Die WTO: Wohin geht der Weg?
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Manuskript des Beitrages: Die WTO: Wohin geht der Weg? von Prof. Dr. Heinz Hauser, Universität St. Gallen Bitte veröffentlichte Fassung zitieren: Aussenwirtschaft, Bd. 56 (2001), Heft I, S. 7-39 Anschrift des Autors: Prof. Dr. Heinz Hauser Tel.: ++ 41 – 71 – 224 23 50 SIAW-HSG Fax: ++ 41 – 71 – 224 22 98 Dufourstrasse 48 E-Mail: heinz.hauser@unisg.ch CH-9000 St. Gallen http://www.siaw.unisg.ch
Abstract / Zusammenfassung: Derzeit sind zwei gegenläufige Entwicklungstendenzen in der WTO-Ordnung erkennbar. Einerseits sprechen neue sektorale Liberalisierungsschritte nach Abschluss der Uruguay- Runde (z.B. Finanzdienstleistungen, Telekommunikation) sowie die rege Inanspruchnahme des WTO-Streitschlichtungssystems für den Erfolg der multilateralen Handelsordnung. Andererseits hat die WTO seit Seattle spürbar an Dynamik verloren. Die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten hinsichtlich neuer Verhandlungsschwerpunkte sowie die massiven Anti- Globalisierungsproteste haben zu einer Immobilisierung der WTO beigetragen. Besondere Gefahren bestehen heute in der ungerechtfertigten Fundamentalkritik an der WTO, in der Überlastung der Streitschlichtung durch unerledigte transatlantische Handelskonflikte sowie in der unzureichenden Integration von Entwicklungsländern. Diese Risiken dürfen jedoch nicht über grosse Liberalisierungspotentiale und entsprechende Möglichkeiten für zusätzliche Verhandlungen hinwegtäuschen: Am Beispiel einer Handelsinitiative zugunsten der Entwicklungsländer, die mit einer E-Commerce-Initiative verbunden werden könnte, lässt sich zeigen, dass das Nichtdiskriminierungsprinzip in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen wesentlich gestärkt werden könnte. Sowohl Industrie- als auch Entwicklungsländer würden hiervon profitieren. Eine Analyse unterschiedlicher WTO- Verhandlungsstrategien zeigt zudem, dass ein solcher Liberalisierungsansatz bereits im Rahmen einer multilateralen Verhandlungsrunde innerhalb des bestehenden Vertragswerks verwirklicht werden könnte. Eine grosse Runde der „high politics“ wie die Uruguay-Runde wäre hierfür weder notwendig, noch dürfte man von einer grossen Runde unter den gegebenen Umständen ökonomisch wünschenswerte Ergebnisse erwarten.
Die WTO: Wohin geht der Weg? Prof. Dr. Heinz Hauser, Universität St. Gallen∗ Die WTO wurde auf den 1. Januar 1995 in Kraft gesetzt. Betrachtet man die letzten sechs Jahre im Überblick, so darf man sicher sagen, dass die bisherige Entwicklung erfolgreich war. Dies zeigt sich nicht nur in der Erweiterung um neue Mitgliedstaaten, sondern auch in weiteren sektorspezifischen Liberalisierungsschritten der vergangenen Jahre – etwa bei Finanzdienstleistungen, Telekommunikationsdiensten oder Informationstechnologiegütern. Auch die rege Inanspruchnahme des verbesserten Streitschlichtungssystem spricht für das Funktionieren des WTO-Systems. Trotz dieser unzweifelhaften Fortschritte sind Risiken für die weitere Entwicklung nicht zu übersehen. Seit der gescheiterten Ministerkonferenz von Seattle Ende 1999 hat die WTO sichtbar an Dynamik verloren. Die geforderte neue Welthandelsrunde scheiterte bislang am mangelnden Konsens der Mitglieder über die Schwerpunkte neuer Verhandlungen und am Widerstand der Strasse gegen wirtschaftspolitische Initiativen, welche der Globalisierung weiteren Vorschub geben. Gerade diese Politisierung der WTO hat in jüngster Zeit wesentlich zu ihrer Immobilisierung beigetragen. Zudem sind zwischen den USA und der EU grosse Streitfälle (Bananen- Hormon- und FSC-Fall als die gewichtigsten) noch unerledigt, und deren weitere Entwicklung enthält ein grosses Konfliktpotenzial für die WTO-Ordnung. Daneben sind derzeit noch viele Fragen bezüglich der Integration der Entwicklungsländer in die WTO offen. Angesichts der gegenläufigen Entwicklungen ist die Frage berechtigt, wie es mit der WTO weitergehen wird. Führen die aufgezeigten Risiken zu einer Stagnation, welche die Gefahr einer schleichenden Erosion des bisher Erreichten in sich trägt – vergleichbar zur Entwicklung des GATT in den siebziger und vor allem achtziger Jahren – oder reicht das Potenzial für neue Liberalisierungsgewinne aus, um den Verhandlungen die erforderliche innenpolitische Unterstützung zu geben? Aus meiner Sicht ist eine sichere Antwort auf diese Frage nicht möglich. Der Beitrag soll vielmehr die wichtigsten Einflussfaktoren aufzeigen, die allenfalls eine vorläufige Antwort gestatten. Damit verbunden ist die Frage, welches für die nächste Zukunft die richtige Verhandlungsstrategie sein wird – eine neue multilaterale Verhandlungsrunde oder die pragmatische Weiterentwicklung ausgewählter Themen. Ich werde zum Schluss einen Mittelweg vorschlagen. Die Mitgliedsländer sollten versuchen, analog zum Abkommen über Informationstechnologiegüter koordinierte Liberalisierungsschritte zu wichtigen Themen zu vereinbaren. Als solche Themen stehen aus heutiger Sicht die Marktöffnung für Exporte aus Entwicklungsländern sowie der Abbau von Handelsbarrieren, die einer Nutzung des Potenzials aus elektronischem Handel im Wege stehen, im Vordergrund. Die Argumentation wird dabei in drei Schritten vorgetragen: Zuerst werden in Abschnitt 1 die Risiken für die weitere WTO-Entwicklung genauer analysiert. Anschliessend weist Abschnitt 2 auf das grosse Potenzial für weitere Liberalisierungsschritte hin, wobei neben den allgemeinen Erwägungen die genannten Sektorinitiativen genauer aufgezeigt werden. Schliesslich soll in Abschnitt 3 auf die Frage der geeigneten Verhandlungsstrategie eingetreten werden. ∗ Ich danke meinem Assistenten Thomas A. Zimmermann für die wertvolle Mitarbeit bei der Ausarbeitung dieser Standortbestimmung zur WTO. 1
