"Die Märchen kommen aus den Maschinen selber "
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Albert Kirchengast (Florenz/ Wien) "Die Märchen kommen aus den Maschinen selber …"1 Ludwig Mies van der Rohe und die Lehre von den Gegensätzen Im Widerspruch zum verbreiteten Bild eines "fließenden Raumes" hat Wolf Tegethoff in den 1980er Jahren den Begriff der "ästhetischen Grenze" für Mies van der Rohes Wohnhäuser stark gemacht. Gemeint ist die auf ein Bei- nahe-Nichts reduzierte Schwelle, die in Mies' Architektur ein "Innen" von einem "Außen" trennt. Sie stellt eine räumliche Einheit her, die das Gemach- te vom Gewordenen trennt. Geworden und gewachsen sind die Stadt- und Landschaftsräume in die der Architekt seine Häuser setzt. Dieser Korrespon- denzraum war für Mies von großer Bedeutung. Solche polare "Bezogenheiten" durchdringen das gesamte Denken und Bau- en der Moderne. Mies spricht auch von einer "Aufhebung der Gegensätze". Da diese Position meist vernachlässigt wird, wird Mies' Verständnis der Mo- derne meist auf ein prototypisch kanonisiertes formales Schema reduziert. Dies geschieht insbesondere, wenn es um die Deutung architektonischer Motive geht, in denen eine coincidentia oppositorum zum Ausdruck kommt. Sie betrifft nicht nur den Zusammenhang von Haus und Landschaft, son- dern auch den Raum, das Tragwerk, das Material. Schon der inszenierte Blick in die landschaftliche Ferne bringt eine natürliche "Kehrseite" mit sich. Der architektonische Raum wird zur Leerstelle. Der "entleerte" Wohnraum von Mies' Landhäusern ist eine herausfordernde "Rückseite des Hinausschau- ens". Dies gilt in gleicher Weise für den aufs Ästhetische zugespitzten Aus- blick in die Kulturlandschaft. Das "Ausgegrenzte" und "Verborgene" sind Prinzipien in Mies' Schaffen, die mit der Idee eines "Unverfügbaren" korrespondieren. Sie betreffen eine re- ale und eine symbolische Rückseite der Architektur: eine geistige Orientie- rung, die nicht nur ein Hinten und Vorne kennt. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-52125 März 2021 #9 "Rückseiten" S. 43-62
"In der Kunst muss der Gedanke im- Man könnte vorläufig festhalten: Es mer auf Verwirklichung gerichtet sein; ginge um die Formerscheinung. Um und in der Darstellung die Kritik he- etwas, das durch die Form erscheint, raustreten, die im schöpferischen Gei- nicht aber mit ihr ident wäre. Etwas, ste notwendig beiwohnen muss." das in der Gegenwart erscheint, denn selbst wenn der Raum zwischen Scha- Friedrich Schinkel: "Gedanken und le und Kern einer Mies-Säule nicht Bemerkungen über Kunst im Allge- zum Erlebnis des Bewohners beiträgt, meinen", aus dem Nachlass 1863. ist doch die im Wohnraum durch ihre Erscheinung erzielte Wirkung ent- scheidend für die geistige Statik sei- ner Baukunst. Dieses Leben, das war 1 Die Rückseite der Säule für Mies nämlich immer ein Leben "in seinen geistigen und realen Bin- Wer nach Rückseiten fragt im Werk dungen". Dementsprechend schreibt Mies van der Rohes, der heute für viele Walter Riezler, an den Mies sich ge- zum Altbestand einer in Geschichts- wandt hatte mit seinen Bedenken ge- büchern zu Ende formulierten Moder- genüber einem drohenden, neuen For- ne zählt, der mag die Gelegenheit beim malismus, in der Form des Jahres 1931 Schopf packen und mit frischem Blick über seine Raumerfahrung im Haus hinter dessen "Säulenlehre" schauen. Tugendhat: Gemeint sind die glänzenden (manch- mal auch matten)2 Umhüllungen von "Niemand kann sich dem Eindruck ei- Eisen- oder Stahlstützen, die – wie ner besonderen Geistigkeit sehr hohen beim Haus Tugendhat – nicht nur ihre Grades entziehen, die in diesen Räu- eigene, sondern auch die "Kernform" men herrscht, einer Geistigkeit aller- des Bauwerks an wenigen Stellen zei- dings, die sehr neuer Art, sehr ‘gegen- gen und doch verbergen, weil Tech- wartsgebunden’ ist und die daher von nik verborgen bleibt hinter baukünst- dem Geist, der in Räumen irgend einer lerisch zu Form bewältigtem, avan- früheren Epoche herrscht, wesentlich ciertem Material. Solche Säulen sind verschieden ist. Es ist schon der ‘Geist zugleich Hülle und Kern und wieder- der Technik’ – aber nicht im Sinne je- holen als Bauglied die Konstruktions- ner oft beklagten engen Zweckgebun- weise eines eigentlichen Gliederbaus, denheit, sondern im Sinne einer neuen der in Brünn als fester, weißer Putz- Freiheit des Lebens."5 körper auftritt. Und so ging es Mies nicht um die Erscheinungsform selbst, Es ginge also um die Klärung des Ver- dieses Dogma seiner frühen Äuße- hältnisses von "Geist" und "Technik", rung vom September 1923 bleibt für deren wechselseitige Bestimmung, um seine ganze Laufbahn gültig: "Es gibt die "Freiheit des Lebens". Ein Vorha- keine Form an sich."3 Aber seltsam mag ben, das nur am Beispiel, im Werk, ge- er doch im ersten Moment erschei- lingen kann – wie sich mehrfach zei- nen, dieser "Formalakt" einer Ver- gen wird. wandlung, noch dazu durch ein luxu- riös-glänzendes Kleid, eine Material- Die moderne, zweitaktige Mies-Säu- lust, die ja bekanntlich auf Mies’ Werk le ist eine Säule, die (im Inneren) insgesamt zutrifft. Solange jedenfalls, trägt und außen erscheint, noch beim bis man die "Formintensität" mit der Haus Farnsworth, 1950, in der Mit- "Lebensintensität" verbindet, wie Mies te des 20. Jahrhunderts, als dies al- dies fordert, um drei Jahre nach der lein durch Schleifen und Streichen erwähnten Aussage in der Form, der eines konventionellen Stahlträgers Zeitschrift des Deutschen Werkbunds, geschieht. Aber freilich trägt sie kei- zu ergänzen, dass er sich nie gegen die ne "Ordnung" mehr, sondern zeigt et- Form als solche gewandt habe, son- was. Sie zeigt nun nicht sich selbst, dern den Prozess des Gestaltens stär- sondern fängt etwas ein, qua der Be- ken wollte, den er wiederum auf das schaffenheit ihrer Oberfläche, ihrer Leben, nicht das "gewesene",4 nicht das Materialität, ihrer Formung, indem "gedachte", sondern das "gegenwärtige" sie etwa das Reflektieren oder Absor- Leben bezieht: "Das Leben ist das Ent- bieren von Licht begünstigt. Und auch scheidende. In seiner ganzen Fülle." dem Raum begegnete man beim Blick Was aber wäre diese "ganze Fülle"? auf diese Objekte in sozusagen "vir- 44
