DieStadtmission 1 Was ist ein Zuhause? Wohnraum statt Wohnform 2017 - stadtmission-halle.de

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Stadtmission
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M A G A Z I N D E R E VA N G E L I S C H E N S TA D T M I S S I O N H A L L E / S A A L E

                                                         Was ist ein Zuhause?
                                                         Wohnraum statt Wohnform

                           Editorial S. 3
                           Zukunft Wohnen S. 8
 In dieser                 Wärmestube S. 13
 Ausgabe:                  Das diaonische Profil S. 20

 Im Verbund der
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2     Diakonie für Menschen

Die Reformation geht weiter
Gedanken zum Jubiläum „2017“

Das Leben der Kirche ohne Martin Luther ist denkbar, aber     wertige Geschöpfe Gottes anerkennen müssen, anstatt sie
nicht möglich.                                                als Hexen anzuklagen und zu vernichten?
Doch was wären Luther und die Männer der Reformation          Hätte man die kulturellen Leistungen der Muslime, ihre
ohne die wagemutigen, wortgewaltigen und tatkräftigen         Erkenntnisse in Medizin und gesunder Ernährung nicht
Frauen aus Palästen und Klöstern, Bürgerhäusern und           anerkennen können, anstatt auch sie zu verteufeln?
Bauernkaten?                                                  Hätte man sich mit den ausgeplünderten Bauernfamilien
Was wäre die Reformation in Gemeinden, Kirchen und            nicht soldarisieren können und ihren Kampf gegen Ausbeu-
Diakonie heute ohne die vielen engagierten Frauen und         tung rechtfertigen müssen, anstatt die Heere der Fürsten
einsatzfreudigen Ehrenamtlichen in und außerhalb der          auf sie zu hetzen?
Institutionen?
                                                              Hätte man die Juden nicht als Schwestern und Brüder des
Aber „Der Luther“ steht da: das „Denkmal“ der Kirche,         Jesus aus Nazareth erkennen und ehren müssen, anstatt
vermarktet als „Playmobilfigur“, jeweils mit der „Heiligen    sie als Brunnenvergifter und Christusmörder zu verurteilen
Schrift“ in der Hand.                                         und mit der „Judensau“ zu verspotten?
2017 feiern Kirchen und Gemeinden das Jubiläum der Re-        Hätte man die weltlichen Obrigkeiten nicht mit kritischer
formation, auch mit einem Kirchentag. Gäste aus aller Welt    Distanz begleiten müssen, statt ihnen die Gewalt des
besuchen Ausstellungen und besichtigen bedeutende Orte        Schwertes gegen alle Andersdenkenden zuzugestehen und
der Reformation: das Geburtshaus, die Studierstube, Tisch     jene zeitlos gültige „Zwei-Reiche-Lehre“ zu propagieren?
und Kanzel, selbst die Totenmaske. Bilder von Cranach zei-    Hätte Luther sowohl die Bedeutung des Einzelnen in seinem
gen Martin, seine Frau Katharina, die Eltern, Reformatoren    ganz persönlichen Verhältnis zu Gott herausstellen sollen,
und Fürsten. Rechtzeitig zum Ereignis wurden zahlreiche       als auch den gemeinsamen, solidarischen Glauben an ihren
Bücher über Luthers Leben und Wirken herausgebracht           Erlöser und die Rechtfertigung aller Sünden mitten in einer
und verkauft.                                                 vielseitigen, komplizierter werdenden Welt?

1517 herrschte weithin noch Mittelalter. In Stadt und Land    Für jede Reformation an Haupt und Gliedern muss gelten,
spürten viele Menschen Ängste und Weltuntergangsstim-         sie kann ohne das positive Bild von den erlösten Menschen
mung. Sie fürchteten das Jüngste Gericht und lebten in        und ihren schöpferischen Kräften nicht gelingen.
einem tiefsitzenden Sündenbewusstsein. Doch vielerorts        In der Geschichte der Menschheit ist und bleiben Refor-
verbreitete sich Aufbruchsstimmung. Menschen entdeckten       mationen „ewige“, zumindest immerwährende Ereignisse.
die Welt. Die bewohnte Erde war keine Scheibe. Sie be-        Sie bedeuten die entscheidende Aufgabe für die gesamte
wegte sich um die Sonne. Humanisten betonten den „freien      christliche Gemeinde, für Kirche und Diakonie, ebenso für
Willen“ des Menschen. Die Kunst, Bücher zu drucken, ver-      alle Religionen und Weltanschauungen, schließlich auch für
breitete Schriften in deutscher Sprache. So wurden auch       die nach 1945 und 1989 errungene Demokratie und das
Luthers „Gute Werke“ bekannt: seine „Verdeutschungen“         Leben in einer bewohnbarer gestalteten Welt. Es geht um
der hebräischen und griechischen Bibel und des Gottes-        das glückend gelingende Zusammenleben in Familien und
dienstes. Man predigte in der Sprache des Volkes, die         Partnerschaften, unter Nachbarn und zwischen Völkern.
Feier des Abendmahls in beiderlei Gestalt, Erläuterungen      Denn jeder Mensch ist ein geliebtes und zur Freiheit aller
zum Katechismus, Aussagen zur Ordnung von Kirche und          berufenes Geschöpf Gottes – mit Würde und Rechten.
Gemeinde, zum Priestertum aller Glaubenden, zur Bildung.
Vor allem betonte Luther die Bedeutung der Schrift in ihren   Ohne die wirksame Botschaft von Versöhnung und Frie-
Aussagen zu der nicht verdienbaren, allein zuvorkom-          den, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, Bewahrung
menden Gnade Gottes, die er allen Menschen schenkt. Das       der Schöpfung ist das Leben von Christen in Kirche und
ereignet sich durch den barmherzigen, gekreuzigten Jesus,     Gesellschaft weder zu verantworten, noch möglich.
den auferstandenen, versöhnenden Christus.
                                                                                                      Andreas Riemann
Was aber hätten die Reformatoren „um der zuvorkom-
menden „Liebe Christ willen“ und aufgrund der biblischen
Botschaft, in der neuen Zeit glaubhaft gestalten können?
Hätte man viele Frauen in ihren Kenntnissen für Naturheil-
verfahren nicht als „Kräuterweiber“ achten und als gleich-
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Diakonie für Menschen     3

Inhalt
Magazin 1/17

Seite 2		 Andacht                                              Seite 14          Thema: Melchiorsgrund
Seite 3		 Inhaltsverzeichnis                                   Seite 15          Einkauf für 2,50
Seite 3		 Editorial                                            Seite 16          Moderne Arbeitsplätze
Seite 5		 Suchet der Stadt Bestes                              Seite 16          Der Inklusionsbetrieb
Seite 6   Thema: Nichts ist so beständig                       Seite 17          Gemeinsam spielt es sich besser
		wie der Wandel                                               Seite 18          Leuchtende Farben
Seite 8		 Thema: Mehr als nur vier Wände                       Seite 19          Feiertage neu entdecken
Seite 10  Thema: Auf der Suche nach einem                      Seite 19          Das diakonische Profil
		        Leben in Würde                                       Seite 22          Du hast die Wahl
Seite 12  Thema: Ein offenes Haus                              Seite 23          Termine und Öffnungszeiten
Seite 13  Thema: Zuversicht und Vertrauen                      Seite 24          Impressum

Editorial
Gedanken zum Bundesteilhabegesetz

Liebe Leserinnen und Leser!