1. Risiken für die Weiterentwicklung der WTO Es soll an dieser Stelle keine umfassende Liste aller möglichen Risiken für die weitere Entwicklung der WTO aufgestellt werden. Ich möchte mich vielmehr auf drei zentrale Themen beschränken, welche geeignet sind, die Glaubwürdigkeit des Systems in Frage zu stellen: falsche Fundamentalkritik an der WTO-Ordnung, transatlantische Handelskonflikte und ungenügende Partizipation der Entwicklungsländer. 1.1 Nicht gerechtfertigte Fundamentalkritik Seit einiger Zeit wird die WTO-Ordnung von Kritikern der wirtschaftlichen Globalisierung grundsätzlich in Frage gestellt. Sie wenden sich nicht nur gegen weitere Schritte der Marktöffnung, sondern möchten die WTO durch den Einbezug neuer Themen oder die Einführung erweiterter Entscheidungsregeln grundsätzlich reformieren. Gemäss diesen Stimmen führt die bisherige WTO-Strategie in die falsche Richtung. Hörbar war die Kritik schon seit längerer Zeit, die Ereignisse um die gescheiterte Ministerkonferenz von Seattle haben diesen Strömungen aber grosse Öffentlichkeit verschafft. Auch wenn die Forderung nach einer fundamentalen Reform nur von einer kleinen Minderheit getragen wird – ich gehe davon aus, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht bereit wäre, auf die Vorteile des Welthandels zu verzichten – so sind die Auseinandersetzungen doch geeignet, bei einer breiteren Öffentlichkeit Zweifel an der Legitimität der WTO-Ordnung zu wecken. Auf die wichtigsten Themen soll im Folgenden deshalb ausführlicher eingetreten werden. WTO und Umwelt1 Eine erste Welle von Fundamentalkritik kam aus engagierten Umweltkreisen. Die WTO sei einseitig auf die Förderung von internationalem Handel ausgerichtet und verschärfe damit die Umweltproblematik. Das WTO-Vertragswerk müsse entsprechend um gleichwertige Umweltbestimmungen ergänzt werden, bevor eine weitere Liberalisierung ins Auge gefasst werden könne2. Das Umweltanliegen ist zweifelsohne berechtigt. Trotzdem ist bei genauerer Betrachtung eine wesentlich differenziertere Antwort erforderlich. Zur Beantwortung der Frage, ob die WTO einen sinnvollen Ausgleich zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen zulässt, sind folgende Aspekte auseinanderzuhalten3: Verhindert die WTO die Verfolgung eigener nationaler Umweltziele? Welche Möglichkeiten bestehen, die Umweltpolitik anderer Staaten über Handelsmassnahmen zu beeinflussen? Welches Spannungsverhältnis besteht zwischen globalen Umweltabkommen und der internationalen Welthandelsordnung? Die Fragen sollen in dieser Reihenfolge kurz angesprochen werden. Nationale Umweltpolitik als Antwort auf lokale Umweltprobleme wird durch die WTO nur gering eingeschränkt. So sind die Mitgliedstaaten WTO-rechtlich frei, die Produktionsprozesse in ihrem Land nach eigenem Gutdünken zu regulieren. Oft wird dagegen eingewendet, dass der internationale Handel beim Umweltschutz einen unerwünschten 1 Die Überlegungen dieses Abschnittes finden sich ähnlich in HAUSER und ZIEGLER (2000) sowie HAUSER, (2000c). 2 Vgl. zum Beispiel WWF/CIEL/CNI/OXFAM (1998), WWF (1999) und GREENPEACE/CIEL (1999). 3 Vgl. dazu auch HAUSER und ZIEGLER (2000) sowie HAUSER (2000c). 2
Wettbewerb nach unten auslöse. Für ein solches „race to the bottom“ fehlen allerdings Belege4. Die Qualität der Umweltpolitik wird vielmehr durch nationale Präferenzen und durch die Offenheit des politischen Prozesses gegenüber den Anliegen der Bevölkerung geprägt. Betreffen die Umweltregulierungen Produkteigenschaften oder mit Produkteigenschaften verbundene Merkmale der Produktion, sind WTO-rechtlich die nicht sehr einschränkenden Vorschriften des Abkommens über Technische Handelshemmnisse zu beachten. Danach dürfen (Umwelt-) Regulierungen ausländische Produkte nicht schlechter behandeln als Produkte einheimischer Herkunft (formale Gleichbehandlung). Für den schwierigeren Fall von formal ursprungsneutralen Vorschriften, die je nach wirtschaftlichen Gegebenheiten diskriminierend wirken können, gilt die Vorgabe, dass technische Vorschriften den Handel nicht stärker einschränken dürfen als zur Erreichung eines legitimen Zieles erforderlich ist5. Als ein solches Ziel ist der Umweltschutz explizit erwähnt. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich frei, das Schutzniveau für die inländische Umwelt selbst festzulegen, bei der Wahl der Instrumente ist jedoch eine Abwägung zwischen Risikominderung und Handelswirkung vorzunehmen. Eine starke Einschränkung der nationalen umweltpolitischen Handlungsfreiheit ist daher nicht zu erkennen. Ein deutlich anderes Bild zeigt sich, wenn Handelsrestriktionen einseitig eingesetzt werden sollen, um andere Länder zu veranlassen, bestimmte Umweltschutzregulierungen zu beachten. Beispiele sind die berühmten Thunfisch-Delphinfälle6 oder der spätere Garnelen- Meeresschildkrötenfall7. Grundsätzlich gilt: Unabhängig davon, ob die betreffenden Produktionsvorgaben (in diesen Fällen Fangmethoden) eingehalten worden sind oder nicht, gelten die Produkte bei der Einfuhr als gleichartig und dürfen deshalb nicht unterschiedlich behandelt werden8. Sieht man darin lediglich eine „Dominanz“ der Wirtschaft über die Umwelt, trägt man allerdings der Argumentation der WTO-Streitschlichtungsorgane nur unzureichend Rechnung. Es handelt sich eben nicht nur um einen Konflikt zwischen Handels- und Umweltinteressen, sondern ebenfalls um eine Abwägung zwischen einseitig vorgegebenen und gemeinsam ausgehandelten Umweltstandards. In den oben erwähnten Fällen wurden die Massnahmen der USA als unvereinbar mit den GATT- bzw. WTO- Bestimmungen bezeichnet, weil es die Vereinigten Staaten unterlassen hatten, einvernehmliche Vertragslösungen mit den betroffenen Exportländern zu suchen. Aus Umweltschutzkreisen wird – aus deren Sicht durchaus zu Recht – bemängelt, dass die Spruchpraxis der WTO-Streitschlichtungsorgane den Einsatz von einseitigen Handelssanktionen als Druckmittel zur Lösung internationaler Umweltanliegen stark erschwere. Entsprechend wird gefordert, Charakteristika des Produktionsprozesses in die 4 Vgl. dazu die Beiträge in BHAGWATI und HUDEC (1996), insbesondere LEVINSON (1996), S. 450. 5 Als Grundlage für die Risikoabwägung wird dabei auf die verfügbare wissenschaftliche und technische Information, auf damit verbundene Prozesstechnologien sowie auf den beabsichtigten Gebrauch der Produkte verwiesen. 6 Panelbericht zu United States - Restrictions on Imports of Tuna, zirkuliert am 3 September 1991, nicht angenommen, BISD 39S/155 („Tuna I“); Panelbericht zu United States - Restrictions on Imports of Tuna, zirkuliert am 16 June 1994, nicht angenommen, DS29/R („Tuna II“). 7 vgl. WT/DS58 United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products; vgl. zu diesem Fall auch APPLETON (1999). 8 Gleichwohl sieht APPLETON (1999, S. 491ff) in der jüngsten Spruchpraxis des Appellate Body Anzeichen für eine schleichende Abkehr von diesem Grundsatz. Zur Problematik der Abgrenzung von gleichartigen Produkten (like products) in der Spruchpraxis der WTO-Streitschlichtungsorgane vgl. beispielsweise MATTOO und SUBRAMANIAN (1998) sowie die dort aufgeführten Panelberichte. 3
