"Die Märchen kommen aus den Maschinen selber "

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"Die Märchen kommen aus den Maschinen selber "
Albert Kirchengast
(Florenz/ Wien)

"Die Märchen kommen aus den
Maschinen selber …"1
Ludwig Mies van der Rohe und die Lehre von den Gegensätzen

Im Widerspruch zum verbreiteten Bild eines "fließenden Raumes" hat Wolf
Tegethoff in den 1980er Jahren den Begriff der "ästhetischen Grenze" für
Mies van der Rohes Wohnhäuser stark gemacht. Gemeint ist die auf ein Bei-
nahe-Nichts reduzierte Schwelle, die in Mies' Architektur ein "Innen" von
einem "Außen" trennt. Sie stellt eine räumliche Einheit her, die das Gemach-
te vom Gewordenen trennt. Geworden und gewachsen sind die Stadt- und
Landschaftsräume in die der Architekt seine Häuser setzt. Dieser Korrespon-
denzraum war für Mies von großer Bedeutung.

Solche polare "Bezogenheiten" durchdringen das gesamte Denken und Bau-
en der Moderne. Mies spricht auch von einer "Aufhebung der Gegensätze".
Da diese Position meist vernachlässigt wird, wird Mies' Verständnis der Mo-
derne meist auf ein prototypisch kanonisiertes formales Schema reduziert.
Dies geschieht insbesondere, wenn es um die Deutung architektonischer
Motive geht, in denen eine coincidentia oppositorum zum Ausdruck kommt.
Sie betrifft nicht nur den Zusammenhang von Haus und Landschaft, son-
dern auch den Raum, das Tragwerk, das Material. Schon der inszenierte Blick
in die landschaftliche Ferne bringt eine natürliche "Kehrseite" mit sich. Der
architektonische Raum wird zur Leerstelle. Der "entleerte" Wohnraum von
Mies' Landhäusern ist eine herausfordernde "Rückseite des Hinausschau-
ens". Dies gilt in gleicher Weise für den aufs Ästhetische zugespitzten Aus-
blick in die Kulturlandschaft.

Das "Ausgegrenzte" und "Verborgene" sind Prinzipien in Mies' Schaffen, die
mit der Idee eines "Unverfügbaren" korrespondieren. Sie betreffen eine re-
ale und eine symbolische Rückseite der Architektur: eine geistige Orientie-
rung, die nicht nur ein Hinten und Vorne kennt.

http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-52125
März 2021
#9 "Rückseiten"
S. 43-62
"Die Märchen kommen aus den Maschinen selber "
"In der Kunst muss der Gedanke im-        Man könnte vorläufig festhalten: Es
mer auf Verwirklichung gerichtet sein;    ginge um die Formerscheinung. Um
und in der Darstellung die Kritik he-     etwas, das durch die Form erscheint,
raustreten, die im schöpferischen Gei-    nicht aber mit ihr ident wäre. Etwas,
ste notwendig beiwohnen muss."            das in der Gegenwart erscheint, denn
                                          selbst wenn der Raum zwischen Scha-
Friedrich Schinkel: "Gedanken und         le und Kern einer Mies-Säule nicht
Bemerkungen über Kunst im Allge-          zum Erlebnis des Bewohners beiträgt,
meinen", aus dem Nachlass 1863.           ist doch die im Wohnraum durch ihre
                                          Erscheinung erzielte Wirkung ent-
                                          scheidend für die geistige Statik sei-
                                          ner Baukunst. Dieses Leben, das war
1 Die Rückseite der Säule                 für Mies nämlich immer ein Leben
                                          "in seinen geistigen und realen Bin-
Wer nach Rückseiten fragt im Werk         dungen". Dementsprechend schreibt
Mies van der Rohes, der heute für viele   Walter Riezler, an den Mies sich ge-
zum Altbestand einer in Geschichts-       wandt hatte mit seinen Bedenken ge-
büchern zu Ende formulierten Moder-       genüber einem drohenden, neuen For-
ne zählt, der mag die Gelegenheit beim    malismus, in der Form des Jahres 1931
Schopf packen und mit frischem Blick      über seine Raumerfahrung im Haus
hinter dessen "Säulenlehre" schauen.      Tugendhat:
Gemeint sind die glänzenden (manch-
mal auch matten)2 Umhüllungen von         "Niemand kann sich dem Eindruck ei-
Eisen- oder Stahlstützen, die – wie       ner besonderen Geistigkeit sehr hohen
beim Haus Tugendhat – nicht nur ihre      Grades entziehen, die in diesen Räu-
eigene, sondern auch die "Kernform"       men herrscht, einer Geistigkeit aller-
des Bauwerks an wenigen Stellen zei-      dings, die sehr neuer Art, sehr ‘gegen-
gen und doch verbergen, weil Tech-        wartsgebunden’ ist und die daher von
nik verborgen bleibt hinter baukünst-     dem Geist, der in Räumen irgend einer
lerisch zu Form bewältigtem, avan-        früheren Epoche herrscht, wesentlich
ciertem Material. Solche Säulen sind      verschieden ist. Es ist schon der ‘Geist
zugleich Hülle und Kern und wieder-       der Technik’ – aber nicht im Sinne je-
holen als Bauglied die Konstruktions-     ner oft beklagten engen Zweckgebun-
weise eines eigentlichen Gliederbaus,     denheit, sondern im Sinne einer neuen
der in Brünn als fester, weißer Putz-     Freiheit des Lebens."5
körper auftritt. Und so ging es Mies
nicht um die Erscheinungsform selbst,     Es ginge also um die Klärung des Ver-
dieses Dogma seiner frühen Äuße-          hältnisses von "Geist" und "Technik",
rung vom September 1923 bleibt für        deren wechselseitige Bestimmung, um
seine ganze Laufbahn gültig: "Es gibt     die "Freiheit des Lebens". Ein Vorha-
keine Form an sich."3 Aber seltsam mag    ben, das nur am Beispiel, im Werk, ge-
er doch im ersten Moment erschei-         lingen kann – wie sich mehrfach zei-
nen, dieser "Formalakt" einer Ver-        gen wird.
wandlung, noch dazu durch ein luxu-
riös-glänzendes Kleid, eine Material-     Die moderne, zweitaktige Mies-Säu-
lust, die ja bekanntlich auf Mies’ Werk   le ist eine Säule, die (im Inneren)
insgesamt zutrifft. Solange jedenfalls,   trägt und außen erscheint, noch beim
bis man die "Formintensität" mit der      Haus Farnsworth, 1950, in der Mit-
"Lebensintensität" verbindet, wie Mies    te des 20. Jahrhunderts, als dies al-
dies fordert, um drei Jahre nach der      lein durch Schleifen und Streichen
erwähnten Aussage in der Form, der        eines konventionellen Stahlträgers
Zeitschrift des Deutschen Werkbunds,      geschieht. Aber freilich trägt sie kei-
zu ergänzen, dass er sich nie gegen die   ne "Ordnung" mehr, sondern zeigt et-
Form als solche gewandt habe, son-        was. Sie zeigt nun nicht sich selbst,
dern den Prozess des Gestaltens stär-     sondern fängt etwas ein, qua der Be-
ken wollte, den er wiederum auf das       schaffenheit ihrer Oberfläche, ihrer
Leben, nicht das "gewesene",4 nicht das   Materialität, ihrer Formung, indem
"gedachte", sondern das "gegenwärtige"    sie etwa das Reflektieren oder Absor-
Leben bezieht: "Das Leben ist das Ent-    bieren von Licht begünstigt. Und auch
scheidende. In seiner ganzen Fülle."      dem Raum begegnete man beim Blick
Was aber wäre diese "ganze Fülle"?        auf diese Objekte in sozusagen "vir-

