Die Bewegung im räumlichen Denken bei physikalischen Aufgaben

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Didaktik der Physik
                                                                      Frühjahrstagung – virtuell 2021

              Die Bewegung im räumlichen Denken bei physikalischen Aufgaben
                      Marion Zöggeler *, Alexander Strahl +, Günter Maresch *

                  *Universität Salzburg, School of Education, AG Didaktik der Mathematik,
                          marion.zoeggeler@sbg.ac.at und guenter.maresch@sbg.ac.at
        +Universität Salzburg, School of Education, AG Didaktik der Physik, alexander.strahl@sbg.ac.at

       Kurzfassung
       Das räumliche Denken und die Vorstellung von Bewegung sind eng miteinander verbunden. Dies
       zeigt sich im Besonderen in den Inhalten der STEM-Fächer, namentlich in Physik. Das vorliegende
       Modell der Bewegung als zentrales Element des räumlichen Denkens basiert auf grundlegenden
       anerkannten wissenschaftlichen Theorien zur visuellen Wahrnehmung und zur Raumvorstellung in
       Verbindung mit fachdidaktischen Erkenntnissen aus Mathematik und Physik. Es beinhaltet u. a. die
       Bewegung als Vorstellung eines realen Ablaufs, die Bewegung als verändernden Vorgang, die Be-
       wegung als gedanklichen Prozess zur Problemlösung sowie die Bewegung als Bewegbarkeit inner-
       halb eines ruhenden Systems. All diesen Vorstellungen liegt die Erfahrung der Bewegung im realen
       Raum zugrunde. An das Modell anlehnend, werden physikalisch-technische, astronomische und ma-
       thematische Aufgaben zur Bewegung im Hinblick auf das räumliche Denken entwickelt und analy-
       siert. In diesem Beitrag wird der Schwerpunkt auf die physikalischen und astronomischen Aufgaben
       gelegt. Des Weiteren wird auf eine qualitative Studie zur Untersuchung von räumlichen Denkschrit-
       ten bei der Lösung der Aufgabenstellungen Bezug genommen. Die Studie zielt auf das Auffinden
       von Hypothesen, ob und wie das räumliche Denken von Studierenden bei der Lösung der gestellten
       Aufgaben verwendet wird.

1. Der Raum in der Physik                                 die Bewegung der Planeten um die Erde (vgl. Neuge-
Zu Beginn dieses Beitrages wird der Blick auf den         bauer, 1975). Kopernikus lenkt seinen Blick von der
Raum und die Bewegung als physikalische Inhalte           Stellung der Erde zu jener der Sonne und nimmt in
gelegt, die den Hintergrund für die weitere Ausfüh-       der Vorstellung des Raumes einen Perspektiven-
rung über das räumliche Denken bilden.                    wechsel von innerhalb einer Konstellation nach au-
                                                          ßen vor. Galilei wendet sich, ähnlich wie Aristoteles
1.1. Sichtweisen auf den Raum
                                                          mit seiner Erklärung der Nachbarschaften der Ob-
Von alters her beschäftigten sich Wissenschaftler mit     jekte und der Bewegung, gegen das Konzept von der
der Frage: „Was ist der Raum?“ und „Welche Eigen-         Leere des Raumes und begründet dies damit, dass die
schaften bestimmen die Struktur des Raumes?“ Im           Natur Leere zu vermeiden versucht. Wie Galilei setzt
Laufe der Jahrtausende treten verschiedene Sichtwei-      Descartes den Raum mit der Ausdehnung unendlich
sen in den Vordergrund, einmal empirische Betrach-        teilbarer Materie gleich. Nach seiner Vorstellung ist
tungen von Raum und Materie, dann metaphysische           der Raum durch die Beziehungen zwischen den Kör-
Erklärungen und rationalistische Interpretationen von     pern bestimmt, die ihn gänzlich ausfüllen und sich bei
Raum und „Raumbilder(n)“ (Malotki, 1979, zitiert          Bewegung berühren oder abstoßen. Körper und Raum
nach Thiering, & Schiefenhövel, 2016, S. 41).             bilden miteinander eine Einheit. Descartes weist in
Platon sieht den Raum als etwas Transzendentales          seinen Ideen auf eine metaphysische Betrachtung des
und Absolutes, a priori Seiendes, das selbst mit Den-     Raumes hin, ausgehend von kognitiver Erkenntnis
ken nur schwer ergründet werden kann. Eine Andeu-         und mathematischer Überlegung, zu einer Zeit, in der
tung des Raumes kann in seiner Beschreibung der Na-       die Mathematik als unabhängig von der Erfahrung,
tur, „die alle Körper in sich aufnimmt“ (Platon, über-    im Gegensatz zur Naturwissenschaft, gilt. Newtons
setzt von Müller & Schleiermacher, 1972, Kap. 18),        Ideen zu Descartes’ Rationalismus zeigen seine Ein-
gesehen werden. Die Sichtweise auf den Raum ist bei       stellung zur metaphysischen Betrachtung der Natur-
Aristoteles hingegen von der Betrachtung der empi-        wissenschaften. Er trifft eigene Annahmen und stellt,
risch erfassten Natur geprägt und richtet sich auf die    ausgehend von atomistischen Vorstellungen, Gesetz-
Stellung der Erde im Mittelpunkt des Universums, zu       mäßigkeiten auf, um vor allem mechanische Phäno-
dem alles strebt und sich dorthin bewegt. Zu einer        mene im Raum zu erklären. (vgl. u. a. Damerow,
ähnlichen Vorstellung des geozentrischen Raumes           2016)
gelangt Ptolemäus. Er erklärt im Almagest durch geo-      Den verschiedenen Sichtweisen liegt annähernd die
metrisch-mathematische Berechnung von Epizykeln           Vorstellung des Raumes als ein Gebilde zugrunde,