Abgrenzung von „like products“ einzubeziehen oder den Schutz globaler Umweltgüter in den Katalog der Ausnahmetatbestände nach Artikel XX GATT aufzunehmen9. Umweltschutzpolitisch wären dies durchaus gangbare Wege. Sie wären aber mit einem hohen Risiko protektionistischen Missbrauchs verbunden. Ebenso müsste man sich der Gefahr bewusst sein, dass man mit einem solchen Vorgehen die Anreize zu internationalen Umweltverhandlungen stark reduzierte – die grossen Spieler könnten den einfacheren Weg unilateraler Handelsmassnahmen gehen. Das Verhältnis des WTO-Vertragswerks zu internationalen Umweltverträgen ist bislang nicht ausreichend geklärt worden. Dies könnte insbesondere dann zu Spannungen führen, wenn Handelssanktionen gegen Länder ergriffen werden sollten, die selbst nicht Mitglied des Umweltvertrages sind. Eine solche Kompetenz sieht beispielsweise das Montrealer Protokoll zum Schutze der Ozonschicht vor. Bislang ist es allerdings noch zu keinen Klagen gekommen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Mitglieder von breit abgestützten Umweltverträgen notfalls eine Ausnahmeklausel (waiver) in der WTO beschliessen könnten. Trotzdem lässt sich fragen, ob man nicht den bestehenden Unsicherheitsbereich beseitigen sollte, indem man unter Artikel XX GATT die Verpflichtungen aus internationalen Umweltabkommen analog zu solchen aus Rohstoffabkommen explizit als Ausnahmetatbestand aufnimmt. Die vorstehenden Überlegungen sollten deutlich gemacht haben, dass die WTO ihre Mitglieder kaum daran hindert, einen sinnvollen Ausgleich zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen zu finden. Das eigentliche Problem ist nicht der (vermeintliche) Konflikt zwischen WTO und Umwelt, sondern vielmehr die Tatsache, dass die globalen Umweltprobleme im Rahmen einer sehr dezentralisierten Entscheidungsstruktur gelöst werden müssen. Umweltschutz ist ein Kollektivgut, das ohne eine zentrale Durchsetzungsinstanz schwerlich in ausreichender Menge bereitgestellt wird. Die oben angesprochene Abwägung zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen wird auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten verzerrt. Einerseits profitiert man von den Umweltbemühungen der anderen Länder auch dann, wenn man selbst keinen Beitrag leistet, anderseits kann ein nicht unbeträchtlicher Anteil der eigenen Umweltbemühungen versickern, da die eigenen Anstrengungen andere Länder dazu veranlassen können, in ihren Bemühungen nachzulassen10. Die Erhaltung der natürlichen Umwelt ist ein zentrales politisches Anliegen. Daraus aber eine Fundamentalkritik an der WTO ableiten zu wollen, ist sowohl inhaltlich falsch wie auch umweltpolitisch unerwünscht. Es lenkt von der Tatsache ab, dass der Widerstand gegen Umweltmassnahmen meistens innenpolitischen Interessengegensätzen entspringt und nur sehr wenig mit der WTO zu tun hat. Schliesslich ist auch zu bedenken, dass sich Handelsminister im Rahmen der WTO kaum auf internationale Beschränkungen einigen werden, für die Umweltminister in spezialisierten internationalen Umweltgremien keinen Konsens finden. Das Hauptaugenmerk sollte vielmehr darauf gerichtet werden, die vorhandenen Spielräume der WTO-Ordnung für nationale Umweltmassnahmen und für internationale Abkommen intelligent zu nutzen. 9 Einen entsprechenden Vorschlag hat beispielsweise die EG eingebracht; vgl. WTO-Dokument WT/CTE/1 vom 21. November 1996 (Report [1996] of the Committee on Trade and Environment), Ziffer 17. 10 Zu diesem sogenannten leakage vgl. beispielsweise HOEL (2000) mit weiteren Nachweisen. 4
Soziale Konsequenzen der Globalisierung Die Fundamentalkritik hat sich in letzter Zeit eher von Umweltfragen weg bewegt und auf allgemeine soziale Aspekte des Welthandels konzentriert. Sie gilt auch nicht mehr so sehr der WTO als Institution, sondern vielmehr der Globalisierung als Prozess. Auch wenn diese Kritik als Strassenprotest nur von einer kleinen Minderheit vorgetragen wird, ist zu sehen, dass gerade in westlichen Industriestaaten viele Menschen die Ansicht teilen, dass die Globalisierung sozial unerwünschte Auswirkungen habe und nach entsprechenden Korrekturen der Institutionen rufe. Die mehr oder weniger bewusst vorgenommene Gleichstellung der WTO mit sozial unerwünschten Konsequenzen der Globalisierung ist ein ernsthafter politischer Hemmschuh für die weitere Entwicklung der Welthandelsordnung. Die Kritik ist inhaltlich allerdings diffus und bezieht sich auf unterschiedlichste Entwicklungen und Problemlagen: Für die einen stehen der aus der Globalisierung resultierende Strukturanpassungsdruck und die gestiegene Arbeitsplatzunsicherheit im Vordergrund. Andere kritisieren die zunehmende Lohnschere und den Lohndruck für unqualifizierte Arbeitskräfte in den westlichen Industriestaaten (Stichwort „working poor“). Häufig wird das Thema unter einer Entwicklungsperspektive vorgetragen, mit dem Vorwurf, die ärmeren Länder partizipierten nur sehr unvollkommen an den Wohlfahrtsgewinnen des weltwirtschaftlichen Wachstums, stärker noch, die Globalisierung schade den Entwicklungsländern. Die Forderung, Sozialstandards in die Welthandelsregeln aufzunehmen, entspringt sowohl dem Motiv, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu bekämpfen, als auch der Furcht vor „unfairer“ Konkurrenz aus Ländern mit schlechten Arbeitsbedingungen. Schliesslich ist der Vorwurf gegen die Globalisierung teilweise auch weniger inhaltlich begründet, sondern äussert sich mehr als allgemeiner Protest gegen tatsächliche oder vermeintliche „Machtkartelle“ multinationaler Unternehmen und internationaler Wirtschaftsorganisationen. Da die Problematik Welthandel und Entwicklungsländer im nächsten Abschnitt gesondert aufgegriffen wird, soll hier nur auf die Kritik aus Sicht der Arbeitnehmer in den Industriestaaten eingetreten werden. Dabei ist es zweckmässig, drei Aspekte auseinander zu halten, die in der Diskussion häufig vermischt werden: Strukturanpassung und Arbeitsplatzsicherheit, Lohnschere als Folge der Globalisierung sowie Lohndumping als „unfairer“ Wettbewerbsvorteil. Der Strukturwandel hat Konsequenzen für die Arbeitnehmer, die man kapitaltheoretisch gut erklären kann. Arbeitnehmer bauen in der Ausbildung und während ihres Erwerbstätigkeit berufs- und teilweise firmenspezifisches Wissen auf, das in anderen Tätigkeiten nicht von gleichem Nutzen ist. Der wirtschaftliche Wert des individuellen Humankapitals ist entsprechend an eine bestimmte Tätigkeit gebunden. Strukturbrüche können nun dazu führen, dass sich das berufs- und firmenspezifische Wissen in den durch den technologischen Fortschritt oder durch neue Konkurrenz gefährdeten Branchen und Firmen kurzfristig und massiv entwertet. Zum bisherigen Lohn ist eine weitere Beschäftigung nicht mehr möglich, bzw. eine weitere Beschäftigung im angestammten Bereich setzte grosse Lohneinbussen voraus. Wie bei Sachkapital führt Strukturwandel zu ausserordentlichen Abschreibungen auch im Humankapital und wie dort sind Neuinvestitionen (Weiterbildung) erforderlich. An diese Beobachtung knüpfen zwei Fragen an: Erstens, inwieweit sind die Globalisierung und die WTO als marktorientiertes Regelwerk für diesen Strukturwandel verantwortlich und welches sind, zweitens, die angemessenen Antworten auf die hier angesprochene wirtschaftspolitische Herausforderung. In beiden Fragen kann ich die der WTO 5