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"Die Märchen kommen aus den Maschinen selber "
Ludwig Mies van der Rohe, "In-    tueller" Weise wieder. Dem Raum, in          diesmal zwischen Monumentalität und
nenansicht des Barcelona-Pavil-   dem man selbst sich befinden muss,           Leichtigkeit. Das erinnert vielleicht an
lon ohne Möbel", um 1928/29,      über den man dann, auf andere Wei-           die manchmal spröde Poesie Schinkels
Buntstift und Bleistift,          se, zu "reflektieren" beginnt, wenn man      oder aber an das tatsächliche Zelt im
99 x 130 cm.                      im Raum nochmals sich findet: vor sich       Haus, das rund 20 Jahre vor dem Neu-
Museum of Modern Art, New         selbst darin erscheint. Marko Pogac-         en Museum aufgespannte "Zeltzim-
York, Mies van der Rohe           nik kommt in einem Text über "Säule          mer" von Schloss Charlottenhof, Lo-
Archive.                          und Statue" in Mies’ Architektur zum         gis der Gäste des Kronprinzenpaares,
                                  Schluss, dass der " freistehende, kreuz-     etwa Alexander von Humboldts, je-
                                  förmige Pfeiler [...] die erste reflektie-   nes Naturforschers, der als letztes ver-
                                  rende Säule in der Architekturgeschich-      sucht habe, im "Buch der Natur"8 zu
                                  te"6 sei. Es gibt Vorgänger – zumindest      lesen. Auf den "Tektoniker Bötticher"9
                                  was das konstruktive Prinzip betrifft        wird von Meyer ebenfalls hingewie-
                                  –, denen Mies in Alfred Gotthold Me-         sen, der bei Stüler den "Zusammen-
                                  yers Buch Eisenbauten: Ihre Geschich-        hang von Ornamentik und Tektonik"
                                  te und Aesthetik im Büro Behrens be-         gelobt habe, die Spannung zwischen
                                  gegnet sein dürfte, wie Pogacnik na-         Ausdruckskraft und Fügung des Ma-
                                  helegt. Neben Brücken, Hallen, Glas-         terials – eine Verlebendigung durch
                                  kuppeln, "Glaspalästen", sogar Kir-          historische Form. Karl Bötticher be-
                                  chen, aber auch Berlages Börsenhalle,        tont in der "Einleitung zur Philoso-
                                  ist darin die Stülersche Säule des Neu-      phie der tektonischen Form" seiner
                                  en Museums präsent. Stüler befinde           Tektonik der Hellenen von 1852, durch
                                  sich auf den "Bahnen Schinkels", heißt       diese "nicht allein dem bloßen Bedürf-
                                  es über den Konstrukteur und Ar-             nisse durch eine materielle notwendige
                                  chitekten in Personalunion: "Was der         Körperbildung zu entsprechen, son-
                                  Eindruck der Eisenkonstruktion dabei         dern die Letztere auch noch zur Kunst-
                                  an Monumentalität einbüßt, gewinnt           form zu erheben […]".10 Durch die
                                  er durch seine Leichtigkeit zurück.          "Junktur" bindet Bötticher die "Kunst-
                                  Die ganz flachen Kappen und mehr             form" an die "Kernform", das Mecha-
                                  noch die tellerartigen Kuppeln auf den       nische wird vom Dekorativen um-
                                  schlanken vergoldeten Säulen erinnern        geben, das dennoch nicht dekoriert,
                                  an ausgespanntes Gezelt."7 Ein neuer,        sondern geistig erklärt, und hierfür
                                  scheinbarer Gegensatz stellt sich dar,       die "Aufgabe ethisch durchdringt". Die-

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sen geistigen Zusammenhalt gewährt           hatte, wie sie ja noch der Jugendstil in
erst das Vorbild des griechischen Tem-       ganz anderem Chic – losgelöst vom vi-
pels als naturalisierter, sich aus der in-   truvianischen Vokabular – probieren
neren Lebendigkeit eines strukturellen       wird und Behrens sie anfangs selbst
Organismus selbst erklärender Form-          noch probierte, könnte das nicht mehr
zusammenhang. Einige Generationen            gelingen. Behrens weiß das bereits und
später, in derselben Traditionslinie ste-    spricht am Beispiel der Turbinenhalle
hend, ist dieser Gedanke bereits histo-      von einer wahrnehmungsgebundenen
risch geworden – die Verlebendigung          Elementarität des Gliederns im Groß-
vollzieht Mies’ Säule daher auf andere       en, der zusammenhängenden Fläche,
Weise. Statt in der Ursprungsgeschich-       der Gleichmäßigkeit der Reihung,
te der griechisch-tektonischen Sym-          samt notwendiger Einzelheiten, und
bolform, der erstarrten Pflanze des          erkennt, worauf es im Hintergrund
Kallimachos,11 die sich befreit, leicht      dieser neuartigen Gestaltungstätigkeit
wird durch die Mühen der Form, ist           als alter Vermittlungsleistung von In-
nun die sich wandelnde Natur im Spie-        halt zu Form ankäme:
gel der neuen Technik ins Werk ge-
setzt. Sie benötigt weiterhin Form, um       "Ich versuchte zu zeigen, dass Kunst
durch die Wahrnehmung eines durch            und Technik ihrem Wesen nach zwei
sie wiederum gewandelten Raums sich          sehr verschiedene Geistesäußerungen
organisch zu "vervollständigen".             sind, und dass es ein ästhetischer Trug-
                                             schluss ist, wenn man glaubt, aus den
Zurück zu Marco Pogacnik. Ihn be-            technischen Prinzipen, also aus der äu-
schäftigt das Verhältnis von Kern und        ßersten und knappsten Zweckerfüllung
Abdruck: der kreuzförmige Kern und           allein könnte das Schönheitsmoment
seine Ummantelung, bei Stüler wie            entstehen […] Es erscheint mir notwen-
bei Mies. Hier interessiert das "Strah-      dig, die beiden geistigen Tätigkeiten
len", jene ästhetische Erscheinung,          wohl voneinander zu trennen, sie aber
die durch eine Konstruktion erreicht         zusammen einem gemeinsamen Ziel
wird, die eine Form ermöglicht, die          entgegen zu führen […] das bisher in
dem Konstruktionskern verbunden              der Geschichte den sinnlich wahrnehm-
bleibt, nichts Formalistisches daraus        baren Ausdruck im Stil gefunden hat."13
extrapoliert, aber doch etwas anderes
wird als dieser. Man kann sehen, dass        Hier sind beide gleichranging ins
Mies auf die pure Wirkung der Inge-          "Geistige" gehoben, die Technik und
nieursform nicht vertraut. Aber das          die Architektur. Das "Geistige", von
hat ja schon Peter Behrens geklärt, il-      dem weiterhin die Rede sein wird, ist
lustriert an jenem Bau, an dem Mies          aber eine Instanz, die beides gewisser-
mitarbeiten durfte, der AEG-Turbi-           maßen umschließt: weder in geistiger,
nenhalle in Berlin-Moabit: Dass die          entwerferischer Kreativität, noch in
neue, dynamische Zeit nämlich – die          der geistigen Kreativität des Kon-
moderne, bewegte Wahrnehmung im              strukteurs ginge sie auf. Sie transzen-
Raum – eine neue "Rhythmisierung"            diert die Idee des Machens.
des architektonischen Körpers not-
wendig machte, die das Verstehen sei-        Bei aller Wertschätzung gegenüber
ner "Einheitlichkeit"12 erst erlaubte.       der Leuchtkraft einer so genann-
Behrens’ Appell, der mithin eine Ana-        ten Pauluslampe, dem Produkt "rein
lyse von Wahrnehmungsmodi des                technisch-wissenschaftlicher Arbeit",14
modernen Großstädters ist, ergeht als        kritisiert Mies den Selbstzweck von
"ästhetische Forderung" an einen mo-         Technik (und Wirtschaft) in klaren
dernen Architekten, der die Stabili-         Worten. Sie folge "eigenen Gesetzen"
tät der ingenieursmäßigen Rechnung           und ist nicht auf den Menschen bezo-
gewissermaßen durch seine eigenen            gen", erhalte ein "bedrohliches Überge-
Mittel zu beglaubigen habe. Ein bau-         wicht". Die "Erscheinungen der Zeit",
künstlerischer Form-Akt zur unmittel-        die Gegenstandswelt der Moderne, er-
baren "Erklärung" der abstrakt gewor-        hielten in der reduktiven "Atmosphäre
denen Welt aus der Hand der Technik.         der Technik" einen "chaotischen Aus-
Durch aus Stahl gegossene, aus Blech         druck", weshalb es für den Gestal-
geformte Kompositkapitelle oder auch         ter gelte, "künstlerische und seelische
Formfindungen, wie Stüler sie in der         Werte zu entfalten". Mies', vor dem
Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben         sich die historische Form bereits stär-

