Die Leber aus komplementär-medizinischer Sicht - SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008
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23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008 Die Leber aus komplementär- medizinischer Sicht Reinhard Saller Einleitung Die Leber wurde von verschiedenen, vor al- lem um das Mittelmeer gruppierten Medi- zinkulturen des Altertums als der Sitz des menschlichen Lebens angesehen (z.B. me- sopotamische, griechische und römisch- etruskische Traditionen). Die Leber galt als ein wichtiges Organ des Fühlens und Den- kens. Diese Bedeutung lässt sich unter anderem auch aus der lang andauernden Praxis der Leberschau (Hepatoskopie) her- auslesen (38). Dabei wurde versucht, aus Abbildung 1: Leber und Komplementärmedizin – ausgewählte Therapieansätze der Betrachtung der Leberoberfläche von Opfertieren den Willen der Götter zu erfra- gen und in die Zukunft zu schauen. Die Le- che komplementärmedizinische Bereiche Beschwerden vonseiten der Leber und ber spielte eine erhebliche Rolle im öffent- die Leber als Erfolg versprechende Thera- Galle sowie Beschwerden vonseiten des lichen wie auch im privaten Leben, piemöglichkeit (siehe Abbildung 1). Magen-Darm-Trakts unterschieden, vor al- einschliesslich der Einbindung in die Medi- Mit dem Begriff Leber werden vielfältige lem soweit sich diese topografisch bevor- zin. Bereiche und Bedeutungsfelder im weiten zugt im Bereich des rechten Ober- und Entsprechend der umfassenden Bedeu- Feld der modernen Medizin angesprochen, Mittelbauchs wahrnehmen liessen (z.B. tung gewann die Leber als Erklärungsmo- zu dem selbstverständlich eine reflektierte teilweise entsprechend den modernen dell für Erkrankungen wie auch als Ansatz und gesichtete Komplementärmedizin ge- Krankheitsbildern bzw. Symptomkomple- für vielfältige Therapieansätze eine erheb- hört. Die Vielfalt von «Leberbedeutungen» xen wie Reizmagen und Reizdarm bzw. liche Bedeutung. Die medizinische Bedeu- resultiert in einer Reihe von sinnvollen, allge- Dyspepsie und Colon irritabile) (7, 14, 22, 27, tung der Leber lässt sich im Altertum, im meinen, vor allem aber auch individuellen 29, 43, 46, 47, 48, 61, 64, 69). Dementspre- Mittelalter, aber auch in der Neuzeit viel- Behandlungsansätzen. Am umfassendsten chend wurden und werden zu einem gros- fach erkennen (9, 13, 14, 26, 27, 29, 31, 36, 48, zeigt sich die therapierelevante Diversifizie- sen Teil dieselben Phytotherapeutika bei 49, 53, 54, 56, 61, 69, 70). Allerdings ist in der rung der Leber in der Phytotherapie, die viel- Beschwerden im Bereich Magen, Leber und historischen Betrachtung zu berücksichti- fältige medizinische Traditionen und gleich- Galle sowie bei Dyspepsie und Reizdarm gen, dass der traditionelle Begriff Leber zeitig aktuelle Therapiegesichtspunkte ein- verwendet. Auch therapiegeschichtlich be- mehr als die anatomisch und funktionell schliesslich der Biomedizin umfasst. Kennt- stehen enge Zusammenhänge (z.T. syn- eingegrenzten Inhalte der modernen Me- nis und Berücksichtigung der jeweiligen onyme Verwendung entsprechender Be- dizin umfasst. Die Bedeutungsweite des Bedeutung von Leber haben dementspre- zeichnungen von Leber, Galle, Magen und Leberbegriffs ist vor allem für die Komple- chend unmittelbare Behandlungsrelevanz Darm; funktionelle Betrachtung von Ma- mentärmedizin wichtig, die sich unter dem (siehe Abbildung). gen, Leber, Galle). Appetit- und Leberstö- Aspekt einer Erfahrungsheilkunde nicht rungen wurden zum Teil ebenfalls syn- nur mit der modernen Medizin, sondern