zugeschriebenen negativen Wirkungen nicht in der häufig vorgetragenen Schärfe sehen. Zuerst zur Ursache des Strukturwandels: Die eigentlich treibende Kraft ist weniger die Globalisierung und noch weniger die WTO als internationales Vertragswerk und Verhandlungsforum, sondern vielmehr die technologische Entwicklung. Die nach wie vor anhaltend grossen Fortschritte in der Informationstechnologie, die wissenschaftlichen Durchbrüche in der Biotechnologie oder die grossen Fortschritte in der Materialtechnologie sind Basisinnovationen, welche Produktionsprozesse, Geschäftsmodelle und damit Marktabgrenzungen grundsätzlich verändern. Die Globalisierung unterstützt diese Entwicklungen, ist selbst aber nicht Auslöser der grossen wirtschaftlichen Veränderungen. Wie während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist die weltwirtschaftliche Entwicklung heute stärker als in anderen Zeiten technologiebestimmt. Da Strukturwandel aber nicht nur Abbau bestehender Arbeitsplätze, sondern auch die Schaffung neuartiger Beschäftigungsmöglichkeiten beinhaltet11, muss die zentrale Anpassungsstrategie darin bestehen, möglichst vielen Arbeitskräften zu ermöglichen, an den Chancen des weltwirtschaftlichen Strukturwandels teilzuhaben. Dies ist zuerst eine innenpolitische Aufgabe. Ausbildung und Weiterbildung müssen auf die Bedürfnisse der neuen Märkte ausgerichtet werden. Um in der Sprache der Kapitaltheorie zu verbleiben: Zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung des Strukturwandels ist eine massive Neuinvestition in Humankapital12. Aus dieser Sicht ist die Kritik an der WTO verfehlt. Die technologischen Fortschritte können bei stärkerer Spezialisierung besser genutzt werden. Letztere setzt aber grössere und nicht kleinere Märkte voraus. Wenn schon die WTO gefordert ist, dann in ihrer traditionellen Rolle als Verhandlungsforum zur gegenseitigen Marktöffnung. Was kann hinsichtlich der zweiten Frage, dem Einfluss der Globalisierung auf die Lohnstruktur, ausgesagt werden? Es lässt sich beobachten, dass die Lohnschere zwischen Empfängern hoher und tiefer Einkommen in den westlichen Industrieländern auseinander geht, wobei sich dies weniger in absoluten Lohneinbussen am unteren Ende der Lohnskala als vielmehr im überdurchschnittlichen Anstieg höherer Einkommen äussert. Aus der Aussenhandelstheorie lässt sich gut begründen, dass die Globalisierung diesen Prozess begünstigt: Durch die Integration der neuen Industrieländer hat sich das Angebot an wenig qualifizierten Arbeitskräften weltwirtschaftlich im Vergleich zu qualifizierten Arbeitnehmern deutlich erhöht. Dies könnte zu den beobachtbaren Entwicklungen in den Lohnstrukturen führen. Wie stark dieser Effekt tatsächlich ist, muss allerdings empirisch geprüft werden. Hier mahnen Studien für die USA allerdings zur Vorsicht13. Danach ist der geringe Lohnanstieg am unteren Ende der Lohnskala nur unwesentlich auf Importe aus Niedriglohnländern zurückzuführen, sondern ebenfalls vorwiegend technologisch bedingt. Etwas plakativ ausgedrückt: Im industriellen Bereich werden schlecht qualifizierte Arbeitsplätze nicht durch Importe verdrängt, sondern durch Automatisierung ersetzt. Bei den Dienstleistungen sind die schlecht bezahlten Arbeitsplätze typischerweise im Sektor der nicht gehandelten Dienstleistungen zu finden, während die Import- und Exportbereiche hoch qualifizierte 11 Beispielsweise stieg die Zahl der in der Schweiz in Informatikdiensten Beschäftigten von 31.900 im dritten Quartal 1995 auf 56.900 im dritten Quartal 2000 (Quelle: Erwerbstätigenstatistik [ETS] sowie Beschäftigtenstatistik [BESTA]). 12 Es scheint, dass die Arbeitskräfte diesen Bedarf durchaus selbst erkennen. So gaben in einer Umfrage von 1999 rund 63% der Erwachsenen in der Schweiz an, sich in einem Kurs oder selbst weitergebildet zu haben, wobei schätzungsweise 2/3 der Weiterbildungsmassnahmen beruflich motiviert sind. Quelle: Pressemitteilung des Bundesamtes für Statistik Nr. 112/99 vom Dezember 1999 sowie mündliche Auskunft. 13 vgl. LAWRENCE und KRUGMAN (1994). 6
Arbeitsplätze mit hohen Einkommen anbieten. Der Lohndruck bei den tiefen Einkommen ist entsprechend nur teilweise auf internationalen Handel zurückzuführen. Als drittes Argument wurde oben das Lohndumping angesprochen. Sofern man damit einfach billigere ausländische Löhne meint, darf es nicht als Begründung für Grenzmassnahmen verwendet werden. Tiefere Löhne sind Ausdruck von Unterschieden in der allgemeinen Produktivität oder Resultat von komparativen Kostenvorteilen, wenn die Lohnnachteile einzelne Branchen besonders treffen. Hier einen Ausgleich zu fordern, ist weder gerechtfertigt, noch stünde es im Interesse des Importlandes. Wie steht es aber mit der Durchsetzung grundlegender Arbeitnehmerrechte über Handelsmassnahmen? Bei aller Anerkennung der Zielsetzung14 ist Zurückhaltung angebracht. Will man das Thema in die WTO aufnehmen, so stehen grundsätzlich zwei Wege offen. Entweder werden entsprechende Vorgaben als einklagbare Verpflichtungen in die WTO- Verträge aufgenommen oder man gibt den Mitgliedstaaten die Kompetenz, nach vorgegebenen Verfahren Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen. Gegen den ersten Weg spricht, dass die WTO institutionell schlecht gerüstet ist, um Harmonisierungsaufgaben in nationalen Regulierungsbereichen zu übernehmen. Gegen den zweiten Weg wiederum sprechen GATT- Erfahrungen mit Antidumping-Massnahmen, mit Verfahren zur Festlegung von Ausgleichszöllen gegen Subventionen sowie mit Schutzmassnahmen: Auch noch so detailliert formulierte Verfahrensvorgaben vermögen die Gefahr des protektionistischen Missbrauchs nur begrenzt einzudämmen. Die entsprechenden Befürchtungen der Entwicklungsländer, die sich bisher sehr deutlich gegen die Aufnahme von Sozialstandards in die WTO aussprachen, sind jedenfalls ernst zu nehmen15. Schliesslich stellt sich auch hier das bereits beim Umweltthema angesprochene Souveränitätsproblem, das für Verhandlungslösungen und gegen einseitige Sanktionen spricht. Eine politische Diskussion über die sozialen Auswirkungen des weltwirtschaftlichen Strukturwandels ist erforderlich und erwünscht. Daraus aber eine globale Kritik an der WTO- Ordnung abzuleiten, ist falsch und schadet letztlich denjenigen, deren Schutz man in erster Linie anstrebt. Es sind nicht zuletzt die Arbeitnehmer, die langfristig von den Möglichkeiten der neuen Technologie profitieren. Wie bereits erwähnt, setzt