DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer

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DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
AUSGABE 7

       DIE
  MENSCHLICHE
      NOTE
IN GESELLSCHAFT
      UND
   WIRTSCHAFT
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
BEI UNS HAT ZUKUNFT TRADITION.
          WIE KÖNNEN WIR AUCH
         MORGEN FÜR SIE DA SEIN?
>> Entdecken Sie unsere Denkweise auf juliusbaer.com/visionary-thinking

       Julius Bär ist die führende Private-Banking-Gruppe der Schweiz und weltweit an rund 50 Standorten präsent. Von Dubai, Frankfurt,
        Genf, Guernsey, Hongkong, London, Lugano, Monaco, Montevideo, Moskau, Mumbai, Nassau, Singapur bis Zürich (Hauptsitz).
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
DIE MENSCHLICHE NOTE
     Private Banking ist eine Branche, in der sich alles um Beziehungen dreht. Gerade weil die Welt
     immer stärker von Technologie abhängig wird, gewinnen diese persönlichen Interaktionen
     ­zunehmend an Bedeutung. Julius Bär hatte schon immer ein kundenorientiertes Geschäfts­
      modell. Aber wir wissen: Wenn wir im Bereich der Vermögensverwaltung an vorderster Front
      bleiben wollen, müssen wir uns beständig anpassen und unsere Services weiterentwickeln.

     Wie können wir die Kundenbeziehungen, die den Kern unseres Geschäfts ausmachen, noch
     weiter verbessern? Die Antwort liegt unserer Ansicht nach in der menschlichen Note. Ledig­
     lich Lösungen für die unmittelbaren finanziellen Bedürfnisse unserer Kunden bereitzustellen,
     ist heute nicht mehr ausreichend. Wir müssen uns darüber hinaus die Zeit nehmen, ihr Leben,
     ihre Werte und ihre Ambitionen zu verstehen. Indem wir sinnstiftende, langfristige Bezie­
     hungen zu unseren Kunden aufbauen und erheblich in sie investieren, sind wir in der Lage,
     ­einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen und einen Service zu bieten, der auf die individuel­
     len Bedürfnisse und Ziele jedes einzelnen Kunden zugeschnitten ist.

     Diese Ausgabe von «Vision» beschäftigt sich näher mit dem Thema Human Touch, also der
     menschlichen Note: Woher kommt sie? Welche Rolle spielt sie in unserer Gesellschaft? Wie
     wichtig ist sie für unsere Branche? Wir porträtieren die Führungsverantwortlichen mehrerer
     erfolgreicher Unternehmen, darunter Marco Bizzarri, Präsident und CEO von Gucci. Die Bei­
     spiele zeigen, wie ein menschlicher Ansatz dazu beigetragen hat, dass diese Unternehmen
     florieren. Ausserdem beschreiben wir, wie die weltweit führenden Gruppen im Luxushotel­
     gewerbe ihre Kundenerfahrung gestalten, wir beschäftigen uns mit der Entwicklung von
     Touch-Technologie und sprechen mit der Führungsspitze von Julius Bär über die Bedeutung
     von persönlichen Interaktionen in der Private-Banking-Branche.

     Ich hoffe, dass diese Ausgabe von «Vision» wertvolle Erkenntnisse für Sie bereithält, und
     ­wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre.

     Bernhard Hodler
     Chief Executive Officer
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
INHALT

                                                                    6	Die menschliche Note
                                                                        Von der Geburt bis ins Geschäftsleben prägt die
                                                                        menschliche Note unsere Beziehungen – und
                                                                        es ist selbst im Digitalzeitalter entscheidend, sie
                                                                        zu verstehen und davon Gebrauch zu machen

                                                                    22 Dame Stephanie Shirley:
                                                                        Gerettet, um zu retten
                                                                        Die unternehmerische Philanthropin spricht über
                                                                        ihr bewegtes Leben und die Freuden des Gebens

                                                                    34	
                                                                       Von online zu offline:
                                                                       Das Geschäft
                                                                       mit High Touch
                                                                        Nach vielen Fortschritten bei Hightech hat mit
                                                                        High Touch eine Umkehrbewegung eingesetzt:
                                                                        Selbst modernste Unternehmen setzen wieder
                                                                        auf persönliche Interaktionen mit ihren Kunden

                                                                    38	Service mit fünf Sternen

                                         12
                                                                        Was können andere Branchen von Luxus-
                                                                        anbietern im Hotelleriegeschäft lernen?
                                                                        Drei weltweit führende Unternehmen erklären,
                                                                        wie sie ihren Gästen höchst individuelle
                                                                        Erfahrungen bieten – und trotzdem konsistent
                                                                        bleiben

Die Gucci-Renaissance:                                              44	Wenn Technologie
Ein Gespräch mit Marco Bizzarri                                         menschlich wird
                                                                        Wie Technologieunternehmen die menschliche
Der Präsident und CEO von Gucci berichtet darüber, wie ihm die          Note in elektronische Geräte bringen
bemerkenswerte Transformation der Luxus-Modemarke gelungen ist

                                                                    48	Die Schweiz im Fokus
                                                                        Ein Gespräch mit Gian A. Rossi über die
                                                                        Bedeutung unseres Heimmarkts

                                                           INHALT

                                                             02
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
52	Verantwortungs-                                      60	
                                                             Die Julius Bär
     volles Investieren                                      Kunstsammlung:
     In unserer Experten-Kolumne erklären
     Philipp Rickenbacher und Norbert Rücker,
                                                             Neuankäufe
                                                                   Ein Blick auf einige der 24 Neuanschaffungen
     was dies bedeutet
                                                                   der Kunstsammlung im Jahr 2016

 54	
    Banking mit                                           70	
                                                             San Keller: Mit Kunst
    menschlicher Note                                        die Gesellschaft
     In der CIO-Kolumne zeigt Yves Bonzon
     auf, warum Vermögensverwaltung ein                      untersuchen
     People Business ist                                           Der Konzept- und Performancekünstler
                                                                   erklärt, wie die Gesellschaft seine Arbeit
                                                                   inspiriert
 56	
    Die Julius Bär
    Stiftung                                              76	
                                                             Über uns
     Ein Gespräch über Vermögensungleich-
                                                                   Unsere Produkte und Dienstleistungen
     heit mit Christoph Schmocker
                                                                   Julius Bär auf einen Blick
                                                                   Rechtliche Hinweise
                                                                   Impressum

26
                Der Vitsoe-Ethos: Besser leben
                mit weniger, das länger hält
                Der Möbelhersteller Vitsoe floriert dank seiner Fokussierung auf
                den Aufbau von Loyalität und Vertrauen bei seinen Kunden

                                         INHALT

                                           03
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
70
MITARBEITENDE
VON DAME
STEPHANIE SHIRLEY
WURDEN DURCH DEN BÖRSENGANG
IHRES UNTERNEHMENS MILLIONÄRE

              50%
              BIS 60 % DES UMSATZES BEI
              VITSOE KOMMEN JEDERZEIT
              VON BESTEHENDEN KUNDEN

FAST 75 %
DER ANLEGER
VERTRAUEN BEI ANLAGEENTSCHEIDUNGEN
IN IHREM NAMEN EINEM MENSCHLICHEN
BERATER, ABER NUR 12 % WÜRDEN EINEM
ROBO­BERATER VERTRAUEN
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
14
BÜROS
VON JULIUS BÄR IN DER SCHWEIZ

150
DIE DUNBAR-ZAHL
GIBT AN, MIT WIE VIELEN MENSCHEN
MAXIMAL WIR SINNVOLLE BEZIEHUNGEN
PFLEGEN KÖNNEN
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
DIE MENSCHLICHE
NOTE

Ein Klopfen auf die Schulter, eine Umarmung, ein Lächeln, eine freundliche Stimme – all das
ist nichts Besonderes und doch überaus wirkungsvoll. Denn der direkte Kontakt zwischen
Menschen ist für den Aufbau von Beziehungen, Vertrauen und Verständnis unverzichtbar,
und er dient als Grundlage für unser physisches, emotionales und soziales Wohlbefinden.
Kein Wunder, dass es ohne ihn nicht geht.

