und des Verhaltens vor, die mehrere
Bei Camille Claudel wird als Krankheitsform eine        Bereiche der Persönlichkeit betrifft. Sie geht meis-
paranoide Psychose, d.h. wahnhafte Störung ange-        tens mit persönlichen uns sozialen Beeinträchtigun-
nommen. Diese Bezeichnung wird heute in der Inter-      gen einher. Persönlichkeitsstörungen treten häufig
nationalen Klassifikation psychischer Störungen der     erstmals in der Kindheit oder in der Adoleszenz in
Weltgesundheitsorganisation ICD-10 unter F20-F29        Erscheinung und manifestieren sich endgültig im Er-
geführt. Dabei wird zwischen Schizophrenie, schizo-     wachsenenalter (ICD 10).
type und wahnhaften Störungen unterschieden. Die
Frage, die sich nun im Zusammenhang mit der Dia-        Dies beinhaltet jedoch auch, sich der Kränkung, die
gnose des Krankheitszustandes der Künstlerin erge-      Camille Claudel erlitt, von einem psychologischen
ben, ist, ob es sich hier wirklich um eine paranoide    Standpunkt zu nähern. Denn Kränkungen erleiden
Psychose gehandelt hat. Diese Gruppe von Störun-        wir alle. Die Dimension und Ausprägung sind un-
gen ist charakterisiert durch die Entwicklung einer     terschiedlich. Gewiss, psychische Erkrankungen
einzelnen Wahnidee oder mehrerer aufeinander            sollten wir aber keinesfalls als eine Ebene von Aus-
bezogenen Wahninhalte, die im Allgemeinen lange         grenzung, Unfähigkeit etc. begreifen. Leider wird

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dies allzu häufig getan, und macht das Leiden daran     Psychobiografie
um so schwieriger. Der Ausgrenzung von psychisch
Kranken begegnen wir täglich, letztendlich scheint      Wenden wir uns jetzt dem Kunstwerk nochmals zu,
dies der Grund auch für Camille Claudels Isolation,     dann wird deutlich, dass die Geste des ,Flehens´ den
welche sie die letzten dreißig Jahre auf allen Ebenen   gesamten Raum umgreift. Kniend ringt die Künstle-
ihres Lebens begleiteten.                               rin um Verständnis, um Akzeptanz ihrer individuellen
                                                        und gesellschaftlichen Situation. Eine seelische Krise
Das mangelnde Verständnis für eine schwere see-         scheint angedeutet.
lische Kränkung und der Umgang damit, der An-
gehörigen und der Gesellschaft, scheint mit einem       Hinter diesem Flehen steht zunächst, die Anerken-
weiteren wichtigen Aspekt, um die Tragödie der          nung durch die Mutter. Nach der Biografie von An-
Künstlerin zu verstehen. Die Analyse „psychisch         drea Schwers (1994, S. 148) sind Pflichtgefühl und
krank“ reicht schon aus, um einen gesamten Le-          moralische Strenge die hauptsächlichen Charak-
bensentwurf zu zertrümmern, weil der Begriff falsch     terzüge der Mutter. Ihr Bruder Paul beklagt sich als
verstanden wird.                                        Erwachsener über fehlende Zärtlichkeit in der Kin-
                                                        dererziehung, und Camille Claudels herzzerreißende
Ein psychisch Kranker „ist ein Mensch, der bei der      Briefe aus der Anstalt werden noch im hohen Alter
Lösung seiner Lebensprobleme in eine Sackgasse          um Verständnis und Liebe der Mutter. Für die künst-
geraten ist. Diese Sackgasse nennen wir Krankheit,      lerischen Ambitionen ihrer Kinder, der energischen
Kränkung, Störung, Leiden oder Abweichung. Sie          und aus der Rolle fallenden Camille, die schon im
sind grundsätzlich allgemein-menschliche Möglich-       Alter von zwölf Jahren umfangreiche hochwertige
keiten; d. h. sie sind für uns alle unter bestimmten    künstlerische Arbeiten anfertigte und des einsamen
Bedingungen Ausdrucksformen der Situation: ,So          und etwas schüchternen Paul, hat sie wenig Ver-
geht es nicht mehr weiter´. Daher sind sie grund-       ständnis. Camille Claudel beschreibt ein Porträt, das
sätzlich uns allen innerlich zugänglich und bekannt.“   sie von ihrer Mutter gemalt hat: „Die großen Augen,
(Dörner u. a., 1980,10).                                in denen ein geheimer Schmerz zu lesen war, das von
                                                        Resignation geprägte Gesicht, ihre in völliger Entsa-
Camille Claudel hat einen Lebensmoment tiefster         gung im Schoß gefalteten Hände: als Ausdruck von
Kränkung in ihrer Skulptur festgehalten, das seeli-     Bescheidenheit, von übersteigertem Pflichtgefühl.“
sche Drama ist hier Impuls und vermittelt eine ei-
gentümliche Spannung, die uns herausfordert. Die        Hinter diesem Flehen steht zunächst, die Anerken-
Reaktion bei der Betrachtung des Kunstwerks waren       nung durch die Mutter. Camille Claudel wurde am
sehr impulsiv. Einige Klientinnen und Klienten zeig-    8.12.1864 als älteste von drei Kindern in Villeneuve-
ten ihre Wut, ihren Zorn, weil die Skulptur genau       sur Fére geboren. „Ihrer Geburt ging der Tod des ers-
ihr eigenes Drama skizzierte: nie gehört zu werden,     ten Sohnes voraus, den die Mutter nicht verschmer-
nicht verstanden zu werden. Als ich ihnen etwas         zen konnte (Fuchs, 1993, S.101).“ Irmgard Fuchs und
über die Lebensgeschichte Claudels erzählte, ver-       Alfred Lévy (1993,101/102) vermuten, dass die Ent-
stärkten sich die Sympathien für die Künstlerin. Es     täuschung über den Verlust des ,Stammhalters´, der
kamen spontane Vergleiche mit den eigenen Lebens-       damit verbundene Prestigeverlust und andere unbe-
situationen, besonders wurden partnerschaftliche        kannte Faktoren zur Ablehnung der erstgeborenen
Beziehungen thematisiert, die an der Entstehung der     Tochter nicht unerheblich beigetragen haben.
eigenen Kränkung mitgewirkt hatten.