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ker verschließt als vor Behrens, wird     zahl perspektivisch prüfen, was ge-
diese Fährnisse in zunehmend lapi-        baut werden könnte; Räume aus meist
darer Weise gestaltgebend umschif-        wenigen, schnellen Strichen, in de-
fen – indem er sich der Technik, dem      nen der Architekt den gebauten Er-
Material und den Produktionsbedin-        fahrungsraum vorweg testet, die
gungen seiner Epoche stellt. Das wirft    Stofflichkeit meist hintanstellend, die
mithin die Frage auf, ob die für Beh-     Landschaft als organische Gegenli-
rens wesentliche stabilitas überhaupt     nie dagegen meist bedenkend. Daraus
noch hinreicht, als zentrale Eigen-       zu folgern, die Säule werde der Skulp-
schaft der Architektur zu gelten, was     tur gleich, die einst anthropomorphe
sie bekanntlich nie alleine tat, wie es   Säule finde in ihr gewissermaßen ei-
Behrens in seinem Vortrag von 1910        nen erinnernden Nachklang, in den
unter dem Titel "Kunst und Technik"       immer figurativen Skulpturen Kolbes
vor dem Verband Deutscher Elektro-        oder Lehmbrucks oder Maillols, die
techniker allerdings auch nicht nahe-     Mies zeichnet, collagiert oder real
legen wollte. Es fragt sich dennoch, ob   in seine Räume setzt, ist ein schöner
dessen Vorgängerschaft nicht durch        Gedanke. Er hat zudem mit der Fra-
die fortschreitende Verschiebung der      ge der Verständlichkeit des kargen
Aufmerksamkeit von der Form zum           Miesschen Raums unmittelbar zu tun:
momentanen Wechselspiel zwischen          Nicht nur spiegelt die konstruktiv nur
Konstruktion, Raum und Wahrneh-           bedingt notwendige, räumlich aber
mung im Werk seines "Nachfolgers"         wichtige Säule die luftige Atmosphä-
deutlich wird. Angelegt war beim er-      re der großen, zentralen Wohnräu-
sten Industriedesigner gewiss die in      men seiner Bauten, sondern sie ahmt
den Alltag eingebrochene Notwen-          die von Mies penibel ausgewählten
digkeit einer ästhetischen Verständ-      Skulpturen vor allem auch darin nach,
lich-Machung abstrakter Serien-Din-       den Raum zu verdeutlichen: die Wei-
ge – jene, dem Ingenieur nicht zu-        se nämlich, in der man ihn wahrneh-
gängliche Dimension bedeutungs-           men und verstehen könnte, vermit-
voller Konkretheit, den ein Gegen-        telt durch die Weise, in der man sich
stand aus maschineller Produktion         im Raum befindet. Ihr kontemplatives
erreichen müsste: ohne Zierrat, ele-      Ruhen, bedachtes Schreiten oder Um-
mentar, im Angesicht der Gegen-           sich-Blicken sind Hinweis auf ein ge-
wart.15 Die Verlässlichkeit der Rech-     wisses Raumbefinden. So lautet der
nung, die Stabilität der Ingenieurs-      Titel einer Plastik Wilhelm Lehm-
form hat mit der Verlässlichkeit der      brucks, auf die Mies gern zurück-
"Lebenswelt" nur mittelbar zu tun,        greift: "Mädchentorso, sich umwen-
nicht ohne Grund spricht auch Beh-        dend“. Sie verkörpert nicht nur ein
rens bereits von Schönheit als Schön-     Gebaren, sondern regt womöglich zur
heitsmoment. Die Funktionalität als       Identifikation an, die Befindlichkeit
dritte im Bunde der alten Trias, die      eines einfühlenden Betrachters zum
erklärte sich seinem "elektro-affinen"    Umwenden, genaueren Erleben des
Publikum wohl von selbst.                 räumlichen Hier und Jetzt wendend.

2 Der aufgespannte Horizont               Mies' Säulen, wenn sie erscheinen,
                                          sind an der Stelle ihres Auftritts even-
Zurück nun zur Säule, zum Kon-            tuell konstruktiv nicht notwendig.
kreten. In seinem materialreichen         Oder aber der "Konstrukteur" Mies
Text betont bereits Pogacnik, dass sie    setzt sie in die Logik des Rasters, mit
erst in den Miesschen Raum eintritt,      dem er dann im Sinne einer spezi-
wenn dieser bereits in Proportion und     fischen Raumwirkung bricht. Dass
Ausrichtung definiert ist: "Die Positi-   auch Raumgrenzen nichts mit der
onen der Säulen entsprechen in erster     "Wahrheit der Konstruktion" zu tun
Linie nicht einem statischen System,      haben müssen, wird anhand der wun-
sondern sie werden von Mies aus der       derbaren Zeichnung einer Säule des
Betrachtung ihrer räumlichen Wir-         Barcelona-Pavillons vermittelt, die ei-
kung bestimmt. Die Säule wird mehr        gentlich ein Zeichen-Kunstwerk ist
als eine Statue denn als ein zum Bau      und als Erscheinung auf dem Blatt
gehörendes Element betrachtet."16 Das     weniger etwas zu tragen scheint, in
gilt auch im imaginären Skizzenraum,      ihrer Entasis nicht elegante Mühe,
Handskizzen, die in ungeheurer An-        kontrahierter Muskel wäre, sondern