Das vorliegende Stadtmissionsmagazin beschäftigt sich          träger und ebenso für die Beschäftigten der Werkstätten
unter anderem mit dem Thema Wohnen und somit indirekt          ein attraktiver Sozial- und Marktpartner zu sein.
mit dem zum 01.01.2017 in Kraft getretenen Bundesteil-         Mit dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes wurde
habegesetz (BTHG). Aufgrund der hohen Komplexität der          für die Werkstätten eine Frauenbeauftragte gesetzlich nor-
Gesetzgebung wird das Gesetz in mehreren Stufen umge-          miert und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des
setzt werden. Nach derzeitigem Stand wird die Umsetzung        Werkstattrates überarbeitet und erweitert. Daraus ergibt
des BTHG bis 2023 dauern.                                      sich ein höheres Maß an Selbstbestimmung, Mitwirkung
                                                               und Mitbestimmung.
Aus meiner Sicht ist mit dem BTHG der von der Bundesre-        Eine offene Frage ist weiterhin, wie ein zukünftiger arbeits-
gierung gewollte Paradigmenwechsel in der Eingliederungs-      rechtlicher Status eines Werkstattbeschäftigten sein könnte
hilfe bewirkt worden. Nicht mehr die Fürsorge des Staates      und welche staatlich alimentierten Möglichkeiten es gibt,
gegenüber den Hilfebedürftigen steht im Vordergrund, son-      den Werkstattbeschäftigten einen gerechten Arbeitslohn
dern das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmte Teilhabe      bereitzustellen, von dem er fürsorgefrei und selbstbestimmt
an Arbeit und Gesellschaft. Die Teilhabeleistungen werden      leben kann. Ein spannendes und wichtiges Thema, auch
zukünftig nicht mehr pauschal, sondern personenzentriert       für diakonische Einrichtungen. Insbesondere stellt sich die
auf Antrag des Betroffenen erbracht.                           Frage, ob die Werkstattbeschäftigten in einer inklusiven
                                                               Gesellschaft ein Teil der Dienstgemeinschaft sein müssten.
Wichtig ist für viele Menschen, die einen Arbeitsplatz in
den Werkstätten gefunden haben, dass die Politik sich          Die Werkstattbeschäftigen haben ein arbeitsnehmerähn-
sehr eindeutig für den Fortbestand der Werkstätten im          liches Rechtverhältnis mit der Stadtmission als Leistungs-
BTHG ausgesprochen hat und gleichzeitig neue offenere          erbringer. Sie sind daher den Mitarbeitenden rechtlich
Instrumente für die Eingliederung in Arbeit und Gesellschaft   nicht gleich gestellt, verrichten jedoch ihre tägliche Arbeit
geschaffen hat. Zu nennen wäre hier das „Budget für Arbeit“    in unseren Einrichtungen. Gehören sie trotzdem zu unserer
und die sogenannten „Anderen Anbieter“. Abzusehen ist          Dienstgemeinschaft, oder bleiben sie ausgeschlossen?
aber auch, dass die Werkstätten offene neue Werkstatt- und     Eine Frage, die einer ehrlichen Antwort bedarf:
Arbeitskonzepte entwickeln müssen, um für die Leistungs-       Ja oder nein?
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4     Diakonie für Menschen

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer mit dem Paul
Gerhardt Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud in die-
ser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben, schau an
der schönen Gärten Zier und siehe wie sie mir und dir sich
ausgeschmückte haben, sich ausgeschmücket haben“.

                                Ihr Ernst-Christoph Römer          Ernst-Christoph Römer
                                                                    Vorstandsvorsitzender

Suchet der Stadt Bestes
Städtisches Leben und soziale Probleme

Martin Luther wird der Überlieferung nach folgende Fabel       Der Soziologe Georg Simmel hat bereits in seinem Aufsatz
zugeschrieben:                                                 „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) auf den
                                                               Anspruch des Individuums nach der Selbstständigkeit und
„Eine Stadtmaus ging spazieren und kam zu einer Feld-          Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesell-
maus. Die tat sich gütlich an Eicheln, Gersten, Nüssen und     schaft, das geschichtlich Ererbte der äußerlichen Kultur und
woran sie konnte. Aber die Stadtmaus sprach: »Was willst       Technik des Lebens zu bewahren, aufmerksam gemacht
du hier in Armut leben! Komm mit mir, ich will dir und mir     und so Begrifflichkeiten in unser Denken eingeführt, welche
genug schaffen von allerlei köstlicher Speise.« Die Feld-      heute noch als Eckpfeiler vieler Diskussionen zum Thema
maus zog mit ihr hin in ein herrlich schönes Haus, darin die   Stadt und städtisches Leben eine Rolle spielen. Das Leben
Stadtmaus wohnte, und sie gingen in die Kammern, die voll      in der (Groß-) Stadt ist schnell, ja vielleicht zu schnell ge-
waren von Fleisch, Speck, Würsten, Brot, Käse und allem.       worden, persönliche und andere Bindungen – Dahrendorf
Da sprach die Stadtmaus: »Nun iss und sei guter Dinge.         sprach von Ligaturen als Zugehörigkeiten und Bindungen,
Solcher Speise habe ich täglich im Überfluss.« Da kam der      ohne die gesellschaftliches Leben nicht möglich ist – sind
Kellner und rumpelte mit den Schlüsseln an der Tür. Die        schwieriger aufrechtzuerhalten.
Mäuse erschraken und liefen davon. Die Stadtmaus fand
bald ihr Loch, aber die Feldmaus wusste nirgends hin, lief     Mit der Weiterentwicklung in technologischer, sprachlicher
die Wand auf und ab und gab schon ihr Leben verloren.          und in arbeitsteiliger Hinsicht muss das Individuum, der
Da der Kellner wieder hinaus war, sprach die Stadtmaus:        Mensch in der Stadt „mithalten“, was oft erst mit zeitlicher
»Es hat nun keine Not, lass uns guter Dinge sein.« Die         Verzögerung in der städtischen Umwelt gelingt. Das zeit-
Feldmaus antwortete: »Du hast gut reden, du wusstest           lich getaktete Leben, das Funktionieren als Spezialist und
dein Loch fein zu treffen, derweil bin ich schier vor Angst    die damit gegebenenfalls verbundenen Erfolge stehen
gestorben. Ich will dir sagen, was meine Meinung ist: bleib    im Widerspruch zu dem von der Lutherschen Feldmaus
du eine Stadtmaus und friss Würste und Speck, ich will         ersehnten Orientierung und Zugehörigkeit, denn so die
ein armes Feldmäuslein bleiben und meine Eicheln essen.        Feldmaus: „Wer reich ist, hat viel Sorge.“
Du bist keinen Augenblick sicher vor dem Kellner, vor den
Katzen, vor so vielen Mäusefallen, und das ganze Haus ist      Doch nicht „jede Stadtmaus“ wird in der Stadt reich, die
dir feind. Von alldem bin ich frei und bin sicher in meinem    Segregation städtischen Lebens, die seinen Ausdruck in
armen Feldlöchlein.« Wer reich ist, hat viel Sorge.            „guten“ und „schlechten“ Stadtvierteln findet, bis hin zu
                                                               sogenannten „no-go-areas“ zeigen deutlicher oder früher
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Diakonie für Menschen      5