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Ganz anders der Vater, der als cholerisch, leicht er-     ,Das Flehen´ der Künstlerin, eröffnet somit Erfah-
regbar, stolz und ungesellig geschildert wird, alles      rungsräume und hilft aus der visuellen Betrachtung
Eigenschaften, die ihn seiner ältesten Tochter sehr       heraus, das eigene subjektive Erleben im Umgang
ähnlich machen und zugleich ihr gespaltenes Ver-          mit einer psychischen Erkrankung und das Erleben
hältnis erklären- es ist geprägt von Liebe und Ver-       des sozialen Umfelds zu verbalisieren, wobei in einer
ständnis für ihre künstlerische Tätigkeit, aber auch      späteren Phase dann nach eigenen kreativen Mög-
erschüttert durch Verstöße der Tochter gegen die          lichkeiten gesucht wird. Sei es in der Auseinander-
väterliche Autorität (Schwers, 1995, 148).                setzung mit Literatur, Kunst und Musik oder eigenen
                                                          gestalterischen Tätigkeiten. Kohut hat insbesonde-
In der Familie wird viel gestritten, wobei sie bei die-   re auf das Hervortreten schöpferischer Betätigun-
sen häuslichen Auseinandersetzungen wahrschein-           gen in den Endphasen von Analysen hingewiesen.
lich schon früh die Rolle des schwarzen Schafes zu-       (Kraft, 1984, S. 249). Dadurch wird es möglich die
gewiesen bekam (Schwers, 1995, 149).                      nun freigesetzten schöpferischen Energien in einen
                                                          sozialen Bezug einzufügen.
Bei der Betrachtung von Camille Claudels Skulptur
erinnerte sich eine Klientin an eine Situation in ih-     Wie Benedetti (1975, S. 17) formuliert kann uns das
rer Kindheit, an die schmerzhafte Ablehnung durch         Kunstwerk jener Autoren, die in ihrem Leben an De-
ihre Mutter. Auch ihr Flehen um Empathie blieb            pressionen gelitten haben oder gar an geisteskran-
in der Kindheit unerhört. Das Verstehen hat eben          ken Symptomen gelitten haben, helfen dem inneren
nicht nur Bedeutung für den therapeutischen Pro-          Erleben des kranken näher zu kommen. Unter die-
zess, sondern begleitet uns von Kindheit an. Wenn         sem „inneren Erleben“ versteht Benedetti (1975, S.
jemand also in einer schweren Krise dieses Nicht-         18) jene Innenseite des Erlebens, welche sich in den
Verstehen verbalisiert, kann ich diesen Prozess am        Selbstzeugnissen, die uns zur Verfügung stehen,
Beispiel von Kunst erläutern.                             nicht immer voll ausspricht, sondern erst im Dialog
                                                          mit ihnen spürbar wird. Camille Claudel beschreibt
Martina Holterhof spricht bei Camille Claudel von         von ihrem Kunstwerk aus der psychologischen Situ-
einer Rollendiffusion, „die durch die mangelnde Ab-       ation, d. h. die Leiden ihrer Zeit.
grenzung der Rollen untereinander auftrat. In den
Augen Rodins war sie Gehilfin und Schülerin, Gelieb-
te Rodins, Modell, Muse und Bildhauerin in einem,
oder einfach: ‚Mädchen für alles’, eine Gehilfin, die
überall zur Stelle war und in ihrer Vielseitigkeit Ge-
nialität aufwies. Ihre vollständige Eingliederung in
den Wirkungsbereich Rodin, stellte die Eigenstän-
digkeit der Person Claudel in Frage. Unabwendbare
Kränkungen waren die Folge für eine Künstlerin, de-
ren stärkstes Bestreben die Bestätigung der eigenen
Individualität war.“ (1993, 55/56).