Leber, Galle, Magen-Darm- onym, auf jeden Fall in einem engen auch mit den tradierten Erfahrungen der Trakt Zusammenhang gesehen (63, 69). Insge- verschiedenen Medizinkulturen beschäf- Über längere Zeitperioden wurde in euro- samt stehen die zum Verdauungssystem tigt. Entsprechend dem Potenzial der Leber päischen Medizintraditionen, die sich in gehörenden Organe (Leber, Gallenblase, als Erklärungsmodell für vielfältige Erkran- der Anwendung von Arznei- und Heilpflan- Gallenwege, Bauchspeicheldrüse) in so en- kungen und Störungen verwenden zahlrei- zen manifestieren, nicht streng zwischen ger funktioneller und topografischer Bezie- 6 thema PHYTOTHERAPIE
23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008 Tabelle 1: Auswahl von Arznei- und Heilpflanzen, die bei Erkrankungen von Leber, Galle und Magen-Darm-Trakt verwendet werden (nach 5, 8, 12, 15, 16, 27, 29, 32, 39, 46, 49, 61, 63, 64, 66, 67, 68, 69) Arzneipflanze (lateinischer Name) Droge (lat.) Arzneipflanze (deutsch) Droge (deutsch) Achillea millefolium Herba Schafgarbe Kraut Acorus calamus Rhizoma Kalmus Wurzelstock Allium sativum Bulbus Knoblauch Zwiebel Allium ursinum Herba Bärlauch Kraut Ananas comosus Succus Ananas Saft Anethum graveolens Fructus Dill Früchte Angelica archangelica Radix Engelwurz Wurzel Artemisia absinthium Herba Wermut Kraut Artemisia vulgaris Herba Beifuss Kraut Capsicum annuum Fructus Paprika Früchte Capsicum frutescens Fructus Cayennepfeffer Früchte Carica papaya Succus Papaya Presssaft Carum carvi Fructus Kümmel Früchte Centaurium centaurium Herba Tausendgüldenkraut Kraut Chamomilla recutita Flos Kamille Blüten Chelidonium maius Herba Schöllkraut Kraut Cichorium intybus Folium Wegwarte Blätter Radix Wurzel Cinchonia pubescens Cortex Chinabaum Rinde Citrus aurantium Pericarp Bitterorange (Pomeranze) Fruchtwand (Schale) Cinnamomum verum Cortex Ceylonzimtbaum Rinde Cnicus benedictus Herba Benediktenkraut Kraut Coriandrum sativum Fructus Koriander Früchte Crocus sativus Stigma Safran Narbenschenkel Curcuma longa Rhizoma Gelbwurzel Wurzelstock Curcuma xanthorrhiza Rhizoma Javanische Gelbwurz Wurzelstock Cynara scolymus Folium Artischocke Blätter Herba Kraut Elettaria cardamomum Fructus Kardamom Früchte Eucalyptus globulus Folium Eukalyptus Blätter Filipendula ulmaris Herba Mädesüss Kraut Foeniculum vulgare Fructus Fenchel Früchte Ferula asa fetida Gummiresina Stinkasant Gummiharz Fumaria officinalis Herba Erdrauch Kraut Galipea officinalis Cortex Angosturabaum Rinde (Cortex Angosturae) (Angosturarinde) Gentiana lutea Radix Gelber Enzian Wurzel Harpagophytum proc. Radix Teufelskralle Wurzel Harungana madagascariensis Folium Drachenblutbaum Blätter Cortex Rinde Humulus lupulus Strobulus Hopfen Zapfen Hypericum perforatum Flos recens Johanniskraut frische Blüten (Oleum) Öl Herba Kraut Iberis amara Herba Bittere Schleifenblume Kraut Herba recens frisches Kraut Semen Samen Illicium verum Fructus Sternanis Früchte Juniperus communis Fructus Wacholder Früchte Lavandula officinalis Flos Lavendel Blüten Lichen islandicus Thallus Isländisches Moos Pflanzenkörper Linum usitatissimum Semen Lein Samen Marrubium vulgare Herba Andorn Kraut Marsdenia condurango Cortex Kondurangostrauch Rinde Melissa officinalis Folium Zitronenmelisse Blätter Mentha piperita Folium Pfefferminze Blätter thema PHYTOTHERAPIE 7