dies aber grössere Märkte voraus, und die protektionistische Abschottung ist mit Sicherheit der falsche Weg. Auch in dieser Frage lenkt die vorgetragene Fundamentalkritik von den eigentlichen Problemen ab und verdeckt den Blick für die erforderliche Differenzierung der Argumente. Welthandel und Entwicklung Die Kritik wird auf zwei Ebenen vorgetragen. Von Regierungen von Entwicklungsländern wird darauf verwiesen, dass Industrieländer ihre Märkte nur unvollkommen für Exporte aus Entwicklungsländern öffnen und dass sie selbst nur unzureichend in die Verhandlungen im Rahmen der WTO integriert sind. Auf diese Forderung nach vermehrter Partizipation wird in Abschnitt 1.3 eingetreten. Hier soll auf die von westlichen Nichtregierungsorganisationen vorgetragene Kritik, dass die Globalisierung einseitig nur die reichen Industrieländer 14 Neben der ethischen Begründung können auch ökonomische Argumente für ein staatliches Eingreifen in die Lohnbildung auf Märkten mit deutlichem Überschussangebot an Arbeitskräften sprechen. Bei rückwärts gebeugter Angebotskurve (im Bereiche des Existenzminimums reagieren die Arbeitskräfte auf Lohnsenkungen mit einem Mehrangebot) können sich auf dem Arbeitsmarkt mehrfache Gleichgewichte ergeben. Vgl. dazu RAYNAULD und VIDAL (1998). 15 Siehe hierzu die Erklärung TWIN-SAL („Third World Intellectuals and NGOs – Statement against linkage); abgedruckt im Anhang zu PANAGARIYA (2000), S. 26-29. 7
bevorzuge und den Entwicklungsländern wenig bringe, eingetreten werden. Für diese ungleiche Entwicklung werden häufig die Globalisierung und die WTO als deren Motor verantwortlich gemacht. Eine solche Gleichsetzung vereinfacht ebenso unzulässig wie die These von naiven Befürwortern einer exportorientierten Entwicklungsstrategie. Integration in den Welthandel garantiert nicht für sich allein einen wirtschaftlichen Aufschwung, noch ist sie die alleinige Ursache eines wirtschaftlichen Ausschlusses breiter Bevölkerungsschichten. Entwicklung ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von gesellschaftlich-politischen Strukturen mit den wirtschaftlichen Potenzialen aus der Ressourcenausstattung (einschliesslich des Ausbildungsstandes der Bevölkerung) und den Möglichkeiten des Weltmarktes. Die neuere Literatur ist bescheidener geworden hinsichtlich der wirtschaftspolitischen „Machbarkeit“ von Entwicklungsprozesssen16. Am Beispiel Afrika verdeutlicht: Ist der Entwicklungsrückstand (mit-)verursacht durch die Globalisierungsprozesse oder das Ergebnis anderer Faktoren, die eine Ausnutzung des Potenzials des Welthandel erschweren? Zu denken ist an die wenig gefestigten politischen Strukturen, an Bürgerkriege, an die Erbschaft der Kolonialzeit mit willkürlich gezogenen Staatsgrenzen, an die schlechte gesundheitliche Versorgung oder an die unzureichende Ausbildung. In einem solchen Umfeld darf man von der Weltmarktintegration nicht die Lösung aller Probleme erwarten, es ist aber ebenso unzutreffend, die Globalisierung ursächlich für die Entwicklungsprobleme Afrikas verantwortlich zu machen. Studien belegen den wichtigen Zusammenhang zwischen stabilen gesellschaftlich-politischen Strukturen und der wirtschaftlichen Entwicklung17. Dies lässt sich auch ökonomisch gut erklären: In einem stabilen Umfeld werden sich (inländische und ausländische) Investoren hinsichtlich der verlangten Rückzahlperiode langfristig binden, was gleichbedeutend ist mit einem im Vergleich zur unsicheren Situation deutlich tieferen Zinssatz. Ohne ausreichende gesellschaftlich-politische Stabilität ist der implizite Zinssatz für Investitionen sehr hoch und gesellschaftlich erwünschte Investitionen unterbleiben. Dieser einfach herzuleitende Zusammenhang ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass es in vielen Fällen ausserordentlich schwierig ist, ein entsprechendes Umfeld herzustellen. Die WTO ist in solchen Situationen weder positiv noch negativ der Hauptschauplatz. Geringe Transparenz und fehlende Legitimation Vor allem von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) westlicher Industrieländer wird häufig der Vorwurf erhoben, dass die Arbeit der WTO zu wenig transparent sei und insbesondere die Zivilgesellschaft zu wenig einbeziehe. Ihre Arbeit sei entsprechend nicht ausreichend legitimiert. Von hier ist es oft nur ein kleiner Schritt zum Vorwurf, dass die Welthandelsordnung von einem kleinen „Geheimbund“ von Regierungsvertretern aus einigen wenigen mächtigen Welthandelsnationen und den Spitzen multinationaler Konzerne bestimmt werde, ohne Rücksicht auf die Interessen der breiten Bevölkerung in Industrie- und Entwicklungsländern. Dieser Vorwurf ist in seiner Breitseite zurückzuweisen, er weist aber auf ein Problem hin, für das wir noch keine adäquate Lösung haben. Zuerst zum Vorwurf der Geheimdiplomatie und der mangelnden Legitimation: Hier ist zu allererst festzuhalten, dass die WTO als internationale Organisation und insbesondere deren Sekretariat institutionell eine schwache Stellung haben. Im Gegensatz zur EU ist die WTO 16 Vgl. hierzu beispielsweise WEDER (2000) oder die Beiträge in Bd. 51 (1996), Heft 4 der Zeitschrift Internationale Politik zum Thema „Entwicklungspolitik im Umbruch“. 17 Vgl. WEDER (2000). 8
keine supranationale Organisation mit eigener Rechtsetzungsbefugnis. Die WTO ist getragen durch die Mitglieder und bietet den Regierungen der Mitgliedstaaten ein Forum für multilaterale Verhandlungen und eine regelorientierte Streitschlichtung. Die eigentlichen Machtzentren sind die Regierungen der Mitgliedstaaten und nicht die WTO als Organisation. Im Rahmen der WTO gefällte Entscheide werden über die beteiligten Regierungen demokratisch legitimiert. Der Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Zielen staatlicher Politik erfolgt national innerhalb der beteiligten Regierungen. Ob der Vorwurf der einseitigen Bevorzugung von wirtschaftlichen Interessen, zu Lasten von Umwelt und sozialer Entwicklung, zutrifft und wie weit die Entscheide demokratisch abgestützt sind, muss sich deshalb an der demokratischen Legitimierung der Regierungen der Mitgliedsländer messen lassen. Den Regierungen eine solche Abstützung generell absprechen zu wollen, ist faktisch falsch und zeugt von einem erheblichen Mass an Überheblichkeit. Wenn der nationale Interessenausgleich durch einen internationalen Interessendialog im Rahmen der WTO ergänzt werden sollte, müsste zudem gefordert werden, dass alle relevanten Gruppierungen – einschliesslich der agrarischen und industriellen Produzentenverbände – eingeschlossen werden. Es gibt wenig Begründung dafür, ausgewählten Gruppen auf WTO-Ebene eine privilegierte Stellung zu geben. Man sollte am Grundsatz