Gerade der Bruch der Beziehung mit Rodin hatte
für Camille Claudel fatale Auswirkungen, durch die
Frustration notwendiger Selbstobjektbedürfnisse
kam es zu einer drohenden Auflösung des Selbst.

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Sozialpsychologische Szene                              nung; am Ende stand das Gefühl des Ungenügens.“
                                                        (Corbin, 1992, 579).
Camille Claudel musste sich besonders auch als Frau
in einer von Männern beherrschten Künstlerwelt          Renate Flagmeier beschreibt die gesellschaftliche
behaupten. Die Kunsthistorikerin Renate Flagmei-        Dimension und den Widerspruch, indem sich Camil-
er, die sich umfassend mit dem Werk der Künstlerin      le Claudel befand, aus verschiedenen Perspektiven.
auseinandergesetzt hat, folgert richtungsweisend,       „Camille Claudel war wie die meisten Künstlerinnen
dass die Kränkung, welche Camille Claudel erlitt,       gezwungen, sich mit dem gesellschaftlich behaup-
nicht nur auf ihre unverarbeiteten Gefühle gegen-       teten Widerspruch zwischen ihrem Geschlecht und
über Rodin zurückzuführen sind, sondern „ihre           ihrer Existenz als Künstlerin auseinander zu setzen.
Stellung zwischen den Geschlechtern und vor allem       Das Genie wurde männlich gedacht. Einer Frau wur-
zwischen den kulturpolitischen Fronten, spielen eine    de Genialität nur in Verleugnung ihrer Weiblichkeit
ebenso wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle.“       zugestanden.“ (1988, 42), und: „sie war als Künst-
(Flagmeier, 1988, 42). „Im Kampf um ihre künst-         lerin ständig mit dem Widerspruch konfrontiert,
lerische Identität musste sich Claudel nicht nur als    gleichzeitig kunstproduzierendes Subjekt zu sein wie
Frau in einem von Männern dominierten Metier            auch als Darstellungsobjekt zu dienen (konkret für
behaupten, sondern auch als Schülerin eines bedeu-      Rodin aber auch durch die Funktion des weiblichen
tenden Bildhauers. Rodin hat um seine Durchset-         Körpers in der Kunst überhaupt). Die Künstlerin hat
zung zwar lange und hart kämpfen müssen, spielte        gegen dieses Zerrissenwerden gearbeitet, hat in der
aber ab 1880 in der kulturellen Auseinandersetzung      ‚Clotho’ den Widerspruch von Subjekt- und Objekt-
eine immer einflussreichere Rolle. Um 1900 hatte        Sein gestaltet.“ (Flagmeier, 1988, 311).
er schließlich den Rang eines unbestrittenen, nati-
onal und international gefeierten Staatskünstlers       In dem Gespräch über die Skulptur mit psychisch
erreicht. Für die Bildhauer/-innen seiner Zeit wur-     Kranken, kann insbesondere die spätere Themati-
de es zunehmend schwieriger und fast unmöglich,         sierung der epochalkulturellen Bedeutung und der
sich neben seiner dominanten Persönlichkeit Gel-        sozialen Situation neue Erfahrungsräume öffnen.
tung zu verschaffen. Claudel war besonders davon        Für Klaus Matthies (1988, S.83) liegt es nahe, „die
betroffen. Bekannt nicht nur als Schülerin, sondern     Gefühlswelten, die alle Künste enthalten (von de-
als Geliebte des Künstlers wurde die Unterstellung,     nen die Künste ausgehen, auf die sie sich beziehen)
als Frau zu keinen eigenständigen Leistungen fähig      mit den Gefühlswelten des täglichen Lebens, wie
zu sein, noch verstärkt. Auch wenn einige Skulptu-      sie besonders in therapeutischer Sicht und Absicht
ren als originale Schöpfungen angesehen wurden,         bedeutsam sind, in Beziehung zu setzen.“ „Darüber
musste sie bei den meisten ihrer Arbeiten ständig di-   hinaus bestimmt er eine doppelte Bedeutung der
rekte oder indirekte Plagiatsvorwürfe hinnehmen.“       Katharsis, da sie daran beteiligt ist, dass „ästheti-
(Flagmeier, 1988, 431).                                 scher Genuss (ästhetisches Erleben) einen substan-
                                                        ziellen geistigen Anteil hat. (...) In diesem Sinne ist
Darüber hinaus beinhaltet meines Erachtens das          Katharsis ein wichtiger „purgierender“ Vorgang:
Werk Camille Claudels einen weiteren Aspekt, der        Prozess der Aufarbeitung, Reinigung, Erneuerung“
die gesamte historische Epoche umgreift. „Die fort-     (Matthies 1988, S. 90).
schreitende Individuation des Menschen erzeugte
neue Formen subjektiven Leidens. (...) Die Bemühun-     In einem Kunstwerk sind tatsächlich alle Emotions-
gen des Einzelnen um die Formung seiner Persön-         erfahrungen angelegt- und es finden immer auch
lichkeit und die Rücksicht auf das Urteil der anderen   diejenigen von ihnen den Weg zum Betrachter, die
mündeten in Unzufriedenheit, ja, in Selbstvernei-       ihm vielleicht am Fernsten liegen (Hecht 2014, S.7).