23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008 Arzneipflanze (lateinischer Name) Droge (lat.) Arzneipflanze (deutsch) Droge (deutsch) Menyanthes trifoliata Folium Fieberklee Blätter Myristica fragans Semen Muskatnussbaum Samen Origanum majorana Herba Majoran Kraut Petasites hybridus Folium Pestwurz Blätter Rhizoma Wurzelstock Pimpinella anisum Fructus Anis Früchte Plantago afra Semen Flohsamen Samen Plantago arenaria (indica) Semen Flohsamen Samen Samenschalen Plantago ovata Semen Indischer Flohsamen Samen Testa Samenschalen Pneumus boldus Folium Boldobaum Blätter Psyllium (siehe Plantago) Semen Flohsamen Samen Quassia amara Lignum Bitterholz Holz Raphanus sativus Radix Schwarzer Rettich Wurzel Rosmarinus officinalis Folium Rosmarin Blätter Salvia officinalis Herba Salbei Blätter Silybum marianum Fructus Mariendistel Früchte Syzygium aromaticum Flos Gewürznelkenbaum Blüten Taraxacum officinale Herba Löwenzahn Kraut Radix Wurzel Thymus vulgaris Herba Thymian Kraut Valeriana officinalis Radix Baldrian Wurzel(stock) Zingiber officinale Rhizoma Ingwer Wurzelstock Von einem Teil der hier aufgeführten Drogen wird auch das ätherische Öl bei dyspeptischen Beschwerden eingesetzt. Ein Teil dieser Drogen wird auch in Magen-Darm-Tees (Teespezies) sowie Tinkturen und Tinkturenmischungen mit ihren stofflichen und sensorischen Eigenschaf- ten verwendet. Ebenso finden sie in verschiedenen phytotherapeutischen Kombinationspräparaten unter Einschluss monografierter und nichtmonografierter Arzneipflanzen bzw. Drogen (zumeist Kombinationen mit 2–4 Drogen) Verwendung. Dazu gehören z.B. Kombinationen aus: Angelikawurzel, Enzianwurzel, Kümmelfrüchte, Kümmelöl, Fenchelfrüchte, Fenchelöl, Anisfrüchte, Anisöl, Pfefferminzblätter, Pfeffer- minzöl, Ingwerwurzelstock, Curcumawurzelstock, javanischer Gelbwurz, Wermutkraut, Artischockenblätter, Pomeranzenschalen, bittere Schleifenblume, Süssholzwurzel, Kamillenblüten, Löwenzahnwurzel mit Kraut, Mariendistelkraut, Mariendistelfrüchte. hung zu Magen und Dünndarm, dass diese Kontext (z.B. Leberentzündungen, Leber- Leber als zentrales Stoffwechselorgan Organe sich wechselseitig, aber auch das zirrhose, Einflüsse exogener [potenziell] geht. Allerdings treten hier neben den be- Gesamtbefinden des Menschen, stark be- toxischer Substanzen aus Umwelt, Ernäh- reits angesprochenen Phytotherapeutika einflussen (43, 69). rung und Pharmakotherapie). Therapeu- mittlerweile auch empirisch begründete Diese Breite und Vielfalt des Leberbegriffs tisch kommen bei solchen Indikationen in Tinkturen und Urtinkturen mit in den the- bietet eine schlüssige Erklärung für die erster Linie Phytotherapeutika infrage rapeutischen Vordergrund (6, 15, 39, 44, 45, grosse Anzahl von Arznei- und Heilpflan- (siehe Tabelle 2), für die gesicherte Erfah- 46, 66, 67, 68, 69), vor allem Zubereitungen zen, die auch derzeit bei Erkrankungen und rungen und/oder moderne Forschungser- mit klarer wirkungsrelevanter Sensorik, Störungen der Leber in verschiedenen gebnisse vorliegen. Die grösste Rolle spie- zum Beispiel verschiedene Bittermittel Medizintraditionen verwendet werden len derzeit die verschiedenen modernen (Amara). Neben den modernen Bedeu- (z.B. moderne Phytotherapie, traditionelle Extrakte aus den Mariendistelfrüchten tungsinhalten des Begriffs Stoffwechsel europäische Phytotherapie, ayurvedische beziehungsweise die silymarinhaltigen spielen weiterhin traditionelle Gesichts- Medizin, traditionelle chinesische Medizin, Spezialextrakte (21, 42, 44, 45, 57). Darüber punkte eine Rolle, etwa wenn die Leber tibetische Medizin, japanische Kampo- hinaus liegen mittlerweile auch für Zube- (vergleichbar dem Magen bei Paracelsus) Medizin) (11, 14, 16, 19, 27, 40, 43, 49, 58, 61, 63, reitungen aus anderen Arzneidrogen (z.B. als «Alchemist in uns» betrachtet und de- 