AUTORIN: Janet Anderson
DIE NOTE UND MENSCHLICHE - Julius Baer
«Dabei gehen möglicherweise nicht
        nur gesundheitliche Vorteile ­
        ver­loren. Ohne Berührungen sinken
        auch Auffassungsvermögen und
        Leistung.»
         Tiffany Field

Nicht berühren! Diese Aufforderung kann man in jedem Museum                    Kette von biochemischen und bioelektrischen Reaktionen aus», er­
­lesen. Aber wer würde nicht gern einmal eine antike Vase in die Hand          klärt Field. «Dadurch beruhigt sich das Nervensystem, der Puls wird
 nehmen – um ihre Oberfläche zu erfühlen, ihr Gewicht abzuschät­               langsamer, der Blutdruck sinkt und die Gehirnwellen verändern sich,
 zen und vielleicht eine Verbindung zu spüren zu den Menschen von              weil sich der Körper entspannt.» Durch die Entspannung nimmt auch
 damals und der Zeit, aus der sie stammt?                                      das Niveau an Stresshormonen wie Cortisol ab. «Damit werden
                                                                               ­Immunzellen geschont, vor allem solche, die an vorderster Front des
Berührungen sind eines der wichtigsten Hilfsmittel, um die Welt um             Immunsystems stehen, um Bakterien, Viren und Krebszellen abzu­
uns herum zu verstehen. Der Tastsinn ist der erste Sinn, den Men­              wehren», sagt Field. Doch weil heutzutage viele Gesellschaften als
schen ausbilden, und er hat eine grundlegende Bedeutung für unse­              Folge von veränderten Lebensstilen und Digitalisierung distanzierter
re emotionale und soziale Entwicklung. Ab den ersten Berührungen               werden, so fürchtet sie, mangelt es ihnen an physischen Interaktionen
durch unsere Mutter sind taktile Verbindungen unverzichtbar für                und Berührungen. «Dabei gehen möglicherweise nicht nur gesund­
­unser Überleben, denn unsere Neurobiologie ist auf Berührungen                heitliche Vorteile verloren», warnt Field. «Ohne Berührungen sinken
 ausgelegt. «Menschen haben eine besondere Art von sensorischen                auch Auffassungsvermögen und Leistung.»
 Nervenzellen, die speziell dafür da sind, auf sanfte Berührungen zu
 ­reagieren», sagt Alan Fiske, Professor für psychologische Anthro­
  pologie an der University of California in Los Angeles. Menschliche                        PHYSISCHE BINDUNGEN WERDEN
  Berührungen signalisieren: Ich liebe dich, ich werde für dich sorgen,                         ZU SOZIALEN BINDUNGEN
  du kannst mir vertrauen. Dazu Fiske: «Kuscheln und Hautkontakt mit
  einem Elternteil oder einem Familienmitglied senden an den Säug­             Doch wie viel hat dies mit dem physischen Akt des Berührens zu tun,
  ling ein grundlegendes Signal, dass er sicher ist.» Diese frühen Er­         und wie sehr ist es die Folge von unterstützenden sozialen Interak­
  fahrungen von Berührung und Zuneigung spielen eine entscheiden­              tionen? Ohne Frage sind physische und soziale Aspekte miteinander
  de Rolle bei der Entwicklung einer physisch und emotional gesunden           verwoben. «In vielen Kulturen streckt man seinen Arm zum Hände­
  Person.                                                                      schütteln aus, wenn man eine minimal freundliche Beziehung anbie­
                                                                               ten möchte», sagt Fiske. «Es bedeutet, dass man auf einer freund­
Einfach ausgedrückt: Ohne menschlichen Kontakt können wir nicht                schaftlichen Ebene Kontakt haben möchte.» Berührungen sind also
gedeihen, und dies bleibt auch so, wenn wir ins Erwachsenenalter kom­          nicht nur dem Wohlbefinden förderlich, sondern lassen auch Vertrau­
men. Berührungen können das ganze Leben über positive Auswir­                  en und Verständnis entstehen, was dabei hilft, über Unterschiede hin­
kungen auf unsere Gesundheit haben, sagt Tiffany Field, Leiterin des           wegzusehen und ein Gefühl der Gleichwertigkeit zu schaffen.
Touch Research Institute an der Miller School of Medicine der Uni­
versity of Miami. Sie tragen zur Funktion unseres Immunsystems bei             Wie lassen Berührungen in den komplexen Gemeinschaften von heu­
und unterstützen die Erholung nach Krankheiten. «Wenn Haut so be­              te soziale Bindungen entstehen? Robin Dunbar, Professor für Evolu­
wegt wird, dass die Druckrezeptoren stimuliert werden, löst dies eine          tionspsychologie an der Oxford University, untersucht die Mechanis­

                                                             DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                          08
«Lachen ist sehr instinktiv und sehr
                                                                                      ansteckend – man kann gar
                                                                                      nicht anders, als mitzumachen,
                                                                                      selbst wenn man nicht genau
                                                                                      weiss, warum man eigentlich lacht.»
                                                                                       Robin Dunbar

men, die sozialen Bindungen bei Menschen und anderen Primaten                  immer am befriedigendsten empfunden. «Der Grund dafür ist die
zugrunde liegen. Sein Ziel dabei: Er will verstehen, wie Menschen alte        Geschwindigkeit der Interaktion», erklärt der Forscher. «Man erkennt
Mechanismen angepasst haben, um deutlich grössere Gesellschaf­                Hinweise und kann zum Beispiel sehen, wie beim Gegenüber ein
ten zu bilden. «Primaten schaffen Gemeinschaften durch gegensei­              ­Lächeln beginnt, bevor man einen Witz fertig erzählt hat.»
tige Pflege. Das Problem dabei ist, dass man jeweils nur eine Person
zur selben Zeit berühren kann, sodass es eine feste Grenze für die            Noch heute geht es bei menschlichem Kontakt im Kern um nichts
Zahl der Mitglieder in einem sozialen Netz gibt», erklärt Dunbar. Aus         ­anderes als Emotionen – ob bei direkten physischen Begegnungen
diesem Grund haben Menschen andere Möglichkeiten gefunden, um                   mit Händeschütteln oder einem netten Lächeln oder bei anderen
ohne physischen Kontakt zu denselben Ergebnissen zu kommen. Die                 Gesten. ­Direkter Kontakt erzeugt Wohlbefinden, denn wir fühlen uns
wichtigste davon ist laut Dunbar Lachen: «Lachen ist sehr instinktiv           ­verstanden und sicher. Wie Fiske erklärt, werden die sozialen Medien
und sehr ansteckend – man kann gar nicht anders, als mitzumachen,               am intensivsten für das Teilen von herzerwärmenden Erlebnissen und
selbst wenn man nicht genau weiss, warum man eigentlich lacht.»                 Emotionen genutzt. Denn auf diese Weise kann man Kontakt mit
­Singen, Tanzen, gemeinsames Essen und das Erzählen von Geschich­               Menschen aufnehmen und Bindungen schaffen.
 ten haben eine ähnliche Wirkung.

All diese Mechanismen helfen Menschen dabei, ihre sozialen Grup­                     DIE MENSCHLICHE NOTE IN DER WIRTSCHAFT
pen zu vergrössern. Es gibt jedoch eine Obergrenze, wie Dunbars
­Forschungsarbeit gezeigt hat. Die sogenannte Dunbar-Zahl ist die             In der Geschäftswelt werden unsere Transaktionen zunehmend au­
 maximale Anzahl an Menschen, mit denen wir ernsthafte Beziehun­              tomatisiert – der Mensch als Schnittstelle wird von Maschinen und
 gen mit Vertrauen und Verpflichtungen aufrechterhalten können.               Algorithmen ersetzt. Trotzdem ist die Bedeutung der menschlichen
 ­Immer wieder wurde gezeigt, dass sie bei etwa 150 liegt – was der           Note heute nicht weniger ausgeprägt als früher. Wir haben einen
  Grösse einer typischen Gemeinschaft in einer Gesellschaft von               Wendepunkt erreicht, über den hinaus die Effizienz und die Bequem­
  ­Jägern und Sammlern oder einem Dorf im 18. Jahrhundert entspricht.         lichkeit, die digitale Technologien uns bringen, für sich allein genom­
   Heute nutzen wir digitale Kommunikation, um Kontakt mit Hunder­            men nicht mehr ausreichen.
   ten von Menschen weltweit zu halten. Dank sozialer Medien können
   wir problemlos Hunderte oder sogar Tausende «Freunde» haben.               Im Jahr 2016 hat die Marktforschungsfirma Ipsos MORI Verbrau­
   Doch wie Dunbar gezeigt hat, lässt sich die Zahl der Menschen, mit         cher in 23 Ländern dazu befragt, wie sie Kundenbetreuung erleben.
   denen wir wirklich verbunden sind, trotzdem nicht weiter erhöhen.          Die Ergebnisse lassen klar eine Überdosis Digitalisierung erkennen:
                                                                              72 Prozent der Befragten sagten, ihrer Ansicht nach sei Kundendienst
Von all den Kommunikationsformen, die uns heute offenstehen, um               heute zu automatisiert und zu unpersönlich. Sogar 82 Prozent stimm­
unsere echten sozialen Bindungen zu pflegen, wird der Kontakt von             ten der Aussage zu, sie würden mit zu vielen widersprüchlichen In­
Angesicht zu Angesicht nach den Erkenntnissen von Dunbar noch­                formationen konfrontiert und es sei schwierig, zu wissen, wem oder