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eher ein neuartig-leichtfüssiges Zug-      Rauschen, das stille Wasser im dunk-
glied, das die Dinge zusammenhält.         len Becken, der üppige Stein, all dies
Die raumabschließende, hinterleuch-        gefasst wäre im Thema des Morgens.
tete Onyx-Scheibe und die steiner-         Der "Morgen" ist dann nicht nur eine
nen Scheiben der Innenräume hin-           Schmuckfigur oder bestimmte Tages-
gegen tragen bekanntlich nur sich          zeit, sondern vielleicht eine Blumen-
selbst, auch wenn sie das Dach zu tra-     bergsche absolute Metapher, einge-
gen scheinen, verbergen dabei – aus        gangen in ein ästhetisches Phänomen,
gewisser Perspektive – hinter sich die     ein räumlich gewordenes Verhältnis
tragenden Stützen und die Logik eines      zur Unbegrifflichkeit, aus Anlass je-
filigranen Stahlpavillons.17 In einer      ner hektisch-profanen Gelegenheit,
Beobachtung über das Zusammen-             die sich wandelt, wo man den geistigen
spiel von Raum, Skulptur und Wahr-         Zusammenhang von Nähe und Fer-
nehmung anhand Miesscher Zeich-            ne wahrzunehmen begänne. Läge der
nungen hält Robin Evans fest:              Blick-Horizont von Kolbes "Morgen"
                                           auf Augenhöhe des Besuchers, wäre sie
"In the drawings, Mies was more in-        eine abstrakte Figur, man würde sich
clined to incorporate figurative sculp-    wohl nicht im selben Maße einbezo-
ture than human figures. Often the         gen fühlen, angesprochen, wie schon
eye-level of the statue is removed from    vom Tragen und Lasten der Miesschen
the horizon line, either by overscaling,   Säule, die sich von der "alten", wenn
as with the Kolbe statue at Barcelona,     schon nicht vollends den Anthropo-
or because of its recumbent posture.       morphismus, so doch die menschliche
Mies never acknowledged his interest       Anteilnahme leiht.
in this phenomenon."18
                                           Dieses Schauspiel, das man so zu-
Mies äußert sich immer seltener "wört-     gleich "versteht", zeigt man sich nur
lich" zu seiner Arbeit, je weiter seine    sinnesoffen (wozu diese Architektur
Karriere voranschreitet, tritt 1938 in     auffordert), ist eigentlich eines des
einen fremden Sprachraum ein, an-          Von-sich-Weisens, des Engagierens
tizipiert im Zeichenraum, vor den ei-      geborgter Zutaten, die sich dem rein
genen Augen des Architekten, jedoch        rationalen Verstehen entziehen. Ähn-
das Real-Erlebnis, an dem so auch der      liches ereignet sich bei den Miesschen
Mensch früh teilhat, da das noch nicht     Backsteinbauten, als das ja auch das
oder nie Gebaute im Testfeld des Zei-      Haus Tugendhat ursprünglich erd-
chenraums bereits erscheint.               acht war, aber nicht wurde, in Erman-
                                           gelung guter, sinnlich wirkender, lo-
Es bleibt unleugbar, dass der flüchtige    kaler Ziegel. Wo Mies Ziegel wählt,
Besucher eines eigentlichen Durch-         sind sie von besonderer Qualität. Sie
gangsortes, eines Pavillons, nicht für     wirken lebendig, wie beim Haus Lem-
die Dauer gedacht, im Gedränge der         ke in Berlin durch ihren buntgebrann-
Massen einer Weltausstellung, anders       ten Charakter. Freilich ist das be-
als heute, sich plötzlich nicht nur ab-    rühmteste Beispiel der Differenz zwi-
geschieden fände in dessen kleinerem       schen Erscheinung und Konstrukti-
Hof, sondern bezogen bliebe auf das        on eine Miessche Invention, von der
jenseitige Gegenüber, das die Hori-        heute jedes bessere Geschichtsbuch
zontlinie der Mauerzüge begrenzt und       der Moderne erzählt: Gotische Rip-
gleichermaßen öffnet, hingewiesen          pen oder Ecklösungen der Renaissan-
von der Statue "Morgen",19 die, über-      ce transformierend, sind die Stahl-
lebensgroß, eine geheimnisvoll-kon-        träger seiner amerikanischen Hoch-
krete Gestik des Erweckens vollführt,      hausfassaden nur das Echo der tat-
in Korrespondenz mit dem für Mo-           sächlichen Stahlkonstruktion, die aus
mente in Achtsamkeit festgehaltenen        Feuerschutzgründen verborgen bleibt.
Betrachter tritt, da ein Geschehen sich    Nichts tut diese, auf die "fertige" Fas-
ereignet, das in der räumlichen Kon-       sade aufgebrachte Ingenieurs-Form,
stellation auf ihn bezogen, in seiner      als vertikal zu gliedern. Aus einer sta-
Dimension ihm aber enthoben blie-          tischen Notwendigkeit wird ein Rudi-
be: der verstehende Zusammenhang           ment von Ausdruckskraft. Doch wird
eines landschaftlichen Ganzen, an dem      dessen räumliche Spannkraft, deren
Himmel, verdeckte, aber in ihrer Form      Erleben Sinne und Denken involviert,
und Größe offenbarte Baumkronen,           erneut nur im Wechselspiel mit dem

                         48
Ludwig Mies van der Rohe, Haus    Atmosphärischen und der darin dia-   legt durch die raumgreifenden Kohle-
Tugendhat, großer Wohnraum,       logisch erscheinenden Natur aktiviert.
                                                                       zeichnungen der "Fünf Projekte" Evi-
Brünn 1930, Fotografie: Atelier   Mies spricht von einer neuen Ord-    denz davon ab; zwei solcher, für Eur-
De Sandalo, um 1930.              nung, die er "organisch" nennt, ohne opa neuer Bauaufgaben zählen unter
Museum of Modern Art, New         das "Gefühl" für die "gute Proportion"
                                                                       diese berühmten anvantgardistischen
York, Mies van der Rohe           dabei aufzugeben, ohne aber tatsäch- Projekte. Er schreibt im Jahr 1922, in
Archive.                          lich organische Formen zu meinen –   der Zeitschrift Bruno Tauts, im Früh-
                                  was angesichts dieser Bauten selbst- licht, um die gestalterischen Chan-
                                  evident ist. Organisch wäre eher das cen des Baustoffs Glas zu betonen,
                                  Zusammenspiel, das hier suggeriert   dass dieser nicht allein den amorphen
                                  wird und die Konstruktion sozusagen  Grundriss seines fiktiven Hochhauses
                                  über sich hinaus hebt. Wie wiederum  beeinflusst habe, sondern auch die Le-
                                  Evans, mittlerweile am Fuß eines der bendigkeit der großen Glasfläche be-
                                  Chicagoer Hochhäuser angekommen,     dinge, die "tote Winkel"21 vermeiden
                                  anschaulich beschreibt, indem er den solle. Er erklärt, dass es "bei der Ver-
                                  Rätselcharakter des Moments erfasst: wendung von Glas nicht auf eine Wir-
                                  "The towers at Lake Shore Drive do not
                                                                       kung von Licht und Schatten, sondern
                                  represent a remission of mass. They do
                                                                       auf ein reiches Spiel von Lichtreflexen
                                  not rise against the pull of gravity; gra-
                                                                       ankam." Dass es sich hier auch um
                                  vity does not enter into it. They make
                                                                       eine ästhetische Erfahrung handelt,
                                  you believe, against reason, that they
                                                                       die ja – vereinfacht gesagt – das sinn-
                                  do not partake of that most pervasiveliche Erscheinen mit Ideen verbindet,
                                  and relentless of all natural forces."20 Er
                                                                       davon spricht er freilich nicht; genau
                                  spricht von einer eigenartigen Zusam-dieses Phänomen spiegelt sich aber in
                                  menkunft von Verstand und "Glau-     der Architektur-Erfahrung der Zeit
                                  ben" in Anbetracht jener Architektur,wider. In Barcelona belegt ein Bericht
                                  in der das Abstrakte zum Konkreten   Walther Genzmers diese besonde-
                                  wird: durch ein flüchtiges Erlebnis, re Wahrnehmungsweise. Im Sommer
                                  dass sie allerdings auf geistige Weise
                                                                       1929 hält Genzmer nach dem unmit-
                                  "stabilisiert".                      telbaren Eindruck des Pavillons fest,
                                                                       er sei "[…] irgendwie erregend, ver-
                                  Bereits seine ersten, europäischen langt, dass man sich mit ihm geistig
                                  Visionen von Hochhausbauten pro- auseinandersetzt […]"22 Es geht also
                                  ben ihre Wirkung auf die Sinne. Mies um eine Doppelfigur aus sinnlichem