71). Tabelle 1 zeigt eine orientierende Aus- Artischockenblätter) und für phytothera- ren «Umwandlungstätigkeit» als Voraus- wahl phytotherapeutischer Arznei- und peutische Kombinationspräparate klinische setzung und Beginn von «Regeneration» Heilmittel. Forschungsergebnisse vor (8, 15, 20, 24, 28, 32, gesehen wird. 52); bei Kombinationspräparaten vor allem Leber als anatomisch-physio- aus der ayurvedischen Medizin und der Leber und Entgiftung logisches Organ Kampo-Medizin. Für viele Patienten spielen Erwartungen an In einer modernen konventionellen Sicht- und Vorstellungen von Entgiftung eine weise und derzeit am weitesten verbreitet, Leber als Stoffwechselorgan sehr grosse Rolle, nicht zuletzt auch wäh- umfasst «Leber» verschiedene Leber- Mit vergleichbaren Ansätzen lässt sich eine rend und nach solchen Pharmakothera- erkrankungen in einem organspezifischen «Lebertherapie» planen, wenn es um die pien, die als ausserordentlich eingreifend 8 thema PHYTOTHERAPIE
23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008 was das Gemüt bedrückt oder quält. Die Tabelle 2: Feststellung, die Leber melde sich, muss Auswahl von derzeit verwendeten Lebermitteln aus Arznei- und Heilpflanzen nicht ausschliesslich nur in somatischer (nach 8, 15, 46, 52, 64) Hinsicht gemeint sein, sie kann durchaus auf psychosomatische Bezüge abzielen. Artischocke (Cynara scolymus) – Blätter (Verwendung von Droge und Extrakten) Therapeutisch kommen hier vor allem Bit- Sojaphospholipide (Lecithinum ex soja) (Verwendung von Extrakten) termittel zum Einsatz oder Mittel mit Mariendistel (Silybum marianum) – Früchte (Verwendung von Droge, Extrakten; Silyma- deutlich wahrnehmbaren Bittersensatio- rin – Silibinin) nen, etwa aus der ayurvedischen oder Kräutermischungen aus der TCM auch tibetischen Medizin. Antidyspeptisch wirksame Phytotherapeutika Choleretika – Cholekinetika – Cholagoga Phytotherapeutische Bitter- Kräutermischungen aus der japanischen Kampo-Medizin mittel und Leber Kombinationspräparate aus der ayurvedischen Medizin (z.B. Liv 52 als «Lebertonikum») Zur Möglichkeit antidepressiver Wirkun- Kombinationspräparate aus der tibetischen Medizin (z.B. bestimmte Padma-Rezepturen) gen von Bitterdrogen liegen mittlerweile Phytotherapie in umfassenden Behandlungskonzepten (z.B. komplementärmedizinische auch erste moderne klinische Studien vor, Ausleitung, Ableitung) die neben anderen Wirkungen von Bitter- Anthroposophische Präparate mitteln zusätzlich auf ein ausgeprägtes antidepressives Potenzial hinweisen. So zeigte eine kontrollierte klinische Studie und toxisch empfunden werden (z.B. wäh- sammenhang sehr eng mit den metapher- bei PatientInnen mit einem aktiven rend und nach Tumortherapien) oder die reichen Begriffen «Schlacken» und «Ent- M. Crohn, dass ein einfaches Drogenpräpa- als Langzeitbehandlung geplant sind. schlackung» verbunden werden. Zudem rat mit Wermutpulver (Wermutkraut) ne- Diese allgemein, aber auch individuell kann die traditionell weitverbreitete Se- ben klinisch relevanten antiinflammatori- wichtige Aufgabe der Entgiftung wird in miotik von körperlicher, seelischer und spi- schen Wirkungen und einer ausgeprägten grossem Ausmass an die Komplementär- ritueller «Reinigung» angesprochen sein. symptomatischen Besserung bedeutsame medizin und hier wiederum an phytothe- antidepressive Wirkungen besitzen kann rapeutische Ansätze delegiert. Dabei geht Leber als Metapher und (34). Therapeutische Empirie weist darauf es unter anderem um die Förderung der psychosomatischer Begriff hin, dass sich die verschiedenen