als andernorts die Ambivalenzen gesellschaftlichen Lebens       gungen aller Menschen in einem Stadtviertel, einem sozi-
in städtischen Wohnviertel an. „Die Unwirtlichkeit unserer      alen Raum und versucht dies durch Bedürfnisorientierung,
Städte“, welche Alexander Mitscherlich schon 1965 für           Ermutigung zur Veränderung im eigenen Wohngebiet, auch
Westdeutschland beklagt hatte, mag hier mancher städ-           durch Vernetzung untereinander und Integration aller zu er-
tischen Entwicklung direkt oder indirekt Vorschub geleistet     reichen. Hierzu sind Positionspapiere und Integrations- und
haben. Wohnungslosigkeit, Alkoholismus, Betteln sind in         Vernetzungsvorschläge bereits vorgelegt worden.
größeren Städten erkennbare Zeichen einer Entwicklung,
die „gespaltene“ Gesellschaften in „gespaltenen“ Städten        Auch auf der Homepage der Aktion Mensch finden sich
sichtbar werden lassen. Die soziale Situation in Deutschland    hierzu erklärende Worte: „Ein selbst gewähltes Wohn-
geht einher mit einer enormen Herausforderung für die           umfeld mitten in der Gesellschaft, vielfältige Wohnkon-
Städte und Kommunen , die sozialen Probleme wachsen.            zepte, die Isolation verhindern und ein selbstbestimmtes,
Der Geschäftsführer des Diakoniewerkes Duisburg hat             unabhängiges Leben ermöglichen – die Aktion Mensch
im Februar diesen Jahres davor gewarnt „Maßnahmen               unterstützt das Zusammenleben von Menschen mit und
zu ergreifen, die ausschließlich auf die Vertreibung dieser     ohne Behinderung. Die Bedürfnisse assistenzbedürftiger
Menschen ausgerichtet sind. Es wird politisch dazu führen,      Bewohner werden bereits bei Neubauten und Sanierungen
dass wir die Geister, die wir dann rufen, nicht mehr loswer-    stärker berücksichtigt. Kommunen und Städte arbeiten an
den. Die Stadt gehört allen und wir müssen lernen, dass         einem inklusiven Gemeinwesen der Zukunft. Die Aktion
nicht nur alles das gut und richtig ist, was gutbürgerlich      Mensch informiert über die verschiedenen Wohnformen
geordnet scheint. Die Attraktivität einer Stadt erhöht sich     und stellt Wohnprojekte vor, in denen Inklusion gelebt und
nicht dadurch, indem wir Probleme definieren, die keine         neue Maßstäbe für das inklusive Zusammenleben gesetzt
sind und Reaktionen zeigen, die völlig unangemessen sind“.      werden. Eine freundliche Nachbarschaft, naheliegende Ein-
Wenn die Stadt aber allen gehört, dann ist auch darüber         kaufsgelegenheiten, Freizeitangebote und eine barrierefreie
nachzudenken, wie Menschen mit Behinderung in der Stadt         Umgebung sind Kriterien, die selbstbestimmtes Wohnen
leben können, wie dem Anspruch der weitgehenden Au-             und Teilhabe im direkten Umfeld lebenswert machen. Un-
tonomie von Menschen mit Behinderung auf kommunaler             ser Förderprogramm Wohnen 2014 stellt den Menschen
Ebene entsprochen werden kann. Kommunale Aktionspläne           und seine individuellen Vorstellungen vom Wohnen in den
Inklusion versuchen die Anforderungen von Artikel 21 der        Mittelpunkt.“
UN-Behindertenrechtskonvention konkret umzusetzen, u.a.
das Recht von behinderten Menschen sich Informationen           Die aktuelle Diskussion über die Zukunft der Städte wird
und Gedankengut frei zu beschaffen, zu empfangen und            in Deutschland publizistisch stark dominiert von dem im
weiterzugeben. In ihrem Artikel 9 Absatz 1 verpflichtet         Mai 2017 erschienenen Buch „Stress and the city“, in dem
die UN-Behindertenrechtskonvention ihre Unterzeichner-          der Autor Mazda Adli sich in 15 Kapiteln mit den Fragen
staaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um für Men-            beschäftigt, die schon den Untertitel seines Werks kenn-
schen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen            zeichnen: „Warum Städte uns krank machen und warum
den Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln,          sie trotzdem gut für uns sind“.
zu Information und Kommunikation, einschließlich Informa-
tions- und Kommunikationstechnologien und -systemen,            Im Kapitel zum sozialen Stress führt er aus: “Insbesondere
sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der            können Diskriminierungserfahrungen extremen sozialen
Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen     Stress auslösen. Solche Erfahrungen machen zum Beispiel
stehen oder für sie bereit gestellt werden, zu gewährleisten.   Zuwanderer, die in die Großstädte ziehen und dort auf
Wichtig ist hierbei eine möglichst umfassend barrierefrei       engem Raum mit anderen Migranten zusammenkommen.
gestaltete Umwelt als Grundlage für eine gleichberechtigte      Während die Zuwanderer der ersten Generation davon pro-
gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinde-            fitieren können, dass sie sich mit Menschen aus demselben
rungen. Der Anspruch auf Barrierefreiheit wird auch durch       Kulturkreis zusammentun, leidet die Nachfolgegeneration
das Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) rechtlich          stärker unter den Folgen dieses Verhaltens. Es besteht dann
unterstützt.                                                    die Gefahr, dass es zu einer Ghettobildung kommt und dass
                                                                die Zuwanderer und ihre Kinder unter sich bleiben.“ (S. 46)
Das in der sozialen Arbeit entwickelte Konzept der Sozi-        Im Kapitel „Macht Stadtluft krank? Stadt und Gesundheit“
alraumorientierung als ganzheitliches Handlungskonzept          referiert er die Schizophrenierisikounterschiede zwischen
setzt den Fokus auf die Verbesserung der Lebensbedin-           Stadt und Land ebenso wie die WHO-Definition einer
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6     Diakonie für Menschen

gesunden Stadt und die Initiativen zu mehr grün, bevor
er im darauffolgenden Kapitel „Zu viel, zu dicht, zu allein.      Weiterführende Informationen
Sozialer Stress in der Stadt“ Verrohung und Einsamkeit
als Phänomene modernen städtischen Lebens diskutiert.             Bundeszentrale für politische Bildung:
Das soziale Kapital der Stadt, ihre Integrationsfähigkeit und     http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/
die Hoffnung, dass vor dem Hintergrund von Pluralität und         soziale-situation-in-deutschland/
Diversität so etwas wie eine Gemeinschaft entstehen kann,
bieten – trotz aller sozialen Probleme städtischen Lebens         Deutscher Caritasverband:
– keinen hoffnungslosen Ausblick an.                              https://www.caritas.de/glossare/sozialraumorientie-
                                                                  rung
Und doch stellt der Psychiater und Psychotherapeut Mazda
Adli seinem Buch als Geleitwort Jerima 29:7 voraus:               Aktion Mensch:
Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen            https://www.aktion-mensch.de/themen-informieren-
lassen, und betet für sie zum Herrn, denn wenn‘s ihr wohl-        und-diskutieren/wohnen-sozialraum.html
geht, so geht‘s euch auch wohl.
                                                                  Mazda Adli - Stress and the City:
                                         Dr. Andreas Weber        Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotz-
                                                                  dem gut für uns sind, C. Bertelsmann (2017)

Nichts ist so beständig wie der Wandel
Stadtmission sorgt für ein lebenswertes Zuhause