Ludwig Mies van der Rohe, "In- tueller" Weise wieder. Dem Raum, in diesmal zwischen Monumentalität und nenansicht des Barcelona-Pavil- dem man selbst sich befinden muss, Leichtigkeit. Das erinnert vielleicht an lon ohne Möbel", um 1928/29, über den man dann, auf andere Wei- die manchmal spröde Poesie Schinkels Buntstift und Bleistift, se, zu "reflektieren" beginnt, wenn man oder aber an das tatsächliche Zelt im 99 x 130 cm. im Raum nochmals sich findet: vor sich Haus, das rund 20 Jahre vor dem Neu- Museum of Modern Art, New selbst darin erscheint. Marko Pogac- en Museum aufgespannte "Zeltzim- York, Mies van der Rohe nik kommt in einem Text über "Säule mer" von Schloss Charlottenhof, Lo- Archive. und Statue" in Mies’ Architektur zum gis der Gäste des Kronprinzenpaares, Schluss, dass der " freistehende, kreuz- etwa Alexander von Humboldts, je- förmige Pfeiler [...] die erste reflektie- nes Naturforschers, der als letztes ver- rende Säule in der Architekturgeschich- sucht habe, im "Buch der Natur"8 zu te"6 sei. Es gibt Vorgänger – zumindest lesen. Auf den "Tektoniker Bötticher"9 was das konstruktive Prinzip betrifft wird von Meyer ebenfalls hingewie- –, denen Mies in Alfred Gotthold Me- sen, der bei Stüler den "Zusammen- yers Buch Eisenbauten: Ihre Geschich- hang von Ornamentik und Tektonik" te und Aesthetik im Büro Behrens be- gelobt habe, die Spannung zwischen gegnet sein dürfte, wie Pogacnik na- Ausdruckskraft und Fügung des Ma- helegt. Neben Brücken, Hallen, Glas- terials – eine Verlebendigung durch kuppeln, "Glaspalästen", sogar Kir- historische Form. Karl Bötticher be- chen, aber auch Berlages Börsenhalle, tont in der "Einleitung zur Philoso- ist darin die Stülersche Säule des Neu- phie der tektonischen Form" seiner en Museums präsent. Stüler befinde Tektonik der Hellenen von 1852, durch sich auf den "Bahnen Schinkels", heißt diese "nicht allein dem bloßen Bedürf- es über den Konstrukteur und Ar- nisse durch eine materielle notwendige chitekten in Personalunion: "Was der Körperbildung zu entsprechen, son- Eindruck der Eisenkonstruktion dabei dern die Letztere auch noch zur Kunst- an Monumentalität einbüßt, gewinnt form zu erheben […]".10 Durch die er durch seine Leichtigkeit zurück. "Junktur" bindet Bötticher die "Kunst- Die ganz flachen Kappen und mehr form" an die "Kernform", das Mecha- noch die tellerartigen Kuppeln auf den nische wird vom Dekorativen um- schlanken vergoldeten Säulen erinnern geben, das dennoch nicht dekoriert, an ausgespanntes Gezelt."7 Ein neuer, sondern geistig erklärt, und hierfür scheinbarer Gegensatz stellt sich dar, die "Aufgabe ethisch durchdringt". Die- 45
sen geistigen Zusammenhalt gewährt hatte, wie sie ja noch der Jugendstil in erst das Vorbild des griechischen Tem- ganz anderem Chic – losgelöst vom vi- pels als naturalisierter, sich aus der in- truvianischen Vokabular – probieren neren Lebendigkeit eines strukturellen wird und Behrens sie anfangs selbst Organismus selbst erklärender Form- noch probierte, könnte das nicht mehr zusammenhang. Einige Generationen gelingen. Behrens weiß das bereits und später, in derselben Traditionslinie ste- spricht am Beispiel der Turbinenhalle hend, ist dieser Gedanke bereits histo- von einer wahrnehmungsgebundenen risch geworden – die Verlebendigung Elementarität des Gliederns im Groß- vollzieht Mies’ Säule daher auf andere en, der zusammenhängenden Fläche, Weise. Statt in der Ursprungsgeschich- der Gleichmäßigkeit der Reihung, te der griechisch-tektonischen Sym- samt notwendiger Einzelheiten, und bolform, der erstarrten Pflanze des erkennt, worauf es im Hintergrund Kallimachos,11 die sich befreit, leicht dieser neuartigen Gestaltungstätigkeit wird durch die Mühen der Form, ist als alter Vermittlungsleistung von In- nun die sich wandelnde Natur im Spie- halt zu Form ankäme: gel der neuen Technik ins Werk ge- setzt. Sie benötigt weiterhin Form, um "Ich versuchte zu zeigen, dass Kunst durch die Wahrnehmung eines durch und Technik ihrem Wesen nach zwei sie wiederum gewandelten Raums sich sehr verschiedene Geistesäußerungen organisch zu "vervollständigen". sind, und dass es ein ästhetischer Trug- schluss ist, wenn man glaubt, aus den Zurück zu Marco Pogacnik. Ihn be- technischen Prinzipen, also aus der äu- schäftigt das Verhältnis von Kern und ßersten und knappsten Zweckerfüllung Abdruck: der kreuzförmige Kern und allein könnte das Schönheitsmoment seine Ummantelung, bei Stüler wie entstehen […] Es erscheint mir notwen- bei Mies. Hier interessiert das "Strah- dig, die beiden geistigen Tätigkeiten len", jene ästhetische Erscheinung, wohl voneinander zu trennen, sie aber die durch eine Konstruktion erreicht zusammen einem gemeinsamen Ziel wird, die eine Form ermöglicht, die entgegen zu führen […] das bisher in dem Konstruktionskern verbunden der Geschichte den sinnlich wahrnehm- bleibt, nichts Formalistisches daraus baren Ausdruck im Stil gefunden hat."13 extrapoliert, aber doch etwas anderes wird als dieser. Man kann sehen, dass Hier sind beide gleichranging ins Mies auf die pure Wirkung der Inge- "Geistige" gehoben, die Technik und nieursform nicht vertraut. Aber das die Architektur. Das "Geistige", von hat ja schon Peter Behrens geklärt, il- dem weiterhin die Rede sein wird, ist lustriert an jenem Bau, an dem Mies aber eine Instanz, die beides gewisser- mitarbeiten durfte, der AEG-Turbi- maßen umschließt: weder in geistiger, nenhalle in Berlin-Moabit: Dass die entwerferischer Kreativität, noch in neue, dynamische Zeit nämlich – die der geistigen Kreativität des Kon- moderne, bewegte Wahrnehmung im strukteurs ginge sie auf. Sie transzen- Raum – eine neue "Rhythmisierung" diert die Idee des Machens. des architektonischen Körpers not- wendig machte, die das Verstehen sei- Bei aller Wertschätzung gegenüber ner "Einheitlichkeit"12 erst erlaubte. der Leuchtkraft einer so genann- Behrens’ Appell, der mithin eine Ana- ten Pauluslampe, dem Produkt "rein lyse von Wahrnehmungsmodi des technisch-wissenschaftlicher Arbeit",14 modernen Großstädters ist, ergeht als kritisiert Mies den Selbstzweck von "ästhetische Forderung" an einen mo- Technik (und Wirtschaft) in klaren dernen Architekten, der die Stabili- Worten. Sie folge "eigenen Gesetzen" tät der ingenieursmäßigen Rechnung und ist nicht auf den Menschen bezo- gewissermaßen durch seine eigenen gen", erhalte ein "bedrohliches Überge- Mittel zu beglaubigen habe. Ein bau- wicht". Die "Erscheinungen der Zeit", künstlerischer Form-Akt zur unmittel- die Gegenstandswelt der Moderne, er- baren "Erklärung" der abstrakt gewor- hielten in der reduktiven "Atmosphäre denen Welt aus der Hand der Technik. der Technik" einen "chaotischen Aus- Durch aus Stahl gegossene, aus Blech druck", weshalb es für den Gestal- geformte Kompositkapitelle oder auch ter gelte, "künstlerische und seelische Formfindungen, wie Stüler sie in der Werte zu entfalten". Mies', vor dem Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben sich die historische Form bereits stär- 46