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„Kunstwerke sind aufgrund ihrer Vielschichtigkeit in      del wieder aufmerksam, die offensichtlich aufgrund
der Lage, eine reichhaltige Palette an Assoziationen      einer willkürlichen Familienentscheidung interniert
und Reaktionen für Patient*Innen zur Verfügung zu         wurden, weil man den Ruf der ‚großen Männer’ ret-
stellen“ (Sarbia 2015, S.193).                            ten wollte.“ (Perrot, 1992, 286).
                                                          Klaus Dörner und Ursula Plog (1980) fordern zu ei-
Hierüber ist dann auch eine Annäherung an die psy-        ner Übung auf, die obwohl in keiner Weise bezogen
chohistorische Bedeutung möglich. Denn Michelle           auf Camille Claudel, uns auf einen zentralen Kern
Perrot (1992, 285) weist darauf hin, dass es meh-         hinweisen: „Denken Sie gemeinsam darüber nach,
rere Beispiele für den Missbrauch der Medizin gab.        was in unserer Gesellschaft um 1900 passiert sein
Es gab Fälle in denen medizinische Autorität miss-        muss, dass man plötzlich Spalten, Zerreißen, Tren-
braucht und abweichende Verhaltensweisen unbe-            nen, Sich-Unverfügbar-Machen so scharf wahrnahm
rechtigt in ‚Verrücktheit’ umdefiniert wurden.            (so bedrohlich fand), dass man die Krankheitseinheit
                                                          ‚Schizophrenie’ erfand, obwohl es vorher genauso
„Ähnlich verhielt es sich bei Hersilie Rouy, die 1854     viele ‚schizophrene’ Menschen gab, für die man sich
auf Betreiben ihres Halbbruders, der auf ihr Erbe         bis dahin mit den Diagnosen ‚Manie’ oder ‚Depressi-
spekulierte, ‚freiwillig interniert‘ wurde; unter dem     on’ begnügte.“ (1980, 121).
Vorwand, ihre exzentrische Lebensführung – sie war
eine unverheiratete Künstlerin und versuchte, unab-       Camille Claudel kämpfte mit einer immensen Ener-
hängig und allein zu leben, sei Ausdruck einer ‚aku-      gie um die Anerkennung als Künstlerin gegen die be-
ten Manomanie’, stellte ein gewisser Dr. Pelletan         stehenden sozialen und gesellschaftlichen Ressenti-
eine Bescheinigung aus, die ihr vierzehn Jahre An-        ments. Diese Energie spiegelt sich in ihrem Werk ,Die
stalt eintrug. (...) In jüngster Zeit wurde man auf die   Flehende´, zugleich aber auch der Widerspruch der
Persönlichkeiten wie Adèle Hugo oder Camille Clau-        sich widerstreitenden Kräfte. Die Künstlerin skizziert

                                                                                            Abb. 2:

12                                                                            DGKT - JOURNAL          01.2020
sich selbst in der Skulptur und genau das bleibt un-      eine tiefe Kränkung, die wir bei uns bis in die tiefs-
erkannt. Ein letzter Versuch, die letzte Energie wird     ten Schichten verfolgen können.
gebunden, um die seelische Krise darzustellen.
                                                          Wie oben schon angeführt, bestimmt natürlich das
Renate Flagmeier kommt zu dem Schluss, dass Clau-         gesamte sozial-gesellschaftliche Umfeld die Ent-
del zwar in ihrer Arbeit bestätigt wurde, aber nicht      wicklung mit. „So sehr es stimmt, dass der Mensch
in ihrer Eigenständigkeit anerkannt wurde (Flag-          den Forderungen der Gesellschaft, in der er lebt,
meier, 1988, 43).                                         gerecht wird, sosehr stimmt es auch, dass die Ge-
                                                          sellschaft so konstruiert und strukturiert sein muss,
Diese Feststellung erscheint mir von besonderer Be-       dass sie den Bedürfnissen des Menschen gerecht
deutung, wenn wir uns dem Werk von einem umfas-           wird.“ (Fromm, 1992, 108).
senden Aspekt nähern wollen. „Nicht die Deutung,
sondern der ganze Zusammenhang von Vorausset-             Dies gilt zum einen für die gesellschaftliche Situati-
zungen, Vorgang, demonstrativer Evokation im Le-          on der Künstlerin, zum anderen für die soziale Ak-
bensprozess ist wichtig.“ (Matthies, 1990, 38).           zeptanz von psychischen Erkrankungen.

Das Kunstwerk ,Die Flehende´ scheint mir nun Aus-         Camille Claudel beschreibt von ihrem Kunstwerk
druck für eine solche Sackgasse, wie Dörner und           aus, die psychologische Situation, d. h. die Leiden
Plog sie umschreiben.                                     ihrer Zeit.
Was Klaus Matthies für die ästhetische Erziehung          Dies führt uns zurück in unsere Zeit und die Frage
definiert, „dass die Wahrnehmung isolierter künst-        nach der Bedeutung und dem Interesse an dem
lerischer Werke der Rückbindung in die Alltagswelt        Werk Camille Claudels. Das Gefühl des Ungenügens
und -wahrnehmung bedarf.“ (Matthies, 1987, 34), ist       ist gerade in unseren Tagen bedeutsam. Die Reiz-
auch eine grundsätzliche Möglichkeit der Arbeit mit       überflutung durch die digitalen Medien, die Aus-
Kunst im psychosozialen Bereich. Wenn ein Kunst-          grenzung derjenigen, die dem Leistungsdruck nicht
werk Gefühle auslöst, d. h. eine Lebenssituation re-      standhalten können, Orientierungslosigkeit sind
flektiert, die schon an der Oberfläche nachvollzogen      Themen unserer Zeit.
werden kann, dann ist eine wichtige Funktion von
Kunst erfüllt: „An ihnen, den künstlerischen Men-         Camille Claudels Skulptur ,Die Flehende´ bringt eine
schen und den künstlerischen Werken haben wir             seelische Krise zum Ausdruck, die in einem hohen
nichts als die Herausforderung. Das ist alles. Und das    Maße neben dem persönlichen Aspekt aus den gesell-
ist sehr viel. Wo sonst im Leben begegnet uns diese       schaftlichen und sozialen Ressentiments resultiert.
Herausforderung in dieser Intensität: selbst und gera-
de da, wo wir sie nicht gleich verstehen, nicht verste-   Camille Claudel muss in ihrer Zeit um die Akzeptanz
hen wollen oder dürfen.“ (Matthies, 1988, 34).            als Künstlerin und Frau hart kämpfen. Hinzu kommt
                                                          das Abhängigkeitsverhältnis zu Rodin, der ihre An-
Wie Rudolf zur Lippe ausführt, ist das Ästhetische in     sprüche und Erwartungen nicht erfüllen kann. Die
vielfältiger Weise eine Funktion des Seelischen. „Es      Trennung von Rodin schränkt Camille Claudel in ih-
ist abhängig von ihm, etwa indem es ihm zum Aus-          rer Entwicklungsfähigkeit als Künstlerin deutlich ein.
druck wird. Umgekehrt hat das Ästhetische selbst          Die Tiefendimension ihrer Skulptur ,Die Flehende´
entscheidende Bedeutung indem von ihm Wirkun-             wird von ihrem Umfeld nicht verstanden. Dies führt
gen, Anregungen, Aufforderungen an das Seelische          in den folgenden Jahren zu einer seelischen Erkran-
ausgehen.“ (zur Lippe, 1987, 235).                        kung, die einen ungerechtfertigten lebenslangen
Claudels ,Die Flehende´ symbolisiert einen Verlust,       Psychiatrieaufenthalt zur Folge hat.