Die Evangelische Stadtmission Halle hat eine wechselvolle       Personalsuche nimmt immer mehr Zeit in Anspruch und
Geschichte durchlebt und ist von einem andauernden              wird zu einer Kernaufgabe der Arbeit.
Wandel geprägt. Seit 1888 haben sich die Anforderungen          Mit den neuen gesetzlichen Anforderungen des BTHG
stetig geändert, die politischen Systeme gewandelt und          sollen die Leistungen für Menschen mit Behinderung aus
sich unzählige ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter für         dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgelöst und die
die Belange Hilfebedürftiger eingesetzt.                        aktive Lebensgestaltung und die stärkere Teilhabe an der
Die gegenwärtige Zeit setzt wieder einmal die große             Gesellschaft gefördert werden. Exemplarisch für die um-
Veränderungsfähigkeit der Stadtmission voraus. Mit der          fangreichen Änderungen seien hier nur wenige Eckpunkte,
Inkraftsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), der           die die Wohnformen der Stadtmission betreffen, genannt.
Pflegestärkungsgesetze und weiteren gesetzlichen Ände-          Das BTHG definiert das Verhältnis zwischen dem Lei-
rungen stehen alle Einrichtungen und Dienste der Einglie-       stungserbringer Stadtmission und den Bewohnern neu,
derungshilfe in Deutschland vor großen Herausforderungen.       indem die Trennung von existenzsichernden Leistungen
Um auch künftig das bestehende Leistungsspektrum für            und Fachleistungen der Eingliederungshilfe vorgenommen
die Bewohner und Klienten anbieten zu können, müssen            wird. Die Unterscheidung von „ambulanten und stationären
strukturelle Anpassungen vorgenommen und neue An-               Wohnformen“ wird zugunsten von „eigenem und gemein-
gebote geschaffen werden. Der demografische Wandel,             schaftlichem Wohnraum“ aufgegeben. Die Feststellung des
also die Veränderungen der Bevölkerungsstruktur in              Bedarfs und der dafür notwendigen Hilfen kann in Zukunft
Deutschland, vollzieht sich auch in unseren Wohnformen,         auch ausschließlich durch die Sozialämter ohne Beteiligung
sodass Lebenserwartung und Pflegebedürftigkeit zuneh-           der Stadtmission erfolgen. Der Klient muss sich mit seinen
men. Darüber hinaus verschärft sich der viel beschriebene       Angehörigen oder seinem gesetzlichen Betreuer allein
Fachkräftemangel auch in der Stadtmission spürbar. Die          mit den staatlichen Stellen auseinandersetzen und seine
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Diakonie für Menschen     7

Interessen vertreten. Die immer komplexer werdende und          rungsbewegungen, die sich vom Land in die Stadt und aus
unübersichtliche Sozialgesetzgebung birgt die Gefahr, dass      Sachsen-Anhalt heraus in andere Regionen Deutschlands
die berechtigten Ansprüche der Klienten nicht in jedem          vollziehen, nimmt das Potential gut ausgebildeter Arbeits-
Fall gewährt werden und somit könnten Kürzungen des             kräfte stetig ab. Verstärkt wird diese Entwicklung durch
Leistungsumfangs die Folge sein.                                die oben genannte Zunahme der Pflegebedürftigkeit durch
                                                                die alternde Bevölkerung, denn so wird auch der Bedarf
Mit den Pflegestärkungsgesetzen wird ein neuer Pflege-          an Pflegepersonal steigen. Das Finden von geeigneten
bedürftigkeitsbegriff eingeführt, der den Hilfebedarf eines     Mitarbeitern, die künftig den diakonischen Auftrag der
Menschen nicht mehr an Minuten, sondern am Grad der             Stadtmission erfüllen, wird somit noch stärker als zuvor
Selbstständigkeit festmacht. Auch ein neues Begutach-           eine wesentliche Aufgabe sein.
tungsinstrument zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit        Die dezentrale Aufstellung mit den verschiedenen Stand-
wird etabliert. Es stellt den Menschen, seine Ressourcen        orten in Halle und im Saalekreis ist Chance und Herausfor-
und Kompetenzen in den Mittelpunkt. Dabei werden nicht          derung zugleich. Durch Wohnformen für unterschiedliche
nur Bereiche wie Körperpflege, Ernährung sowie hauswirt-        Hilfebedarfe in der Stadt sowie im ländlich geprägten Raum
schaftliche Versorgung betrachtet, sondern auch die kogni-      ist ein breites Spektrum an Angeboten vorhanden, um in-
tiven und kommunikativen Fähigkeiten, die Verhaltenswei-        dividuellen Ansprüchen gerecht zu werden. Gleichzeitig ist
sen und psychischen Problemlagen sowie die Gestaltung           die Lage mit dem Komplexstandort Johannashall nicht für
von Alltagsleben und sozialen Kontakten. Bereiche, die          alle Mitarbeiter gleichermaßen gut zu erreichen. Die unzurei-
bisher vornehmlich von der Eingliederungshilfe in den Blick     chende Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel macht das
genommen worden, rücken auch in der Pflegeversicherung          eigene Fahrzeug zur Grundvoraussetzung für die Arbeit. Der
in den Fokus. Daher wird mit Einführung des BTHG und den        Arbeitsort Halle ist im Gegensatz dazu besser angebunden
Pflegestärkungsgesetzen die Grenze zwischen Leistungen          und das Einzugsgebiet an potentiellen Mitarbeitern größer,
der Pflege und der Eingliederungshilfe neu justiert. Die Aus-   was auch die Personalsuche etwas erleichtert.
wirkungen können gravierend sein, wenn die Stadtmission         Die Personalsuche verschärft sich darüber hinaus durch
keine Möglichkeiten findet, eigene Angebote zu platzieren       die bestehenden Arbeitsbedingungen. Die physischen und
(z.B. durch einen eigenen ambulanten Pflegedienst).             psychischen Belastungen im Betreuungsalltag der verschie-
                                                                denen Wohnformen der Stadtmission sind im Vergleich zu
Der demografische Wandel wirkt sich in zweifacher Weise         anderen Tätigkeiten ungleich höher. Arbeiten im Schicht-
auf die Stadtmission aus. Zum einen betrifft er die Bewohner    dienst, an Wochenenden, nachts und in den Abendstunden
in den verschiedenen Wohnformen. Das Durchschnitts-             sowie hohe körperliche Belastung prägen den Alltag der
alter und auch die Lebenserwartung der Menschen mit             Mitarbeiter. Menschen, die in helfenden Berufen tätig sind,
Behinderung steigt - in vergleichbarer Weise, wie das für       sind selbst einem höheren Krankheitsrisiko ausgesetzt.
die Gesamtbevölkerung Deutschlands zu verzeichnen ist.          Dem entgegen stehen die Rückmeldung der Bewohner
Damit einher gehen die zunehmende Pflegebedürftigkeit           und Klienten, die große Dankbarkeit, die man erfahren kann
und der steigende Pflegebedarf der Bewohner und Klienten.       und die unmittelbare Arbeit mit dem Menschen, die mehr
Der Hilfebedarf in den ambulanten und gemeinschaftlichen        als in jeder anderen Tätigkeit den Sinn dieser Berufung
Wohnformen wird weiter steigen und die Pflege mehr und          spüren lassen.
mehr notwendig werden. Auch Menschen mit Behinde-               Unsere Aufgabe und unser Anspruch seit vielen Jahr-
rung wollen von der Möglichkeit Gebrauch machen, so             zehnten ist es, Menschen mit Behinderung ein „Zuhause“
lange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit zu leben.         zu schaffen und die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermög-
Der Geschäftsbereich „Leben & Wohnen“ wird daher noch           lichen. Zuhause bedeutet Sicherheit, Geborgenheit und
stärker auf die Belange der Pflege achten müssen. Auch          Rückzugsmöglichkeit. Diesen Ort der Geborgenheit können
die Zahl der Senioren, die das Rentenalter erreicht und         wir nur bieten, wenn wir die beschriebenen Anforderungen
bisher die Werkstatt für behinderte Menschen besucht            aktiv angehen und gestalten, damit aus Herausforderungen
haben, nimmt zu. Das bedeutet, dass tagesstrukturierende        keine Unsicherheiten werden. Nur mit dem Wissen und der
Angebote stärkeres Gewicht bekommen und vom Umfang              Akzeptanz der aktuellen Veränderungen können wir auch
zunehmen werden.                                                den betreuten Personen in den Wohnformen weiterhin ein
                                                                lebenswertes Zuhause schaffen.
Ein weiteres Moment des demografischen Wandels ist
die Abnahme des Arbeitskräfteangebots. Durch Wande-                                           Anett Jäkel, Sebastian Thiele
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8     Diakonie für Menschen mit Behinderung