ker verschließt als vor Behrens, wird zahl perspektivisch prüfen, was ge- diese Fährnisse in zunehmend lapi- baut werden könnte; Räume aus meist darer Weise gestaltgebend umschif- wenigen, schnellen Strichen, in de- fen – indem er sich der Technik, dem nen der Architekt den gebauten Er- Material und den Produktionsbedin- fahrungsraum vorweg testet, die gungen seiner Epoche stellt. Das wirft Stofflichkeit meist hintanstellend, die mithin die Frage auf, ob die für Beh- Landschaft als organische Gegenli- rens wesentliche stabilitas überhaupt nie dagegen meist bedenkend. Daraus noch hinreicht, als zentrale Eigen- zu folgern, die Säule werde der Skulp- schaft der Architektur zu gelten, was tur gleich, die einst anthropomorphe sie bekanntlich nie alleine tat, wie es Säule finde in ihr gewissermaßen ei- Behrens in seinem Vortrag von 1910 nen erinnernden Nachklang, in den unter dem Titel "Kunst und Technik" immer figurativen Skulpturen Kolbes vor dem Verband Deutscher Elektro- oder Lehmbrucks oder Maillols, die techniker allerdings auch nicht nahe- Mies zeichnet, collagiert oder real legen wollte. Es fragt sich dennoch, ob in seine Räume setzt, ist ein schöner dessen Vorgängerschaft nicht durch Gedanke. Er hat zudem mit der Fra- die fortschreitende Verschiebung der ge der Verständlichkeit des kargen Aufmerksamkeit von der Form zum Miesschen Raums unmittelbar zu tun: momentanen Wechselspiel zwischen Nicht nur spiegelt die konstruktiv nur Konstruktion, Raum und Wahrneh- bedingt notwendige, räumlich aber mung im Werk seines "Nachfolgers" wichtige Säule die luftige Atmosphä- deutlich wird. Angelegt war beim er- re der großen, zentralen Wohnräu- sten Industriedesigner gewiss die in men seiner Bauten, sondern sie ahmt den Alltag eingebrochene Notwen- die von Mies penibel ausgewählten digkeit einer ästhetischen Verständ- Skulpturen vor allem auch darin nach, lich-Machung abstrakter Serien-Din- den Raum zu verdeutlichen: die Wei- ge – jene, dem Ingenieur nicht zu- se nämlich, in der man ihn wahrneh- gängliche Dimension bedeutungs- men und verstehen könnte, vermit- voller Konkretheit, den ein Gegen- telt durch die Weise, in der man sich stand aus maschineller Produktion im Raum befindet. Ihr kontemplatives erreichen müsste: ohne Zierrat, ele- Ruhen, bedachtes Schreiten oder Um- mentar, im Angesicht der Gegen- sich-Blicken sind Hinweis auf ein ge- wart.15 Die Verlässlichkeit der Rech- wisses Raumbefinden. So lautet der nung, die Stabilität der Ingenieurs- Titel einer Plastik Wilhelm Lehm- form hat mit der Verlässlichkeit der brucks, auf die Mies gern zurück- "Lebenswelt" nur mittelbar zu tun, greift: "Mädchentorso, sich umwen- nicht ohne Grund spricht auch Beh- dend“. Sie verkörpert nicht nur ein rens bereits von Schönheit als Schön- Gebaren, sondern regt womöglich zur heitsmoment. Die Funktionalität als Identifikation an, die Befindlichkeit dritte im Bunde der alten Trias, die eines einfühlenden Betrachters zum erklärte sich seinem "elektro-affinen" Umwenden, genaueren Erleben des Publikum wohl von selbst. räumlichen Hier und Jetzt wendend. 2 Der aufgespannte Horizont Mies' Säulen, wenn sie erscheinen, sind an der Stelle ihres Auftritts even- Zurück nun zur Säule, zum Kon- tuell konstruktiv nicht notwendig. kreten. In seinem materialreichen Oder aber der "Konstrukteur" Mies Text betont bereits Pogacnik, dass sie setzt sie in die Logik des Rasters, mit erst in den Miesschen Raum eintritt, dem er dann im Sinne einer spezi- wenn dieser bereits in Proportion und fischen Raumwirkung bricht. Dass Ausrichtung definiert ist: "Die Positi- auch Raumgrenzen nichts mit der onen der Säulen entsprechen in erster "Wahrheit der Konstruktion" zu tun Linie nicht einem statischen System, haben müssen, wird anhand der wun- sondern sie werden von Mies aus der derbaren Zeichnung einer Säule des Betrachtung ihrer räumlichen Wir- Barcelona-Pavillons vermittelt, die ei- kung bestimmt. Die Säule wird mehr gentlich ein Zeichen-Kunstwerk ist als eine Statue denn als ein zum Bau und als Erscheinung auf dem Blatt gehörendes Element betrachtet."16 Das weniger etwas zu tragen scheint, in gilt auch im imaginären Skizzenraum, ihrer Entasis nicht elegante Mühe, Handskizzen, die in ungeheurer An- kontrahierter Muskel wäre, sondern 47
eher ein neuartig-leichtfüssiges Zug- Rauschen, das stille Wasser im dunk- glied, das die Dinge zusammenhält. len Becken, der üppige Stein, all dies Die raumabschließende, hinterleuch- gefasst wäre im Thema des Morgens. tete Onyx-Scheibe und die steiner- Der "Morgen" ist dann nicht nur eine nen Scheiben der Innenräume hin- Schmuckfigur oder bestimmte Tages- gegen tragen bekanntlich nur sich zeit, sondern vielleicht eine Blumen- selbst, auch wenn sie das Dach zu tra- bergsche absolute Metapher, einge- gen scheinen, verbergen dabei – aus gangen in ein ästhetisches Phänomen, gewisser Perspektive – hinter sich die ein räumlich gewordenes Verhältnis tragenden Stützen und die Logik eines zur Unbegrifflichkeit, aus Anlass je- filigranen Stahlpavillons.17 In einer ner hektisch-profanen Gelegenheit, Beobachtung über das Zusammen- die sich wandelt, wo man den geistigen spiel von Raum, Skulptur und Wahr- Zusammenhang von Nähe und Fer- nehmung anhand Miesscher Zeich- ne wahrzunehmen begänne. Läge der nungen hält Robin Evans fest: Blick-Horizont von Kolbes "Morgen" auf Augenhöhe des Besuchers, wäre sie "In the drawings, Mies was more in- eine abstrakte Figur, man würde sich clined to incorporate figurative sculp- wohl nicht im selben Maße einbezo- ture than human figures. Often the gen fühlen, angesprochen, wie schon eye-level of the statue is removed from vom Tragen und Lasten der Miesschen the horizon line, either by overscaling, Säule, die sich von der "alten", wenn as with the Kolbe statue at Barcelona, schon nicht vollends den Anthropo- or because of its recumbent posture. morphismus, so doch die menschliche Mies never acknowledged his interest Anteilnahme leiht. in this phenomenon."18 Dieses Schauspiel, das