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Zöggeler et al.

das mit veränderbaren Körpern und mit Orten               erst nicht miteinbezogen worden ist. Die Quanten-
ausgestattet ist, bei deren Wechsel sich Bewegung als     physik hingegen hat das Verständnis von Raum und
Veränderung        der    Beziehung      der    Körper    Zeit nicht in diesem Ausmaß verändert, wie die Be-
untereinander vollzieht.                                  trachtung der Nicht-Lokalität von Eigenschaften in
1.2. Die Erfahrung des Raumes                             Quantensystemen vermuten lassen könnte. Vielmehr
                                                          sind die Materie und ihre mikroskopischen Eigen-
Der geographische Raum stellt den erfahrbaren Raum
                                                          schaften das zentrale Element der Quantenphysik.
im Lebensumfeld des Menschen dar. Er weitet sich
                                                          Dabei fließt der Aspekt der Wahrscheinlichkeit und
aus zum kosmischen Raum, teils aus Notwendigkeit
                                                          Unschärfe als neue Eigenschaft der Teilchen im
für die räumliche und zeitliche Orientierung, teils aus
                                                          Raum ein. (vgl. u. a. Blum et al., 2016)
Neugierde für das Erkennen der kausalen Abhängig-
keiten für die Lebensgestaltung. Natürliche Orientie-     Als zentrales Element physikalischer Konzeptbildung
rungs- und Bezugspunkte als Landmarken (vgl. u. a.        stellt das Konstrukt des Feldes an sich und mit einer
Glück et al., 2005) und technische Hilfsmittel erleich-   möglichen zeitlich-räumlichen Veränderung eine
tern das Kennenlernen des Raumes, die Vorstellung         enge Verbindung zur Vorstellung von Raum dar. Es
von Raumbildern im Gedächtnis und die Darlegung           ist sowohl die Vorstellung einer physikalischen Ein-
dieser als mentale Struktur des räumlichen Denkens        heit im Raum, als auch die mathematische Beschrei-
und Orientierens.                                         bung für die Verteilung physikalischer Eigenschaften
                                                          im Raum.
Durch Handeln mit den Objekten aus der realen Welt
und durch deren Verknüpfung mit dem Vorstellungs-         1.4. Die Verbindung von Raum und Zeit
bild lässt die Erfahrung kognitive Strukturen entste-     In der Bewegung sind Raum und Zeit als kognitive
hen. Die Erfahrung von Raum und Zeit, mit der ein         Elemente eines Vorgangs zur Veränderung miteinan-
periodischer Ablauf gemessen bzw. eine Wiederkehr         der verbunden. Der Raum wird durch Bewegung er-
von Episoden vorausgesagt wird, und die symboli-          fahren und erkundet, und die Bewegung ist an den
sche Darstellung dieser Erfahrung führen durch das        Raum gebunden bzw. an das sichtbare und/oder men-
kognitive Überdenken zu den beispielhaft genannten        tale Nebeneinander von Objekten, die ihre Beziehung
Sichtweisen auf den Raum als frühe Raumkonzepte.          zueinander durch Bewegung verändern. Die Zeit hin-
(vgl. Damerow, 2016)                                      gegen ist das Nacheinander im Ablauf eines Vorgan-
Ein bereits bestehendes Konzept des Raumes unter-         ges und das Aufeinanderfolgen von Augenblicken.
liegt einerseits der Repräsentation als der räumlichen    Sie steht gleichsam als für sich nicht-vorstellbares
Vorstellung und symbolischen Darstellung bis hin zur      Element über den Objekten. Raum und Zeit werden
Abstraktion im geometrisch-mathematischen Forma-          in einigen Konzepten der klassischen Physik getrennt
lismus, andererseits der Reflexion als Prozess des        betrachtet, während sie in anderen als Gemeinsamkeit
räumlichen Denkens. Das Denken über den Raum              aufscheinen. Die Bewegung schließt Raum und Zeit
schließt im Aufbau eines neuen Konzeptes Analogie-        mit ein. Gerade in der Astronomie und in der Astro-
bildung, Zufälligkeiten und mögliche neue Erfahrun-       physik zeigt sich in den kosmischen Vorstellungen
gen im realen empirischen und im mentalen Raum            die Erfassung der Zeit als erfahrbares bewegtes Vo-
ein. Damit zeigt sich der Weg in der Konzeptbildung       rüberziehen und Wiederkehren in Regelmäßigkeit.
und im räumlichen Denken von der Wahrnehmung              Dass Raum und Zeit aneinandergebunden sind, wird
der Raumerfahrung, über die Vorstellung in Raumbil-       – außer im beschriebenen Zusammenhang im Kon-
dern und die Abstraktion bis hin zur Bildung eines        zeptionellen – auch über verschiedene Formen der
neuen physikalischen Wissenskonzeptes höherer             Messung und der Darstellung deutlich. Die regelmä-
Ordnung. (vgl. Blum, Renn, & Schemmel, 2016)              ßige Wiederkehr von Phänomenen im realen, vor al-
                                                          lem kosmischen Raum und in physikalischen Syste-
1.3. Der Raum in physikalischen Konzepten
                                                          men wird schon früh als zeitlich-räumliches Maß be-
Durch neue physikalische Konzeptbildungen ergibt          trachtet, zum Beispiel der Tageslauf der Sonne, die
sich vielfach in Wechselwirkung eine Veränderung in       monatliche Wiederkehr des Mondbildes und die Re-
der Sichtweise auf Raum sowie auf Zeit. Im Beson-         gelmäßigkeit drehender und bewegter Elemente im
deren führen die Spezielle und Allgemeine Relativi-       Takt mechanischer Systeme
tätstheorie zu einem neuen Verständnis von Raum
und Zeit als untrennbarer Einheit, der Raumzeit. Aus-     2. Räumliches Denken – Spatial Thinking
gehend von erfahrbaren Phänomenen im Elektromag-          2.1. Begriffsklärung
netismus, vor allem in der Optik, und in der Gravita-
                                                          „Spatial thinking is the mental process of represent-
tion entsteht durch deren Beschreibung ein erweiter-
                                                          ing, analysing, drawing interferences from spatial re-
tes neues Konzept von Raum und Zeit. Die Allge-
                                                          lations […] between objects […] or relations within
meine Relativitätstheorie ist geprägt durch die neuer-
                                                          objects, […] analysing spatial relations and trans-
dings verstärkte Gewichtung der Auswirkungen der
                                                          forming spatial relations.” (nach Uttal, Miller, &
Gravitation im Raum, während in der klassischen
                                                          Newcombe, 2013, S. 367; vgl. auch National Re-
Physik im Konzept des homogenen und isotropen
                                                          search Council, 2006)
Raumes die Materie als Ursache von Gravitation vor-