DGKT - JOURNAL         01.2020                                                                              13
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Ich schaffe es !!!
Kunsttherapeutische Interventionen in schwierigen Prüfungssituationen

Brigitte Michels

Als Kunsttherapeutin nutze ich täglich Bilder in mei-    Ariane kommt in die Praxis, nachdem sie zweimal
ner Arbeit. Dadurch sind neue Zugänge möglich.           bei der Heilpraktikerprüfung durchfallen ist.Sie ist
Wir kennen es alle aus unserer Arbeit, die Klienten      seit 25 Jahren Lehrerin an einer Fachschule. Im Ge-
kommen unter großem Druck.                               spräch wird klar, sie hatte ausreichend gelernt und
                                                         noch nie vorher in einer Prüfung versagt. So bot ich
Klienten, die ihre Situation schildern, verlieren sich   ihr an, in einer Früherinnerung altes biographisches
oft in emotionsgeladenen Themen: Diese bringen           Erleben zu spüren. Ich führte sie in einer Meditation
den Prozess zum Stocken, denn je mehr die Klienten       in Kind- oder Jugendjahre zurück und bat sie einfach
uns erzählen, umso diffuser wird es. Lange Schilde-      zu zulassen, was kommt.
rungen bringen keine Klarheit, sie vernebeln eher.
Hier ist es hilfreich, von der verbalen in die nonver-   Als sie die Augen wieder aufmachte, stößt sie den
bale Ebene zu wechseln.                                  Satz aus: „Das steht dir nicht zu!“ Sie schreibt ihn
                                                         auf. Sie schaut erschrocken. Dann erzählt sie mir,
Das schreit förmlich nach dem Bild!                      dass sie nach dem Abitur gerne Medizin studiert
                                                         hätte, doch ihre Mutter verbot es.
Dabei setze ich bildnerische Mittel ein und gebe den
Auftrag, die Prüfungssituation konkret zu malen, so-
wohl de verpatzte Situation wie die Angst vor der
Prüfung. Die Aufgabe an die Klienten lautet nach
einer kurzen Meditation, die sie in Kontakt bringt
mit dem Erleben der Prüfungssituation: ,,skizzieren
Sie ihre Prüfungssituation ganz konkret.“ Und um es
niederschwellig zu halten, sage ich dazu, es dürfen
Strichmännchen sein. Als Material bietet sich ein
DIN A 4 oder DIN A5 Blatt an und ein kräftiger Filz-
stift.                                                                                    Bild 1:
                                                                                          Prüfungssituation
Hier entsteht das Bild - als lnitialbild. Es zeigt die
Prüfungssituation und lässt sich besprechen. Oft
zeigen die Bilder eine ungleiche Situation: der klei-
ne Prüfling und übermächtigen Prüfer. Im Gespräch
erkennt die Klienten, das Prüfer und Situation i.d.R.
freundlich waren, so dass die Frage kommt: Was ist
der Grund für das Versagen. Wenn dann noch beim
Abfragen der Lernstrategien keine Auffälligkeiten
sind, wenden wir den Blick auf die Lebensgeschich-                                        Bild 2:
te und die frühen Aufträge an das damalige Kind                                           Prüfungssituation

DGKT - JOURNAL        01.2020                                                                                 15
„Das steht dir nicht zu!“ Sie solle Pädagogik studie-       Der nächste Auftrag lautet: ,,Wie soll es sein in der
ren oder etwas Kaufmännisches machen. Als sie               nächsten Prüfung. Gilt der Satz noch heute? Sie
erkannte, dass die Heilpraktikerin wie der Arzt, hei-       ist erschrocken über dieses abwertende Urteil des
lend tätig werden darf, strafft sie die Schultern. „Ich     Vaters und merkt, dass es immer noch wirksam
schaffe es!“ Der Rest war einfach, ein halbes Jahr          ist. Dann schüttelt sie den Kopf. ,,Nein.“, sagt sie.
später hat sie es geschafft.                                Schnell nimmt sie einen dicken roten Stift, streicht
                                                            das Prüfungsbild durch und schreibt drüber: ,,Vor-
Bei Kathrin war es ähnlich. Sie ist gut vorbereitet         bei!“ Kathrins Stimme ist klar und fest, sie strafft die
und kann die Prüfungsthematik sicher erklären.              Schultern.
Trotzdem hat sie große Angst. Ich bitte sie, sich die
kommende Situation vorzustellen und dieses innere           Der nächste Auftrag lautet: ,,Wie soll es sein in der
Bild in einer kleinen Skizze festzuhalten. Es dauert        Prüfung?“ Sie stellt eine große rote Figur auf ein
nur wenige Momente. Dann bitte ich sie, sich selber         Blatt und sagt: ,,Ich schaffe es!“
als Holzfigur ins Bild zu stellen. 5ie wählt die kleinste
Holzfigur für sich aus und stellt sie in die Prüfungs-
situation, um sie herum fünf riesige Prüfer. Die kom-
mende Prüfung ist für sie eine Horrorvorstellung. So
beschreibt sie es.