phytothe- Ausscheidung von Toxinen und deren Ab- Im therapeutischen Alltag ist jeweils der rapeutischen Bittermittel entsprechend bauprodukten wie auch um hepatoprotek- nahezu immer vorhandene, häufig sogar ihrer Bitterkeit gruppieren lassen (43, 46, tive Wirkungen (6, 15, 17, 24, 28, 55). dominierende metaphorische Aspekt der 47). Dadurch wird es möglich, solche Bitter- Als Wirkmechanismus kommt vor allem Leber zu berücksichtigen. Dabei steht in mittel unter konstitutionstypologischen eine Induktion von zentralen Enzymgrup- einer solchen semiotischen beziehungs- Gesichtspunkten individuell differenziert pen der Phase II infrage, das heisst die en- weise biosemiotischen Betrachtungsweise anzuwenden. Bitterkeit steht dabei unter zymatische Reaktion, die solche Stoffe was- die Leber für eine Art von Somatismus. Eine anderem in metaphorischer Hinsicht für serlöslicher und damit leichter über die Reihe überlieferter und weiterhin viel ver- den Energiegehalt der verschiedenen Zu- Niere ausscheidbar machen. Aber auch wendeter sprachlicher Wendungen weisen bereitungen (vor allem Tinkturen, aber eine Förderung der Ausscheidung via Leber auf solche Aspekte hin: «Eine Laus ist über auch Teezubereitungen und einfache Dro- und Galle könnte eine bedeutsame Rolle die Leber gelaufen» bedeutet mindestens genzubereitungen wie z.B. Presstabletten). spielen. Aus wissenschaftlich-therapeuti- Verärgerung, häufig aber sogar eine an- Tabelle 3 zeigt eine solche Reihung von scher Sicht dominieren hier Extrakte aus den dauernde und gravierende Beeinträchti- Bittermitteln am Beispiel ausgewählter Mariendistelfrüchten beziehungsweise die gung des Gemüts (z.B. Niedergeschlagen- Bittertinkturen. Neben Wermutkraut und silymarinhaltigen Spezialextrakte (z.B. Ein- heit). Medizin- und therapiegeschichtlich Artischockenblättern gehören zu solchen flüsse auf Enzyme der Phase II) (42, 44, 45). sind hier Zusammenhänge zwischen Leber Bittermitteln unter anderem Enzianwurzel Vergleichbare Wirkungen könnten sich und Depressionen angesprochen. Leber (Gentiana lutea) (30, 35) und Löwenzahn- möglicherweise auch durch moderne Zu- kann hier sowohl funktionsspezifisch wie wurzel beziehungsweise Löwenzahnwur- bereitungen aus Artischockenblättern (24) auch metaphorisch gemeint sein. Bessert zel und -kraut (Taraxacum officinale) (23, oder verschiedene andere beforschte sich die Leber, dann kann man wieder «frei 50, 55). phytotherapeutische Mono- und Kombina- von der Leber reden», das heisst, de- An der Wahrnehmung von bitter sind tionspräparate (55) erzielen lassen. Entgif- pressionsbedingte Hemmungen und Ein- wahrscheinlich mehr als 50 unterschiedli- tung ist zudem ein individuell assoziations- schränkungen beziehungsweise eine Art che Rezeptoren und mehr als 20 Gene reicher Begriff, sodass auch unmittelbar von emotionaler Instabilität haben erheb- beteiligt (Rezeptoren- und Genvielfalt) (10, sensorisch wahrnehmbare Zubereitungen lich abgenommen oder sind sogar ver- 37). Die zahlreichen Rezeptortypen ermög- (z.B. alkoholisch-wässrige bzw. wässrige Zu- schwunden. Gemeint ist damit, dass lichen, eine Vielzahl chemisch unterschied- bereitungen wie Tinkturen und ggf. auch «frisch von der Leber weg» (unbekümmert) licher Bitterstoffe zu erkennen. Bitterstoffe Teezubereitungen) angemessen sein kön- sprechen zu können sich darauf bezieht, besitzen keine einheitlichen Strukturmerk- nen. Insgesamt kann «Leber» in diesem Zu- dass man wieder das aussprechen kann, male (z.B. Phenole, Polyphenole, Aminosäu- thema PHYTOTHERAPIE 9