362
Die Bewegung im räumlichen Denken bei physikalischen Aufgaben

Von der Raumvorstellung als gesamtheitlicher (u. a.        in der Größenordnung des Small-Scale mit handli-
El Koussy, 1935) bzw. in Faktoren (u. a. Linn, & Pe-       chen Objekten, z. B. Modellen. Das Denken mit dem
tersen, 1985) aufgegliederter Aspekt der Intelligenz       Raum deutet auf die Verwendung räumlicher Objekte
weitet sich der Begriff neuerdings zum räumlichen          und Denkprozesse zur Vorstellung nicht räumlicher
Denken als dem Spatial Thinking, das ein einheitli-        Inhalte hin, z. B. die Verwendung von Bilderzeichen
ches, jedoch fein gegliedertes Konstrukt darstellt.        als Hinweise oder von Graphen in Koordinatensyste-
(vgl. u. a. Buckley, Seery, & Canty, 2019)                 men, die Darstellung abstrakter Inhalte in Diagram-
Das räumliche Denken ist eine vielfältige komplexe         men und die Struktur von Termen (vgl. Malle, 1993)
Fähigkeit, - „visuell processing“ und „spatial cogni-      in der Mathematik. (vgl. Hegarty, & Stull, 2012)
tion“ (vgl. McGrew, 2009, S. 5; Buckley et al., 2019,      2.3. Räumliches Denken als umfassende Fähigkeit
S.168), - die sich in verschiedenen räumlichen Denk-       Das räumliche Denken ermöglicht, sich durch Wahr-
prozessen zeigt, die individuell eingesetzt und inner-     nehmen und Vorstellen mentale Abbilder des realen
halb eines Lösungsvorganges mitunter gewechselt            Raumes zu schaffen, mit diesen Vorstellungsbildern
werden (vgl. u. a. Barratt, 1953; French, 1965; Just,      zu operieren, sie zu verändern, anzupassen, sie aus
& Carpenter; 1985, Schultz, 1991). In der aktuellen        verschiedener Lage zu betrachten und in symboli-
Forschung wird räumliches Denken unter anderem             schen, auch abstrakten Darstellungen wiederzugeben.
gesehen als „largely determined by the capacity to         Damit gehen vielfältige Denkvorgänge einher. Diese
represent and manipulate mental information (spatial       Denkprozesse, in der Literatur als „problem-solving
cognition) and to hold sufficient amounts of pertinent     behavior“ und „problem-solving processes“ (Bar-
information (working memory)” (Buckley et al.,             ratt, 1953, S. 17), „problem-solving styles“ (French,
2019, S. 166). Dabei wird das räumliche Arbeitsge-         1965, S. 2), „mental operations, representations and
dächtnis als Element des räumlichen Denkens ge-            strategies“ (Just, & Carpenter, 1985, S.137) und als
wichtet.                                                   Strategien (Maresch, 2014) bezeichnet, kennzeichnen
Ein früher Hinweis auf räumliches Denken ist in einer      individuelle und wechselnde Denkvorgänge in der
Aussage von Galton (1879) gegeben.                         Raumvorstellung. Sie beinhalten z. B. ganzheitliches
„Much instruction on these matters can be derived          oder analytisches Vorgehen, Wechseln der Blickrich-
from those who possess the power of what is called         tung, gedankliches Bewegen eines Objektes oder der
the visualising faculty, in a high degree. The objects     eigenen Person, Zuhilfenehmen eines Koordinaten-
of their memory are conspicuous images; they can re-       systems und Betrachten von wesentlichen Merkma-
tain them for a long time before the eye of their mind,    len eines Objektes, seiner Lage und seiner Beziehung
they can dismiss or change them at will, and they can,     im Raum, den „key features“ (Schultz, 1991, S. 477).
if they please, subject them to careful examination        Das räumliche Denken baut auf die visuelle Wahr-
from every side.” (Galton, 1879, S. 158 f.)                nehmung (Frostig, Horne, & Miller, 1972) und die
Galton bezieht sich auf räumliche Bilder vor dem           Raumvorstellung (vgl. Maresch, 2020) auf. Die visu-
Auge des Geistes, die verändert, bearbeitet und von        elle Wahrnehmung betrifft u. a. das „Sehen“ eines ru-
verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kön-          henden oder bewegten Objektes durch Sinneswahr-
nen. Dieser angedeutete Ablauf des räumlichen Den-         nehmung, die Unterscheidung eines Objektes von sei-
kens findet sich auch in aktuellen Begriffsklärungen       nem Hintergrund und das Erkennen seiner Raumlage
zum Raumvorstellungsvermögen (u. a. Maresch,               sowie das Wiedererkennen bei Unvollständigkeit. Sie
2020) bzw. zum räumlichen Denken, dem Spatial              ist die Voraussetzung für das räumliche Vorstellen
Thinking (vgl. National Research Center, 2006), wie-       und mentale Bearbeiten eines gedanklichen Objektes
der, in denen die individuellen Denkprozesse immer         und für das Orientieren im realen und mentalen
mehr in den Vordergrund rücken. Mc Grew (2009)             Raum. Räumliches Denken, speziell in den STEM-
charakterisiert den visuellen und räumlichen Fähig-        Fächern, schließt außerdem ein zielführendes Analy-
keitsbereich der Intelligenz als „the ability to gene-     sieren und Argumentieren als Weiterarbeiten und
rate, store, retrieve and transform visual images and      Übertragen auf ähnliche weitergefasste Inhalte mit
sensations” (Mc Grew, 2009; S. 5). Er bezieht sich         ein. Im mentalen Weiterarbeiten sind Möglichkeiten
außerdem auf die Wahrnehmung und Vorstellung von           gegeben, z. B. mit geometrischen Eigenschaften von
Formen und Bildern und auf die räumliche Orientie-         Objekten und ihren Beziehungen, wie Orthogonalität,
rung von Objekten, die sich verändern und im Raum          Parallelität, Winkelsumme u. a. zu argumentieren.
bewegen.                                                   2.4. Räumliches Denken in Physik
2.2. Denken über und mit dem Raum                          Der Physik liegt als Auftrag die „Suche nach letzten
Räumliches Denken umfasst das Denken über den              Wahrheiten über die Realität“ zugrunde (Kircher,
Raum und das Denken mit dem Raum. Ersteres be-             2009 a, S. 27). Dabei verbindet sie Erfahrungen und
trifft einerseits die Erfahrung im realen Raum, im         Erforschungen mit Erfassen und Vorhersagen „von
Large-Scale, in dem man nur einen Teil des Gesamten        raum-zeitlichen Änderungen an physikalischen Ob-
zeitgleich erfassen kann, andererseits die mentale Be-     jekten“ (ebd. S. 4), um Strukturen für ein allgemeines
arbeitung realer und vorgestellter Objekte im Raum,        Konzeptverständnis und als „Grundlage für techni-
                                                           sche Anwendungen“ (ebd. S. 5) zu schaffen.