                              Bild 3:
       Kathrins Prüfungscoaching als
                    Bildergeschichte

Es gibt eine Diskrepanz zwischen ihrer Sicherheit           Kathrin bekommt den Auftrag, die Bilder als Bilder-
in der Materie und ihrer Angst. Das deutet auf bio-         geschichte auf der Zeit und Entwicklungslinie zu
grafische Muster und ich bitte sie, ihre Ursprungs-         platzieren. Die Ursprungsfamilie ist links vom Initial-
familie aufzustellen. Wieder auf einem kleinen              bild, das Blatt mit der großen Figur und der Zielsatz
Blatt, Sie ist wieder die Kleinste. Dabei erinnert sie      „Ich schaffe es!“ liegt rechts. Das ist die Zukunft für
sich an den Satz des Vaters: ,,Mädchen sind hübsch          Kathrin. Kathrin spürt sich wieder als erwachsene
und dumm.“ ,,Gilt der Satz noch heute? „ Sie ist            Frau. Um den Prozess zu festigen, schlage ich ihr vor,
erschrocken über dieses abwertende Urteil des Va-           zu dieser Bildergeschichte ein Märchen zu erzählen
ters und merkt, dass es immer noch wirksam ist.             und gebe den Einsatz: „…es war einmal…“

Ich bitte sie das Prüfungsgeschehen, das bisher
passiert ist, auf einer Zeit- und Entwicklung Linie zu        …es war einmal ein kleines Mädchen, das durfte sei-
legen. Da kommt zuerst das Bild in der Ursprungs-             ne bunten Schmetterlingsflügel nicht zeigen.

familie. Und wir legen die biografischen Blockaden            Und wenn die Anderen die bunten Flügel erkannten,
                                                              dann wurde sie noch mehr „zer – drückt“.
daneben. Sie wirken bis heute.
                                                              Eines Tages, als sie größer war, beschloss sie, ihre
                                                              bunten Flügel zu leben, denn ein Schmetterling ist
                                                              etwas Besonderes.
                                                              Seit dem geht sie guten Mutes durch ihr Leben.

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Kathrin erzählt das Märchen, sie schlägt den Bogen          geschichte, entsteht eine Bildergeschichte des Kon-
von dem kleinen Mädchen zur erwachsenen Frau.               fliktes. Hier erkennen Klienten oft schon Analogien
Sie besteht die Prüfung.                                    zum aktuellen Geschehen, Zugänge, die wir nutzen
                                                            können, um eine Lösung zu erarbeiten.
Sie fotografiert ihre Reihe und geht an die nächste
Prüfung, die sie besteht.                                   Das entstandene Bild über die Konfliktsituation
                                                            enthält mehr Informationen, als über Sprache
                                                            transportiert wird. Die Erweiterung mit dem Bild
Wirkung der Lebensgeschichte auf den                        fokussiert den Konflikt und gibt neue Klarheit. Da-
Konflikt                                                    durch werden Denken und Handeln in Bezug auf
                                                            die Konfliktsituation flexibel.
Ein Konflikt, der im Heute passiert und noch nicht
gelöst ist, blockiert weitere Entwicklung in Richtung
Zukunft. So zeigt das Initalbild den Konflikt und hat
auf dem Feld Konflikt seinen Platz. Viele Konflikte
werden gespeist aus der vertikalen Linie, das sind
die alten Muster, Einschärfungen, Aufträge, Glau-

                                  Aktualgeschichte                                  Lösung
                                  des Klienten
                                                         KONFLIKT
                                  Zeit- und                              Entwicklungslinie