                                                            DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                         09
­ elcher Information sie trauen könnten. Und 60 Prozent gaben an,
w                                                                            Ein Blick auf den Reisesektor lässt gut erkennen, warum menschliche
sie seien bereit, für eine bessere Kundenerfahrung mehr zu bezahlen.         Interaktionen immer noch wichtig sind. Im Luxusbereich bieten Reise­
Sehr aufschlussreich sind die Antworten der Teilnehmenden auf die            büros wohlhabenderen Kunden einen vollkommen persönlichen Ser­
Frage «Was ist am wichtigsten, wenn ein Unternehmen ein Problem              vice, einschliesslich Concierge-Dienst und Betreuung während und
lösen soll?»: Am häufigsten wurde hier «Mit Respekt behandelt wer­           nach der Reise. Ebenso wissen die besten Hotels der Welt, dass guter
den» genannt.                                                                Service der Heilige Gral ihres Geschäfts ist. Der Kundenservice-Be­
                                                                             rater Micah Solomon aus den USA formuliert es in seinem Buch «The
Kann ein automatisiertes System einem Menschen das Gefühl ge­                Heart of Hospitality: Great Hotel and Restaurant Leaders Share Their
ben, dass ihm Respekt entgegengebracht wird? Offenbar nicht, denn            Secrets» so: «Die besten Hotels haben das seit Langem erreicht, in­
noch immer scheinen wir hochwertige Interaktionen mit echten Men­            dem sie einen Service bieten, der von hervorragend geschulten Men­
schen in der echten Welt zu bevorzugen. Die meisten von uns wollen           schen erbracht wird, die sich an die Namen von Gästen erinnern, auf­
bei Kundendienstproblemen oder für eine Beratung lieber mit einem            merksam sind für Stimmungsveränderungen und Gästen nicht nur
menschlichen Wesen sprechen. Und auch die physische Einkaufs­                das liefern, wonach sie direkt fragen, sondern auch das, wovon sie viel­
erfahrung hat im Zeitalter des Online-Shoppings ihre Relevanz nicht          leicht nicht einmal wissen, dass sie daran interessiert sind.»
verloren. In einer Studie der Management-Beratungsfirma Accenture
aus dem Jahr 2015 sagten 46 Prozent der US-Verbraucher, sie wür­
den sich ein neues oder verbessertes Produkt eher im persönlichen               DIE MENSCHLICHE NOTE IN EINER DIGITALEN WELT
Kontakt verkaufen lassen, als wenn sie online darüber informiert wer­
den. Und angesichts der Überflutung mit Informationen, die viele von         «Wie viel menschlichen Kontakt man in einem Angebot vorsehen
uns jeden Tag, wenn nicht sogar jede Stunde erleben, hat Mundpro­            sollte, hängt vom Geschäftsmodell ab», sagt Ben Page, Chief Execu­
paganda immer noch grösseren Einfluss auf unsere Kaufentscheidun­            tive von Ipsos MORI. «Beim Abwägen zwischen echter und digitaler
gen als Werbung.                                                             Personalisierung gibt es kein Patentrezept.»

Hinzu kommt die zunehmende Nachfrage nach einer individuellen                Ein gutes Beispiel dafür, wie die menschliche Note digitale Erfahrun­
Behandlung. Kunden wollen sich nicht nur wertgeschätzt und ver­              gen verbessern kann, ist bei führenden Fluggesellschaften zu f­ inden.
standen fühlen, sie wollen auch, dass Dienstleister und Produkther­            Mithilfe von Informationen, die direkt auf die tragbaren Geräte der
steller ihre speziellen Präferenzen, Bedürfnisse und Gewohnheiten              Passagiere gesendet werden, kann das Personal diesen einen indivi­
kennen – so wie ein guter Freund. Vor noch nicht allzu langer Zeit             duellen Service bieten. Beispielsweise können Passagiere bei der
schien es, als liesse sich diesem Wunsch nach Personalisierung mit           ­Ankunft am Flughafen abgeholt, mit ihrem Namen begrüsst und
dem massenweisen Sammeln und Auswerten von Konsumenten­                      dann zum Flug begleitet werden; an Bord können Mitarbeitende
daten gerecht werden. Mittlerweile aber zeigt sich, dass dafür mehr          nachfragen, ob die Passagiere sich wohlfühlen, und ihnen eine Aus­
nötig ist. Verbraucher wollen das Gefühl haben, dass sie es mit einer         wahl an Erfrischungen und Unterhaltungsmedien anbieten, die zu
Person zu tun haben, nicht mit einem System. Es soll ihnen ein Mensch         ­ihren Präferenzen passt. Die digitale Seite liefert die Daten dafür,
zur Seite stehen.                                                              doch wie der Service ankommt, hängt von der Art der Umsetzung
                                                                               durch die Menschen ab. Entscheidend sind die Empathie und der
                                                                               Charme der Person, die diese Aufgabe wahrnimmt.

                                                            DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                        10
Das Erkennen von nonverbalen Signalen wie Körpersprache und                  Robo-Beratern beginnen inzwischen damit, menschliche Banker ein­
­Gesichtsausdruck sowie das Bewerten der Aufmerksamkeit eines                zustellen – ein weiterer Beleg dafür, dass Vermögensverwaltung auch
 ­Gegenübers sind nur über menschliche Kommunikation von An­                 weiterhin eine Branche sein wird, bei der menschliche Beziehungen
  gesicht zu Angesicht möglich. Ebenso braucht es die menschliche            im Mittelpunkt stehen.
  Note, um zu wissen, wann es besser ist, sich zurückzuhalten. Manche
  Kunden wollen lieber in Ruhe gelassen werden und nur über ­digitale         «Menschen interagieren gern mit Menschen», sagt Chris Boos, Grün­
Kanäle mit Unternehmen interagieren. Dies zu erkennen, ist für                der und CEO des IT-Unternehmens Arago und ein führender Exper­
jeden Dienstleistungsanbieter entscheidend. Unternehmen müssen               te für künstliche ­Intelligenz. «Maschinen werden immer effizienter
Kunden ihren eigenen Weg wählen lassen und dafür sorgen, dass                 sein, aber sie haben weder Kreativität noch Leidenschaft noch Pio­
  ­beide Möglichkeiten zur Auswahl stehen.                                    niergeist. Aus diesem Grund hätte eine Maschine zum Beispiel keine
                                                                              frühe Investition in Apple oder Facebook vorgeschlagen. Man braucht
In einem Bericht mit dem Titel «Engineering a human touch into a di­          einen Menschen, um derartige Gelegenheiten zu erkennen.» Aber
gital future» aus dem Jahr 2017 beschreibt der Unternehmensdienst­            Boos geht noch weiter: Er glaubt, dass es eine Rückbesinnung auf per­
leister KPMG Best Practices von Unternehmen, die eine gelungene               sonalisierte Serviceangebote geben wird, wenn Maschinen einen im­
Mischung aus High Tech und High Touch realisiert haben, also aus              mer grösseren Teil der Rechenarbeit erledigen – nicht nur am oberen
moderner Technologie und menschlicher Betreuung. «Sie sehen die               Ende des Marktes, sondern für eine breite Kundenbasis. «Wir werden
Welt durch dieselbe Brille wie ihre Beschäftigten und ihre Kunden und         eine Rückkehr des Bankers alter Schule erleben – einer Person, die
betrachten emotionale Intelligenz als Differenzierungsmerkmal im             ­etwas über die Welt weiss und bereit ist, Zeit damit zu verbringen,
Wettbewerb», heisst es im Bericht. Selbst in einer Welt, deren tech­          mit Ihnen darüber zu sprechen», sagt er.
nologische Entwicklung in atemberaubendem Tempo fortschreitet,
sind grundlegend menschliche Eigenschaften wie Empathie und                  Die ultimative Kombination nutzt letztlich die beste Technologie zu­
­Integrität für den Erfolg unverzichtbar.                                    sammen mit der Intelligenz und der Erfahrung von echten Menschen.
                                                                             Künstliche Intelligenz wird zu enormen Fortschritten in unserer Art
Auch im Bankensektor und insbesondere im Private Banking ist es              zu leben beitragen, aber künstliche Emotion, künstliches Vertrauen
mit am wichtigsten, die richtige Mischung aus automatisiertem und            und künstliches Verstehen lassen sich schlecht verkaufen. Solange
menschlichem Kontakt zu finden. Eine Studie von Menaka S. Thillai­           sich das nicht ändert, wird die menschliche Note auch weiterhin die
ampalam, die LinkedIn und Greenwich Associates 2016 veröffent­               wichtigste Antriebskraft in unserem Leben sein. «Ich bin zuversicht­
lichten, beschäftigt sich mit der Frage, wie Vermögensverwalter er­          lich, dass wir ein Wiedererstarken des Humanismus erleben werden»,
folgreich in einen Dialog mit wohlhabenden Millennials und Ange­-            erklärt Boos.
hörigen der Generation X treten können. Demnach wünschen auch
diese Kunden die richtige Mischung aus High Tech und High Touch.
Zwar wickeln Bankkunden, insbesondere Digital Natives, ihre all­täg­
lichen Bankgeschäfte zunehmend lieber online ab. Doch bei ­Finanz­­-                «Maschinen werden immer effizienter
beratung und komplexer Vermögensverwaltung oder Anlagefragen                         sein, aber sie haben weder
bevorzugen sie immer noch menschliche Beratung und Interaktion.
Selbst die disruptiven Fintech-Start-ups mit ihren hochmodernen                      Kreativität noch Leidenschaft noch
                                                                                     Pioniergeist. Aus diesem Grund
                                                                                     hätte eine Maschine zum Beispiel
                                                                                     keine frühe Investition in Apple oder
                                                                                     Facebook vorgeschlagen.»
                                                                                      Chris Boos