Mehr als nur vier Wände
Die schwierige Suche nach der eigenen Wohnung

Eine eigene Wohnung gehört zu den Grundbedürfnissen             übernommen. Dabei sollte die Wohnung im Regelfall ma-
der Menschen. Sie bietet vielfältigen Schutz, nicht nur vor     ximal 50 qm groß sein.
dem Wetter. Sie ist ein wichtiger privater Rückzugsraum.
Für die Menschen ist es zudem wichtig, wie ihre eigene          Solche Wohnungen befinden sich in Halle vor allem außer-
Wohnung ausgestattet ist, wo so sich befindet, welche           halb der Innenstadt und den Vierteln nördlich davon in den
Qualität sie hat. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen     Randlagen der Stadt.
mit Behinderungen. Die körperlichen und/oder seelischen         So wohnen die Beschäftigten oft in kleinen Zweiraumwoh-
Beeinträchtigungen sind in der Regel sehr individuell. So       nungen um die 40-45 qm in Halle-Neustadt, in Trotha oder
sind dann auch die Bedürfnisse an den eigenen Wohnraum          im Süden der Stadt. Fragt man nach Problemen, kommen
sehr unterschiedlich.                                           vor allem solche des Wohnumfeldes und der Betreuung
                                                                zur Sprache. Die Größe der Wohnungen wird an sich nicht
Wie sieht es aber aus der Sicht der Betroffenen aus? Gibt       bemängelt.
es für Menschen mit Behinderungen genügend Möglich-
keiten, einen passenden Wohraum für ihre indivuduellen          Wichtig für die Einschätzung ihrer Wohnsituation ist in be-
Bedürfnisse zu finden?                                          sonderem Maße eine ruhige Lage der Wohnung. „Ich will
                                                                es einfach ruhiger haben.“ Dieser Satz fällt immer wieder.
In einer Großstadt wie Halle gibt es eine Vielzahl von          Das jedoch ist im Falle einer Wohnung in einem Neubau-
unterschiedlichen Wohnungstypen, von Stadtteilen und            block selten der Fall. Die Bauweise und die Vielzahl von
Quartieren. Die Suche nach einem geeignetem Wohnraum            Mieterparteien lässt eine angemessene Ruhe selten zu. Die
wird für Menschen mit Behinderungen nicht allein vom            Wohnungen sind hellhörig. Nicht jeder der vielen Nachbarn
Wohnungsmarkt geregelt. Ein wichtiges Kriterium sind die        nimmt Rücksicht auf sein Umfeld.
gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das Sozialgesetzbuch
II sieht für eine Person einen Wohnraum von 47 qm als an-       Doch gerade als Mensch mit einer seelischen Beein-
gemessen an. Für Menschen mit Handicaps kann jedoch             trächtigung ist Ruhe ein sehr wichtiges Kriterium für das
ein individueller Mehrbedarf geltend gemacht werden, so im      Wohlbefinden. Kommt es zu stetigen Lärmbelästigungen,
Falle der Benutzung eines Rollstuhles oder der Einschrän-       fühlen sich die Betroffenen mit ihrer Wahrnehmung oft allein
kung durch Sehbehinderungen.                                    gelassen. Unterstützung für ihre Belange können sie sich
                                                                immer wieder bei einzelnen Nachbarn holen. Jedoch finden
Die Beschäftigten der Stadtmission leben in unterschied-        sie bei den Vermieter selten ausreichend Gehör. Besonders
lichen Wohnformen. Einige haben ihr Zuhause in den Wohn-        die privaten Vermieter, so betonen die Betroffenen, lassen
heimen, andere leben im Ambulant Betreuten Wohnen. Ein          es oft an Kommunikation mangeln. Hinzu kommt auch,
nicht unerheblicher Teil der Beschäftigten lebt jedoch in den   dass es gerade auf dem privaten Wohnungsmarkt immer
eigenen vier Wänden.                                            wieder zu einem Wechsel der Vermieter durch Weiterver-
                                                                kauf der Wohnungen kommt. Da die Stadt selbst in der
Wie und wo leben diese Beschäftigten? Wie denken sie            Vergangenheit diese Privatisierungen von kommunalen
über die Möglichkeiten, die sie am Wohnungsmarkt haben?         Wohnraum betrieben hat, ist sie nach der Meinung so
In einem Gespräch mit den Beschäftigten im Büropunkt der        mancher betroffenen Mietpartei für die jetzt bestehenden
Stadtmission im Weidenplan kamen wichtige Erkenntnisse          Probleme mit verantwortlich.
zu Tage. Viele von ihnen gaben im Gespräch bereitwillig
über ihre Erfahrungen und Bedürfnisse Auskunft.                 Zu den angesprochenen Problemen gehören weiterhin
Die Beschäftigten des Büropunktes leben und arbeiten            steigende Mieten, der allmähliche Verdrängung aus attrak-
mit unterschiedlichen seelischen Einschränkungen. Die           tiveren Wohngegenden, wobei Attraktivität nicht mit der
Kosten ihrer Wohnungen wird für für die Mehrzahl von Ihnen      Größe und Qualität der Wohnung in Verbindung gebracht
über die Grundsicherung oder die Aufstockung durch das          wird, sondern mit der Lage, der Erreichbarkeit der Woh-
Wohngeld auf eine Mindestrente getragen. Das schränkt           nung, dem sozialen Umfeld und auch die Anbindung an
von vornherein vor allem die Größe und den Standort der         kulturelle und wirtschaftliche Angebote in der Stadt. Die
Wohnung ein.                                                    eigene Wohnung ist eben mehr als nur die vier sprichwört-
                                                                lichen Wände. Sie ist auch der Ausgangsort für soziale und
In Halle werden als angemessene Unterkunftskosten für           kulturelle Teilhabe. Ist der Aufwand allerdings zu dieser zu
einen Einpersonenhaushalt Kosten von bis zu 302,50 €            groß, der Weg zum Beispiel zu kulturellen Angeboten der
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Diakonie für Menschen mit Behinderung            9