                       Bild 4:
                                                                 Lebensgeschichte des Klienten
                                                                 •Erfahrungen
 Wirkung der Lebensgeschichte
                                                                 •Muster
              auf den Konflikt                                   •Denk- und Handlungsmodelle

benssätze usw. aus der Kindheit. Sie sind oft schon
in vorsprachlicher Zeit entstanden. Das macht sie
schwer zugänglich. Sie bleiben meist unbewusst,
aber sie sind wirksam. Erst wenn wir einen Zugang           FAZIT
dazu bekommen, ist der Weg zur Lösung leichter
geworden. Eine Möglichkeit, die alten Muster zu             Bilder fördern Lösungen, denn Malen bringt das „in-
erkennen, ist das Aufstellen der Ursprungsfamilie.          nere“ Bild vom Konflikt in die äußere Welt
Auf einer separaten DIN-A5-Karte gestellt, gehört            • das Geschehene wird klarer
es links neben das Konfliktbild, da es eine frühere          • es kann bearbeitet werden,
Situation zeigt. Mit diesem zeitlichen Anordnen der          • aus passiver Ohnmacht führt malen ins
Bilder - erst die Ursprungsfamilie, dann die Konflikt-       • Handeln und damit zu Veränderung.

DGKT - JOURNAL          01.2020                                                                            17
Gedanken im Verlauf eines dreijährigen Arbeitsprozesses - Zu einer Therapie mit Bildern

Karl-Heinz Menzen 1

Es ist noch nicht lange her, da suchte ich nach Bil-
dern, die mein Buch Heil-Kunst (2017) illustrieren
sollten. Und es fiel mir dieses Bild in die Hände,
                                                             1
welches Jacob Eberhard Gailer 1839 gleichermaßen        Die Geschichte jener Bewegung, an der ich schrieb,
zur Illustration für sein Buch „Neuer Orbis Pictus“     eines Faches, das wir ‚Kunsttherapie‘ nennen und
verwenden sollte. In seinem Untertitel stand sozu-      dem wir uns verpflichtet fühlen, ist tatsächlich ein
sagen dessen Verwendungszweck: „Für die Jugend          Vorgang, in dem die menschliche Natur sich un-
oder Schauplatz der Natur, der Kunst und des Men-       aufhörlich preisgibt. Es ist die Geschichte eines
schenlebens“. Ob ich wollte oder nicht, ich musste      Vorgangs, in dem Menschen, die in physischer und
darüber nachdenken, zu welchem Zweck ich per-           psychischer Not sind, Einblicke in ihr alltägliches
sönlich schreibe. Und die Antwort, ich weiß nicht,      Leben geben, uns diese Blicke tun lassen, im Ver-
ob sie mir gefiel, war schnell zur Hand, – zunächst     trauen, dass wir nicht so schnell mit unseren Wor-
einmal für mich selbst, musste ich gestehen. „Schau-    ten kommentierend dabei sind. Wie oft war ich mit
platz der Natur“, quasi eine Zuschreibung, der ich in   Menschen zusammen, die am Rande ihrer Existenz
der Absicht meines Schreibens gerne folgen woll-        standen; und wie oft zeigten sie mir ihre Bilder in
te. Das, was uns in den Bildern zufällt, die unsere     dem mit der Zeit erlangten Wissen, dass ich diese
Patient*Innen vor uns hinlegen, um zu warten, was       nicht kommentieren würde. Sie wussten, und sie
uns dazu einfällt, – das war ich gerade dabei zu be-    hatten dies in der Regel aus der sich selbst angeeig-
schreiben.1                                                        neten psychotherapeutischen Literatur
                                                                         erfahren, dass Kommentare hier
                                                                             nicht am Platz, eher hinder-
                                                                                 lich waren. Und so suchten
                                                                                    sie meine Mimiken wie
                                                                                      meine Gesten zu er-
                                                                                        gründen, meine Kör-
                                                                                         perhaltungen abzu-
                                                                                         suchen nach dem,
Abb. 1:                                                                                   was die Sprachfor-
Jacob Eberhard Gailer,                                                                    schung als „Konno-
Ausschnitt, 1839; aus:                                                                   tation“, als etwas
Neuer Orbis Pictus                                                                       bezeichnet,     das
für die Jugend oder                                                                     man umschreibend
Schauplatz der Natur,                                                                 hinterfragen könnte
der Kunst und des Men-                                                              nach dem, ‚was-es-denn-
schenlebens. Reutlingen:                                                         noch-bedeute‘? Die Ant-
J. C. Mäcken.                                                                wortlosigkeit, das wussten sie,
                                                                        würde nicht Bedeutungslosigkeit
1 Karl-Heinz.Menzen@t-online.de
                                                                 heißen. Würde eher bedeuten, in einen

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