                                                            DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                        11
DIE
GUCCI-RENAISSANCE:
EIN GESPRÄCH
MIT MARCO BIZZARRI

Zwischen Reisen nach London, Rom und zur Singularity University im kalifornischen
Cupertino macht Gucci-CEO Marco Bizzarri kurz Station im Hauptquartier des
Unternehmens in Mailand, um über die bemerkenswerte Wende der Marke zu sprechen.
Vor seinem Amtsantritt im Januar 2015 war der Umsatz von Gucci Monat für Monat
gesunken. Schliessungen und Entlassungen wurden diskutiert, und die Marke war weit
entfernt von ihrer Blütezeit der 1970er- und 1980er-Jahre. Heute aber ist Gucci die mit
Abstand am schnellsten wachsende Luxusmarke der Welt. Wie ist Bizzarri, dem 55 Jahre
alten Innovator in der Luxusindustrie, diese Wende bei einem der weltweit bekanntesten
Anbieter im Luxussegment gelungen?

INTERVIEW: Emily Rookwood

Links: Marco Bizzarri (links) und Alessandro Michele
Als Sie im Jahr 2015 neuer CEO von Gucci wurden, brauchte                      guten Werten, Menschen mit Fantasie, aber auch mit Bodenhaftung,
das Unternehmen eine Wiederbelebung. Was waren zu                              die andere Menschen und ihre unterschiedlichen Kompetenzen res­
jener Zeit Ihre wichtigsten Prioritäten und wie haben Sie die                  pektieren. Was ich bei Gucci erreichen wollte, war eine Veränderung
bemerkenswerte Transformation des Unternehmens                                 der Kultur und des kreativen Ansatzes, um das Unternehmen wieder
eingeleitet?                                                                   zu einem Arbeitgeber zu machen, der für junge Talente attraktiv ist.
Als ich die Aufgabe im Januar 2015 übernommen habe, war meine                  In einer so kleinen Branche redet jeder mit jedem, also durfte diese
oberste Priorität, den Fokus des Unternehmens wieder auf seinen ei­            Veränderung keine blosse Marketingaussage sein. Wir mussten wirk­
gentlichen Kern zu richten: Kreativität und Emotion. Zu dieser Zeit            lich verändern, wie Menschen miteinander interagieren, sowie Men­
kopierte jeder in der Branche jeden, und niemand versuchte, etwas              schen, Emotion und Kreativität wieder ins Zentrum des Unterneh­
dramatisch anderes zu machen. Bei Mode ging es jedoch schon im­                mens stellen. Das war das Wichtigste für mich.
mer um Emotion, Kreativität und das Setzen von Trends. Ich wollte
­Gucci zu diesen Werten zurückführen, das Unternehmen dazu brin­               Inzwischen ist die Marke Gucci wieder fest als einer der
gen, sich wieder auf den Aufbau einer vom Angebot statt vom Ver­               führenden, wenn nicht als der führende Anbieter von
braucher getriebenen Marke zu konzentrieren, und das wieder aufle­             Luxusprodukten etabliert. Haben sich die Prioritäten da-
ben lassen, wofür Mode in den 1970er- und 1980er-Jahren gestanden              durch verändert?
 hatte.                                                                        Die Strategie und unsere Prioritäten sind unverändert geblieben.
                                                                               Wenn man über Kultur spricht, über Menschen, ist das ein konti­
Dafür musste ich jemanden finden, der in der Lage war, diese Idee in           nuierlicher Prozess. Man kann nicht einfach sagen: «Ich habe jetzt die
die Realität umzusetzen. Alessandro Michele hatte etwa zwölf Jahre             Kultur verändert, sie ist fertig.» Die Kultur verändert und verschiebt
für Gucci gearbeitet; als wir uns zum ersten Mal trafen, entwarf er            sich ständig, wenn man neue Mitarbeitende einstellt oder andere das
dort Handtaschen. Er war das Gegenteil eines egoistischen Kreativ­             Haus verlassen. Jeder einzelne Tag ist anders, also muss man hart da­
direktors: Er verstand nicht nur, wo ich Gucci geschäftlich positionie­        ran arbeiten, klarzumachen, dass diese Veränderung der Kultur von
ren wollte, sondern war – und ist – zuallererst einmal ein wunderba­           Dauer ist. Je stärker wir ein Gefühl von Energie und Respekt schaffen,
rer Mensch. Wenn man in einem Unternehmen eine Atmosphäre                      je mehr wir Menschen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden
von Emotion und Kreativität schaffen will, ist die menschliche Note            und auch Fehler zu machen, ohne Strafen fürchten zu müssen, desto
von grosser Bedeutung. Man braucht um sich herum gute Leute mit                mehr Chancen für signifikantes Wachstum ergeben sich für uns.

       «Wenn man in einem Unternehmen
        eine Atmosphäre von Emotion
        und Kreativität schaffen will, ist die
        menschliche Note von grosser
        Bedeutung. Man braucht um sich
        herum gute Leute mit guten
        Werten.»
         Marco Bizzarri