festhalten, dass die Regierungen die zentralen Träger der Willensbildung in der WTO sind. Diese Forderung schliesst aber keinesfalls aus, dass innerhalb der WTO die Verhandlungen in einzelnen Gremien transparenter gehalten werden könnten18 und dass insbesondere die Regierungen ihre aussenwirtschaftlichen Positionen innenpolitisch verantworten müssen. Der starke Ruf nach Einbezug der Nichtregierungsorganisationen weist allerdings auf eine Entwicklung hin, deren Tragweite noch schlecht einzuschätzen ist. Politik entsteht aus dem Zusammenspiel von demokratisch delegierter Macht und direktem Einfluss einer wie auch immer formierten politischen Öffentlichkeit. Auf nationaler Ebene ist dies eine selbstverständliche Komponente politischer Willensbildung. Der direkte Einfluss einer durch die Medien mitgestalteten politischen Öffentlichkeit (offener sichtbar in der direkten Demokratie bei den Sachabstimmungen, wirksam aber auch in rein parlamentarischen Systemen) ergänzt die mit den Wahlen delegierte Entscheidungsbefugnis von Parlament und Regierung. Früher formierte sich die politische Öffentlichkeit auf lokaler und nationaler Ebene und der Dialog mit der „formellen“ Politik blieb weitgehend auf diese Ebene beschränkt, während international ein organisierter politischer Diskurs fehlte. Entsprechend fanden die internationalen Verhandlungen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In den letzten Jahren hat sich nun aber zu einzelnen Sachfragen, vor allem aus dem Umweltbereich, eine internationale politische Öffentlichkeit entwickelt. Diese Bewegung wird gestützt durch das Bewusstsein, in wichtigen Lebensbereichen globalen Risiken ausgesetzt zu sein. Die neuen Informationstechnologien erleichtern zudem die Mobilisierung dieser internationalen Öffentlichkeit stark. In welcher Form diese neu entstehende politische Öffentlichkeit mit den 18 Obwohl darauf hingewiesen werden muss, dass die WTO in dieser Hinsicht sehr grosse Fortschritte gemacht hat. Über die Homepage der WTO gelangt man bequem an alle Abkommenstexte, Streitschlichtungsberichte, Sonderberichte der einzelnen Gremien und eingereichten Verhandlungspositionen der einzelnen Mitglieder. Wer einen generellen Vorwurf mangelnder Informationen erhebt, hat sich vermutlich nicht die Mühe genommen, die WTO-Homepage heranzuziehen. Der Vorwurf der mangelnden Transparenz kann lediglich punktuell gemacht werden, so beispielsweise hinsichtlich der Tatsache, dass die Vertragsverhandlungen selbst, aber auch die Streitschlichtungsverhandlungen hinter geschlossenen Türen stattfinden. Vor allem zur Streitschlichtung wären offenere Verfahren durchaus denkbar. 9
offiziellen Trägern delegierter Macht auf internationaler Ebene zusammenwirken kann und soll, ist meines Erachtens eine offene Forschungsfrage für die Staatstheorie und die Politikwissenschaften. Weder die strikte Ablehnung des Einbezugs der Öffentlichkeit in internationale Verhandlungen, noch die relativ willkürliche Berücksichtigung einzelner Gruppen können die zutreffende Antwort sein. Berechtigte Anliegen, aber kein Anlass für eine Fundamentalkritik Die Ausführungen dieses Abschnittes lassen sich in der Formulierung des obigen Zwischentitels gut zusammenfassen. Die Kritiker tragen Anliegen vor, die gehört werden müssen. Es darf auch durchaus die Frage gestellt werden, ob die Prioritäten für internationale Verhandlungen richtig gesetzt sind. Je nach Einschätzung des Risikopotentials kann man berechtigterweise zum Schluss kommen, dass ein griffiges Klimaabkommen mit durchsetzbaren Reduktionsverpflichtungen höhere Priorität haben sollte als die weitere Liberalisierung des Welthandels – sofern angesichts beschränkter Verhandlungsressourcen nicht beide Ziele mit gleicher Ernsthaftigkeit verfolgt werden können. Es ist aber falsch, aus derartigen Erwägungen die Legitimität der WTO-Ordnung grundsätzlich in Frage stellen zu wollen. Wenn man die öffentliche Diskussion zu diesen Themen den Kritikern der WTO überlässt, sind drei Gefahren nicht von der Hand zu weisen. Erstens leidet die Glaubwürdigkeit einer regelgebundenen Welthandelsordnung, die mit den Prinzipien der Nichtdiskriminierung und Transparenz vor allem die kleinen Länder vor dem Machtmissbrauch der grossen Welthandelsnationen schützt. Eine globale Kritik an der WTO verdeckt zweitens den Blick auf die differenzierte Nutzung des Regelwerkes für umwelt- und sozialpolitische Ziele. Schliesslich besteht drittens die Gefahr, dass die Fundamentalkritik an den internationalen Regelwerken die Aufmerksamkeit von den nationalen Gestaltungsmöglichkeiten und damit auch von der nationalen Verantwortung ablenkt. Mit dem Hinweis auf globale Probleme und auf die fehlenden Massnahmen auf internationaler Ebene kann man zu einfach einem ernsthaften Änderungswillen auf nationaler Ebene ausweichen. 1.2 Transatlantische Handelskonflikte Weitere Risiken ergeben sich derzeit aus einer Vielzahl von ungelösten Handelskonflikten, vor allem im transatlantischen Verhältnis. Etwa ein Fünftel aller Streitschlichtungsfälle betraf bislang bilaterale Auseinandersetzungen zwischen den USA und der EU. Einige wichtige Fälle sind zwar entschieden, doch wurden die Empfehlungen des Streitschlichtungsorgans trotz abgelaufener Frist immer noch nicht umgesetzt. Auf EU-Seite betrifft dies die Einfuhrregelung für Bananen sowie das Importverbot für Rindfleisch, das unter Zusatz gewisser Wachstumshormone produziert wird. Die USA ihrerseits scheinen nicht bereit zu sein, ihre Steuergesetzgebung so anzupassen, dass diese den GATT-Vorgaben (Verbot von Exportsubventionen) entspricht19. Dabei ist das Risiko nicht von der Hand zu weisen, dass die USA und die EU inzwischen genügend „Streitmasse“ aufgebaut haben, um sich bilateral auf eine gegenseitig unzureichende Umsetzung zu einigen. Dies ist angesichts der dürftigen Transparenzvorschriften für politische Konfliktlösungen und angesichts des Fehlens einer 19 Vgl. HAUSER, 2000d. 10