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Zöggeler et al.

Vom Elementarisieren und Idealisieren komplexer          räumliche Denken. Bewegung äußert sich dabei in
Erfahrungen und Inhalte, führt der physikalische Er-     verschiedener Weise, als Vorstellung und Vorausden-
kenntnisweg im Wechselspiel von Theorie und Expe-        ken eines Bewegungsablaufs, als mentaler Verände-
riment zur Entwicklung bzw. zum Verständnis physi-       rungsprozess eines Vorstellungsbildes oder als ge-
kalischer Konzepte. Dazu können bildhafte und sym-       danklicher Vorgang zur Problemlösung.
bolische Darstellungen ein gedankliches räumliches       Ausgehend von der wirklichen Bewegung und Orien-
Bild einer realen Gegebenheit vermitteln, wofür eine     tierung im Raum zu dessen Erkundung und vom
sprachliche und mathematische Beschreibung einge-        Empfinden der Bewegung des eigenen Körpers, er-
setzt werden kann. (vgl. Kircher, 2009 b) Dies stellt    folgt die Übertragung in die Vorstellung und damit
eine enge Verbindung physikalischer Inhalte zur Vor-     auch die Erweiterung der gedanklichen Fähigkeiten
stellung des Raumes und zum räumlichen Denken            zur Vorstellung des Raumes. (vgl. Stückrath,1955;
her. Einige Beispiele aus Studien sollen dies verdeut-   Piaget, & Inhelder, 1971; Glück et al., 2005; Wolbers,
lichen.                                                  & Hegarty, 2010)
Die Vorstellung der veränderten Bewegungsbahn ei-        3.2. Modell der Bewegung im räumlichen Denken
nes sich bewegenden Objektes durch Krafteinwir-
                                                         Aus der Analyse der Bewegung und der Vorstellung
kung, z. B. die Ablenkung einer rollenden Kugel auf
                                                         darüber im räumlichen Denken wurde das Modell der
einer glatten Fläche durch einen seitlichen Kräftestoß
                                                         Bewegung geschaffen, das als Grundlage für die in
(u. a. Kozhevnikov, Motes, & Hegarty, 2007) oder
                                                         diesem Beitrag vorgestellten Aufgaben zu Bewegung
die Ablenkung eines sich bewegenden geladenen
                                                         und Veränderung dient. Es zeigt die verschiedenen
Teilchens in einem homogenen Magnetfeld (u. a. Ful-
                                                         Aspekte der Bewegung auf, die in der Realität und in
mer, & Fulmer, 2014), setzt im räumlichen Denken
                                                         der Vorstellung von Veränderung bei mathemati-
das Nachvollziehen einer realen Bewegung voraus.
                                                         schen und physikalischen Inhalten zum Tragen kom-
Für das Vorhersagen des weiteren Bewegungsver-
                                                         men. Dabei handelt es sich um vier Ausprägungen
laufs werden räumliche Beziehungen zwischen Rich-
                                                         von Bewegung:
tungen und Geschwindigkeitsveränderungen betrach-
tet. Durch die Vorstellung eines Koordinatensystems      • die real im Raum erfahrbare und in der Vorstel-
(vgl. Just, & Carpenter, 1985) kann z. B. eine Überla-       lung nachvollziehbare Bewegung,
gerung von Geschwindigkeitskomponenten ausge-            • die potentielle Bewegung eines bewegbaren Tei-
drückt werden. Um die Beziehung zwischen Richtun-            les eines Systems,
gen, z. B. jener des homogenen Magnetfeldes, des         • die gedankliche Bewegung eines Gesamtobjektes
sich bewegenden geladenen positiven oder negativen           zu dessen Veränderung,
Teilchens und der ablenkenden elektromagnetischen
Kraft, festzustellen, bedarf es der räumlichen Orien-    • die Veränderung einzelner Teile durch die Vor-
tierung und der mentalen Rotation (vgl. Fulmer, &            stellung von Bewegung.
Fulmer, 2014).                                           Grundlage einer jeden räumlichen Vorstellung von
Ähnliche Denkvorgänge führen zum Verständnis des         Bewegung ist die Wahrnehmung einer wirklichen,
Zusammenhangs         von     Bewegungsbahnen       in   sich real vollziehenden Bewegung im Raum.
unterschiedlichen Bezugssystemen. Wird z. B. ein         Die potentielle Objektbewegung beinhaltet das Erfas-
Ball aus einer Vorrichtung auf der Ladefläche eines      sen einer möglichen Bewegung eines bewegbaren
fahrenden Wagens frei nach unten fallen gelassen und     Teiles in einem mechanisch-technischen Objektge-
die Bahnkurve von verschiedenen Standpunkten aus         füge. Dies betreffend, wird auf die Beispiele von in-
betrachtet, von einer Person auf dem Wagen und           einandergreifenden Zahnrädern und Schrauben in den
außerhalb, wird in der Vorstellung von einem             Mechanical Movements von Thurstone (1938) ver-
Bezugssystem in das andere gewechselt (vgl.              wiesen.
Kozhevnikov et al., 2007). Der Bezugssystemwech-         Die Veränderung eines Gesamtobjektes betrifft die
sel trifft auch zu, wenn im astronomischen Raum die      Transformation der Lage, Form und Größe eines vor-
Sichtweise von der Horizontebene aus, – z. B. auf den    gestellten bzw. dargestellten Objektes mittels Spiege-
Tageslauf der Sonne von der ruhenden Erde aus –, mit     lung, Verschiebung, Drehung und Skalierung, sodass
der Sicht von außen auf die bewegte Erde zum             das Objekt in seiner Veränderung als dasselbe wie-
Verständnis der astronomischen Realität verbunden        dererkannt werden kann.
wird (vgl. Cole et al., 2018). Räumliche Orientierung    Mit einer gedanklichen Bewegung kann auch eine in-
und Perspektivenwechsel sind wesentliche Aspekte         nere Veränderung einzelner Teile im Objekt vollzo-
des räumlichen Denkens in physikalischen Inhalten.       gen werden, z. B. beim Falten eines Körpers aus Flä-
3. Die Bewegung als zentrales Element räumli-            chen bzw. beim Auffalten in Flächen, sowie beim
  chen Denkens                                           Übertragen von flächenhaften Vorstellungen in kör-
                                                         perliche und umgekehrt. Thurstone (1950) bezeichnet
3.1. Bewegung und Vorstellung des Raumes                 diesen Vorgang als „internal displacement“ (ebd.
Bewegung, als Orts- und Lageveränderung eines Ob-        S. 518), als eine innere Ortsverlagerung. In den ge-
jekts im Raum und als Objektveränderung, sowie die       nannten Bereich der Veränderung einzelner Teile
Beweglichkeit als Möglichkeit dazu, durchziehen das      durch die Vorstellung der Bewegung fällt auch die