                                                             DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                          14
«Die Welt und die Verbraucher
                                                                                        verändern sich schnell, also
                                                                                        müssen Unternehmen immer auf
Das Wachstum in unserer Branche liegt heute bei durchschnittlich                        der Suche nach Neuem sein,
2 bis 4 Prozent, aber das zeigt nicht das wahre Bild: Manche Unter­
nehmen heben ab, andere brechen ein. Die Welt und die Verbrau­                          nach Disruption, und gleichzeitig
cher verändern sich schnell, also müssen Unternehmen immer auf der                      flexibel genug bleiben, um
Suche nach Neuem sein, nach Disruption, und gleichzeitig flexibel ge­
nug bleiben, um externe Schocks zu überstehen. Man kann ein Un­
                                                                                        externe Schocks zu überstehen.»
ternehmen nicht leiten, indem man schlicht den Status quo beibehält.                     Marco Bizzarri
Stattdessen muss man die Latte jedes Mal höher legen. Wenn wir da­
für sorgen, dass jeder im Unternehmen versteht, was wir vorhaben
und wie wir uns verändern wollen, können wir ein Räderwerk schaf­
fen, das nur sehr schwer zu stoppen ist.
                                                                                niemals so gut verstehen, wie unsere Leute es tun. In den vergange­
Italien ist das Zentrum des europäischen Kunsthandwerks,                        nen Jahren ist es deutlich komplizierter und schwieriger geworden,
und Gucci hat eine lange Tradition darin. Wie wichtig sind                      unsere Artikel zu produzieren. Doch unsere Handwerkskünstler ha­
diese Faktoren für die heutigen Kunden von Luxusgütern                          ben sich schnell und flexibel angepasst, um diese Produkte auf den
und insbesondere für die Kunden von Gucci?                                      Markt zu bringen, was erneut zeigt, wie beeindruckend ihre Fähig­
Sie sind von überragender Bedeutung. Kreativität ohne Handwerks­                keiten sind. Unsere Handwerkskünstler und ihr Geschick sind ent­
künstler ist nutzlos, und Handwerkskunst ohne Kreativität ist lang­             scheidend, und aus diesem Grund haben wir im Raum Florenz mas­
weilig. Um etwas zu erreichen, muss man beides zusammenbringen.                 siv investiert. Im Januar 2018 eröffnen wir ein 37 000 Quadratmeter
Was Alessandro zusammen mit unseren Mitarbeitenden leistet, ist                 grosses Entwicklungszentrum für Schuhe und Taschen. Es wird der
bemerkenswert, und auf diese Weise entstehen die schönen Produk­                erste Ort weltweit sein, an dem diese beiden Produkte zusammen­
te, die wir anbieten. Das Wissen unserer Handwerkskünstler stammt               kommen. Wir glauben, dass dies unsere Innovationsfähigkeit stärken
aus jahrelanger Erfahrung. Diese Kompetenz wird von Generation zu               und uns einen grossen Wettbewerbsvorteil für die Zukunft verschaf­
Generation weitergegeben, und sie hat eine enge Verbindung zur                  fen wird.
­lokalen Umgebung. In dieser Hinsicht ist Italien einzigartig. Man kann
 die Kultur, die es in bestimmten Gegenden Italiens gibt, nirgendwo               Wir stellen viel neues Personal ein und schaffen viele Arbeitsplätze
 sonst replizieren. Für uns bei Gucci zum Beispiel gilt das für Florenz.          in der Region, worauf wir sehr stolz sind. Wir wollen der Handarbeit
                                                                                ­wieder einen Wert geben. Diese zunehmend seltenen Fertigkeiten
Zugleich bedeutet das, dass eine Lokalisierung unserer Produktion                 verdienen denselben Respekt wie ein Universitätsabschluss oder eine
keine einfache Sache ist. Bedenken Sie, dass Gucci alles zu 100 Pro­              Karriere in einem Unternehmen. Wir wollen die nächste Generation
zent in Italien herstellt. Selbst wenn wir das ändern wollten: Andere             von Handwerkskünstler ermutigen und ihnen Gelegenheit geben,
Mitarbeitende werden, selbst wenn sie sehr gut sind, Gucci-Pro­dukte             ­kreativ zu sein sowie respektiert zu werden. Unsere Branche bietet

                                                              DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                           15
SECTION HEADING

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SECTION HEADING

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grosses Potenzial, Arbeitsplätze für die nächste Generation zu schaf­          wollen und alles anfassen können und in dem die Personen, die dort
fen. Denn sie entwickelt sich rasch weiter, und obwohl Technologie             arbeiten, sie in ihrem Haus willkommen heissen.
dabei eine wichtige Rolle spielt, wird der Beruf des Handwerkskünst­
lers niemals verschwinden. Die Kompetenz unserer Mitarbeitenden                Um das umzusetzen, braucht man die richtigen Leute – Menschen,
ist unverzichtbar. Technologie kann sie weder replizieren noch erset­          die diesen Job wollen und eine echte Leidenschaft dafür hegen, die
zen. Wenn wir es ernst damit meinen, Kreativität und Emotion ins               neugierig sind und den Wunsch haben, den Kunden, der vor ihnen
Zentrum der Strategie von Gucci zu stellen, müssen wir die Fähig­              steht, zu verstehen. Das ist etwas, das wir überall in der Welt umzu­
keiten unserer Handwerkskünstler erhalten und fördern. Dies ist der            setzen versuchen. Darüber hinaus müssen wir unseren Ansatz auf die
Grund dafür, dass wir auch einen Lehrbereich für Schüler und Hand­             Bedürfnisse der einzelnen Kunden an jedem Standort abstimmen.
werkskünstler schaffen, in dem diese Fähigkeiten bewahrt werden.               Manche Kunden – häufig Touristen – wissen, was sie kaufen wollen,
                                                                               und brauchen wenig Unterstützung; andere möchten umsorgt wer­
Können Sie für uns die Kundenerfahrung in Gucci-Läden                          den, sie suchen die volle Erfahrung. Wir müssen jeden einzelnen
rund um die Welt beschreiben und erklären, wie Sie jedes                       ­Kunden verstehen und uns entsprechend anpassen, aber wir dürfen
Einkaufserlebnis individuell gestalten?                                         ­keinerlei Kompromisse bei den Grundsätzen Wärme, Inklusion und
Die Erfahrung für unsere Kunden ist das Spiegelbild dessen, was wir               Nähe ­machen. Dazu haben wir uns entschieden, weil wir zu einer
auf der Ebene des Unternehmens tun. Wenn wir eine Unternehmens­                  ­anderen Art von Unternehmen werden wollten – einem Unter­
kultur des Respekts, der Energie und der Zufriedenheit haben wollen,           nehmen, das ­Luxusprodukte verkauft, aber auf eine moderne, um­
brauchen wir in unseren Geschäften genau dieselbe Einstellung und                 fassende Weise.
dasselbe Verhalten; ansonsten bekommt der Kunde eine andere Bot­
schaft als die, die wir übermitteln wollen. Unser Verkaufspersonal ver­        Fast 50 Prozent Ihrer Kunden gehören zur Generation der
steht, was wir wollen, und es weiss, dass Leidenschaft, Empathie und           Millennials. Wie wichtig ist es vor diesem Hintergrund,
Respekt – und auch ein ehrliches Lächeln – zu den Voraussetzungen              neue digitale Technologien mit der menschlichen Note zu
zählen, bei denen wir keine Kompromisse machen. Wir haben einen                ­kombinieren, um die Kundenerfahrung zu optimieren?
komplett neuen Ansatz eingeführt, denn wir wollten in unseren Lä­              Ich halte das für entscheidend. Die Änderungen, die wir bei Gucci
den eine andere Atmosphäre schaffen. Denken Sie an die Erfahrung,              umgesetzt haben, hatten zum Teil aufgrund von digitalen Elementen
die Sie in den meisten Luxusboutiquen machen: Sie spüren Distanz.              so schnellen Erfolg. Die Art und Weise, wie wir soziale Medien nut­
Wenn Sie hineingehen, sind die Produkte wahrscheinlich nicht zu­               zen, war für unsere Branche ziemlich disruptiv. Wir wollen Kontakt zu
gänglich, und die Verkäufer werden mit Ihnen sehr professionell in­            den Menschen aufnehmen, vor allem zur jüngeren Generation, und
teragieren, aber auch distanziert und kühl. Das wollten wir ändern.            sie mit Initiativen wie #GucciGram ermuntern, Ideen für Gucci vor­
Wenn Kunden zu Gucci kommen, sollen sie sich zuhause fühlen. Sie               zuschlagen. Der digitale und technologische Aspekt ist ein riesiger
sollen sich fühlen wie in einem Süsswarenladen, wo sie alles kaufen            und wichtiger Teil unseres Geschäfts, aber wir müssen immer daran

