"Die Vorhänge sind gefallen" - Alexandria (UniSG)
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Supply-Chain-Finance Sinnbild für instabile Lieferketten: das im Suezkanal festsitzende Containerschiff Ever Given. © UPI / Alamy „Die Vorhänge sind gefallen“ Die Stabilität und Resilienz globaler Lieferketten wird seit Ausbruch der Corona-Pan- demie stark auf die Probe gestellt. Neben rein physischen Engpässen spielt die adä- quate Finanzierung des gesamten Supply-Chain-Netzwerks dabei eine zentrale Rolle. Wir haben mit Prof. Dr. Erik Hofmann, Direktor des Instituts für Supply-Chain-Ma- nagement der Universität St. Gallen, über die Hausforderungen für Unternehmen im Bereich Supply-Chain-Finance gesprochen und welche Entwicklungen sich im Markt abzeichnen. T reasuryLog: Herr Prof. Hofmann, Sie haben sich aber im weiteren Sinne auch Kreditversicherer und intensiv mit den Auswirkungen der COVID- Ratingagenturen. Zur äußersten Schale zählen staat- 19-Krise auf Lieferketten und Working-Capital liche Akteure wie z. B. Regulatoren, aber auch Natio- Bedarf international agierender Unternehmen ausein- nal- oder Entwicklungsbanken, die in der Krise viel andergesetzt. Was hat sich seit Beginn der Corona- stärker in den Vordergrund gerückt sind. Pandemie verändert? Prof. Hofmann: Die Vorhänge sind gefallen und im TreasuryLog: Was waren aus Ihrer Marktbeobach- Markt kam das Supply-Chain-Finance (SCF)-Öko- tung die interessantesten Erkenntnisse nach fast zwei system deutlich zum Vorschein. Das System besteht Jahren Pandemie? im Wesentlichen aus drei Gruppierungen. Sie kön- Prof. Hofmann: Im innersten Kreis haben wir zwei nen sich das wie ein „Schalenmodell“ vorstellen. Im unterschiedliche Handlungsweisen beobachtet. Ei- innersten Kreis – dem „Nukleus“ – befinden sich die nerseits haben zumeist finanzstarke Akteure die dro- Akteure der physischen Supply-Chain, also Lieferan- henden Gefahren in der Lieferkette erkannt und bei- ten und ihre Abnehmer. Im zweiten Kreis befinden spielsweise ihre Lieferanten früher bezahlt oder ih- sich die SCF-Anbieter, wie Banken und Fintechs, ren Kunden freiwillig einen Zahlungsaufschub ge- 4 TreasuryLog 4/2021
Supply-Chain-Finance währt. Andererseits haben Akteure aufgrund von Li- Schafe gibt es aber zumeist auch, wie u. a. der Green- quiditätsproblemen Zahlungsausgänge verzögert sill Skandal unabhängig von COVID-19 gezeigt hat. und versucht, Kundenzahlungen zu beschleunigen. TreasuryLog: Greensill hat sicherlich das Bewusstsein TreasuryLog: Also entsprechend der jeweiligen Mög- für mehr Transparenz gesteigert. lichkeiten. Prof. Hofmann: Ich habe schon in der Vergangen- Prof. Hofmann: Genau – je nach Liquiditätsaus- heit die Auffassung vertreten, dass Anbieter, anstatt stattung, Innenfinanzierungskraft, (Re-)Finanzie- auf staatliche Regulierung zu warten, den ersten rungsmöglichkeiten. Im weiteren Sinn waren die Schritt machen sollten: gemeinsam eine Art „Code Handlungsweisen auch abhängig von der jeweiligen of Conduct“ entwickeln und sich diesem freiwillig Bonität. unterstellen. Bei gesetzlichen Regeln besteht die Ge- fahr, dass diese über das Ziel hinausschießen und TreasuryLog: Wie haben Supply-Chain-Finance An- wertvolle Instrumente unattraktiv machen. bieter reagiert? Prof. Hofmann: SCF-Anbieter, der zweite Kreis im Schalenmodell, haben eine Art Kommunikationsof- fensive betrieben. Sie waren sehr bemüht, Finanzie- rungslösungen für die Lieferketten anzubieten und auch aufrecht zu erhalten. Banken und Fintechs sind darüber näher zusammengerückt. Sie haben Kooperationen intensiviert, um mehr Finanzie- rungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen zu kön- nen. Auch Technologien und Innovationen, die es bereits davor gab, wurden verstärkt genutzt, wie bei- spielsweise E-Invoicing. TreasuryLog: Und im äußersten Kreis, die staatlichen Akteure? Uns hat überrascht, dass die staatlichen Akteure so stark in Erscheinung getreten sind und Finanzie- rungsmittel für die Supply Chain bereitstellen woll- ten. Sie haben erkannt, dass instabile Lieferketten für einzelne Staaten, aber auch für den internationalen Handel eine große Gefahr darstellen. Sie haben aber auch die „dunklen“ Seiten von Supply-Chain-Fi- nance erkannt. TreasuryLog: Was