364
Die Bewegung im räumlichen Denken bei physikalischen Aufgaben

Veränderung in mathematischen und geometrischen                der ein Würfel um Geraden in einem Eckpunkt so
Sachverhalten, wie unterschiedliche Darstellungen              aufgestellt wird, dass eine Raumdiagonale senk-
von Brüchen und die Einordnung von Zahlen am Zah-              recht auf die Unterlage steht.
lenstrahl, das Umstellen von Gleichungen und Ter-          • Die Vorstellung der Veränderung von Teilen
men und die Veränderlichkeit als Eigenschaft von               durch Bewegung in geometrischen Konstellatio-
Variablen und Funktionen (vgl. u. a. Malle, 1993; Ha-          nen, ist in Aufgaben gefordert, in denen z. B. bei
wes, Tepylo, & Moss, 2015, Wai, Lubinski, & Ben-               Änderung bzw. Festhalten von Bedingungen Be-
bow, 2009), sowie das Bewegliche Denken (Roth,                 wegung hineingesehen und damit argumentiert
2005). Letzteres bezeichnet eine gedachte Bewe-                wird.
gung, als „Hineinsehen von Bewegung“ (Roth, 2005,
                                                           4.3. Beschreibung exemplarischer Aufgaben
S. 86) in eine mathematisch-geometrische Konstella-
tion und beansprucht einen bestimmten Grad an Abs-         Im Folgenden werden beispielhaft zwei räumlich-
traktion für das zielführende Weiterarbeiten: das Än-      physikalische Aufgaben näher beschrieben.
derungsverhalten von Objekten verstehen, beschrei-         Die ausgewählte Aufgabe „Schraubengewinde“ kann
ben, nachvollziehen und damit argumentieren (Roth,         dem Bereich der potentiellen Bewegung in einem Ge-
2005).                                                     samtgefüge zugeordnet werden. Aufgaben dieser Art
                                                           sind bereits in frühen Raumvorstellungstests verwen-
4. Räumlich-physikalische Aufgaben zu Bewe-                det worden (vgl. dazu Thurstone, 1938).
  gung und Veränderung
                                                           Eine rundum gezahnte Scheibe wird um eine feste
Zu den im Modell beschriebenen Arten der Bewe-             Achse in ihrem Mittelpunkt von einem am oberen
gung wurden mathematische und physikalische Auf-           Rand eingreifenden Schraubengewinde angetrieben.
gaben konstruiert, die in einer qualitativen Studie zur    Für das räumliche Verständnis ist es von Vorteil, dass
Sammlung räumlicher Denkprozesse Verwendung                die Beschreibung der Problemstellung mit einer
finden.                                                    Skizze (Abb. 1) ergänzt wird. Die rechtsgängige
4.1. Entwicklung von Aufgaben                              Schraube in waagrechter Lage dreht sich in der ange-
Die Aufgaben betreffen vorwiegend räumliche In-            gebenen Pfeilrichtung. Man muss sich räumlich vor-
halte, zu deren Lösung räumliche Vorstellungen oder        stellen, wie die Drehbewegung des Stabes mit der
räumliche Hilfsmittel beansprucht werden. Die Auf-         Wendel mit seiner Translationsbewegung zusammen-
gaben werden so konzipiert, dass zu ihrer Lösung           hängt.
räumliches Denken beitragen kann. Die Aufgaben-
stellung soll ermöglichen, dass der Lösungsprozess in
kleinschrittige Denkvorgänge aufgegliedert werden
kann, die auf spezielle, individuell verschiedene
räumliche Vorstellungen der ProbandInnen schließen
lassen.
4.2. Zuordnung der Aufgaben zum Modell der Be-
  wegung
Der Inhalt der zehn Aufgaben ist über unterschiedli-
che Themengebiete gestreut, um möglichst vielfältige
Aspekte des räumlichen Denkens in der Vorstellung
der Bewegung und Veränderung abzudecken.                   Abb.1: Zahnrad mit Schraubengewinde (selbst erstellte
• Die Aufgaben, die sich auf die Vorstellung der re-       Zeichnung nach Thurstone, 1938)
    alen Bewegung aus der alltäglichen Erfahrungs-         Die Problemstellung lautet: In welche Richtung dreht
    welt beziehen, betreffen z. B. eine Spielsituation     sich das Zahnrad, wenn das Schraubengewinde in der
    beim Ballwurf aus einem fahrenden Wagen und            dargestellten Anordnung und Drehrichtung in das
    die Betrachtung von Bewegung im astronomi-             Zahnrad eingreift? In welche Richtung dreht sich das
    schen Raum. Sie erfordern einen Bezugssystem-          Zahnrad, wenn das Gewinde in umgekehrter Rich-
    wechsel, das Erkennen von Relativbewegung und          tung an den Schaft gesetzt wird?
    das Vorstellen von Bahnkurven.
                                                           Bezogen auf das räumliche Denken gilt es vorder-
• Die Vorstellung der potentiellen Bewegung ist in         gründig, die relevanten Merkmale der Konstellation
    technisch-physikalischen Problemstellungen mit         zu betrachten. Der Fokus richtet sich auf die Zähne
    Zahnrädern, Schraubengewinden, Wellen u. ä. ge-        der Scheibe und das Gewinde des Stabes, die ineinan-
    fragt. Es betrifft die Vorstellung von einzelnen       dergreifen, um die Bewegung zu übertragen. Das
    Bewegungsabschnitten und Übertragung der Be-           Vorstellen und Merken einer geringen Teilbewegung,
    wegung bei ineinander wirkenden bewegbaren             - in diesem Fall, wie sich ein Wellenteil des Gewindes
    Teilen in einem Objektgefüge.                          von links oben nach rechts unten auf einen Zahn des
• Die Vorstellung der Bewegung eines Gesamtob-             Zahnrades zubewegt und diesen um einen kleinen
    jektes zur Veränderung seiner Lage durch Dre-          Ruck in eine bestimmte Richtung weiterbewegt -, be-
    hung im Raum ist z. B. Inhalt einer Aufgabe, in