griffigen Kontrolle der Vereinbarungen auf ihre WTO-Rechtmässigkeit eine ernst zu nehmende Gefahr20. An sich ist die mangelhafte Umsetzung von Streitschlichtungsentscheiden ein generelles Problem der WTO-Ordnung und war auch ein zu erwartendes Ergebnis21. Die Möglichkeiten zur Sanktion sind begrenzt und die Anreize zur Weiterführung einer beanstandeten Massnahme können je nach innenpolitischer Situation sehr stark sein. Betrachtet man die WTO-Streitschlichtung unter einer Law and Economics Perspektive, so wird deutlich, dass angesichts der schwachen Durchsetzungsmechanismen eher die bisherig relativ hohe Zahl umgesetzter Streitfälle und weniger die Nichteinhaltung der Vorgaben des Streitschlichtungsorgans erklärungsbedürftig ist22. Die Sanktionsdrohung eines grossen Landes gegenüber einem kleinen Land sowie allfällige Reputationsverluste bei einer offensichtlichen Verletzung von WTO-Recht sind die beiden einzigen Mechanismen, die den beteiligten Ländern einen Anreiz geben können, auf bisherige Verletzungen von WTO-Recht zu verzichten. Entgegen den ursprünglichen Erwartungen konnte die Handelsdiplomatie nicht vollständig durch gerichtliche Verfahren abgelöst werden; die Verhandlungsphase hat sich lediglich von der Annahme des Panelberichtes in die Umsetzung der Streitschlichtungsentscheide verlagert. Obwohl die angesprochenen Probleme allgemeiner Natur sind, werden sie im transatlantischen Verhältnis für die WTO besonders gefährlich. Wenn die USA und die EU in ihren gegenseitigen Streitfällen die Empfehlungen des Streitschlichtungsorgans nicht oder nur stark verzögert umsetzen oder wenn sie versuchen sollten, offene Streitfälle in bilateralen Verhandlungen ausserhalb der WTO-Vorgaben beizulegen, gefährden sie die Glaubwürdigkeit und damit die Weiterentwicklungsfähigkeit des gesamten Systems. 1.3 Unzureichende Integration von Entwicklungsländern Die Ereignisse im Vorfeld und während der gescheiterten Ministerkonferenz von Seattle illustrieren sehr deutlich, dass die Entwicklungsländer trotz aller entwicklungspolitischen Rhetorik der Industriestaaten schlecht in das Welthandelssystem integriert sind23. Sie mussten zuschauen, wie sich die Industrieländer – konkret die EU und die USA – in erster Linie um ihre eigenen Anliegen kümmerten. Schlimmer noch: Selbst der vereinte Widerstand der Entwicklungsländer gegen die Einführung von Arbeitsstandards in die WTO-Ordnung vermochte zahlreiche Industrieländer nicht davon abzuhalten, auf entsprechenden Verhandlungen zu bestehen. Die Industrieländer werden lernen müssen, dass die Entwicklungsländer einer nächsten grossen Runde nur zustimmen, wenn sie als Verhandlungspartner ernst genommen werden und ihre Anliegen in der Verhandlungsagenda enthalten sind. Dabei geht es nicht in erster Linie um allgemeine entwicklungspolitische Deklarationen oder Ausnahmeklauseln, wie wir sie aus den bestehenden WTO-Verträgen zur Genüge kennen. Die Entwicklungsländer haben handfeste Anliegen einzubringen. Die Agrarmärkte der Industrieländer sind nach wie vor hoch geschützt. Die Zollstrukturen der Industrieländer 20 Zu dieser Sichtweise der Streitschlichtung als „Clearing House“ für gegenseitige Vertragsverletzungen vgl. ZIMMERMANN, 2000. 21 Zu einer frühen Einschätzung in diese Richtung vgl. HAUSER und MARTEL, 1997. 22 Vgl. dazu BÜTLER and HAUSER, 2000; HAUSER, 2000b. 23 Vgl. dazu auch HAUSER, 2000a. 11
weisen in wichtigen Branchen noch immer eine mit dem Verarbeitungsgrad ansteigende Zollbelastung auf, wodurch der Aufbau von Verarbeitungsindustrien in Entwicklungsländern verhindert wird. Zudem werden arbeitsintensive Güter, bei deren Produktion Entwicklungsländer einen komparativen Vorteil haben, auf den Hauptabsatzmärkten oft mit überdurchschnittlich hohen Zollsätzen belastet. Auch das Textilabkommen ist zwar juristisch korrekt umgesetzt worden; die beiden ersten Liberalisierungsschritte brachten aber den Entwicklungsländern wenig, da die EU, die USA und Kanada bislang vor allem solche Produktkategorien der allgemeinen GATT-Disziplin unterworfen haben, für die bereits vor 1996 keine mengenmässigen Restriktionen bestanden hatten und für die oft Industrieländer selbst Hauptproduzenten sind. Schliesslich richten sich Antidumping-Massnahmen überdurchschnittlich häufig gegen Importe aus Entwicklungsländern. Die Kompetenz zu Antidumping-Massnahmen lässt sich wettbewerbspolitisch kaum begründen, und es wäre an der Zeit, über eine Aufhebung dieser spezifischen Schutzmassnahme zu verhandeln. Von all diesen Themen hörte man im Vorfeld und auch während den Verhandlungen von Seattle sehr wenig. Die Uruguay-Runde hat den Entwicklungsländern zu wenig konkrete Marktöffnungsschritte gebracht und im Textil- und Agrarbereich sind die Versprechungen der letzten Runde erst noch einzulösen. Es ist entsprechend verständlich, wenn die Vertreter aus Entwicklungsländern zuerst die Ergebnisse der Uruguay-Runde einfordern, bevor sie zu neuen Liberalisierungsschritten bereit sind. Der Vorwurf der ungenügenden Integration richtet sich allerdings auch an Entwicklungsländer. Zu häufig wird übersehen, dass die WTO-Verträge nicht nur unter dem Aspekt des Zugangs auf fremde Märkte betrachtet werden dürfen, sondern dass sie ebenfalls ein Instrument sind, um sich glaubhaft auf eine an den Weltmarktverhältnissen ausgerichtete Strukturanpassung zu verpflichten24. Importerschwernisse, seien es Zölle, mengenmässige Quoten oder andere nicht-tarifäre Handelshemmnisse, kommen einer Steuer auf die inländische Produktion gleich – direkt im Sinne teurerer Vorleistungen oder indirekt durch die dadurch ausgelösten Wechselkursanpassungen. Auf diesem Hintergrund sind die Forderungen von Entwicklungsländern, die Umsetzung der Ergebnisse der Uruguay-Runde zeitlich erstrecken zu können, in den meisten Fällen sachlich wenig begründet. Insgesamt besteht die Gefahr, dass sich beide Seiten die Einlösung der Verpflichtungen aus der Uruguay-Runde an neue Verhandlungen anrechnen lassen wollen. Solche Absichten bedeuten jedoch Rückschritt und hemmen die Entwicklung der WTO-Welthandelsordnung. 1.4 Grund zur Besorgnis Trotz der grossen Fortschritte auf dem Weg zu einer Welthandelsordnung auf der Grundlage der Nichtdiskriminierung während und nach der Uruguay-Runde, gibt die heutige Situation zunehmend zur Besorgnis Anlass25. Die öffentlichen Proteste tragen dazu bei, dass eine zunehmend grössere Zahl von Personen die Legitimität der Welthandelsordnung in Zweifel zieht. Das Streitschlichtungssystem wird überladen und ist belastet mit einer grösseren Zahl 24 So bereits HAUSER (1986). 25 So auch ausgedrückt in einer gemeinsamen Erklärung der letzten drei Generaldirektoren des GATT bzw. der WTO, der Herren Dunkel, Sutherland und Ruggiero, vom 1. Februar 2001. Die Erklärung wurde über die WTO-Homepage publiziert. 12