                                                             49
Affekt und der Reflexion auf die Be- ma gemacht, wenn er für die Moder-
dingungen seiner Wirkung.                ne meint: "Der neuzeitliche Bildbegriff,
                                         der sich vom religiösen Erleben eman-
In anschaulicher Weise, in Wort und zipiert, bewahrt gleichwohl die Struk-
Bild, hat Fritz Neumeyer anhand der tur dieser Verschiebung. Er führt aus
Gestik des großen Hofs des Barcelo- der vorkünstlerischen Realität heraus
na-Pavillons gezeigt, wie Mies den in eine ästhetische Ordnung."25 Anders
modernen Raum als Erfahrungsge- gesagt: "Sinn" und Verstand verbinden
schehen eines dynamischen Subjekts sich unter der Bedingung von Kontin-
entwickelt: durch die Horizonte der genz im ästhetischen Moment, den die
umarmenden Hofmauern, die den re- Architektur befördern kann.
alen Horizont des Ortes zunehmend
freigeben, beim Sich-Verschieben und Ähnliches wurde über die produktive
Öffnen der steinernen Wandscheiben Spannung in Mies' Säulen gesagt, die
gegen den Montjuïc, die erhaben wir- im Sinne einer "strukturellen" Archi-
kende Mauer des Nationalpalastes, tektur im Kleinen das Große wider-
dunkle Baumgestalten; eingebunden spiegelt. Jahrzehnte vor seinem Text
auch diesmal ein daliegendes Wasser- über den Barcelona-Pavillon – der ja
becken in die raumgebenden Geome- den Titel "The Secret Life of Colum-
trien. Ähnlich wie Evans, diesmal aber ns trägt" – hat Fritz Neumeyer die
aus der Warte des realen Besuchers, er- zugrundeliegende, spezifische räum-
läutert Neumeyer, "this play of challen- liche Konfiguration mit dem "Prin-
ging our reading of architectural spa- zip der Gegensätze" benannt, das auch
ce as a perspective phenomenon con- in der Philosophie Romano Guardi-
tinues inside",23 auch dort stelle sich nis eine entscheidende Rolle spielt.
eine "inner infinity" dar. Da trifft der Das Leben werde hier zum "Korrek-
sinnesoffene Mensch auf eine Entität, tiv des Denkens", denn Mies' Gegen-
die sich erst im gehenden und schauen- satzlehre werde plastisch, ganz direkt
den Wechselspiel zwischen den durch in den gegensätzlich konzipierten Mo-
ihn hindurchdurchlaufenden und sich tiven seiner Architektur, etwa die-
so neukonstituierenden "Daten" kon- ses Pavillons, deutlich: im Sockel als
kreter Unmittelbarkeit öffnet – durch Ausdruck gegenwärtiger Geschich-
eine "Komposition" von Gegensätzen: te gegenüber der Dynamik frei ste-
dem Horizont der Mauern und der hender Wandscheiben; im schweren
Unendlichkeit des realen Horizonts, Onyx und Vert antique gegenüber der
dem Zusammentreffen des Unding- gläsernen Raumhülle – sowie in be-
lichen mit dem Konkreten im archi- sagtem, durch Steinscheiben gebro-
tektonischen Raum. Evans' Bemerkung chenen Raster, den aus Norm-Stahl-
über die Differenz von Mensch und profilen geschweißten Stützen vom
Skulptur durch die Differenz der Blick- Querschnitt eines griechischen Kreu-
punkte wäre darin zu ergänzen, dass zes, umhüllt von Chromblech. Sie be-
diese produktive Spannung den Modus deuten nicht nur eine "formale" Hal-
des Betrachtens selbst beträfe: In Leon tung, diese kompositorischen Wider-
Battista Albertis De Pictura von 1435, sprüche bereichern nicht nur die Sin-
der ersten theoretischen Erfassung der neseindrücke eines Besuchers oder
Zentralperspektive, war der natürliche Bewohners, die Gegensatzlehre Ro-
Horizont noch nicht mit dem gezeich- mano Guardinis hat mit dem Gegen-
neten zusammengefallen. Er nannte satz von Abstraktion und Konkretheit
den Fluchtpunkt folglich nur centricus und einer durch sie erwachsenden,
punctus.24 Das im Bildhorizont kulmi- unauflöslichen geistigen Spannung
nierende Schauen eines vereinzelten zu tun – ganz ähnlich dem "Bauplan"
Betrachters ist noch nicht mit der Kon- der ästhetischen Erfahrung.26 Neume-
trolle der äußeren Welt verknüpft, die yer spricht vom "Symbolisch-Werden
sich der Herrschaft der Augen folglich des Raums",27 Mies von einer "höheren
entzieht, wie der Begriff eines "zentra- Einheit". Eine Formulierung, die die-
len Punkts“ festhält. Die daraus zu ge- ser just verwendet, um den Zusam-
winnende Metaphorik eines Geisti- menfall von Gegensätzen, von Tech-
gen, Jenseitigen, dieses sich im Ima- nik und Natur zu charakterisieren – in
ginär-Unendlichen eines Bildes bald einer Baukunst, die er andernorts als
verweltlichenden "Fluchtpunkts“, hat "räumlichen Vollzug geistiger Entschei-
Albrecht Koschorke zu seinem Leitthe- dungen"28 betrachtet.

                         50
Ludwig Mies van der Rohe,         3 Der Blick durch den Rahmen in nennt seine Konstruktion schließlich
Projekt Haus Hubbe, linker Hof,   die Landschaft                           auch Struktur: "die Struktur ist das
Magdeburg 1935, Bleistift auf                                              Ganze […], alles erfasst von derselben
Zeichenkarton, 49 x 67 cm.        Die "Gegensatzlehre" Guardinis, mit Idee."31 Er deutet zugleich in einem re-
Museum of Modern Art, New         der Mies vor allem durch intensive sümierenden Gespräch auf den Unter-
York, Mies van der Rohe           Lektüre der Briefe vom Comer See in schied zwischen "Prosa" und "Poesie",
Archive.                          Berührung kommt29, lenkt das Au- die Leistung des Architekten, die sich
                                  genmerk nicht auf ein formales Kom- von jener des Statikers unterscheide.
                                  positionsprinzip, sondern auf eine Er- Beide aber suchten nach der "Klarheit"
                                  fahrung, die das Konkret-Momentane der "fundamentalen Konstruktion",
                                  übersteigt, ohne dieses hinter sich zu- die Mies in der Gotik findet oder bei
                                  rücklassen zu wollen. So stellt sich die Berlage, der in der Amsterdamer Bör-
                                  Frage, ob statt der räumlichen Polari- senhalle "allgemeine Ideen" in die Ge-
                                  tät von "Hinten und Vorne", von "da- genwart übersetzt habe. Die bei Beh-
                                  hinter und davor", die sowieso ins rens installierte Unterscheidung von
                                  Hintertreffen geraten ist, nach Ein- Architektur und Konstruktiv-Zweck-
                                  blick in die Wirkungsweise der Mies- haftem, die neu zu fassende Zusam-
                                  schen Säule im Raum, nicht besser menarbeit der Disziplinen an gegen-
                                  statt von einer "Rückseite" von einem sätzlichen Enden (jedoch am selben
                                  lebendigen "Zwischen" gesprochen Projekt) ist es, die Mies zum Begriff
                                  werden sollte. Und dies nicht nur, um "Struktur" und daher einer Standort-
                                  einer beliebten Reduktion der Moder- bestimmung des genuin Architekto-
                                  ne auf einfache Polaritäten zu entge- nischen führt. Man könnte Mies' ent-
                                  hen, wovon insbesondere ihr Natur- werferische Leistung auch so formu-
                                  bild betroffen bleibt.30                 lieren: Gerade die unverblümt ins
                                                                           Spiel gebrachte, streng-rationelle Ord-
                                  Denn es ist mittlerweile deutlich ge- nung des Technischen erweckt in sei-
                                  worden, dass es in diesem Werk um nem Werk den Anschein des Überzeit-
                                  die Verschränkung handfester Din- lichen, Klassischen, während – para-
                                  ge mit Ideen geht. Man könnte auch doxerweise – erst die Interaktion mit
                                  sagen: um eine Dialektik, die sich im lebendigen "Erscheinungen" der Na-
                                  Raum, zumal im Wohnraum, ereig- tur diesen Eindruck beim Betrachter
                                  net, vermittelt durch die Konstrukti- bestätigt, sich das Abstrakte so kon-
                                  on, "gefüllt" vom Natureindruck. Mies kretisiert und verständlich wird als