                                                                                                               365
Zöggeler et al.

ansprucht u. a. das Vorstellen der Bewegungsrichtun-      Das Sich-Hineinversetzen in eine räumliche Konstel-
gen, das Übertragen der Bewegung sowie das räumli-        lation erfordert die Fähigkeit der räumlichen Orien-
che Arbeitsgedächtnis. Bei der in der Skizze darge-       tierung. Diese vorwiegend holistische Herangehens-
stellten Drehrichtung des Gewindestabes bewegt sich       weise kann eine gesamtheitliche Sicht ermöglichen.
der gesamte Stab mit der Wendel in der Bildebene          In der analytischen Betrachtungsweise werden ein-
nach rechts, wodurch jeder einzelne Zahn aus dem          zelne Eigenschaften in den beiden Bezugssystemen
Gewinde nach rechts herausgedrückt wird. Die Zahn-        miteinander in Beziehung gesetzt. Dies kann z. B. der
radscheibe wird im Uhrzeigersinn weitergedreht.           Vergleich der Winkel zwischen den Sonnenstrahlen
Auch wenn die Wendel auf dem Schaft verkehrt an-          und der Horizontebene, einer vorgestellten Tangenti-
gebracht ist, bleibt der Gewindetyp derselbe und          alebene an einem Punkt der Erdoberfläche, sein.
ebenso die Drehrichtung der Scheibe beim Antrieb in       Durch die Erddrehung bewegt sich die vorgestellte
derselben Richtung. Es gilt zu erkennen, dass trotz       Tangentialebene am Morgen der Sonne entgegen und
der Umkehrung der Wendel auf dem Schaft, als der          tritt am Abend aus dem Sonnenlicht wieder heraus.
veränderten Bedingung, keine Veränderung in der
                                                          Die Verschiebung der Tangentialebene mit einer ru-
Bewegungsrichtung eintritt. Die räumlichen Bezie-
                                                          henden Person an andere Positionen auf der Erdkugel,
hungen innerhalb des Objektgefüges bleiben erhalten.
                                                          z. B. von der Nordhalbkugel auf die Südhalbkugel,
Für die Lösung dieser Aufgabe ist das gedankliche
                                                          kann zu einer anderen Sicht auf den Sonnenlauf füh-
Bild einer Schraube aus dem Werkzeugkasten hilf-
                                                          ren. Die Sonne geht auch in Kapstadt im Osten auf
reich, z. B. die Vorstellung ihrer Vorwärtsbohrung in
                                                          und im Wesen unter; ihren Höchststand erreicht sie
eine Mauer bei einer Drehbewegung im Uhrzeiger-
                                                          im Norden. Wenn die Person ihren Blick zum Höchst-
sinn. Ein weiterer Aspekt in der Vorstellung ist die
                                                          stand der Sonne richtet, blickt sie somit nach Norden.
Übertragung der anschaulichen flächenhaften Dar-
                                                          Folglich liegt der Aufgangspunkt der Sonne zu ihrer
stellung in der Skizze in die räumliche Vorstellung
                                                          Rechten, der Untergangspunkt zu ihrer Linken. Dies
des tatsächlichen Bewegungsablaufs im Raum.
                                                          trifft für alle Orte außerhalb der Tropen auf der Süd-
Die Aufgabe „Sonne in Kapstadt“ erfordert die Wahr-       halbkugel jederzeit zu. Es fällt auf, dass mit der Ver-
nehmung und Vorstellung von Bewegungen im astro-          änderung des Standpunktes neue Bedingungen für die