                                                             DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                          18
denken, dass die Technologie in der Rolle eines Werkzeugs bleiben             Zusammenarbeit zwischen Alessandro und Trevor ist wunderbar. Sie
muss. Sie beschleunigt den Prozess, kann aber niemals ein Differen­           hat unsere Ästhetik wirklich geöffnet und ihr eine neue Richtung
zierungsmerkmal für uns sein. Das werden immer unsere Mitarbei­               ­ge­geben, und das hat neue Menschen zu Gucci gebracht. Meiner
tenden sein. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass unsere Mitarbei­             ­Meinung nach ist dies eine weitere hervorragende Möglichkeit, in der
tenden auf dem Niveau bleiben, das wir anstreben. Ja, wir wollen an           Luxusbranche einen modernen Ansatz zu verfolgen.
vorderster Front der Innovation stehen, also investieren wir massiv in
diesen Bereich – unsere E-Commerce-Website ist eine der besten der            Wie hat Gucci in einem schwierigen Markt derart
Branche. Aber noch einmal: Wir haben nicht vor, den Kern unseres              bemerkenswertes Wachstum erzielt und welche Rolle
Geschäfts zu ersetzen – der Mensch und die menschliche Note sind              hat die menschliche Note dabei gespielt?
und bleiben bei uns im Mittelpunkt.                                           Wir haben in Bezug auf die Produkte das Richtige getan – ohne her­
                                                                              vorragende Produkte würde es kein Wachstum geben. Noch wich­
GucciGhost ist ein interessantes Beispiel für einen sehr                      tiger aber war, dass wir die Art und Weise verändert haben, wie
menschlichen Ansatz in der Wirtschaft. Können Sie                             ­Menschen innerhalb und ausserhalb von Gucci Luxus betrachten.
uns erzählen, wie es zur Zusammenarbeit zwischen Gucci                         ­An­haltendes, nachhaltiges Wachstum lässt sich nur durch die Un­
und dem Strassenkünstler Trevor Andrew gekommen ist?                          ternehmenskultur sicherstellen, nicht mit Produkten. Einzigartig bei
Alessandro Michele hat die Arbeit von Trevor Andrew gesehen und               uns sind die Art und Weise, wie wir die Branche verstehen, und das
war sehr beeindruckt davon – aber er verwendete unser Logo. Wir hat­          Engagement, mit dem wir Werte wie Leidenschaft, Respekt, Diver­
ten also zwei Optionen: Wir konnten ihn verklagen oder mit ihm                sität, Energie und Zufriedenheit pflegen. Darin muss unser Diffe­
­kooperieren und so unser Logo für die Strassenkultur öffnen. Wir ent­        renzierungsmerkmal liegen, aber das ist nicht so einfach, wie es
 schieden uns dafür, mit ihm zusammenzuarbeiten. Das ist eine neue            sich vielleicht anhört. Die Kultur eines Unternehmens zu verändern,
 und dynamische Art des Umgangs mit unserem Logo, und es schafft              ist ausgesprochen schwierig, viel schwieriger, als die Ästhetik zu ver­
 viele Möglichkeiten zum Austausch mit einer neuen Generation. Die            ändern.

                                                                                     «Wenn wir eine Unternehmens­
                                                                                      kultur des Respekts, der Energie
                                                                                      und der Zufriedenheit haben
                                                                                      wollen, brauchen wir in unseren
                                                                                      Geschäften genau dieselbe
                                                                                      Einstellung und dasselbe
                                                                                      Verhalten.»
                                                                                       Marco Bizzarri

                                                            DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                         19
DIE MENSCHLICHE NOTE

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Was können andere Unternehmen, insbesondere im Private
Banking, von Gucci und anderen Luxusgüter-Anbietern
über die Arbeit mit der menschlichen Note in der Wirtschaft
lernen?
Für mich ist Kompetenz in einer Branche wie Private Banking eine
Selbstverständlichkeit. Der Unterschied liegt also im Verständnis
­eines Beraters für meine Bedürfnisse als Individuum, in der mensch­
lichen Note und in der Empathie. Die Art und Weise, wie Menschen
mit anderen Menschen sprechen und deren Bedürfnisse antizipieren,
ist letztlich das, was den Unterschied ausmacht und Loyalität ent­
stehen lässt. Das ist überall gleich, ob im Private Banking oder beim
Verkauf von Luxusgütern.

Ein Blick in die Zukunft: Werden Handwerkskunst
und ­persönlicher Service in der Luxusgüter-Branche auch
weiterhin eine zentrale Rolle spielen?
Menschen und ihre Fähigkeiten werden in unserer Branche stets das
wichtigste Differenzierungsmerkmal sein. Wenn wir als Luxus-Mode­
 marke einen Kampf um die beste Technologie beginnen, werden wir
 gegen Fast Fashion verlieren – dieses Segment wird uns zu fassen be­
 kommen und töten, denn seine Anbieter werden sich immer schnel­
 ler anpassen als wir. Unsere grosse Stärke aber liegt darin, dass wir die
 besten Talente bekommen, dass wir sie besser schulen als irgendwer
 sonst und dass wir sie bei uns halten. Unsere Branche ist eine Bran­
 che der Emotionen – und Interaktion, ob auf Ebene des Unterneh­
 mens oder mit Kunden, ist der Schlüssel dafür. In Zukunft werden
­diejenigen Menschen und Unternehmen Erfolg haben, die die Be­
 dürfnisse ihrer Kunden verstehen und mit ihnen auf einer menschli­
 chen Ebene interagieren.

       «Unsere grosse Stärke aber liegt
        darin, dass wir die besten Talente
        bekommen, dass wir sie besser
        schulen als irgendwer sonst und
        dass wir sie bei uns halten.»
         Marco Bizzarri

            DIE MENSCHLICHE NOTE

                       21
DAME STEPHANIE SHIRLEY:
GERETTET, UM ZU RETTEN
Sie war eine der ersten IT-Unternehmerinnen und gehört heute zu den wichtigsten Philan­thro­pen
in Grossbritannien: Dame Stephanie Shirley hat ihr ganzes Leben über gezeigt, dass Erfolg –
selbst in der Informationstechnologie – nicht auf Kosten von Menschlichkeit gehen muss.

AUTOR: Rhymer Rigby

Es ist unmöglich, mit Dame Stephanie Shirley zu sprechen und nicht                britischen Post. Wie zu erwarten war, stiess sie dort bald an eine
ein wenig eingeschüchtert zu sein. Sie ist 84 Jahre alt, doch ihr Tag ist         ­gläserne Decke. Um vorwärtszukommen, musste sie weiterziehen.
deutlich reichhaltiger als bei den meisten Menschen, die nur halb –                Und weil damals auch fast alle anderen Arbeitgeber ähnlich blind für
oder vielleicht nur ein Viertel – so alt sind wie sie. Zudem ist ihre der­         ­talentierte Frauen waren, blieb ihr nur, sich selbstständig zu machen.
zeitige Rolle als Philanthropin nur ihr neuestes Betätigungsfeld. Sie
hat bereits zuvor eine Reihe von angesehenen Positionen besetzt
(als Entrepreneurin, Pionierin und Geschäftsfrau), von denen jede                                STEREOTYPEN INFRAGE STELLEN
einzelne für eine weniger energiegeladene Frau vollkommen zufrie­
den­stellend gewesen wäre – und stets hat sie sich zutiefst fürsorg-              Im Jahr 1962 gründete Shirley ein Software-Unternehmen namens
lich und menschlich gezeigt.                                                      Freelance Programmers. Man kann nicht genug betonen, wie weit sie
                                                                                  damit ihrer Zeit voraus war. Nicht nur gab die Firma Frauen die Mög­
Geboren wurde Shirley im Jahr 1933 als Vera Buchthal in Dortmund,                 lichkeit, von zuhause aus zu arbeiten, sie war auch ein soziales Unter­
als Kind eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter aus               nehmen, lange bevor es diesen Ausdruck überhaupt gab. «Es war
Wien. Als sie fünf Jahre alt war, wurde ihre Welt auf den Kopf ge­                wirklich der Beginn eines Kreuzzugs für Frauen», erklärt sie. «Ich habe
stellt: Sie musste in einem Kindertransport aus ihrer Heimat fliehen              Freelance Programmers nicht gegründet, um Geld zu verdienen. Ich
und kam nach Grossbritannien, wo sie von Pflegeeltern in den Mid­                 wollte, dass es in der Geschäftswelt – für mich selbst und andere­
lands grossgezogen wurde.                                                          Frauen wie mich – dieselben Möglichkeiten gibt wie für Männer.
                                                                                  ­Damals gab es Frauen, die ausgebildet und kompetent waren und in
Schon früh wurde klar, dass sie sehr intelligent war und Talent für                Teams arbeiteten. Aber sie konnten nicht vor Ort arbeiten, und ihre
­Mathematik hatte. Doch in den 1950er-Jahren gab es, vor allem in                  Bezahlung richtete sich nach ihrer Präsenzzeit statt nach der Arbeit,
den Naturwissenschaften, kaum Studienplätze für Frauen, also ar­                   die sie erledigten, oder nach den Zielen, die sie erreichten.»
beitete sie im Mathematikbereich bei der Forschungsabteilung der