                                                          51
ästhetisches Phänomen. Dass dieses           le Stellung des Subjekts in diesem Pro-
Zusammenspiel dialektischer Natur            zess:
wäre, greift K. Michael Hays auf, um
die "worldliness" von Mies' Architek-        "[…] man-made things can act as
tur – daher auch ihre kritische Funk-        necessary intermediaries between us
tion – anhand ihres autonomen Auf-           and the natural world, bringing to it an
tritts zu beschreiben, der sich für ihn      added radiance, such as a Greek tem-
in ähnlicher Weise vollzieht, wie dies       ple brings to the landscape in which it
gerade beschrieben wurde: "Mies was          is set. It is as though nature demanded
able to see his constructions as the place   the clear sharp facets of our rational
in which the motivated, the planned, and     creations for its own completion."34
the rational are brought together with
the contingent, the unpredictable, and       Blickt man aus den Miesschen Hoch-
the inexplicable."32 Eine Gegensätz-         häusern, dann vollzieht sich dort das-
lichkeit, die sich für Hays zwischen         selbe Schauspiel, das seine Wohnhäu-
dem Chaos der Metropole, der Selbs-          ser inszenieren: die "Isolation" der Na-
terfahrung von Kontingenz und einer          turerscheinung als Erfahrung der Ein-
"Halt" gebenden Ordnung der Archi-           heit der Landschaft. Diese Landschaft,
tektur zeigt.33                              so könnte man mit der modernen
                                             Landschaftstheorie präzisieren,35 wird
Diese Verzeitlichung eines gern als          eben erst sie selbst durch ihre "Zäh-
zeitlos-klassisch verbuchten Werks           mung", eine Zähmung, die sie für uns
ist in der Rezeptionsgeschichte we-          erst lebendig erscheinen lässt, indem
nig verbreitet; solch eine Architek-         sie " für-sich-seiend" erscheint; die Art
tur bringt man – etwa Colin Rowe –           und Weise, wie wir uns darin verhal-
eher mit einem "neoklassischen Al-           ten und sie erschließen, korreliert mit
phabet" in Verbindung, im nächsten           ihrem ästhetischen Erlebnis (oder ver-
Schritt mit der platonischen Ideenleh-       hindert es). Sie ist, wie die architekto-
re. Richard Padovan hat diesen Punkt         nische "Struktur", daher ein Beleg der
anhand jenes Zitats erhellt, das Mies        ins Werk gesetzten "Gegensatzlehre".
selbst gerne verwendet und das von           Mies' Häuser sind Hilfsmittel für das
Thomas von Aquin stammt, der es              erfahrungsoffene und in die Welt hi-
wiederum aus älteren Quellen über-           nausblickende Individuum, solche Er-
nommen haben dürfte und welches              lebnisse im Alltag präsent zu halten.
heute gemeinhin mit der Korrespon-           Er beschreibt dies geradezu als Errun-
denztheorie der Wahrheit verbunden           genschaft seiner Glashochhäuser, aus
wird: "veritas est adaequatio rei et in-     denen man beobachten könne, "wie
tellectus". Doch geht es für Mies nicht      sich der Himmel und auch die Stadt
um eine intellektuelle Wahrheit, die         alle Stunden verändern. Ich glaube,
sich unmittelbar in den Sachen zeigt;        das ist wirklich neu in unserem Kon-
seine Bauten sind eben nicht Reprä-          zept vom Wohnbau."36
sentanten einer höheren, allein dem
Intellekt entborgenen Ordnung, ihr           Damit ist keine Plattitüde ausgespro-
"Strukturzusammenhang"          bedingt      chen. Sogar die Stadt wird Mies zum
vielmehr das Erleben, den Raum des           Landschaftskörper, hoch oben aus der
Konkreten. Das Konkret-Sinnliche             Luft über Chicago. Mit dieser Suche
wird in sein eigenes Recht gesetzt und       nach dem Architektonischen korre-
geht dennoch nicht in purer Empi-            spondiert eine den Einzelnen in bei-
rie auf. Dieses Wechselspiel aus Ding        spielsloser Weise herausfordernde Welt,
und Idee bezieht sich nicht nur auf die      eine Sinne und Verstand überlastende
Natur der Kulturgegenstände, son-            Metropole, wie sie Georg Simmel para-
dern auf die Natur selbst: Sie erscheint     digmatisch in seinem Essay Die Groß-
durch diese Bauten, ohne noch ent-           städte und das Geistesleben schon 1903
fesselte Naturkraft zu sein, aber auch       beschreibt. Das Landschaftserlebnis
ohne ihre Naturkraft zu verlieren. Sie       verbindet Simmel dagegen zehn Jahre
nun ist es, die sich anschaulich trans-      später mit der notwendigen Sammlung
formiert im ästhetischen Schauspiel          des Selbst und sieht darin – und nicht
eines Bauwerks in der Landschaft.            etwa in der Landpartie – ein geistiges
Padovan betont, nach einer kurzen            Remedium gegen die Zerstreuung und
Auseinandersetzung mit dem schola-           Blasiertheit der Metropole.37 Simmel
stischen Einfluss auf Mies, die zentra-      war es auch, der vom "Für-sich-Sein"

                          52
der Natur für den Mensch gesprochen          Kunstwerk und Wohnraum befasst.
hat. In seinen berühmten einschlägigen       Kunst sollte in seinen ersten, tradi-
Text mit dem Titel Philosophie der           tionellen Villenbauten kein beiläu-
Landschaft heißt es:                         figes Mit-Sein und bürgerliches Di-
                                             stinktionsmerkmal sein: "Der Bau im
"Während sich hieraus unzählige              Ganzen so wie die einzelnen Räume
Kämpfe und Zerrissenheiten im Sozi-          sollen immer in Verbindung zur realen
alen und im Technischen, im Geisti-          Umwelt stehen, sollen dieser gegen-
gen und im Sittlichen ergeben, schafft       über geöffnet und verbunden sein. Die
die gleiche Form der Natur gegenüber         Verbindung von Kunst und Wirklich-
den versöhnten Reichtum der Land-            keit wird unumstößlich anerkannt."41
schaft, die ein Individuelles, Geschlos-     In den noblen Landhäusern der Kre-
senes, In-sich-Befriedigtes ist [...] und    felder Unternehmer Esters und Lan-
dabei widerspruchslos dem Ganzen             ge bemerkt ein bauzeitlicher Rezen-
der Natur und seiner Einheit verhaftet       sent zwar die Konzentration auf das
bleibt."38                                   Werk der Kunst durch Isolation im
                                             Wohn-Zusammenhang, was damals
Die Landschaft der Moderne sei "ein          keineswegs der herkömmlichen Prä-
Kunstwerk in statu nascendi"39, wo-          sentationsweise entsprach: "Das Weiß
rin in wunderbarer Formulierung der          der Wände ist hier wie in allen an-
Charakter dieser Erfahrung benannt           deren Räumen des Hauses vorherr-
ist: das Landschaftserlebnis ist mo-         schend […] Eine Anhäufung ist ver-
mentan, es weckt und belebt den er-          mieden. Jedes Kunstwerk kann nahe-
lebenden Menschen, versetzt ihn aus          zu isoliert seine eigene Sprache spre-
der Gleichgültigkeit und Abgeschie-          chen."42 Das ist aber nur die eine Seite,
denheit der anonymen Masse in einen          die dem Werk und seiner Autonomie
sich ästhetisch erfüllenden Sinnzu-          Respekt zollt. Mies' Räume betonen
sammenhang.                                  das Kunstwerk nicht nur als solches,
                                             sondern setzen es eben im Simmel-
In einem kurzen Text über Bilderrah-         schen Sinn – in Korrespondenz zum
men fasst Simmel den modernen Rah-           größeren Lebensraum der Bewohner.
men als schmucklos auf, in dieser Form       Auch in seinen Museumsbauten, die
nun aber als geeigneter, dem Kunst-          ihrem Wesen nach auch "große Räu-
werk seine unmittelbare Wirkung auf          me" sind, lässt Mies bald übliche Hän-
den Menschen zu erleichtern: Ein sol-        gungen und Rahmungen hinter sich,
cher Rahmen sorge für die Integration        um Skulptur, Bildtafel, Mensch und
des Werks in den Wohnraum und ver-           Landschaft im ästhetischen Erlebnis
mittle zugleich dessen Gehalt an den         zu vereinen. Erstmals spricht er davon
Alltag der Menschen. Simmel erklärt          im Jahr 1943, beim Wettbewerb des
das trefflich als "Prinzip der Kulturent-    "Architectural Forum" für ein "Muse-
wicklung", die den abstrakten, archi-        um für eine kleine Stadt". Für ein Ge-
tektonischen Bilderrahmen hervorge-          mälde wie Picassos Guernica bedeutet
bracht habe, und damit also nicht von        dies, "hier kann es zur vollen Geltung
der "mechanistisch-äußerlichen" zur          kommen und zugleich ein raumbilden-
"organisch-beseelten" Form geführt           des Element werden, das sich vor einem
habe. Denn insgesamt eröffnen sich           wechselnden Hintergrund abzeich-
durch den Rahmen, wiewohl selbst ab-         net."43 Mies' kurze Projektbeschrei-
strakt geworden, räumliche "Gebilde,         bung für das Museumsprojekt wird
die bis dahin ein sich geschlossenes, eine   von Entwürfen begleitet. Sie belegen:
eigene Idee repräsentierendes Leben          mit "Hintergrund" ist die eindrück-
führten", die nun, "zu bloß mechanisch       lich-hügelige Landschaft gemeint, die
wirksamen, partikulären Elementen            künstliche Ebene des Museumsbaus
grösserer Zusammenhänge degradiert           sowie die "behütenden", aber großen
[…] die Träger der Idee"40 geworden          Räume, die das kulturelle Leben der
sind. So könnte man auch das Aufge-          Stadtgemeinde bereichern sollen – In-
hen und die Geschichte der modernen          gredienzien, die er erst in Berlin, bei
Säule im Wohnraum erzählen – einem           der Neuen Nationalgalerie verwirkli-
Strukturelement in Mies' Baukunst.           chen wird.44 In Houston, bei der Er-
                                             weiterung des dortigen Museums of
Seit Beginn seiner Tätigkeit war Mies        Fine Arts, installiert er im Jahr 1953
mit der räumlichen Verknüpfung von           eine neue Art der Hängung, lässt Bil-