Stadt zu weit, so findet diese Teilhabe für den Einzelnen in      Unterkunft (KdU) vergeben werden, befinden sich fast aus-
diesem Falle nicht statt.                                         schließlich in den Randgebieten der Stadt. Nach unserer
Ist einmal der Wunsch nach einem Umzug gereift, so fühlen         Erfahrung fördert dies die Entstehung von homogenen
sich die Beschäftigten in diesem Falle von den Behörden           Wohnräumen. Wie stehen sie zu diesem Problem?
abhängig. Ein Umzug bedarf im Falle einer Grundsicherung
immer auch der Zustimmung dieser. Fehlen dann noch                Was sind die Gründe für diese Vergabepraxis?
ausreichend Angebote an attraktivem Wohnraum, rückt der
Wunsch nach einer neuen Wohnung schnell in weite Ferne.           Gibt es aktuell Planungen der Stadt Halle, eine Veränderung
Die Stadtmission ist sich dieser schwierigen Situation ihrer      dieser Entwicklung wie zum Beispiel durch eine stärkere
Beschäftigten sehr wohl bewusst. Ein Katalog an Fragen            Durchmischung der abgegrenzten Sozialräume bis ins
zum Quartiersmanagemnt in Halle sind an den Beigeord-             Zentrum zu erwirken?
neten Uwe Stäglin vom Geschäftsbereich Stadtentwicklung           Die einzelnen Sozialräumen entwickeln sich sehr unter-
und Umwelt gestellt worden.                                       schiedlich. Es gibt Bereiche in der Stadt, in der das Dienst-
Das Thema Inklusion findet sich nicht in den Leitbildern          leistungsangebot sich der lokalen Kundschaft anpasst
und Schwerpunktbereichen der Stadtentwicklung. Welchen            und vor allem Discounter den Handel bestimmen. Größere
Stellenwert hat dieses Thema für die Stadt Halle in Bezug         Arbeitgeber siedeln sich in Stadtteilen mit einem negativen
auf das Quartiersmanegement und die Stadtentwicklung?             Image eher nicht an. Wie sieht die Stadt diese Entwicklung
Für Menschen im Rollstuhl, die selbständig leben können,          auf das Gewerbe in diesen Stadtvierteln?
ist es schwer, eine geeignete, barrierefreie Wohnung zu           Der Allgemeine Soziale Dienst ist ein Teil der kommunalen
finden. Wie geht die Stadt mit diesem Problem um?                 Aufgaben. Viele Wohnungsgenossenschaft beschäftigen
                                                                  eigene Sozialarbeiter. Übernehmen diese Aufgaben der
Die Stadtmission Halle erlebt sehr häufig, dass unseren           Stadt?
Klienten des Ambulant betreuten Wohnens, vorwiegend
Menschen mit Behinderung, Wohnungen in „Problemstadt-             Wir sind gespannt auf die Antwort.
teilen“ wie dem Südpark und der Silberhöhe angeboten
werden. Wohnungen, die nach der Richtlinie Kosten der                                                        Thomas Jeschner

  Der Wohnungsmarktbericht der Stadt Halle (Saale)
  Die Verwaltung der Stadt Halle veröffentlicht seit 2003         wird so eingeschätzt: Der ”... Nachfrageüberhang (bei den
  Wohnungsmarktberichte. Der letzte veröffentlichte Bericht       Beziehern niedriger Einkommen) bleibt 2013 bestehen. Die
  stammt aus dem Jahr 2013. Die Ergebnisse entsprechen            zukünftigen Erwartungen für dieses Marktsegment bestäti-
  somit nicht dem neuesten Stand.                                 gen einen weiter steigenden Nachfrageüberhang.“ (S. 52)

  Im Bericht aus 2013 gibt es keine Perspektive aus der Sicht     In der Zusammenfassung werden unter Punkt 10 Heraus-
  der Menschen mit Behinderung. Eine Schlagwortsuche              forderungen an die Stadt analysiert (S. 64). Dazu zählt eine
  nach relevanten Begriffen und eine Textanalyse ergaben          starke Ausgrenzung, denn mehr als die Hälfte der Bedarfs-
  keine Treffer.                                                  gemeinschaften lebt in einer Großwohnsiedlung und jeder
                                                                  siebente Einwohner ist von Transfereinkommen abhängig.
  Der Bericht weist allgemeine Analysen auf. Unter dem Punkt      Die Wohnungsmarktentwicklung weist insgesamt in die
  7.3 ”Merkmale des halleschen Wohnungsmarktes aus der            richtige Richtung. Eine Herausforderung bleibt allerdings die
  Sicht der Wohnungsmarktakteure“ (S. 54) wird konstatiert:       Stärkung der Innenstadt bzw. der innerstädtischen Stadt-
  ”Bezogen auf spezielle Mietergruppen werden zunehmend           umbaugebiete sowie der Erhalt der sozialen Mischung der
  Schwierigkeiten von Geringverdienern bzw. Erwerbslosen          Bevölkerung in den Wohngebieten.
  und von Ausländern/Aussiedlern bei der Wohnungssuche
  gesehen. Als besonders typisch werden die hohen Ansprü-         Die Wohnungsmarkberichte finden sich unter:
  che der Mieter an die Qualität der Wohnungen herausgestellt,    http://www.halle.de/de/Verwaltung/Online-Angebote/Vero-
  ...“. Weiterhin wird eine zunehmende räumliche Trennung so-     effentlichungen/index.aspx?RecID=62&Type=0
  zialer Milieus als typisch beschrieben. Die Nachfragestruktur
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Auf der Suche nach einem Leben in Würde
Die Situation der Roma in Halle