                                                                DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                             22
Freelance Programmers sollte die nächsten 30 Jahre ihres Lebens
bestimmen und war eine grosse Hilfe für talentierte, gebildete
­
­Frauen wie Shirley selbst. «Damals war die Welt schwarz und weiss.                «Das Vermächtnis, das wir hinter­
 Man durfte als Frau nicht auf einem Schiff oder an der Börse arbei­
                                                                                    lassen, ist nicht das, was wir
 ten, ­keinen Bus fahren und kein Flugzeug fliegen.» Ein bemerkens­
wertes Detail: Ohne die Genehmigung ihres Ehemannes konnte sie                      in unseren Testamenten verteilen,
nicht ­einmal ein Konto für ihr Unternehmen eröffnen.                               sondern die Art und Weise, wie
Ihr Rufname «Steve» ist eine Folge des Sexismus Mitte des 20. Jahr­                 wir unser Leben führen. Warum an
hunderts. Wie Shirley feststellte, bekam sie mehr Antworten von                     Geld festhalten, das man nicht
­potenziellen Kunden, wenn sie sich in Briefen Steve statt Stephanie
 Shirley nannte. Denn: «Die Kunden bemerkten, dass der Unterzeich­
                                                                                    braucht?»
 nende eine Sie war, als ich schon vor ihnen stand.»                                 Dame Stephanie Shirley

Doch nicht nur unter Frauen war Shirley eine Pionierin. In vielerlei
Hinsicht war sie auch sonst dem Rest der Wirtschaft und der Gesell­
schaft voraus und verwendete schon früh Managementtechniken,                 tung erfuhr. Und da war auch noch ihre Kindheit: «Im Jahr 1939 war
die erst Jahrzehnte später zum Mainstream werden sollten. Sie setz­          ich ein unbegleitetes Flüchtlingskind, und so viele Menschen haben
te sich für flexible Arbeitszeiten ein, die zum Leben der Beschäftig­        mir geholfen … Für mich gab es gar keine andere Wahl, als etwas zu­
ten passten, und führte ihr Unternehmen nach Stakeholder-Aspek­              rückzugeben, und genau das habe ich getan.»
ten. Freelance Programmers war vernetzt und hatte lange bevor
die meisten Menschen dieses Wort überhaupt kannten, ein eigenes              Mit dem Börsengang wurde Shirley sehr wohlhabend – mit einem
­Intra­net. Berühmt wurde Shirley dafür, dass sie nach dem Börsen­           Vermögen von 200 Millionen US-Dollar war sie eine Zeit lang die
 gang ­ihres Unternehmens an die London Stock Exchange in den                elft­reichste Frau Grossbritanniens. Ausserdem war dieser Schritt die
 1990er-Jahren einen grossen Anteil der Einnahmen an die Beleg­              Vorbereitung für ihren nächsten Akt: noch viel, viel mehr zurückzu­
 schaft verschenkte – «das kostete niemanden etwas ausser mich               geben und zur Vollzeit-Philanthropin zu werden.
 selbst». Ungefähr 70 Menschen ­wurden dadurch Millionäre.
                                                                             Der Wunsch, etwas zurückzugeben, wurzelt in ihr selbst und in ei­
                                                                             nem Drang, der Gesellschaft zu helfen. Bei mehreren Gelegenheiten
              WOHLTÄTIGKEIT ALS LEBENSSTIL                                   hat sie von der Schuld des Überlebens gesprochen, die sie verspürt,
                                                                             und über die Depression, mit der sie als Folge davon zu kämpfen hat­
Für diese Entscheidung gab es mehrere Gründe: «Erstens gehört es             te. Aus diesen Gründen kann sie mit zur Schau gestelltem Reichtum
zu meiner philanthropischen Philosophie, der Belegschaft etwas zu­           nichts anfangen (sie lebt bescheiden und beschäftigt Personal nur,
rückzugeben und somit etwas mit ihr zu teilen. Der Auslöser dafür            um selbst arbeiten zu können). Die Vorstellung, dass Geld ungenutzt
war die Rezession, die wir in den 1970er-Jahren durchmachten. Das            herumliegt, ist ihr ein Gräuel: «Das Vermächtnis, das wir hinterlas­
Unternehmen musste damals beinahe aufgeben. In dieser Zeit habe              sen, ist nicht das, was wir in unseren Testamenten verteilen, sondern
ich mich auf die Freiberufler verlassen, um den Anschein höchster            die Art und Weise, wie wir unser Leben führen. Warum an Geld fest­
Aktivität aufrechtzuerhalten, obwohl wir uns in Wirklichkeit nur noch        halten, das man nicht braucht? Wenn es keinen Bedarf dafür gibt,
mit der Nasenspitze über Wasser hielten.» Ausserdem war Shirley              macht man dies nur aus Gier … Wenn ich mich in der Welt nicht en­
der Meinung, dass ihre Belegschaft das Unternehmen ausmache –                gagiere, habe ich das Gefühl, dass ich nur Platz wegnehme. Ich habe
auch das eine Sichtweise, die erst viele Jahre später allgemeine Ach­        das Bedürfnis, mich dafür zu rechtfertigen, dass ich gerettet wurde.»

                                                            DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                        24
In der Praxis hat ihre heutige philanthropische Arbeit grosse Ähn­               I­nformationen darüber zu sammeln, wie sich etwas verwirklichen
lichkeit mit ihrer Zeit im Geschäftsleben: «Die zeitlichen Massstäbe              lässt. Wir wollen eine Art der Forschung finden, die nicht nur effek­
sind fast die gleichen – beim Grossteil meiner philanthropischen En­              tiv, sondern auch kosteneffektiv ist.» Gleichzeitig versucht Shirley,
gagements kommen die Ergebnisse erst nach Jahren, nicht nach                     ein stark fragmentiertes Feld zu vereinheitlichen. «In Grossbritannien
Monaten, denn mein Ziel ist es, strategisch vorzugehen.» Auch Phil­              gibt es etwa 600 verschiedene wohltätige Autismus-Organisatio­
anthropen müssen lernen, Energie, Zeit und Geld effektiv einzuset­               nen, manche ­davon sind gross, andere nur kleine Schulgruppen. Sie
zen. «Wenn Menschen anfangen zu spenden, rate ich ihnen immer,                   alle machen ihre eigene Arbeit und helfen auf ihre eigene Weise. Wir
das vor Ort zu tun, damit sie konkret sehen können, was sie bewirken.            versuchen intensiv, Ideen darüber zu sammeln, welche Aktivitäten
Spenden Sie für etwas, mit dem Sie sich auskennen, und fangen Sie                für das gesamte Land gesehen am sinnvollsten sind. Ich finde das
klein an, um zu sehen, wie es sich entwickelt. Nach ungefähr einem               sehr spannend.»
Jahr werden Sie wissen, ob Sie mehr für ein Anliegen spenden oder
lieber anders vorgehen sollten».                                                 Kann Shirley sich vorstellen, jemals mit der Arbeit aufzuhören? Nein.
                                                                                 Sie will nie in den Ruhestand treten und hat vor, so lange weiterzu­
                                                                                 machen, wie sie kann. Ihre eigene Work-Life-Balance sei nichts, was
                 DIE PHILANTHROPISCHE REISE                                      sie anderen zur Nachahmung empfehle, scherzt sie. Selbst heute, in
                                                                                 ihrem neunten Lebensjahrzehnt, arbeitet sie noch sechs Stunden am
Philanthropie ist ein anhaltender Lernprozess. «Die Leute sprechen               Tag und holt am Wochenende nach, was sie nicht geschafft hat.
von der philanthropischen Reise, und ich finde, dass ich immer noch
auf dieser Reise bin.» Hilfreich für Shirley war, dass sie selbst früh in        Shirley hat einen Antrieb, der «ans Obsessive grenzt». Ihre Ent­
ihrem Leben Wohltätigkeit erfahren hat, wie sie sagt: «Ich versuche              schlossenheit, ein Leben zu führen, «das es wert war, gerettet zu wer­
immer, zu helfen, ohne zu bevormunden. Als früherer Flüchtling                   den», hat dazu geführt, dass zahllose andere Menschen von den Kar­
weiss ich, wie sehr Menschen bevormunden können, wenn sie spen­                  rieren, Chancen, Beispielen und Unterstützungssystemen profitieren
den. Ich versuche immer, mit Grosszügigkeit und ausgestreckter                   konnten, die sie eröffnet und ermöglicht hat. Doch auch wenn sie
Hand zu spenden. Ich versuche, Spass daran zu haben, und ich ach­                sich dazu getrieben fühlt, ist ihre Wohltätigkeit für sie eine Leiden­
te darauf, dass der Austausch – ob es um Geld, Zeit oder Fähigkei­               schaft, und sie liebt, was sie tut: «Ich könnte mir keinen besseren Le­
ten geht – beidseitig ist. Das ist eine Investition in die Gesellschaft.»        bensstil vorstellen. Das ist etwas, das jede und jeder für sich finden
                                                                                 muss – der Weg, der wirklich zu ihr oder zu ihm passt.»
Den Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden derzeit die Betreuung und die
Forschung im Bereich Autismus. Dass Shirley sich hier engagiert,
hängt mit persönlichen Erfahrungen zusammen: Ihr einziges Kind,
ein Sohn, war schwer autistisch und starb im Jahr 1998 als Folge ei­                    «Wenn Menschen anfangen
nes von der Krankheit ausgelösten Anfalls. «Ich verbringe viel Zeit
                                                                                         zu spenden, rate ich ihnen immer,
­damit, bei der Autismus-Forschung auf dem Laufenden zu bleiben,
 mich mit Experten zu treffen und über mögliche neue Projekte zu                         das vor Ort zu tun, damit
 sprechen. Um ehrlich zu sein, konzentriere ich mich auf Projekte mit                    sie konkret sehen können, was
 kürzerem Zeithorizont, da meine Zeit abläuft. Ich bin nicht mehr in
 der Lage, grosse Projekte zu beginnen, denn möglicherweise bin ich                      sie bewirken.»
 gar nicht mehr so lange auf der Welt.»                                                  Dame Stephanie Shirley