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der von der Decke abhängen, positio-       haft-leiblichen Akt des Malens, son-
niert sie mitten im Raum, als gehörten     dern, danach, um die Loslösung vom
sie der umspülenden Luft, schweb-          Werk, eine Zäsur, die der Maler als
ten in der Leere. Dies ist ein gestalte-   erster, geduldiger Betrachter des voll-
rischer Kniff, der durch die Abstrak-      endeten Gemäldes vollzieht – im Akt
tion des In-die-Leere-Hängens – kein       des aufmerksamen Schauens auf eine
Hintergrund, keine Farbe, kein Rah-        "Mirabile". Gottfried Boehm spricht
men – zur Spannung des architekto-         dem so auf die Welt gebrachten Werk
nischen Raums beiträgt, weil das di-       eine Lebendigkeit zu, die nicht auf
rekte Bild-Erlebnis immer auf den Ge-      den Begriff zu bringen sei: "Der alte
samtraum bezogen bleibt, in dem man        künstlerische Topos des Unsagbaren
sich als Besucher frei bewegt. Hier ist    kehrt wieder. Intensitäten rücken an
der Betrachter isoliert vor einem iso-     die Stelle von Inhalten."46 Das Thema
lierten Stück Kunst und befindet sich      der Überschreitung von Bildraum
dennoch immer im größeren Raum,            und Museumsraum, von Museums-
nicht vor der Wand, nie in der Enge        raum und Existenzraum wird nun
und zugleich vor dem Panorama eines        zur wesentlichen Seh-Erfahrung die-
üppigen Gartens.                           ser Bilder, wie Boehm anhand der
                                           Aufzeichnungen Rothkos darstellt.
Den zentralen Aspekt der Verbindung        Und sie werden zu ästhetischen Mit-
von Kunst und Landschaft im archi-         teln, um die "Erstarrung" der moder-
tektonischen Raum zeigt eine Collage       nen Lebenswirklichkeit mit der "Le-
für ein Museumsprojekt in Schwein-         bendigkeit" des ästhetischen Erleb-
furt auf vortreffliche Weise. In die-      nisses zu konfrontieren.47 Dass die
ser eindrucksvollen Tafel, auf der sich    "Seagram-Murals" von Rothko im
die "Säulen" und Gliederung der Fas-       fertig eingerichteten Restaurant des
sade noch roh, wie in einem Testlauf       New Yorker Hochhauses doch kei-
für Berlin darstellen, hängt Mies ein      nen Platz finden sollten, bestätigt
Gemälde Mark Rothkos. Die weiträu-         diesen Wunsch, durch das Bild ei-
mige Fotografie einer fernen Meeres-       nen "Ort zu schaffen, anstatt nur Ar-
landschaft und die Reproduktion von        tefakte zu hinterlassen"48 – wie Rothko
Rothkos "Gemälde No. 8" aus dem Jahr       in seinen Notizen bekundet. Ein ex-
1952 – eine horizontale Komposition        klusives Restaurant war letztlich wohl
aus Rot, Weiß und Gelb – führen ganz       nicht der geeignete Ort. Eine öffent-
offensichtlich einen Dialog miteinan-      liche Raum-Situation hingegen würde
der, wenn die Horizonte verschmelzen       dem gerade nicht widersprechen, wäre
und das Imaginäre und das Reale viel-      sogar zuträglich, zumal wenn sie an
leicht ihre Rollen im imaginierten Er-     ein Refektorium erinnert, das Rothko
lebnisraum der Architektur tauschen.       in San Marco in Florenz besucht hat-
In ihrer Auseinandersetzung mit der        te wie auch die Treppe Michelangelos
Malerei des abstrakten Expressionis-       und die Mönchs-Zellen des Fra Ange-
mus der 1950er Jahre hält Petra Joswig     lico.
fest, wie sich auch durch Einbezug des
Körpers in den malerischen Schaffen-       Als wollte Mies den Bildeindruck der be-
sprozess die Gegensätze von Abstrak-       tont großformatigen Arbeiten, Rothkos
tion und Konkretheit, Kultur und Na-       Entgrenzung des Bild-Raums, nach-
tur aufheben sollen:                       vollziehen, dehnt sich seine Collage
                                           für das Museum Georg Schäfer mehr
"Das Kunstwerk selbst wird zur Natur       als einen Meter in die Breite; Rothkos
[…] Die Abstrakten Expressionisten         Gemälde war im Original zwei Meter
wollten weder Natur in eine abstrakte      hoch. Noch der in Plandarstellungen
Gestalt überführen, noch wollten sie       ungeschulteste Betrachter könnte sich
Natur illustrieren. Die Reflexion des      in diesen Raum versetzen. Auch dies-
Künstlers über sich und die Natur soll     mal vermitteln Bildeindrücke die Sta-
in eine Bildsprache gekleidet werden,      tionen des Miesschen Nachdenkens über
die die konventionellen Vorstellungen      räumliche Zusammenhänge: Die Colla-
von abstrakt und gegenständlich hinter     ge, zu der er in seinem amerikanischen
sich lässt."45                             Büro wohl aus Darstellungsgründen
                                           greift, vermittelt unterschiedslos Aus-
Zugleich aber geht es nicht nur um die     blicke und Raumkonzepte dieser sich
schöpferische Vereinigung im natur-        weiterentwickelnden Wohn- und Mu-