Wussten Sie, dass die Sinti und Roma vor über 1.000           ändert) nach Halle, um Arbeit zu finden. Sie wollen ihren
Jahren aus Indien auswanderten? Dass man nur im Deut-         Kindern eine Zukunftsperspektive geben, die sie selbst
schen von „Sinti“ spricht und diese Gruppe schon seit         nie hatten. Viele Roma in Halle kommen aus Bolintin-Va-
über 600 Jahren in Deutschland lebt? Wussten Sie, dass        le, einer Kleinstadt im Südosten Rumäniens unweit von
95 % aller Roma sesshaft sind? Dass die Versklavung der       Bukarest. Dort verdienten sie ihren Lebensunterhalt mit
Roma in Rumänien erst 1864 aufgehoben wurde?                  prekären selbständigen Tätigkeiten oder Gelegenheitsar-
                                                              beiten. „Munca de jos“ – „niedrige Tätigkeiten“, wie sie es
„Roma“ ist der international gebräuchliche Begriff für die    nennen.
Angehörigen der Minderheit. Die meisten der in Deutsch-
land lebenden Roma nennen sich selber jedoch Sinti.           Ohne Bildung und Abschlüsse bestehen auch in Halle
Seitdem Roma in Europa leben, werden sie immer wie-           Barrieren. Fehlende Alphabetisierung erschwert es vie-
der ausgegrenzt und verfolgt. Während des Nazi-Regimes        len Erwachsenen, Deutsch zu erlernen. Sprachbarrieren
wurden 500.000 Sinti und Roma ermordet. Unter den in          bei Ämtern und Behörden prägen den Alltag. Beratungs-
den 1970er Jahren nach Deutschland gekommenen Gast-           dienste für Migranten aus EU-Staaten gibt es wenig und
arbeitern aus dem damaligen Jugoslawien waren viele           sie sind meist völlig überlastet. Das Programm der ehren-
Roma. Aus Angst vor Stigmatisierung sprachen die mei-         amtlichen Sprachbegleiter in Halle kann auch nicht flä-
sten jedoch nicht über ihren Roma-Hintergrund. Wäh-           chendeckend Hilfe anbieten. Diese Lücke füllen inoffizielle
rend des Kosovokrieges flohen ca. 500.000 Roma nach           Übersetzer, die für Begleitungen bis zu mehrere hundert
Deutschland. Seit 1998 sind die deutschen Sinti und           Euro verlangen. Für viele Roma ist dies jedoch der einzige
Roma als nationale Minderheit anerkannt.                      Weg, eine Wohnung zu finden, staatliche Leistungen zu
                                                              beantragen oder einen Sprachkurs zu belegen.
Auf Grund gesellschaftlicher Diskriminierung leben viele
Roma in Europa in Armut. Ebenso wie es jedoch viele           Anspruch auf Sozialleistungen hat nur, wer ein Gewerbe
Roma gibt, die in ärmlichen Verhältnissen leben, arbeiten     betreibt und damit einen bestimmten Umsatz erwirtschaf-
viele Roma auch als Handwerker oder Ärzte. Die Lebens-        tet oder wer eine feste Arbeitsstelle hat. Häufig sind die
verhältnisse in Roma-Siedlungen, deren es an den Dorf-        genauen Regelungen jedoch schwer zu durchschauen.
und Stadträndern in Rumänien viele gibt, sind oft unvor-      Ohne Einkommen ist es schwer, die Miete zu bezahlen,
stellbar schlecht.                                            geschweige denn andere Ausgaben zu bestreiten, wie
                                                              z.B. für Fahrscheine. Der Weg von den Wohnbezirken wie
Seit 2014 gilt die Freizügigkeit für Arbeitnehmer innerhalb   dem Südpark bis ins Stadtzentrum ist weit und Mobilität
der EU auch für Rumänen. Damit können sie überall in          teuer. Vielfach wird den Familien das Kindergeld mehr als
Europa arbeiten. In Halle leben heute ca. 1.200 von ihnen.    ein Jahr vorenthalten, weil die zuständige Familienkasse
Nur ein kleiner Teil davon gehört zur Bevölkerungsgruppe      in Nürnberg die Anträge zu langsam bearbeitet. Wer kein
der Roma. Die meisten der in Halle lebenden Roma haben        Geld vom Jobcenter bekommt, kann keinen Sprachkurs
nicht mehr als die Grundschule abgeschlossen, wie ein         besuchen und findet schwieriger Arbeit. Auch die Woh-
großer Teil der in Rumänien lebenden Roma. Dadurch ha-        nungssuche ist erschwert. Können Familien die Miete
ben sie geringere Chancen auf dem rumänischen Arbeits-        nicht zahlen, müssen sie ausziehen und ziehen dann zu
markt. 60% der Roma leben laut Statistiken in Rumänien        anderen Familienmitgliedern. Häufig zieht das wiederum
unterhalb der Armutsgrenze, in der restlichen Bevölkerung     andere Probleme nach sich, wie z.B. Beschwerden von
ist es knapp ein Viertel. Die Lebenserwartung liegt für       Nachbarn wegen Lärmbelästigung, die auch wieder zur
Roma mit 52 Jahren 16 Jahre unter dem Durchschnitt der        Abmahnung führen können. Für viele von ihnen ist Bet-
rumänischen Bevölkerung. Die Kindersterblichkeit ist bei      teln in dieser Situation ein Lösungsansatz, um das geringe
Roma dreimal höher. Denn die Folgen von Armut sind so-        Familienbudget aufzustocken. Dieser zieht wiederum ver-
wohl geringer Zugang zu Bildung, öffentlicher Versorgung,     schiedene Formen von Diskriminierung und Separierung
Hygiene, Gesundheit und zum Arbeitsmarkt als auch so-         nach sich. Also auch hier - die zwei Teufelskreise.
ziale Ausgrenzung: zwei Teufelskreise, die, ineinander ver-
schlungen, kaum Ausweichmöglichkeiten bieten und de-          Da Kindergeld oft die einzige Einnahmequelle ist, die
nen viele der Familien durch Migration nach Deutschland       durch Betteln aufgestockt wird, bleibt für Bildung und da-
entkommen wollen.                                             für notwendige Materialien wenig Geld übrig. Herr Costa-
So kamen auch Lenuta und Gabriel Costache (*Name ge-          che ist froh, dass die Familie zumindest regelmäßig die
Diakonie für Menschen        11

Miete zahlen kann, was bei weitem nicht alle können, so-     Viele Vorurteile werden damit scheinbar bedient. Aufga-
dass seine Familie nicht mit der Angst lebt, auf der Stra-   be der Mehrheitsgesellschaft ist es meiner Ansicht nach,
ße zu landen. Er wünscht sich aber, dass die Kinder auch     diese zu hinterfragen. Dafür lohnt sich eine persönliche
in die Schule gehen könnten. Aufgrund abgebrochenen          Begegnung mit den zugezogenen Menschen in Halle.
Schulbesuchs in Rumänien, der leider bei 75% der über        Nach rassistisch motivierten Übergriffen in der Silberhöhe
14-Jährigen der Fall ist, kommt es häufig zur Überalterung   zogen 2015 viele Familien in den Südpark, um dort mit
bei der Klassenzuweisung, d.h. dass viele Jugendliche        weniger Angst zu leben. Doch auch dort gibt es Probleme.
nicht ihrem Alter gemäß die entsprechende Klassenstufe       Es ist traurig, dass viele Familien wiederkehrende Diskri-
besuchen können. Ein 14-Jähriger, der die sechste Klasse     minierungs- und Ausgrenzungserfahrungen machen müs-
besuchen muss, weil er in der achten Klasse den Stoff        sen. Hier ist Offenheit der Mehrheitsgesellschaft gefragt.
nicht versteht, findet das natürlich peinlich. Das würde     Denn wenn man Frau Costache fragt, was sich verändern
anderen Jugendlichen auch so gehen. So gibt es mehrere       soll, dann wünscht sie sich einfach, dass es besser wer-
Ursachen, die dazu führen können, dass Jugendliche den       den solle.
Schulbesuch vernachlässigen.
                                                                                                                    Ute Ehlert

                                                                     Viele Roma leben heute im südlichen Teil von Halle Neustadt
12    Diakonie für Menschen