man so zu- Mies äußert sich immer seltener "wört- gleich "versteht", zeigt man sich nur lich" zu seiner Arbeit, je weiter seine sinnesoffen (wozu diese Architektur Karriere voranschreitet, tritt 1938 in auffordert), ist eigentlich eines des einen fremden Sprachraum ein, an- Von-sich-Weisens, des Engagierens tizipiert im Zeichenraum, vor den ei- geborgter Zutaten, die sich dem rein genen Augen des Architekten, jedoch rationalen Verstehen entziehen. Ähn- das Real-Erlebnis, an dem so auch der liches ereignet sich bei den Miesschen Mensch früh teilhat, da das noch nicht Backsteinbauten, als das ja auch das oder nie Gebaute im Testfeld des Zei- Haus Tugendhat ursprünglich erd- chenraums bereits erscheint. acht war, aber nicht wurde, in Erman- gelung guter, sinnlich wirkender, lo- Es bleibt unleugbar, dass der flüchtige kaler Ziegel. Wo Mies Ziegel wählt, Besucher eines eigentlichen Durch- sind sie von besonderer Qualität. Sie gangsortes, eines Pavillons, nicht für wirken lebendig, wie beim Haus Lem- die Dauer gedacht, im Gedränge der ke in Berlin durch ihren buntgebrann- Massen einer Weltausstellung, anders ten Charakter. Freilich ist das be- als heute, sich plötzlich nicht nur ab- rühmteste Beispiel der Differenz zwi- geschieden fände in dessen kleinerem schen Erscheinung und Konstrukti- Hof, sondern bezogen bliebe auf das on eine Miessche Invention, von der jenseitige Gegenüber, das die Hori- heute jedes bessere Geschichtsbuch zontlinie der Mauerzüge begrenzt und der Moderne erzählt: Gotische Rip- gleichermaßen öffnet, hingewiesen pen oder Ecklösungen der Renaissan- von der Statue "Morgen",19 die, über- ce transformierend, sind die Stahl- lebensgroß, eine geheimnisvoll-kon- träger seiner amerikanischen Hoch- krete Gestik des Erweckens vollführt, hausfassaden nur das Echo der tat- in Korrespondenz mit dem für Mo- sächlichen Stahlkonstruktion, die aus mente in Achtsamkeit festgehaltenen Feuerschutzgründen verborgen bleibt. Betrachter tritt, da ein Geschehen sich Nichts tut diese, auf die "fertige" Fas- ereignet, das in der räumlichen Kon- sade aufgebrachte Ingenieurs-Form, stellation auf ihn bezogen, in seiner als vertikal zu gliedern. Aus einer sta- Dimension ihm aber enthoben blie- tischen Notwendigkeit wird ein Rudi- be: der verstehende Zusammenhang ment von Ausdruckskraft. Doch wird eines landschaftlichen Ganzen, an dem dessen räumliche Spannkraft, deren Himmel, verdeckte, aber in ihrer Form Erleben Sinne und Denken involviert, und Größe offenbarte Baumkronen, erneut nur im Wechselspiel mit dem 48
Ludwig Mies van der Rohe, Haus Atmosphärischen und der darin dia- legt durch die raumgreifenden Kohle- Tugendhat, großer Wohnraum, logisch erscheinenden Natur aktiviert. zeichnungen der "Fünf Projekte" Evi- Brünn 1930, Fotografie: Atelier Mies spricht von einer neuen Ord- denz davon ab; zwei solcher, für Eur- De Sandalo, um 1930. nung, die er "organisch" nennt, ohne opa neuer Bauaufgaben zählen unter Museum of Modern Art, New das "Gefühl" für die "gute Proportion" diese berühmten anvantgardistischen York, Mies van der Rohe dabei aufzugeben, ohne aber tatsäch- Projekte. Er schreibt im Jahr 1922, in Archive. lich organische Formen zu meinen – der Zeitschrift Bruno Tauts, im Früh- was angesichts dieser Bauten selbst- licht, um die gestalterischen Chan- evident ist. Organisch wäre eher das cen des Baustoffs Glas zu betonen, Zusammenspiel, das hier suggeriert dass dieser nicht allein den amorphen wird und die Konstruktion sozusagen Grundriss seines fiktiven Hochhauses über sich hinaus hebt. Wie wiederum beeinflusst habe, sondern auch die Le- Evans, mittlerweile am Fuß eines der bendigkeit der großen Glasfläche be- Chicagoer Hochhäuser angekommen, dinge, die "tote Winkel"21 vermeiden anschaulich beschreibt, indem er den solle. Er erklärt, dass es "bei der Ver- Rätselcharakter des Moments erfasst: wendung von Glas nicht auf eine Wir- "The towers at Lake Shore Drive do not kung von Licht und Schatten, sondern represent a remission of mass. They do auf ein reiches Spiel von Lichtreflexen not rise against the pull of gravity; gra- ankam." Dass es sich hier auch um vity does not enter into it. They make eine ästhetische Erfahrung handelt, you believe, against reason, that they die ja – vereinfacht gesagt – das sinn- do not partake of that most pervasiveliche Erscheinen mit Ideen verbindet, and relentless of all natural forces."20 Er davon spricht er freilich nicht; genau spricht von einer eigenartigen Zusam-dieses Phänomen spiegelt sich aber in menkunft von Verstand und "Glau- der Architektur-Erfahrung der Zeit ben" in Anbetracht jener Architektur,wider. In Barcelona belegt ein Bericht in der das Abstrakte zum Konkreten Walther Genzmers diese besonde- wird: durch ein flüchtiges Erlebnis, re Wahrnehmungsweise. Im Sommer dass sie allerdings auf geistige Weise 1929 hält Genzmer nach dem unmit- "stabilisiert". telbaren Eindruck des Pavillons fest, er sei "[…] irgendwie erregend, ver- Bereits seine ersten, europäischen langt, dass man sich mit ihm geistig Visionen von Hochhausbauten pro- auseinandersetzt […]"22 Es geht also ben ihre Wirkung auf die Sinne. Mies um eine Doppelfigur aus sinnlichem 49
Affekt und der Reflexion auf die Be- ma gemacht, wenn er für die Moder- dingungen seiner Wirkung. ne meint: "Der neuzeitliche Bildbegriff, der sich vom religiösen Erleben eman- In anschaulicher Weise, in Wort und zipiert, bewahrt gleichwohl die Struk- Bild, hat Fritz Neumeyer anhand der tur dieser Verschiebung. Er führt aus Gestik des großen Hofs des Barcelo- der vorkünstlerischen Realität heraus na-Pavillons gezeigt, wie Mies den in eine ästhetische Ordnung."25 Anders modernen Raum als Erfahrungsge- gesagt: "Sinn" und Verstand verbinden schehen eines dynamischen Subjekts sich unter der Bedingung von Kontin- entwickelt: durch die Horizonte der genz im ästhetischen Moment, den die umarmenden Hofmauern, die den re- Architektur befördern kann. alen Horizont des Ortes zunehmend freigeben, beim Sich-Verschieben und Ähnliches wurde über die produktive Öffnen der steinernen Wandscheiben Spannung in Mies' Säulen gesagt, die gegen den Montjuïc, die erhaben wir- im Sinne einer "strukturellen" Archi- kende Mauer des Nationalpalastes, tektur im Kleinen das Große wider- dunkle Baumgestalten; eingebunden spiegelt. Jahrzehnte vor seinem Text auch diesmal ein daliegendes Wasser- über den Barcelona-Pavillon – der ja becken in die raumgebenden Geome- den Titel "The Secret Life of Colum- trien. Ähnlich wie Evans, diesmal aber ns trägt" – hat Fritz Neumeyer die aus der Warte des realen Besuchers, er- zugrundeliegende, spezifische räum- läutert Neumeyer, "this play of challen- liche Konfiguration mit dem "Prin- ging our reading of architectural spa- zip der Gegensätze" benannt, das auch ce as a perspective phenomenon con- in der Philosophie Romano Guardi- tinues inside",23 auch dort stelle sich nis eine entscheidende Rolle spielt. eine "inner infinity" dar. Da trifft der Das Leben werde hier zum "Korrek- sinnesoffene Mensch auf eine Entität, tiv des Denkens", denn Mies' Gegen- die sich erst im gehenden und schauen- satzlehre werde plastisch, ganz direkt den Wechselspiel zwischen den durch in den gegensätzlich konzipierten Mo- ihn hindurchdurchlaufenden und sich tiven seiner Architektur, etwa die- so neukonstituierenden "Daten" kon- ses Pavillons, deutlich: im Sockel als kreter Unmittelbarkeit öffnet – durch Ausdruck gegenwärtiger Geschich- eine "Komposition" von Gegensätzen: te gegenüber der Dynamik frei ste- dem Horizont der Mauern und der hender Wandscheiben; im schweren Unendlichkeit des realen Horizonts, Onyx und Vert antique gegenüber der dem Zusammentreffen des Unding- gläsernen Raumhülle – sowie in be- lichen mit dem Konkreten im archi- sagtem, durch Steinscheiben gebro- tektonischen Raum. Evans' Bemerkung chenen Raster, den aus Norm-Stahl- über die Differenz von Mensch und profilen geschweißten Stützen vom Skulptur durch die Differenz der Blick- Querschnitt eines griechischen Kreu- punkte wäre darin zu ergänzen, dass zes, umhüllt von Chromblech. Sie be- diese produktive Spannung den Modus deuten nicht nur eine "formale" Hal- des Betrachtens selbst beträfe: In Leon tung, diese kompositorischen Wider- Battista Albertis De Pictura von 1435, sprüche bereichern nicht nur die Sin- der ersten theoretischen Erfassung der neseindrücke eines Besuchers oder Zentralperspektive, war der natürliche Bewohners, die Gegensatzlehre Ro- Horizont noch nicht mit dem gezeich- mano Guardinis hat mit dem Gegen- neten zusammengefallen. Er nannte satz von Abstraktion und Konkretheit den Fluchtpunkt folglich nur centricus und einer durch sie erwachsenden, punctus.24 Das im Bildhorizont kulmi- unauflöslichen geistigen Spannung nierende Schauen eines vereinzelten zu tun – ganz ähnlich dem "Bauplan" Betrachters ist noch nicht mit der Kon- der ästhetischen Erfahrung.26 Neume- trolle der äußeren Welt verknüpft, die yer spricht vom "Symbolisch-Werden sich der Herrschaft der Augen folglich des Raums",27 Mies von einer "höheren entzieht, wie der Begriff eines "zentra- Einheit". Eine Formulierung, die die- len Punkts“ festhält. Die daraus zu ge- ser just verwendet, um den Zusam- winnende Metaphorik eines Geisti- menfall von Gegensätzen, von Tech- gen, Jenseitigen, dieses sich im Ima- nik und Natur zu charakterisieren – in ginär-Unendlichen eines Bildes bald einer Baukunst, die er andernorts als verweltlichenden "Fluchtpunkts“, hat "räumlichen Vollzug geistiger Entschei- Albrecht Koschorke zu seinem Leitthe- dungen"28 betrachtet. 50
Ludwig Mies van der Rohe, 3 Der Blick durch den Rahmen in nennt seine Konstruktion schließlich Projekt Haus Hubbe, linker Hof, die Landschaft auch Struktur: "die Struktur ist das Magdeburg 1935, Bleistift auf Ganze […], alles erfasst von derselben Zeichenkarton, 49 x 67 cm. Die "Gegensatzlehre" Guardinis, mit Idee."31 Er deutet zugleich in einem re- Museum of Modern Art, New der Mies vor allem durch intensive sümierenden Gespräch auf den Unter- York, Mies van der Rohe Lektüre der Briefe vom Comer See in schied zwischen "Prosa" und "Poesie", Archive. Berührung kommt29, lenkt das Au- die Leistung des Architekten, die sich genmerk nicht auf ein formales Kom- von jener des Statikers unterscheide. positionsprinzip, sondern auf eine Er- Beide aber suchten nach der "Klarheit" fahrung, die das Konkret-Momentane der "fundamentalen Konstruktion", übersteigt, ohne dieses hinter sich zu- die Mies in der Gotik findet oder bei rücklassen zu wollen. So stellt sich die Berlage, der in der Amsterdamer Bör- Frage, ob statt der räumlichen Polari- senhalle "allgemeine Ideen" in die Ge- tät von "Hinten und Vorne", von "da- genwart übersetzt habe. Die bei Beh- hinter und davor", die sowieso ins rens installierte Unterscheidung von Hintertreffen geraten ist, nach Ein- Architektur und Konstruktiv-Zweck- blick in die Wirkungsweise der Mies- haftem, die neu zu fassende Zusam- schen Säule im Raum, nicht besser menarbeit der Disziplinen an gegen- statt von einer "Rückseite" von einem sätzlichen Enden (jedoch am selben lebendigen "Zwischen" gesprochen Projekt) ist es, die Mies zum Begriff werden sollte. Und dies nicht nur, um "Struktur" und daher einer Standort- einer beliebten Reduktion der Moder- bestimmung des genuin Architekto- ne auf einfache Polaritäten zu entge- nischen führt. Man könnte Mies' ent- hen, wovon insbesondere ihr Natur- werferische Leistung auch so formu- bild betroffen bleibt.30 lieren: Gerade die unverblümt ins Spiel gebrachte, streng-rationelle Ord- Denn es ist mittlerweile deutlich ge- nung des Technischen erweckt in sei- worden, dass es in diesem Werk um nem Werk den Anschein des Überzeit- die Verschränkung handfester Din- lichen, Klassischen, während – para- ge mit Ideen geht. Man könnte auch doxerweise – erst die Interaktion mit sagen: um eine Dialektik, die sich im lebendigen "Erscheinungen" der Na- Raum, zumal im Wohnraum, ereig- tur diesen Eindruck beim Betrachter net, vermittelt durch die Konstrukti- bestätigt, sich das Abstrakte so kon- on, "gefüllt" vom Natureindruck. Mies kretisiert und verständlich wird als 51