nomischen Raum in unterschiedlichen Bezugssyste-          räumliche Vorstellung auftreten.
men. Der Inhalt der Aufgabe bezieht sich auf die täg-
                                                          4.4. Verwendung der Aufgaben in einer qualitati-
liche Rotation der Erde um ihre Achse, unter Ver-
                                                             ven Studie
nachlässigung der Revolution der Erde um die Sonne
und anderer kosmischer Phänomene. Ausgehend von           Die Bearbeitung der Aufgaben erfolgt im Rahmen ei-
der Vorstellung des Tageslaufes der Sonne am Tag          ner qualitativen Studie zur Untersuchung räumlicher
der Wintersonnenwende im eigenen Heimatort auf            Denkprozesse bei Mathematik-Lehramtsstudierenden
der Nordhalbkugel soll gedanklich der Blick auf den       der Universität Salzburg im Studienjahr 2020-2021.
Tagbogen der Sonne von Kapstadt aus gerichtet wer-        Zur Beantwortung der Forschungsfrage „Welche
den. Die Problemstellung richtet sich auf die Vorstel-    räumlichen Denkschritte werden in mathematisch-
lung des Aufgangs- und Untergangspunktes der              physikalischen Aufgaben zu Bewegung und Verän-
Sonne in der Zuordnung zu den Himmelsrichtungen           derung verwendet?“ wird ein exploratives Vorgehen
als absolute Bezugspunkte und in der Zuordnung zum        (vgl. Flick, 2014) mit qualitativer Inhaltsanalyse (vgl.
eigenen Körper bei Blickrichtung zur Sonne. Eine          Mayring, 2010) zur Auswertung gewählt.
weitere Fragestellung betrifft die Betrachtung der ast-   Die Analyse der unterschiedlichen Lösungswege ei-
ronomischen Konstellation von Erde und Sonne beim         nerseits und die persönliche Sichtweise der Proban-
Blick aus dem Weltall und die geometrische Erklä-         dInnen auf ihre eigenen Denkschritte bei der Bearbei-
rung von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang am             tung der Aufgaben andererseits sollen zur Ermittlung
Modell der Erdkugel von außen. Für den Vergleich          mannigfaltiger Einzelheiten des räumlichen Denkens
der Sichtweisen aus den beiden Bezugssystemen, ei-        führen. Die erhobenen Daten aus der schriftlichen Be-
nerseits auf den Tageslauf der Sonne von der „ruhen-      arbeitung und aus der mündlichen Kommunikation in
den“ Erde aus, andererseits auf die tägliche Drehbe-      einem leitfadengestützten Interview obliegen einer
wegung der Erde um ihre Achse von außerhalb, ent-         vergleichenden und prüfenden Interpretation, bei der
sprechend dem Large-Scale der Erfahrung und dem           individuelle Kernaussagen geordnet, zum tieferen
Small-Scale der Modellvorstellung, können unter-          Verständnis expliziert und strukturiert werden (vgl.
schiedliche Vorstellungen dienen:                         Gropengießer, 2008). Daran schließt sich der Versuch
• das Hineinversetzen in die jeweiligen Bezugssys-        einer induktiv abgeleiteten Klassifizierung räumli-
    teme durch mentale Verlagerung des Standpunk-         cher Denkprozesse.
    tes,
                                                          5. Beispielhafte Ergebnisse der Erprobung als
• die analytische Betrachtung der einzelnen Objekte         Ausblick
    und ihrer räumlichen Beziehungen in beiden Sys-
                                                          Die Erprobung der Aufgaben in einer Lehrveranstal-
    temen über geometrische Größen.
                                                          tung mit 15 Studierenden vermittelt bereits ein erstes