nicht umgesetzter Entscheide, wobei dem transatlantischen Verhältnis besondere Signalwirkung zukommt. Die tatsächliche Integration der Entwicklungsländer in das Welthandelssystem steht noch aus und wird von beiden Seiten grosse Anpassungsleistungen erfordern. Die Situation ist nicht unähnlich derjenigen der siebziger und achtziger Jahre, als auf die Integrationsfortschritte der Kennedy-Runde eine längere Phase der Stagnation und des schleichenden Rückschritts folgte. Ob diese Gefahr Realität wird, hängt entscheidend davon ab, ob es gelingen wird, in den nächsten Jahren das Potenzial weiterer Liberalisierungsschritte in tatsächliche Marktöffnungen umzusetzen. In diesem Sinne steht die WTO an einem Scheideweg. 2. Potenzial für weitere Liberalisierungsschritte Tragendes Prinzip einer multilateralen Handelsordnung ist der Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Anbieter sollen unabhängig von ihrer Herkunft unter gleichen staatlichen Regulierungsbedingungen im Wettbewerb bestehen können. Damit wird sowohl das Recht des Produzenten auf verzerrungsfreien Marktzutritt als auch das Recht des Konsumenten auf freie Bezugsmöglichkeiten geschützt. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung hat sowohl eine starke grundrechtliche als auch eine überzeugende wettbewerbspolitische Basis. In der Öffentlichkeit wird häufig der Endruck erweckt, dass wir bereits ein hohes Mass an Freihandel hätten und dass es entsprechend notwendig sei, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Interesse umwelt- oder sozialpolitischer Ziele einzuschränken. Die unter Punkt 1.1 vorgetragenen Argumente lassen sich unter dieser allgemeinen Formulierung zusammenfassen. In Wirklichkeit sind wir aber trotz aller Fortschritte in GATT und WTO noch weit von einer allgemeinen Umsetzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung entfernt26. Einige ausgewählte Tatbestände sollen dies verdeutlichen: Bereits die Tatsache, dass Zölle GATT-rechtlich zulässig sind, ist eine Abweichung vom Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Ausländische Anbieter haben eine – wenn auch in der Höhe gebundene – Zusatzbelastung zu tragen. Die Auseinandersetzungen zu den technischen Handelshemmnissen machen deutlich, dass auch formal ursprungsneutral formulierte Vorschriften je nach wirtschaftlicher Ausgangslage diskriminierende Wirkungen haben können. Mit dem Agrar- und dem Textilhandel sind zwei grosse Wirtschaftssektoren nach wie vor nur unvollkommen der GATT-Disziplin unterstellt. Die öffentliche Beschaffung ist in Art. III:8a GATT explizit vom Grundsatz der Inländerbehandlung ausgenommen und muss mühsam über ein plurilaterales Zusatzabkommen wieder in die internationale Handelsdisziplin einbezogen werden. Beim Dienstleistungsabkommen haben die Länder nicht alle Sektoren in die Verpflichtung zur Marktöffnung und Inländerbehandlung einbezogen und für die einbezogenen (bound) Sektoren gelten eine grosse Zahl von Vorbehalten zum allgemeinen Prinzip der Inländergleichbehandlung. Mit der zunehmenden Verbreitung von Zollunionen und Freihandelsabkommen sowie der durch das GSP (Generalized System of Preferences) gedeckten Sonderbehandlung von Entwicklungsräumen wird in grossem Stile gegen das Prinzip der Meistbegünstigung verstossen. Bei Investitionen (Produktionsfaktor Kapital) fehlt ein internationaler Vertragsrahmen zur Durchsetzung der Nichtdiskriminierung gänzlich, ebenso beim Personenverkehr (Produktionsfaktor Arbeit). 26 ZIMMERMANN, 2001, baut seine Analyse der heutigen WTO-Situation sehr überzeugend auf dieser Beobachtung auf. 13
Versteht man Liberalisierung als Prozess, um den Grundsatz der Nichtdiskriminierung über entsprechende vertragliche Bindungen sowohl inhaltlich wie auch hinsichtlich der Durchsetzungsmöglichkeiten stärker zu verankern, so besteht nach wie vor ein sehr grosses Potenzial für weitere Schritte. Ganz generell lässt sich die Agenda für zukünftige Verhandlungen von den heute noch bestehenden Abweichungen vom Grundsatz der Nichtdiskriminierung ableiten. Dass wir dabei trotz aller Fortschritte von GATT/WTO erst am Anfang stehen, mag ein Hinweis auf die innerhalb der EU im Rahmen des Binnenmarktprogrammes verankerten Grundfreiheiten, die den Grundsatz der Nichtdiskriminierung konkretisieren, andeuten. Das Bündeln von Themen für eine nächste Verhandlungsrunde kann immer nur eine Auswahl unter vielen möglichen Schritten in Richtung einer vermehrten Durchsetzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung sein. Dabei werden die Schwerpunkte je nach eigenen wirtschaftlichen Stärken und je nach wahrgenommener innenpolitischer Unterstützung zwischen den WTO-Vertragspartner unterschiedlich sein. Hier einen Ausgleich zu finden, ist jetzt anstehende Aufgabe des Agenda-Setting für eine nächste Verhandlungsinitiative. Wenn es gelingen soll, den Prozess der Liberalisierung wieder in Gang zu setzen, dann müssen die Vorteile einer regelorientierten Marktöffnung möglichst wirkungsvoll dargelegt werden. Eine neue Verhandlungsrunde kann angesichts der neuen Öffentlichkeit nicht mehr nur ein Projekt der Diplomatie sein, sondern muss ebenfalls von der Bevölkerung und der Wirtschaft der wichtigsten Partner getragen sein. Der allgemeine Hinweis auf die Vorteile des Freihandels reicht dabei nicht aus, um in der breiten Bevölkerung die in Abschnitt 1 angesprochenen Bedenken auszuräumen. Auch eine Liberalisierungsstrategie braucht überzeugende Themen, an denen sich die Diskussion ausrichten kann. Im Folgenden werden zwei Themen vorgeschlagen, für welche die Vorteile weiterer Liberalisierungsschritte auf der Hand liegen: Eine Handelsinitiative für die Entwicklungsländer sowie eine Initiative zur besseren Nutzung des Potenzials aus elektronischem Handel. Die beiden Themen sind so gebündelt, dass wichtige Anliegen sowohl der Entwicklungs- wie auch der Industrieländer aufgenommen werden. In beiden Fällen ist zudem eine sektorübergreifende Sicht erforderlich, wenn man die Vorteile tatsächlich ausschöpfen will. 2.1 Handelsinitiative für Entwicklungsländer Wie oben bereits kurz angesprochen, geht die Diskussion bezüglich der Entwicklungsländer zur Zeit in die falsche Richtung. Erstreckung von Fristen für die Umsetzung eingegangener WTO-Verpflichtungen, vermehrte Mittel für die technische Unterstützung oder weitere präferenzielle Vergünstigungen mögen zwar Lösungen auf kurzfristig drängende Probleme sein, sie lenken aber von einem langfristig wirksamen Programm der Marktöffnung für Exporte aus Entwicklungsländern ab. Die Aufhebung bestehender mengenmässiger Beschränkungen sowie Zollsenkungen auf Meistbegünstigungsbasis in denjenigen Branchen, in denen Entwicklungsländer komparative Vorteile haben, sind langfristig wesentlich wirksamer als diskretionär zugesprochene präferenzielle Vergünstigungen. Konkret muss eine solche Handelsinitiative die folgenden Elemente enthalten. (1) Die Rückführung des Textilhandels unter die allgemeine GATT-Disziplin gehört bereits zu den Verpflichtungen der Uruguay-Runde, wobei allerdings die entscheidenden Schritte noch ausstehen. Für die Entwicklungsländer ist es wichtig, von den Industrieländern ein eindeutiges Bekenntnis zur vollständigen und rechtzeitigen Umsetzung des Textilabkommens 14
Sie können auch lesen