ästhetisches Phänomen. Dass dieses le Stellung des Subjekts in diesem Pro- Zusammenspiel dialektischer Natur zess: wäre, greift K. Michael Hays auf, um die "worldliness" von Mies' Architek- "[…] man-made things can act as tur – daher auch ihre kritische Funk- necessary intermediaries between us tion – anhand ihres autonomen Auf- and the natural world, bringing to it an tritts zu beschreiben, der sich für ihn added radiance, such as a Greek tem- in ähnlicher Weise vollzieht, wie dies ple brings to the landscape in which it gerade beschrieben wurde: "Mies was is set. It is as though nature demanded able to see his constructions as the place the clear sharp facets of our rational in which the motivated, the planned, and creations for its own completion."34 the rational are brought together with the contingent, the unpredictable, and Blickt man aus den Miesschen Hoch- the inexplicable."32 Eine Gegensätz- häusern, dann vollzieht sich dort das- lichkeit, die sich für Hays zwischen selbe Schauspiel, das seine Wohnhäu- dem Chaos der Metropole, der Selbs- ser inszenieren: die "Isolation" der Na- terfahrung von Kontingenz und einer turerscheinung als Erfahrung der Ein- "Halt" gebenden Ordnung der Archi- heit der Landschaft. Diese Landschaft, tektur zeigt.33 so könnte man mit der modernen Landschaftstheorie präzisieren,35 wird Diese Verzeitlichung eines gern als eben erst sie selbst durch ihre "Zäh- zeitlos-klassisch verbuchten Werks mung", eine Zähmung, die sie für uns ist in der Rezeptionsgeschichte we- erst lebendig erscheinen lässt, indem nig verbreitet; solch eine Architek- sie " für-sich-seiend" erscheint; die Art tur bringt man – etwa Colin Rowe – und Weise, wie wir uns darin verhal- eher mit einem "neoklassischen Al- ten und sie erschließen, korreliert mit phabet" in Verbindung, im nächsten ihrem ästhetischen Erlebnis (oder ver- Schritt mit der platonischen Ideenleh- hindert es). Sie ist, wie die architekto- re. Richard Padovan hat diesen Punkt nische "Struktur", daher ein Beleg der anhand jenes Zitats erhellt, das Mies ins Werk gesetzten "Gegensatzlehre". selbst gerne verwendet und das von Mies' Häuser sind Hilfsmittel für das Thomas von Aquin stammt, der es erfahrungsoffene und in die Welt hi- wiederum aus älteren Quellen über- nausblickende Individuum, solche Er- nommen haben dürfte und welches lebnisse im Alltag präsent zu halten. heute gemeinhin mit der Korrespon- Er beschreibt dies geradezu als Errun- denztheorie der Wahrheit verbunden genschaft seiner Glashochhäuser, aus wird: "veritas est adaequatio rei et in- denen man beobachten könne, "wie tellectus". Doch geht es für Mies nicht sich der Himmel und auch die Stadt um eine intellektuelle Wahrheit, die alle Stunden verändern. Ich glaube, sich unmittelbar in den Sachen zeigt; das ist wirklich neu in unserem Kon- seine Bauten sind eben nicht Reprä- zept vom Wohnbau."36 sentanten einer höheren, allein dem Intellekt entborgenen Ordnung, ihr Damit ist keine Plattitüde ausgespro- "Strukturzusammenhang" bedingt chen. Sogar die Stadt wird Mies zum vielmehr das Erleben, den Raum des Landschaftskörper, hoch oben aus der Konkreten. Das Konkret-Sinnliche Luft über Chicago. Mit dieser Suche wird in sein eigenes Recht gesetzt und nach dem Architektonischen korre- geht dennoch nicht in purer Empi- spondiert eine den Einzelnen in bei- rie auf. Dieses Wechselspiel aus Ding spielsloser Weise herausfordernde Welt, und Idee bezieht sich nicht nur auf die eine Sinne und Verstand überlastende Natur der Kulturgegenstände, son- Metropole, wie sie Georg Simmel para- dern auf die Natur selbst: Sie erscheint digmatisch in seinem Essay Die Groß- durch diese Bauten, ohne noch ent- städte und das Geistesleben schon 1903 fesselte Naturkraft zu sein, aber auch beschreibt. Das Landschaftserlebnis ohne ihre Naturkraft zu verlieren. Sie verbindet Simmel dagegen zehn Jahre nun ist es, die sich anschaulich trans- später mit der notwendigen Sammlung formiert im ästhetischen Schauspiel des Selbst und sieht darin – und nicht eines Bauwerks in der Landschaft. etwa in der Landpartie – ein geistiges Padovan betont, nach einer kurzen Remedium gegen die Zerstreuung und Auseinandersetzung mit dem schola- Blasiertheit der Metropole.37 Simmel stischen Einfluss auf Mies, die zentra- war es auch, der vom "Für-sich-Sein" 52
der Natur für den Mensch gesprochen Kunstwerk und Wohnraum befasst. hat. In seinen berühmten einschlägigen Kunst sollte in seinen ersten, tradi- Text mit dem Titel Philosophie der tionellen Villenbauten kein beiläu- Landschaft heißt es: figes Mit-Sein und bürgerliches Di- stinktionsmerkmal sein: "Der Bau im "Während sich hieraus unzählige Ganzen so wie die einzelnen Räume Kämpfe und Zerrissenheiten im Sozi- sollen immer in Verbindung zur realen alen und im Technischen, im Geisti- Umwelt stehen, sollen dieser gegen- gen und im Sittlichen ergeben, schafft über geöffnet und verbunden sein. Die die gleiche Form der Natur gegenüber Verbindung von Kunst und Wirklich- den versöhnten Reichtum der Land- keit wird unumstößlich anerkannt."41 schaft, die ein Individuelles, Geschlos- In den noblen Landhäusern der Kre- senes, In-sich-Befriedigtes ist [...] und felder Unternehmer Esters und Lan- dabei widerspruchslos dem Ganzen ge bemerkt ein bauzeitlicher Rezen- der Natur und seiner Einheit verhaftet sent zwar die Konzentration auf das bleibt."38 Werk der Kunst durch Isolation im Wohn-Zusammenhang, was damals Die Landschaft der Moderne sei "ein keineswegs der herkömmlichen Prä- Kunstwerk in statu nascendi"39, wo- sentationsweise entsprach: "Das Weiß rin in wunderbarer Formulierung der der Wände ist hier wie in allen an- Charakter dieser Erfahrung benannt deren Räumen des Hauses vorherr- ist: das Landschaftserlebnis ist mo- schend […] Eine Anhäufung ist ver- mentan, es weckt und belebt den er- mieden. Jedes Kunstwerk kann nahe- lebenden Menschen, versetzt ihn aus zu isoliert seine eigene Sprache spre- der Gleichgültigkeit und Abgeschie- chen."42 Das ist aber nur die eine Seite, denheit der anonymen Masse in einen die dem Werk und seiner Autonomie sich ästhetisch erfüllenden Sinnzu- Respekt zollt. Mies' Räume betonen sammenhang. das Kunstwerk nicht nur als solches, sondern setzen es eben im Simmel- In einem kurzen Text über Bilderrah- schen Sinn – in Korrespondenz zum men fasst Simmel den modernen Rah- größeren Lebensraum der Bewohner. men als schmucklos auf, in dieser Form Auch in seinen Museumsbauten, die nun aber als geeigneter, dem Kunst- ihrem Wesen nach auch "große Räu- werk seine unmittelbare Wirkung auf me" sind, lässt Mies bald übliche Hän- den Menschen zu erleichtern: Ein sol- gungen und Rahmungen hinter sich, cher Rahmen sorge für die Integration um Skulptur, Bildtafel, Mensch und des Werks in den Wohnraum und ver- Landschaft im ästhetischen Erlebnis mittle zugleich dessen Gehalt an den zu vereinen. Erstmals spricht er davon Alltag der Menschen. Simmel erklärt im Jahr 1943, beim Wettbewerb des das trefflich als "Prinzip der Kulturent- "Architectural Forum" für ein "Muse- wicklung", die den abstrakten, archi- um