meinen Sie konkret mit den „dunklen Seiten“? Prof. Dr. Erik Hofmann ist Leiter des Instituts für Supply- Prof. Hofmann: Wenn dominante Abnehmer bei- Chain-Management an der Universität St. Gallen spielsweise ihre starke Marktstellung ausnutzen, um Lieferanten bewusst später zu bezahlen – dann ist das unethisches Verhalten. Es ist auch erneut die TreasuryLog: In welche Richtung gehen die Entwick- Frage in den Vordergrund gerückt, wie SCF-Lösun- lungen bei den Rechnungslegungsstandards? Oftmals gen – wie Reverse Factoring – im Jahresabschluss ist von einer verpflichtenden Angabe im Anhang des darzustellen sind und wie generell mehr Transparenz Jahresabschlusses die Rede. erzielt werden kann. Prof. Hofmann: Genau, es geht im Wesentlichen um die Berichterstattung darüber, ob man ein SCF-Inst- TreasuryLog: Stichwort „mehr Transparenz“. Wird rument eines gewissen Typs einsetzt und wie hoch der Markt dieses Problem selbst lösen oder gehen Sie das darüber abgewickelte Volumen ist. Diese Anfor- von strengerer Regulierung aus? Australien zeigt sich derung ist aus meiner Sicht nicht überdramatisch beispielsweise bei SCF sehr ablehnend. und damit hätte man schon viele Kritikpunkte – ins- Prof. Hofmann: Das ist richtig. In Australien setzt besondere vonseiten der Ratingagenturen hinsicht- sich die Ombudsfrau1 dafür ein, dass kleinere Liefe- lich einer vergleichbareren Risikobeurteilung – auf- ranten nicht von den großen, mächtigen Kunden aus- gegriffen. genutzt werden. In den Niederlanden gibt es aber auch Initiativen von der Abnehmerseite: die Zuliefe- TreasuryLog: Bei dem Instrument Reverse Factoring rer nicht später, sondern freiwillig früher zu bezahlen. handelt es sich an sich um keine Neuheit, jedoch war Je größer ein Ökosystem wird, desto mehr schwarze es in der Vergangenheit oftmals nur sehr großen Un- www.slg.co.at 5
Supply-Chain-Finance eines „klassischen“ Factorings oder auch den Verkauf von (Einzel-)Forderungen über offene Marktplätze. Staatliche Akteure TreasuryLog: Steigt nicht auch die „Kollisionsgefahr“ (Regulatoren, National-/Entwicklungsbanken) zwischen Reverse Factoring und Factoring. Prof. Hofmann: Es entsteht tatsächlich mit der Ver- breitung dieser unterschiedlichen Ansätze zuneh- mend eine Situation, in der zwar Abnehmer eine Re- Ratingagenturen verse-Factoring-Lösung anbieten, sich viele Liefe- Warenkreditversicherungen ranten daran aber nicht beteiligen, weil sie eine Viel- SCF-Anbieter (Fintechs, Banken) zahl an Abnehmern haben und demnach bei vielen Programmen und mehreren Systemen mitmachen müssten. Aus Sicht der Lieferanten könnte es sein, dass bei einem Kunden mit einem kleineren Volu- men der Handlings-Aufwand deutlich höher wäre als der positive Finanzierungseffekt. Als Lieferant lohnt sich die Teilnahme dann nur, wenn sie der prä- Lieferanten ferierte Zulieferer werden und damit aus strategi- Abnehmer schen Gründen an dem Programm teilnehmen. Die- se Nachteile werden von Anbietern aber nicht pro- aktiv artikuliert, weshalb ich hier auch Kritik üben möchte. Die oft propagierte Win-Win-Situation kann nicht in 100 Prozent der Fälle erreicht werden. Das sollte von Anbietern auch so ausgesprochen werden. Stattdessen kann es zur Erzielung positiver Working-Capital Effekte aus Lieferantenperspektive Die Akteure im Abb.1: Klassifizierung: Supply-Chain-Finance Ökosystem. Vertraulich-Extern sinnvoller sein, ein eigenes Forderungsverkaufspro- 1 gramm in der passenden Form aufzusetzen und selbst zu steuern. ternehmen vorbehalten. Welche Möglichkeiten sehen TreasuryLog: Reverse-Factoring wird oft als lieferket- Sie dabei für einen „klassischen“ Mittelständler? tenstärkend bezeichnet. Jedoch finanzieren Banken die Prof. Hofmann: Der Markt hat sich in der jüngeren Programme über nicht kommittierte Kreditlinien, was Vergangenheit bereits deutlich entwickelt, sodass manches Unternehmen verunsichern mag. Gibt es hier insbesondere Reverse-Factoring-Programme auch einen Widerspruch in Hinblick auf die Finanzierungs- „gesunden“ mittelständischen Unternehmen zur sicherheit, weil Banken ihre Linien „jederzeit“ zurück- Verfügung stehen. Diese Veränderung liegt vor allem ziehen könnten? an den Fintechs, die mithilfe ihrer technologisch Prof. Hofmann: Rein theoretisch ja – praktisch aber stark fortgeschrittenen Plattformen Programme nein, weil Banken in der aktuellen Situation kaum schon ab einem niedrigeren Volumen anbieten und Alternativen haben und ihre finanziellen Mittel ein- auch für Finanzierungspartner attraktiv machen. setzen wollen. Zudem zeichnet Reverse Factoring Der aufwendigste Schritt besteht darin, die Lieferan- ein äußerst geringes Risikoprofil aus, da es um die ten „onzuboarden“. Das war in der Vergangenheit Zwischenfinanzierung bereits bestätigter Rechnun- meistens der Showstopper, weil bei Mittelständlern gen geht. Das noch verbleibende (geringe) Risiko das vorzufinanzierende Volumen pro Lieferant ins- kann zudem über eine Warenkreditversicherung ab- gesamt tiefer ist. gesichert werden. Gespräche mit Akteuren im Zuge der COVID-19-Krise haben mir auch gezeigt, dass TreasuryLog: Die Größenproblematik können aber Banken keine Rückzieher angedacht haben – zumal auch Fintechs nicht lösen. sie selbst wiederum von staatlichen Akteuren unter- Prof. Hofmann: Durch die vollständige Digitalisie- stützt wurden. Wir sehen auch mehr und mehr Mul- rung und die zunehmende Nutzung von Plug-and- ti-Funder-Modelle, wo mehrere Finanzierer an eine Play-Ansätzen ist die Schwelle zunehmend gesunken. Plattform angeschlossen werden und die Abhängig- Der Mittelstand sollte sich generell Gedanken darüber keit von einer einzelnen Bank erheblich sinkt. machen, was der geeignetste erste Schritt für den Ein- stieg in die Supply-Chain-Finance Welt sein könnte. TreasuryLog: Welche Produkttrends, welche techno Ob für Lieferanten ein Programm aufgesetzt werden logischen Entwicklungen zeichnen sich am Markt ab? soll oder ob es eher in Richtung eigener Forderungen Prof. Hofmann: Ein neuer Trend ist das sogenannte geht – sei es über die Teilnahme an einem Reverse Purchase Order Financing. Das ermöglicht den Lie- Factoring-Programm eines Kunden, die Umsetzung feranten eine in der Regel günstigere Vorfinanzie- 6 TreasuryLog 4/2021
Supply-Chain-Finance rung nicht erst bei Warenauslieferung – wie beim TreasuryLog: Wie sieht es mit der Verknüpfung von Reverse Factoring - sondern bereits bei Bestellung Supply-Chain-Finance und Nachhaltigkeit aus? des Abnehmers. Damit zusammenhängend gibt es Prof. Hofmann: Die sogenannten Sustainable-Sup- einen Trend namens Deep Tier Financing. Da Fi- plier-Finance-Programme sind die vierte große Ent- nanzierungsprobleme in der Lieferkette oft nicht in wicklung. Dabei werden Lieferanten, die gewisse der ersten Stufe (Tier 1) sichtbar sind, sondern in Nachhaltigkeitsbedingungen erfüllen, auch günstige- den Stufen davor auftreten, suchen Akteure nach re Finanzierungsmöglichkeiten gewährt. Die in der Ansätzen, um Tier 2- und Tier 3-Lieferanten mit Praxis größte Herausforderung ist die Festlegung ausreichend Liquidität zu erreichen. Hier spielt auch und Überwachung der Nachhaltigkeitskriterien. die Blockchain eine Rolle: Rechnungen werden digi- Vielfach wird dafür ein Mischansatz aus offiziellen talisiert bzw. tokenisiert, um daran ein Zahlungsver- ESG-Ratings und unternehmensintern festgelegten sprechen zu koppeln, dass auch Sublieferanten recht- Kennzahlen umgesetzt. Wichtig ist, dass alle invol- zeitig gezahlt werden. Eine weitere Entwicklung be- vierten Bereiche im Unternehmen gut zusammenar- trifft die Finanzierung der Vorratsbestände, also In- beiten und hinter dem Programm stehen. ventory Finance. Hier kommen Akteure wie Logis- tikdienstleister ins Spiel. Denn um eine Bestandsfinanzierung off-balance umsetzen zu kön- nen, muss ein Akteur bereit sein, die Bestände auf Wenn Sie an Details zu den angesprochenen Studi- seine eigene Bilanz zu nehmen und auch physisch en oder näheren Informationen für die praktische vorzuhalten. Man bewegt sich dabei in ausgewählten Unterstützung Ihrer Vorhaben im Bereich Supply- Fällen weg von einem „Just-In-Time“-Gedanken hin Chain-Finance & Working-Capital-Management inte- zu einem „Just-In-Case“-Handeln und damit zu ressiert sind, stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. mehr Resilienz. 1 Anmerkung der Redaktion: Kate Carnell (u. a. im Positionspapier Supply Chain Finance Review, Februar 2020) Inserat www.slg.co.at 7
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