23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008 mir die leber angezündet.» («Wald und Tabelle 3: Dämmerung» [18]). Die vielfältigen Aspekte Konstitutionstypologische Reihung von Bittertinkturen (z.B. Urtinkturen) als von Leber und phytotherapeutischen Leber- «Energiemittel» mitteln spiegeln sich auch in den Namen wider, die zum Beispiel für Mariendistel bei hitzigem, quirligem, nervösem Typus/Zustand: oder Wermut im Gebrauch sind (siehe Ta- Tinctura taraxaci (Löwenzahn, Drogen: Wurzel, Kraut) belle 4). Diese Vielfalt scheint zum Beispiel bei eher ausgeglichenem Typus/Zustand: auch in der Charakterisierung einer Marien- Tinctura cynarae (Artischocke, Droge: Blätter) distel-Urtinktur auf, in der es heisst (25): bei kaltem (energiearmem), eher behäbigem, wässrigem Typus/Zustand : «Die Mariendistel fördert die Fähigkeit, sich Tinctura gentianae (gelber Enzian, Droge: Wurzel) gegenüber emotionaler und physischer bei kaltem (energiearmem), behäbigem, wässrigem Typus/Zustand : Ausbeutung, gegenüber Angriffen und Tinctura absinthii (Wermut, Droge: Kraut) Manipulationen angemessen zu behaup- ten. Sie unterstützt damit die Wahrung der eigenen Persönlichkeit, indem sie die aktive ren, Peptide). Sie umfassen ein relativ brei- darauf hinweisen, dass seelische Erkran- Abgrenzung gegenüber schädigenden psy- tes Drogenspektrum. Die Wahrnehmung kungen mitunter durch Leberstörungen chischen Einflüssen stärkt. Eine psychische «bitter» ist entwicklungsgeschichtlich mit einen intensiveren und hartnäckigeren Abwehrschwäche kann sich auf gegen- der Signalisation von Gefahr verbunden. Charakter bekommen können, und dass sätzliche Arten äussern, entweder in der Zahlreiche Bitterstoffe besitzen eine nie- Behandlungsansätze über Leber und Ma- Unfähigkeit zur Abgrenzung und zum drige Entdeckungsschwelle. Phytothera- gen-Darm-Trakt eventuell sinnvoll sind. Neinsagen, oder aber in einer übersteiger- peutische Bitterdrogen sind komplex zu- ten, aggressiven Abgrenzung. Solche sammengesetzte Vielstoffgemische, und Leber und Konstitutions- Schwäche kann zur Störung der Entgif- die einzelnen pflanzlichen Bitterstoffe ge- therapien tungs- und Ausscheidungsfunktionen der hören unterschiedlichen Stoffgruppen an. Vergleichbar einer Konstitutionstherapie Leber führen und damit Ursache von chro- Dementsprechend können die einzelnen über einen sogenannten schwachen Ma- nischen Krankheiten sein.» Als Anwen- Bittermittel neben ihrer Bitterkeit ein gen, lassen sich eine Reihe extraintestina- dungsgebiete für diese Urtinktur werden unterschiedliches und insgesamt vielfälti- ler Störungen über die Leber behandeln, angegeben: Leber, Entgiftung, Folgeer- ges Wirkungsspektrum aufweisen. wenn solche Symptomkomplexe sich be- scheinungen von Lebererkrankungen. Die Wahrnehmung von bitter erfolgt nicht gründet in einem Zusammenhang mit Le- nur im Bereich der Mundhöhle. In den letz- berstörungen erklären lassen (1, 2, 3, 14, 43, Dosierungsgesichtspunkte für ten Jahren wurden Bitterrezeptoren im ge- 69). Zu solchen Symptomkomplexen bezie- Lebermittel samten Magen-Darm-Trakt entdeckt (41, hungsweise Erkrankungen können in kon- Die Dosierung der phytotherapeutischen 51). Diese Entdeckungen können erklären, stitutionstherapeutischer Hinsicht gehö- Lebermittel orientiert sich am jeweiligen dass Bitterwirkungen nicht nur quasi re- ren: Hautkrankheiten (Akne, Furunkulose, Behandlungsanlass. Wenn es um die Leber flektorisch über die Mundhöhle, sondern Seborrhö, Urtikaria, Pruritus, Herpes, ge- als Organ geht, werden eher konventio- auch sozusagen biochemisch bei gastro- störte Schweisssekretion), Kopfschmerzen, nelle