für eine kleine Stadt". Für ein Ge- tektonischen Bilderrahmen hervorge- mälde wie Picassos Guernica bedeutet bracht habe, und damit also nicht von dies, "hier kann es zur vollen Geltung der "mechanistisch-äußerlichen" zur kommen und zugleich ein raumbilden- "organisch-beseelten" Form geführt des Element werden, das sich vor einem habe. Denn insgesamt eröffnen sich wechselnden Hintergrund abzeich- durch den Rahmen, wiewohl selbst ab- net."43 Mies' kurze Projektbeschrei- strakt geworden, räumliche "Gebilde, bung für das Museumsprojekt wird die bis dahin ein sich geschlossenes, eine von Entwürfen begleitet. Sie belegen: eigene Idee repräsentierendes Leben mit "Hintergrund" ist die eindrück- führten", die nun, "zu bloß mechanisch lich-hügelige Landschaft gemeint, die wirksamen, partikulären Elementen künstliche Ebene des Museumsbaus grösserer Zusammenhänge degradiert sowie die "behütenden", aber großen […] die Träger der Idee"40 geworden Räume, die das kulturelle Leben der sind. So könnte man auch das Aufge- Stadtgemeinde bereichern sollen – In- hen und die Geschichte der modernen gredienzien, die er erst in Berlin, bei Säule im Wohnraum erzählen – einem der Neuen Nationalgalerie verwirkli- Strukturelement in Mies' Baukunst. chen wird.44 In Houston, bei der Er- weiterung des dortigen Museums of Seit Beginn seiner Tätigkeit war Mies Fine Arts, installiert er im Jahr 1953 mit der räumlichen Verknüpfung von eine neue Art der Hängung, lässt Bil- 53
der von der Decke abhängen, positio- haft-leiblichen Akt des Malens, son- niert sie mitten im Raum, als gehörten dern, danach, um die Loslösung vom sie der umspülenden Luft, schweb- Werk, eine Zäsur, die der Maler als ten in der Leere. Dies ist ein gestalte- erster, geduldiger Betrachter des voll- rischer Kniff, der durch die Abstrak- endeten Gemäldes vollzieht – im Akt tion des In-die-Leere-Hängens – kein des aufmerksamen Schauens auf eine Hintergrund, keine Farbe, kein Rah- "Mirabile". Gottfried Boehm spricht men – zur Spannung des architekto- dem so auf die Welt gebrachten Werk nischen Raums beiträgt, weil das di- eine Lebendigkeit zu, die nicht auf rekte Bild-Erlebnis immer auf den Ge- den Begriff zu bringen sei: "Der alte samtraum bezogen bleibt, in dem man künstlerische Topos des Unsagbaren sich als Besucher frei bewegt. Hier ist kehrt wieder. Intensitäten rücken an der Betrachter isoliert vor einem iso- die Stelle von Inhalten."46 Das Thema lierten Stück Kunst und befindet sich der Überschreitung von Bildraum dennoch immer im größeren Raum, und Museumsraum, von Museums- nicht vor der Wand, nie in der Enge raum und Existenzraum wird nun und zugleich vor dem Panorama eines zur wesentlichen Seh-Erfahrung die- üppigen Gartens. ser Bilder, wie Boehm anhand der Aufzeichnungen Rothkos darstellt. Den zentralen Aspekt der Verbindung Und sie werden zu ästhetischen Mit- von Kunst und Landschaft im archi- teln, um die "Erstarrung" der moder- tektonischen Raum zeigt eine Collage nen Lebenswirklichkeit mit der "Le- für ein Museumsprojekt in Schwein- bendigkeit" des ästhetischen Erleb- furt auf vortreffliche Weise. In die- nisses zu konfrontieren.47 Dass die ser eindrucksvollen Tafel, auf der sich "Seagram-Murals" von Rothko im die "Säulen" und Gliederung der Fas- fertig eingerichteten Restaurant des sade noch roh, wie in einem Testlauf New Yorker Hochhauses doch kei- für Berlin darstellen, hängt Mies ein nen Platz finden sollten, bestätigt Gemälde Mark Rothkos. Die weiträu- diesen Wunsch, durch das Bild ei- mige Fotografie einer fernen Meeres- nen "Ort zu schaffen, anstatt nur Ar- landschaft und die Reproduktion von tefakte zu hinterlassen"48 – wie Rothko Rothkos "Gemälde No. 8" aus dem Jahr in seinen Notizen bekundet. Ein ex- 1952 – eine horizontale Komposition klusives Restaurant war letztlich wohl aus Rot, Weiß und Gelb – führen ganz nicht der geeignete Ort. Eine öffent- offensichtlich einen Dialog miteinan- liche Raum-Situation hingegen würde der, wenn die Horizonte verschmelzen dem gerade nicht widersprechen, wäre und das Imaginäre und das Reale viel- sogar zuträglich, zumal wenn sie an leicht ihre Rollen im imaginierten Er- ein Refektorium erinnert, das Rothko lebnisraum der Architektur tauschen. in San Marco in Florenz besucht hat- In ihrer Auseinandersetzung mit der te wie auch die Treppe Michelangelos Malerei des abstrakten Expressionis- und die Mönchs-Zellen des Fra Ange- mus der 1950er Jahre hält Petra Joswig lico. fest, wie sich auch durch Einbezug des Körpers in den malerischen Schaffen- Als wollte Mies den Bildeindruck der be- sprozess die Gegensätze von Abstrak- tont großformatigen Arbeiten, Rothkos tion und Konkretheit, Kultur und Na- Entgrenzung des Bild-Raums, nach- tur aufheben sollen: vollziehen, dehnt sich seine Collage für das Museum Georg Schäfer mehr "Das Kunstwerk selbst wird zur Natur als einen Meter in die Breite; Rothkos […] Die Abstrakten Expressionisten Gemälde war im Original zwei Meter wollten weder Natur in eine abstrakte hoch. Noch der in Plandarstellungen Gestalt überführen, noch wollten sie ungeschulteste Betrachter könnte sich Natur illustrieren. Die Reflexion des in diesen Raum versetzen. Auch dies- Künstlers über sich und die Natur soll mal vermitteln Bildeindrücke die Sta- in eine Bildsprache gekleidet werden, tionen des Miesschen Nachdenkens über die die konventionellen Vorstellungen räumliche Zusammenhänge: Die Colla- von abstrakt und gegenständlich hinter ge, zu der er in seinem amerikanischen sich lässt."45 Büro wohl aus Darstellungsgründen greift, vermittelt unterschiedslos Aus- Zugleich aber geht es nicht nur um die blicke und Raumkonzepte dieser sich schöpferische Vereinigung im natur- weiterentwickelnden Wohn- und Mu- 54