366
Die Bewegung im räumlichen Denken bei physikalischen Aufgaben

Bild der Analyse der Lösungsschritte und der Denk-        Der Rückgriff auf frühes Wissen bzw. auf Allgemein-
prozesse, die die ProbandInnen aus der Reflexion          wissen kennzeichnet vor allem die Lösung bei Auf-
über ihr Vorgehen beim Lösungsprozess schildern           gaben mit astronomischem Inhalt. Der Vergleich mit
und nach der Bearbeitung der Aufgabe aufzeichnen.         Vertrautem aus der Erfahrung, z. B. die Erinnerung
Relevante Aussagen werden nach der Ähnlichkeit ih-        an eine Spieleisenbahn oder die Vorstellung einer al-
rer inhaltlichen Bedeutung in abgeleiteten übergeord-     ten Bergbahn, um die Translationsbewegung der
neten Klassen eingeordnet.                                Pleuelstange zu erkennen, ist ein wichtiger Aspekt in
Für die Lösung der Bewegungsaufgaben mit mecha-           der räumlichen Vorstellung und hebt das räumliche
nischen Elementen gilt vor allem die Fokussierung         Arbeitsgedächtnis hervor.
auf relevante Merkmale der Bewegung, auf statische        Die Auswertung der bei der Erprobung erhobenen
und bewegliche Teile des Gesamtgefüges, wie „dass         Daten zeigt, dass bei der Bearbeitung der Aufgaben
ein einzelner Zahn der Scheibe nach und nach etwas        eine Vielfalt an räumlichen Denkvorgängen ange-
weiter nach links rutscht“ und „dass die Schrauben-       wendet wird, die auf Individualität und vielseitigen
winde in die Zahnradlücke drückt“.                        Einsatz räumlicher Prozesse hindeuten. Die Ergeb-
Auch das Nachvollziehen einer realen Bewegung             nisse lassen erkennen, dass die Vorstellung der Be-
scheint bei der Angabe von Denkvorgängen zur Dreh-        wegung im räumlichen Denken eine zentrale Rolle
richtung von Zahnrädern mehrmals auf, z. B. als „in       spielt. Im Hinblick auf die Erstellung eines Kategori-
Gedanken langsam nachvollzogene Bewegung“ oder            enkonstruktes räumlicher Denkvorgänge im Lö-
als Einzeichnen von „Schlangenlinien mit Pfeilspit-       sungsweg dieser Aufgaben werden leitfadengestützte
zen um die Zahnräder“.                                    Interviews angesetzt, die differenziertere persönliche
                                                          Aussagen vermuten lassen.
Auf die Aufgliederung einer komplexen Konstella-
tion als Objektzerlegung und als Objektzusammenfü-        6. Literatur
gung für die endgültige Lösung lassen die Vermerke
                                                          Barratt, E. S. (1953). Analysis of verbal reports of
„schrittweises Vorstellen der Bewegungsschritte“
                                                              solving spatial problems as an aid in defining
und „System einzeln und im Zusammenwirken be-
                                                              spatial factors. The Journal of Psychology 36,
trachtet“ schließen, d. h. komplexe Bewegungen wer-
                                                              17-25.
den in ihre Teile zerlegt und dann zusammengeführt
                                                          Blum, A., Renn, J., & Schemmel, M. (2016). Experi-
bzw. übertragen.
                                                              ence and Representation in Modern Physics.
Das Verändern von Bedingungen und die Betrach-                Schemmel, M. (Ed.): Spatial Thinking and Exter-
tung aus entgegengesetzter Sicht werden ebenfalls als         nal Representation. Towards a Historical Episte-
Denkprozess zur Lösung mechanischer Aufgaben                  mology of Space. Max Planck Institute for the
eingesetzt, z. B. „ich habe mir das Gegenteil vorge-          History of Science. Berlin.
stellt, also in welche Richtung würde es sich drehen,     Buckley, J., Seery, N., & Canty, D. (2019). Investi-
wenn sich B anders bewegt“.                                   gating the use of spatial reasoning strategies in
Bei der räumlichen Vorstellung astronomischer Be-             geometric problem solving. Int J Technol Des
wegungen herrscht der Perspektivenwechsel vor. Al-            Educ 29, 341-362.
lerdings bleibt die Verbindung der Sichtweise aus der     Cole, M., Cohen, Ch., Wilhelm, J., & Lindell, R.
Horizontebene mit jener von außen auf die Kugel der           (2018). Spatial Thinking in astronomy education
Erde als Modell, vom Large-Scale zum Small-Scale,             research. Physical Review. Physics Education
vielfach ein Versuch und wird nur in einzelnen Fällen         Research 14.
bis zur Lösung durchdacht. Bezeichnend sind fol-          Damerow, P. (2016). Space and Matter in Early
gende Aussagen: „ich habe an die Erde als Kugel ge-           Modern Science: The Impenetrability of Matter.
dacht, die immer zur Hälfte im Schatten ist“, „die            Schemmel, M. (Ed.): Spatial Thinking and Exter-
Erde rotiert an bestimmten Punkten in Richtung                nal Representation. Towards a Historical Episte-
Sonne und an anderen weg von ihr“, „ich habe mir              mology of Space. Max Planck Institute for the
mental bei Kapstadt einen Menschen vorgestellt“.              History of Science. Berlin.
Auffallend ist die individuelle und spontane Verwen-      El Koussy, A. A. H. (1935). Visual perception of
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Beispiel wird die Übertragung der Bewegung der                Einführung. 6. Auflage. Reinbek bei Hamburg:
starren Pleuelstange zu einer Drehbewegung mit ei-            Rowohlt Taschenbuch Verlag.
nem Lineal nachgespielt oder die Drehrichtung von         French, J. W. (1965). The relationship of problem-
Zahnrädern mit Keilriemen an Gläsern mit Gummi-               solving styles to the factor composition of tests.
bändern imitiert. Zum Erkennen der Rechtsschraube             Educational and Psychological Measurement,
„habe ich geneigte Striche für die Schraube gezeich-          Vol. XXV, 1, 9-28.
net und probiert, wohin sie sich bei der Umdrehung        Frostig, M., Horne, D., & Miller, A. M. (1972). Vi-
bewegt“.                                                      suelle Wahrnehmungsförderung. Reinartz, A., &
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