                         54
Ludwig Mies van der Rohe,       seumsräume. Es fällt auf, dass der im-    men einer Erfahrung, die der moder-
Projekt Museum Georg Schäfer,   mer große Raum auf erhaben-weite          nen Abstraktion der Lebenswelt etwas
Schweinfurt 1963, Collage auf   Landschaften ausgerichtet ist – nun-      entgegensetzt, ohne diese zu leugnen,
Zeichenkarton, 76 x 101 cm.     mehr sind Fotografien realer Außen-       ja, diese geradezu voraussetzend.50
Museum of Modern Art, New       räume hineinmontiert in die ameri-
York, Mies van der Rohe         kanischen Schautafeln dieser Zeit. Wo     Heute geht es noch immer darum,
Archive.                        diese noch nicht existieren, dort wer-    diese "Moderne" aus Vorurteilen –
                                den sie von den Wandscheiben der          und eben einfachen Polaritäten – zu
                                Häuser und Hausprojekte als Bühnen        befreien. Wolf Tegethoff hat dieses
                                des Wohnerlebnisses definiert. Das        Projekt früh unternommen, indem
                                hat Robert Levit in einem der wenigen     er das Landhaus als zentrales Anlie-
                                einschlägigen Artikel zur Vermutung       gen Mies van der Rohes herausge-
                                geführt, hier würden verschiedene         stellt hat. Dabei unterwandert er den
                                kulturelle Entwicklungsstufen mitei-      Mythos des "fließenden Raums": Im
                                nander in eine unbotmäßige, da un-        Landhaus aus Backstein, einem der
                                kritische Verbindung gesetzt – näm-       "Fünf Projekte" aus dem Jahr 1923,
                                lich jene des 18. Jahrhunderts, die des   laufen die Wandscheiben ins Unend-
                                pittoresken Englischen Landschafts-       liche, dazwischen aber erkennt Te-
                                gartens, mit der harten urbanen Rea-      gethoff eine neuartige Raumkonfigu-
                                lität der Gegenwart. Mies fehle in die-   ration, die er mit dem Begriff "Zonen"
                                ser Hinsicht gewissermaßen der Rea-       beschreibt. Der Wohnraum erhält
                                litätssinn oder, mehr noch, das gesell-   neuerlich eine Spannung, Dynamik,
                                schaftskritische Bewusstsein.49 Eine      bleibt im Fluss. Dieser "Fluss" kenn-
                                solche Analyse marginalisiert die Er-     zeichnet indes nur den Innenraum.
                                fahrung des Ästhetischen, wie es be-      Das Draußen wird bildlich für den
                                reits in der berühmten Kontrover-         Bewohner inszeniert, avanciert zum
                                se um das Haus Tugendhat 1931 der         Gegenpol: "Die gläserne Scheidewand
                                Fall war, bei der die Argumente Wal-      bildet daher nicht nur eine physische
                                ter Riezlers (der den Raum des Hauses     Schranke, sondern bezeichnet dank ih-
                                erlebt hatte) mit jenen des Kommu-        rer rahmenden Funktion ebenso eine
                                nisten Roger Ginsburger (aus der Fer-     ästhetische Grenze […]"51 Der "Wohn-
                                ne urteilend) aufeinanderprallen. Eine    hausbau",52 schreibt Mies in einem un-
                                Antwort darauf hat Georg Simmel be-       publizierten Manuskript, erlaube, die
                                reits gegeben: Es geht hier eben nicht    neuen technisch-konstruktiven Mög-
                                um "Stilgeschichte", sondern um For-      lichkeiten von Beton, Stahl und Spie-

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gelglas bestmöglich anzuwenden, hier        nem "flächenräumlichen Charakter"
kämen diese zur "vollen Entfaltung",        beschreibt. In den Sätzen aus Hart-
in "einem Bezirk grösster Freiheit, ohne    manns "Ästhetik":
Bindung an engere Zwecke, läßt sich
erst der baukünstlerische Wert die-         "Der Mensch fühlt sich vielmehr als
ser technischen Mittel voll erweisen.       darinstehend in der Landschaft, und
Es sind echte Bauelemente und Träger        nicht nur räumlich. Das ist offenbar
einer neuen Baukunst. […] Jetzt erst        wesentlich für sein Empfinden: er sieht
können wir den Raum frei gliedern, ihn      sich aufgenommen, empfangen, umge-
öffnen und in die Landschaft binden."       ben, bringt wohl gar die Tendenz zum
Er spricht auch von Schönheit – und         Einswerden mit der Natur mit."54
zieht in seinen Grundriss des Land-
hauses aus Backstein klare Grenzen          Das ähnelt der paradoxen Simmel-
zwischen Innen und Außen. Mies löst         schen Einheit der Natur, aus der ein
die "Grenze" nach draußen nicht auf,        darin Stehender und Blickender einen
nicht jedenfalls als ästhetisches Kon-      Landschaftsmoment erst isoliert, um
zept, denn so wie er die Grenze zwi-        so doch Teil eines größeren Ganzen
schen Alltag und Kunstwerk räumlich         zu werden. Der Isolation in diesem
neu definiert, wird das Landhaus ins-       Gefühl von Zusammenhang, der Kon-
gesamt zu einem ambivalenten Rah-           zentration des beiläufig Wohnenden,
men, der im Simmelschen Sinn zu-            dient die "Bildseite" der Landschaft
gleich etwas eröffnet und verschließt.      im Innenraum, der das Außen emp-
Von einer Bühne zu sprechen ist hier        fängt: "Jetzt ist der Schauende heraus-
treffender als sich auf ein Bild der Na-    gehoben, ist gegenüber. Er selbst ist ei-
tur zu beschränken – wie sonst ließe        gentlich erst jetzt schauender Betrach-
sich der so agil gewordene Innenraum        ter geworden, und damit ästhetisch Ge-
mit einem "Bild" verbinden, das Feste       nießender." Dieses "Bild" ist nun mehr
mit dem Flüchtigen? Außerdem laufen         als eine Fläche, die sich vor dem Haus
die Mauerscheiben ja weiter hinaus in       aufspannt; es erfasst den Erlebenden
die Ferne und der Bodenbelag in Hö-         vollends. Es ist das "Bild" einer re-
fen und Vorbereichen solcher Häu-           alen, dynamischen Landschaft im re-
ser setzt sich im Außenraum fort.53         alen Wohnraum, hereingenommen
Die "ästhetische Grenze" überführt          durch die poetische Konstruktion, die
den fiktiven Bewohner in eine andere        Struktur, verdeutlicht durch Kunst-
"Stimmung", er wäre nicht einfach nur       werke. Zusammenhang und Verein-
froh, so viel Licht und Luft für sich zu    zelung böten eine neuerliche Form
haben, auf die Terrasse treten zu dür-      der "Gegensatzlehre"; mit der Idee
fen. Weder geht es um Kulissen, mit         der Grenze ist das Lebendige der Na-
denen man sich zufrieden gibt, noch         tur als "Gegenüber" angesprochen, das
um den Austritt ins Freie. Es ist eine      sich als Erlebnis-Augenblick in den
andere Freiheit, um die es hier geht,       Wohn-Alltag integriert, ohne dadurch
die sich etwa zeigt, wo der jenseits lie-   verfügbar zu werden – die Natur ist
gende Himmel übergeht in weiße De-          dem Technischen nicht fungibel ge-
cken, Licht, Dynamik, die Witterung,        worden. Das ästhetische Programm
die Jahres-, Tageszeiten den Raum af-       besteht genau in diesem Changie-
fizieren – der Wohnraum zu einem            ren zwischen dem räumlichen, daher
landschaftlichen Raum wird.                 konstruktiv gefassten ästhetischen
                                            Eindruck und einer "unverfügbaren"
Wolf Tegethoff spricht schließlich von      Lebendigkeit. Durch diese "Bindung"
einer Bühne um das Landhaus zu cha-         der Landschaft – wie Mies es nennt –,
rakterisieren und zieht die Gedanken        konkretisiert sich das Abstrakte. Der
des Neukantianers Nicolai Hartmann          Erfahrungsraum ist zum imaginären
heran, um die "ästhetische Grenze" zu       Bühnenraum gesteigert, einem Mög-
erklären, die ja an der Mies-Säule auch     lichkeitsraum, der das Alltagsgesche-
aufgetreten ist in Form eines dünnes        hen transzendiert, wie das erfüllende
"Mantels". Die Pointe Hartmanns liegt       Erlebnis eines Kunstwerks. In die-
in der Unterscheidung eines Naturer-        sem Sinn aber nimmt der Bewohner
lebnisses, das eigentlich "vor-ästhe-       an einem erfüllenden Schauspiel teil,
tisch" sei, von einem in ästhetischer       in einem Stück, das die wechselseitige
Einstellung erlebten Landschaftsein-        Anregung von Architektur und Natur
druck, den er passenderweise in sei-        ins Erlebnis des Wohnalltags setzt.

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