Dosierungen verwendet, wie sie zum enteraler Aufnahme ausgelöst werden. Migräne, Schwindel, verschiedene Augen- Beispiel auch in krankheitszentrierten kli- Mittlerweile gilt es als gesichert, dass die und Ohrenbeschwerden, neurologische nischen Studien eingesetzt wurden. So lie- Einflüsse des Magen-Darm-Trakts auf das und vor allem psychische Symptome (un- gen zum Beispiel die mittleren Tagesdosen Gehirn wesentlich ausgeprägter sein kön- ter anderem Depressivität, Melancholie, für moderne Extrakte beziehungsweise nen als umgekehrt. Damit bietet sich zu- Hypochondrie, cholerisches Temperament, Spezialextrakte aus Mariendistelfrüchten mindest teilweise eine moderne Erklärung «Laus über die Leber gelaufen»), verschie- bei 200 bis 400 mg Silymarin (berechnet für konstitutionstherapeutische Ansätze denartige Erkrankungen der Mundhöhle als Silibinin; entsprechend 12–15 g Droge/ zur Behandlung von Leber und Magen- und der oberen Luftwege (z.B. Zungenbren- Tag) (42, 45, 46) oder für Extrakte aus Arti- Darm-Trakt an (gezielte Einflüsse über das nen, Zahnfleischerkrankungen, Katarrhe), schockenblättern bei 900 bis 1800 mg enterale Nervensysten auf ZNS und vege- Beschwerden des Herz-Kreislauf-Systems (entsprechend 5–10 g Droge/Tag) (24, 46, tatives Nervensystem). Das betrifft zum sowie verschiedene Frauenkrankheiten. 64). Für Wermutkraut liegen die mittleren Beispiel die Versuche, auf solchen Wegen Tagesdosen bei 2 bis 3 g Droge/Tag (46, 64, gezielt allgemeine tonisierende Wirkun- Leber: somatisch-psychosoma- 69). Je patientenzentrierter eine Behand- gen auszuüben (Kräftigung von Körper und tische Gesichtspunkte lung geplant wird (Leber als körperliche Seele, positive Beeinflussung des Gesamt- Leber kann aber noch weitere Aspekte der Metapher, auch für leibliches Geschehen, befindens eines Menschen) (25, 43, 69). In Emotionalität haben: Wieland (65) etwa Konstitutionstherapien), desto individuel- einem solchen Kontext können Leberstö- schreibt gegen Ende des 18. Jahrhunderts: ler erfolgen die Dosierung und Dosierungs- rungen als eine Art Dispositionsfaktor «... gestehe, dasz du um diese zeit den un- anpassungen. Nicht selten scheinen zum für seelische Beeinträchtigungen und Er- sichtbaren pfeil schon in der leber stecken Beispiel bei Urtinkturen nur relativ niedrige krankungen angesehen werden. Zudem hattest!», oder Goethe führt in einem Ge- Dosierungen notwendig zu sein, zum Teil können Erfahrungen erklärt werden, die dicht aus: «am frischen morgen / hat Amor im Bereich von wenigen Tropfen/Tag (25). 10 thema PHYTOTHERAPIE
23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008 Anschrift des Referenten: Prof. Dr. med. Reinhard Saller Tabelle 4: Institut für Naturheilkunde Auswahl gebräuchlicher Bezeichnungen für Mariendistel und Wermut Departement für Innere Medizin UniversitätsSpital (4, 5, 16, 29, 36, 46) Rämistrasse 100 8091 Zürich Mariendistel (Silybum marianum) Wermut (Artemisia absinthium) reinhard.saller@usz.ch Leberdistel Bitterer Beifuss www.naturheilkunde.unispital.ch Gallendistel Kampferkraut Frauendistel Magenkraut Literaturverzeichnis: Magendistel Heilbitter 1. Aschner B: Heilerfolge der Konstitutionstherapie Fieberdistel Schweizertee bei weiblichen Geisteskrankheiten insbesondere bei Hitzkraut Gottvergiss Schizophrenie. Hippokrates Verlag Stuttgart Leipzig, Venusdistel Eberreis 1933. Heilandsdistel Gärtnerhei 2. Aschner B: Lehrbuch der Konstitutionstherapie. 6. Aufl. Hippokrates Verlag Stuttgart Leipzig 1934. Wehdistel Wolfszauber 3. Aschner B: Technik der Konstitutionstherapie Gottesgnadendistel Wiegenkraut (mit 150 Fallbeispielen aus der Praxis). 