Ihr aktuelles Projekt ist eine auf drei Jahre angelegte Denkfabrik für
Autismus. «Sie heisst ‹National Autism Project›, und ihr Ziel ist,

                                                               DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                            25
DER VITSOE-ETHOS:
BESSER LEBEN
MIT WENIGER, DAS
LÄNGER HÄLT

Viele Analysten würden das Geschäftsmodell von Vitsoe, einem Hersteller funktionaler Möbel,
vielleicht als unlogisch betrachten. Statt ständig zu versuchen, neue Kunden zu gewinnen
und die eigenen Produkte zu verbreiten, konzentriert sich das Unternehmen darauf, langfristige
Beziehungen zu bestehenden Kunden aufzubauen und sie aktiv zu ermuntern, weniger zu
kaufen. Doch durch den Aufbau eines nachhaltigen Geschäfts auf der Grundlage von Loyalität
und Vertrauen ist es Vitsoe gelungen, sich als eines der interessantesten und innovativsten
Unternehmen überhaupt zu etablieren.

AUTORIN: Emily Rookwood

Rechts: Dieter Rams
«Dass es uns bei Vitsoe wirklich
 gelungen ist, eine langfristige
 Beziehung zu den Kunden
 aufzubauen, werde ich dann wissen,
 wenn wir kein Geld mehr für
 Werbung ausgeben müssen.»
 Mark Adams

                                  DIE MENSCHLICHE NOTE

                                           28
Zwischen 50 und 60 Prozent aller Aufträge erhält Vitsoe jeweils von            die Zeit, die Arbeit und die Kosten rechtfertigen, die in diese Zusatz­
seinen bestehenden Kunden. Das ist ein bemerkenswert hoher An­                 leistungen investiert werden?
teil für ein Unternehmen und erst recht für eines, das auf eine sehr
begrenzte Produktpalette spezialisiert ist – Vitsoe bietet nur das
Universalregalsystem 606, das Stuhlprogramm 620 und das Tisch­                            AUSGERICHTET AUF LANGFRISTIGKEIT
programm 621 an. Darin zeigt sich einer der wichtigsten Faktoren für
den Erfolg des Unternehmens: die Kundenloyalität.                              «Alles, aber auch wirklich alles in unserem Unternehmen ist auf die
                                                                               Langfristigkeit ausgerichtet», erklärt Adams, der, seit er im Unter­
«Die Loyalität unserer Kunden ist absolut fundamental für unser Ge­            nehmen tätig ist, schon mit drei Generationen von Kunden zusam­
schäft», erklärt Mark Adams, Geschäftsführer von Vitsoe. «Manche               mengearbeitet hat. «Wenn wir eine Beziehung zu Ihnen, Ihren Kin­
unserer Kunden kommen buchstäblich zum fünften, zehnten oder                   dern und Ihren Enkeln aufbauen wollen – wie viel sollten wir jetzt in
fünfzehnten Mal zu uns. Sie empfehlen uns auch ihren Freunden und              den Aufbau der Beziehung zu Ihnen investieren? Mit Sicherheit
Familien, die dann ebenfalls Stammkunden werden. Dieser ‹Kunden­               mehr als nochmals 25 kostenlose Stifte, viel mehr. Es gab Zeiten, da
motor› treibt uns an, und deshalb ist die menschliche Note, die Art            sass ich am Tisch, um über die Kosten dieser Firmenpolitik zu disku­
und ­Weise, wie wir diese Beziehungen aufbauen, von entscheiden­               tieren. Schon eine Anzeige in einer einzigen angesehenen Publika­
der Bedeutung. Und sie ist der Grund dafür, dass wir so viel in all un­        tion kostet mehr als diese Stifte. In der Geschäftswelt ist es akzepta­
sere Kontaktpunkte mit den Kunden investieren.»                                bel, Millionen für Werbung auszugeben, und trotzdem sind viele
                                                                               Unternehmen bei solchen winzigen Transaktionskosten kleinlich.
In einem Konsumumfeld, in dem sich viele Unternehmen auf kurz­                 Dass es uns bei Vitsoe wirklich gelungen ist, eine langfristige Bezie­
fristige Beziehungen zur Gewinnmaximierung konzentrieren oder                  hung zu den Kunden aufzubauen, werde ich dann wissen, wenn wir
Produkte anbieten, die innerhalb weniger Jahre überholt und nicht              kein Geld mehr für Werbung ausgeben müssen – wenn sich das da­
mehr kompatibel mit späteren Versionen sind, sind Firmen, die ge­              durch erübrigt, dass wir uns um unsere Kunden kümmern und diese
nau das Gegenteil tun, eine Seltenheit. Vitsoe bietet einen kosten­            dann neue Kunden mit an Bord holen. Also gibt es fast keine Ober­
losen Planungsdienst ohne Verpflichtungen, und die Mitarbeitenden              grenze dafür, wie viel Zeit, Mühe und Geld wir in den Aufbau dieser
werden aktiv ermutigt, weniger zu verkaufen. Alle Vitsoe-Produkte              langfristigen Beziehungen investieren sollten, denn sie sind einfach
sind vollständig vorwärts- und rückwärtskompatibel zueinander, da­             sehr wertvoll für uns.»
mit jedes System unabhängig vom Kaufzeitpunkt später repariert
oder erweitert werden kann.                                                    Und die Investition scheint sich auszuzahlen. Adams schätzt, dass in
                                                                               Südkorea, einem der neusten Märkte von Vitsoe, 99 Prozent aller
Es sind die gut überlegten Details, die hier den grossen Unterschied           Verkäufe darauf basieren, dass Kunden Bilder und Geschichten mit
machen. Vitsoe bietet die Trägerstifte, die seine Regale zusammen­             ihren Freunden und Kontakten teilen. «Wir bezeichnen diese Kun­
halten und normalerweise 25 Cent pro Stück kosten würden, kosten­              den ganz natürlich als Botschafter», sagt er. Tatsächlich geht die
los jedem Kunden an, der das System besitzt – egal, ob er es direkt            Botschafterfunktion sogar noch viel weiter – alle Marketingbilder
bei Vitsoe oder auf eBay (wo die Preise für Vitsoe-Produkte über­              von Vitsoe sind Aufnahmen von echten Kunden in ihrem Zuhause.
raschenderweise oft höher sind als im Einzelhandel) gekauft hat oder           «Als ich mich näher mit dem Unternehmen beschäftigte, sagten
von Freunden oder der Familie geerbt hat. Wie aber kann Vitsoe                 sehr viele Kunden: ‹Wenn wir irgendwie helfen können oder wenn Sie

                                                             DIE MENSCHLICHE NOTE

                                                                          29
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