Ludwig Mies van der Rohe, seumsräume. Es fällt auf, dass der im- men einer Erfahrung, die der moder- Projekt Museum Georg Schäfer, mer große Raum auf erhaben-weite nen Abstraktion der Lebenswelt etwas Schweinfurt 1963, Collage auf Landschaften ausgerichtet ist – nun- entgegensetzt, ohne diese zu leugnen, Zeichenkarton, 76 x 101 cm. mehr sind Fotografien realer Außen- ja, diese geradezu voraussetzend.50 Museum of Modern Art, New räume hineinmontiert in die ameri- York, Mies van der Rohe kanischen Schautafeln dieser Zeit. Wo Heute geht es noch immer darum, Archive. diese noch nicht existieren, dort wer- diese "Moderne" aus Vorurteilen – den sie von den Wandscheiben der und eben einfachen Polaritäten – zu Häuser und Hausprojekte als Bühnen befreien. Wolf Tegethoff hat dieses des Wohnerlebnisses definiert. Das Projekt früh unternommen, indem hat Robert Levit in einem der wenigen er das Landhaus als zentrales Anlie- einschlägigen Artikel zur Vermutung gen Mies van der Rohes herausge- geführt, hier würden verschiedene stellt hat. Dabei unterwandert er den kulturelle Entwicklungsstufen mitei- Mythos des "fließenden Raums": Im nander in eine unbotmäßige, da un- Landhaus aus Backstein, einem der kritische Verbindung gesetzt – näm- "Fünf Projekte" aus dem Jahr 1923, lich jene des 18. Jahrhunderts, die des laufen die Wandscheiben ins Unend- pittoresken Englischen Landschafts- liche, dazwischen aber erkennt Te- gartens, mit der harten urbanen Rea- gethoff eine neuartige Raumkonfigu- lität der Gegenwart. Mies fehle in die- ration, die er mit dem Begriff "Zonen" ser Hinsicht gewissermaßen der Rea- beschreibt. Der Wohnraum erhält litätssinn oder, mehr noch, das gesell- neuerlich eine Spannung, Dynamik, schaftskritische Bewusstsein.49 Eine bleibt im Fluss. Dieser "Fluss" kenn- solche Analyse marginalisiert die Er- zeichnet indes nur den Innenraum. fahrung des Ästhetischen, wie es be- Das Draußen wird bildlich für den reits in der berühmten Kontrover- Bewohner inszeniert, avanciert zum se um das Haus Tugendhat 1931 der Gegenpol: "Die gläserne Scheidewand Fall war, bei der die Argumente Wal- bildet daher nicht nur eine physische ter Riezlers (der den Raum des Hauses Schranke, sondern bezeichnet dank ih- erlebt hatte) mit jenen des Kommu- rer rahmenden Funktion ebenso eine nisten Roger Ginsburger (aus der Fer- ästhetische Grenze […]"51 Der "Wohn- ne urteilend) aufeinanderprallen. Eine hausbau",52 schreibt Mies in einem un- Antwort darauf hat Georg Simmel be- publizierten Manuskript, erlaube, die reits gegeben: Es geht hier eben nicht neuen technisch-konstruktiven Mög- um "Stilgeschichte", sondern um For- lichkeiten von Beton, Stahl und Spie- 55
gelglas bestmöglich anzuwenden, hier nem "flächenräumlichen Charakter" kämen diese zur "vollen Entfaltung", beschreibt. In den Sätzen aus Hart- in "einem Bezirk grösster Freiheit, ohne manns "Ästhetik": Bindung an engere Zwecke, läßt sich erst der baukünstlerische Wert die- "Der Mensch fühlt sich vielmehr als ser technischen Mittel voll erweisen. darinstehend in der Landschaft, und Es sind echte Bauelemente und Träger nicht nur räumlich. Das ist offenbar einer neuen Baukunst. […] Jetzt erst wesentlich für sein Empfinden: er sieht können wir den Raum frei gliedern, ihn sich aufgenommen, empfangen, umge- öffnen und in die Landschaft binden." ben, bringt wohl gar die Tendenz zum Er spricht auch von Schönheit – und Einswerden mit der Natur mit."54 zieht in seinen Grundriss des Land- hauses aus Backstein klare Grenzen Das ähnelt der paradoxen Simmel- zwischen Innen und Außen. Mies löst schen Einheit der Natur, aus der ein die "Grenze" nach draußen nicht auf, darin Stehender und Blickender einen nicht jedenfalls als ästhetisches Kon- Landschaftsmoment erst isoliert, um zept, denn so wie er die Grenze zwi- so doch Teil eines größeren Ganzen schen Alltag und Kunstwerk räumlich zu werden. Der Isolation in diesem neu definiert, wird das Landhaus ins- Gefühl von Zusammenhang, der Kon- gesamt zu einem ambivalenten Rah- zentration des beiläufig Wohnenden, men, der im Simmelschen Sinn zu- dient die "Bildseite" der Landschaft gleich etwas eröffnet und verschließt. im Innenraum, der das Außen emp- Von einer Bühne zu sprechen ist hier fängt: "Jetzt ist der Schauende heraus- treffender als sich auf ein Bild der Na- gehoben, ist gegenüber. Er selbst ist ei- tur zu beschränken – wie sonst ließe gentlich erst jetzt schauender Betrach- sich der so agil gewordene Innenraum ter geworden, und damit ästhetisch Ge- mit einem "Bild" verbinden, das Feste nießender." Dieses "Bild" ist nun mehr mit dem Flüchtigen? Außerdem laufen als eine Fläche, die sich vor dem Haus die Mauerscheiben ja weiter hinaus in aufspannt; es erfasst den Erlebenden die Ferne und der Bodenbelag in Hö- vollends. Es ist das "Bild" einer re- fen und Vorbereichen solcher Häu- alen, dynamischen Landschaft im re- ser setzt sich im Außenraum fort.53 alen Wohnraum, hereingenommen Die "ästhetische Grenze" überführt durch die poetische Konstruktion, die den fiktiven Bewohner in eine andere Struktur, verdeutlicht durch Kunst- "Stimmung", er wäre nicht einfach nur werke. Zusammenhang und Verein- froh, so viel Licht und Luft für sich zu zelung böten eine neuerliche Form haben, auf die Terrasse treten zu dür- der "Gegensatzlehre"; mit der Idee fen. Weder geht es um Kulissen, mit der Grenze ist das Lebendige der Na- denen man sich zufrieden gibt, noch tur als "Gegenüber" angesprochen, das um den Austritt ins Freie. Es ist eine sich als Erlebnis-Augenblick in den andere Freiheit, um die es hier geht, Wohn-Alltag integriert, ohne dadurch die sich etwa zeigt, wo der jenseits lie- verfügbar zu werden – die Natur ist gende Himmel übergeht in weiße De- dem Technischen nicht fungibel ge- cken, Licht, Dynamik, die Witterung, worden. Das ästhetische Programm die Jahres-, Tageszeiten den Raum af- besteht genau in diesem Changie- fizieren – der Wohnraum zu einem ren zwischen dem räumlichen, daher landschaftlichen Raum wird. konstruktiv gefassten ästhetischen Eindruck und einer "unverfügbaren" Wolf Tegethoff spricht schließlich von Lebendigkeit. Durch diese "Bindung" einer Bühne um das Landhaus zu cha- der Landschaft – wie Mies es nennt –, rakterisieren und zieht die Gedanken konkretisiert sich das Abstrakte. Der des Neukantianers Nicolai Hartmann Erfahrungsraum ist zum imaginären heran, um die "ästhetische Grenze" zu Bühnenraum gesteigert, einem Mög- erklären, die ja an der Mies-Säule auch lichkeitsraum, der das Alltagsgesche- aufgetreten ist in Form eines dünnes hen transzendiert, wie das erfüllende "Mantels". Die Pointe Hartmanns liegt Erlebnis eines Kunstwerks. In die- in der Unterscheidung eines Naturer- sem Sinn aber nimmt der Bewohner lebnisses, das eigentlich "vor-ästhe- an einem erfüllenden Schauspiel teil, tisch" sei, von einem in ästhetischer in einem Stück, das die wechselseitige Einstellung erlebten Landschaftsein- Anregung von Architektur und Natur druck, den er passenderweise in sei- ins Erlebnis des Wohnalltags setzt. 56
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