7. Auflage, voll- ständig neu bearbeitet und ergänzt von Müller IW. Haug Verlag Heidelberg 1995. 4. Beuchert M: Symbolik der Pflanzen. Von Akelei bis Zypresse. 3. Auflage. Insel Verlag, Frankfurt am Leber im transkulturellen Zusammenfassung Main 1999 . Kontext Insgesamt kann eine mehrdimensionale 5. Blaschek W, Ebel S, Hackenthal E, Holzgrabe U, Auch bei Menschen mit Denktraditionen Betrachtung und Deutung der Leber die Keller K, Reichling J (Hrsg): Hagers Handbuch der Dro- gen und Arzneistoffe. 2006. Hager ROM 2006; Sprin- aus anderen Kulturen (z.B. im Migrations- Anwendungsmöglichkeiten von differen- ger electronic media. (http: //www.Hagerrom.de). kontext) sind vergleichbare Bedeutungen ten Lebermitteln erheblich erweitern, bis in 6. Bone K. The effect of herbs on liver detoxifica- von Leber zu finden (60). Wenn es da zum die weiten Therapiefelder von depressiven tion. Brit J Phytother 2001; 5(4); 176–185. Beispiel heisst, die eigene Leber sei gefal- Störungen, psychosomatischen Erkrankun- 7. Brandolini GV: Medicine etniche e tradizionale. len, dann lässt sich eine solche Äusserung gen, somatiformen Symptomkomplexen Erbe e rimedi dei populi indigeni. Macro Edizione, Diegaro di Cesena 2008. durchaus so deuten, das eigene Leben sei oder die ebenso häufigen wie konventio- 8. Braun L, Cohen M: Herbs and natural supple- leer, und aus dieser Leere könne sich ein be- nell schwierig zu behandelnden Sym- ments. An evidence-based guide. Churchill Livings- troffener Mensch nicht mehr aus eigener ptome von Müdigkeit und Erschöpfung. In tone, Sydney Edinburgh London New York 2005. Kraft befreien. Die patienteneigene Be- diesen Kontexten erhalten zudem die phy- 9. Dressendörfer W: Blüten, Kräuter und Essenzen. fürchtung, die Leber sei zu gross, kann ein totherapeutischen Tonika eine relevante Heilkunst alter Kräuterbücher. Thorbecke Verlag, Ostfildern 2003. Hinweis auf depressive Verstimmungen erweiterte Bedeutung. Der Charakter der 10. Drewnowski A: The Science and Complexity of sein. phytotherapeutischen Wirkstoffe mit ihrer Bitter Taste. Nutr Rev 2001; 59: 163–169. Vor allem in der europäischen Naturheil- komplexen Vielstoffnatur trägt entschei- 11. Eberhard U: Leitfaden Kampo-Medizin. Japani- kunde werden Leber und Galle als ein dend zu dieser qualifizierten therapeuti- sche Phytotherapie. Elsevier, München 2003. zusammenhängendes Organsystem gese- schen Vielfalt bei. ◆ 12. European Scientific Cooperative on Phytothe- hen, das als eine Art Regulator der indivi- rapy (ESCOP): Monographs. The scientific Founda- duellen Emotionalität charakterisiert wird, wobei Leber und Galle oft als ein Gegen- satzpaar gewertet werden, zum Beispiel in Bezug auf den Tonus (Art des Spannungs- zustands) eines Menschen (1, 2, 3). Unter solchen Gesichtspunkten können auch Gallentherapeutika im Kontext mit der Leber spezifisch eingesetzt werden. Die vielschichtigen phytotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten und Behand- lungsansätze im Kontext mit der Leber (Metapher, Organ, Entgiftung) sind in Abbil- dung 2 zusammengefasst. Beim individuel- len Patienten kann es durchaus sinnvoll sein, Behandlungsmöglichkeiten miteinander zu kombinieren beziehungsweise aufeinander- folgend anzuwenden (Leber als somati- sches Organ und gleichzeitig auch Leber nicht als anatomisch-physiologisches Kör- perorgan). Abbildung 2: Vielschichtigkeit von phytotherapeutischen Behandlungsanlässen thema PHYTOTHERAPIE 11
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