Ein offenes Haus
Die Stadtmission als Schutzraum für Wohnungslose

Die Wärmestube in der Breiten Straße ist eine Herzkammer        bangen Nächten mit mütterlicher Liebe betreut. Einmal
der Stadtmission. Am 1. Januar 1993 öffnete sie ihre Pforten    wurde uns auch ein Knäblein gebracht, das die Mutter auf
als Tagesaufenthalt für hilfe- und schutzsuchende Men-          die Straße gelegt hatte in der Mitternacht – und es ist mit
schen, damals noch in eigenen Räumen im Weidenplan.             Gottes Hilfe am Leben geblieben.“
Drei Jahre später bezog die Wärmestube ihr heutiges Do-         Große Zeiten der Not waren die Jahre nach den beiden
mizil. Sie ist immer schon ein Anlaufpunkt für wohnungslose     Weltkriegen. Die Kapazitäten der Stadtmission stießen da-
Menschen. Seit Januar diesen Jahres leitet Heiko Wünsch         mals schnell an ihre Grenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg
die Einrichtung. In wenigen Wochen wird die Einrichtung         zogen große Flüchtlingsströme durch Sachsen-Anhalt. Viele
in den Steinweg umziehen.                                       der heimatlos gewordenen Menschen fanden in Halle und
Die Öffnung eines solchen Schutzraumes für Bedürftige war       im Saalekreis ein neues Zuhause. Eine Bleibe und genügend
1993 mehr als notwendig geworden. In den Jahren nach            Verpflegung für alle Menschen zu organisieren, gehörte zu
der Wende zogen nicht nur viele Freiheiten in die neuen         den größten Herausforderungen jener Zeit. Die Behörden
Bundesländer ein. Es kam zu sozialen Verschiebungen             und die Bestzungsmächte konnten dies nicht allein lei-
und zur Sichtbarwerdung bisher verdrängter Probleme.            sten. Im Weidenplan wurde praktisch aus dem Nichts ein
Obdachlosigkeit gehörte dazu. Die Gesellschaft musste           Flüchtlingsheim eingerichtet. Die Überzeugung, helfen zu
wieder lernen, im Sinne und zum Wohl der Betroffenen            können, ließ die Türen im Weidenplan offen stehen. Der
damit umzugehen.                                                Stadtmission und allen diakonischen Einrichtungen half
Eine dynamische Gesellschaft birgt neben vielen Chancen         bei der Bewältigung dieser Aufgaben, dass die kirchlichen
immer auch Risiken. Nicht jeder Mensch nimmt gleichsam          Strukturen über die Grenzen der damaligen Besatzungs-
von anderen am Erfolg und am Fortschritt teil. Einzelne blei-   zonen intakt blieben.
ben dabei auf der Strecke. Die Gründe hiefür sind so vielfäl-   Als in den Jahren nach der Wende auf den Straßen Halles
tig wie die Menschen. Dies ist nicht nur ein Zeichen unserer    die ersten Menschen ohne Obdach sichtbar wurden, gab
Tage. Auch in den Zeiten der Gründerjahre im späten 19.         es Stimmen, die meinten, dass es „so etwas“ früher nicht
Jahrhundert erlebte die Stadt Halle große Umbrüche und          gegeben hätte. In der DDR wurde Obdachlosigkeit ähnlich
weitreichende Entwicklungen. Nicht umsonst wurde die            dem Nichtnachgehen einer regelmäßigen Beschäftigung
Evangelische Stadtmission in jenen Jahren gegründet.            seit 1968 über den § 249 des Strafgesetzbuches als Asozi-
Die Wohnungslosenarbeit war in der Stadtmission immer           alität kriminalisiert. Vor allem in den Großstädten herrschte
ein integrierter Teil ihrer normalen Angebote. Das 1906         allerdings akute Wohnungsnot. Wohnungslose sollte es
im Weidenplan 3 mit elf Räumen eingerichtete Frauenzu-          politisch nicht geben. Ihre pure Anwesenheit gefährdete
fluchtsheim richtete sich an Frauen in vielfältigen Notlagen.   die ”Entwicklungsgesetze der sozialistischen Gesellschaft“.
Dazu gehörte in besonderem Maße drohende oder existie-          Sie verschwanden aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wie
rende Wohnungslosigkeit. Deutlich wird dies in den alten        aber sollte man als diakonische Einrichtung ein Problem
Aufzeichnungen und Berichten der Stadtmission. So findet        angehen, wenn es dieses offiziell nicht geben durfte? Immer
sich im „50. Jahresheft der Hallischen Stadtmission“ fol-       wieder fielen Menschen aus dem sozialistischen System
gende Beschreibung über die Entwicklung des Heimes: „Im         der Staatsfürsorge. Institutionen wie eine Stadtmission, die
Jahre 1903 fanden 27 Aufnahmen statt, 1927 wurden 575           Erfahrungen mit der Wohnungslosigkeit vorweisen konnten,
Erwachsene und 110 Kinder aufgenommen. Dabei ist aber           liefen Gefahr, sich konfrontativ gegen die Staatsorgane zu
zu berücksichtigen, daß vielfach Obdachlose aufgenommen         stellen, wenn sie sich dem Problem annahm. In Ostberlin
wurden, die in zahlreichen Fällen nur vorübergehend bei         arbeitete die Bahnhofsmission am Ostbahnhof als einzige
uns blieben.“                                                   ihrer Art auch in den DDR-Jahren weiter. Dort nahm man
Im Jahr 1936 bezog das Zufluchtsheim größere Räume im           sich der Problematik der Wohnungslosigkeit aktiv und of-
Weidenplan. Im Bericht werden Beispiele für die Arbeit im       fensiv an. In vielen Einrichtungen konnte man dagegen nur
Zufluchtsheim aufgeführt: „Tag und Nacht steht es allen         „still“ helfen. Aktiv Politik im Sinne der Wohnungslosen zu
schutzsuchenden, heimatlosen Frauen und Mädchen offen.          gestalten, war schwierig.
Da kommt wohl mitten in der Nacht ein Wachtmeister der          Dies ist seit der Wende anders. Die Stadtmission ist aktiver
Schutzpolizei und bringt eine Frau, die er hilflos aufgefun-    Teil eines Hilfsangebotes der Stadt zum Thema Armut
den hat. ... Ein Ehemann bringt seine Frau und ein Zwillings-   und Wohnungslosigkeit. Als Mitinitiator des Aktionstages
pärchen, weil sie keine Wohnung haben, ... manch kleines,       Wohnungsnot seit der Mitte der 1990er Jahre machte sie
schwaches Menschenpflänzlein haben unsere Schwestern            die Sache der Betroffenen öffentlich und sensibilisierte die
sorgsam gehegt und namentlich in kranken Tagen und              Stadtpolitik in deren Sinne.
                                                                                                            Thomas Jeschner
Diakonie für Menschen    13

Zuversicht und Vertrauen
Die Wärmestube unter neuer Leitung

                                                                ihres Lebensalltages überfordert sind und von anderen
  „Manchmal ist es die Hoffnung die uns lächeln lässt.          Fachdiensten nicht erreicht werden.
   Und manchmal ein Lächeln, das uns hoffen lässt.“
                                                                Sowohl der Tagesaufenthalt als auch die Angebote der So-
Dies ist ein Motto, das Heiko Wünsch seiner Arbeit voran        zialberatungsstelle innerhalb der Wärmestube sind an keine
stellen möchte. Seit Januar 2017 ist er der neue Leiter         Vorbedingungen geknüpft. Jeder kann kommen und diese
der Wärmestube der Stadtmission. Er blickt auf eine Fülle       in Anspruch nehmen. Eine kleine Aufzählung soll die vielfäl-
von Begegnungen und Erfahrungen. Viele werden ihm               tige Arbeit vom Team um Heiko Wünsch veranschaulichen.
in Erinnerung bleiben, so ein Gespräch mit Hans, einem          Im Tagesaufenthalt können die Gäste Essen und Getränke
obdachlosen Besucher der Wärmestube. „...jetzt habe ich         gegen ein kleines Entgelt zu sich nehmen, duschen, Wäsche
wieder Zuversicht“, sagte dieser kürzlich. Er, der alles ver-   waschen, sich mit Lebensmitteln und Kleidern versorgen,
loren hat und seit Jahren einsam auf „Trebe“ geht, schöpft      ihren Alltag verbringen. Ein gemeinsames Mittagsgebet
wieder Hoffnung. Es ist vor allem die menschliche Wärme         gibt Halt und Struktur.
in der „Wärmestube“, die ihn wieder hoffen lässt und ihm
Kraft gibt, für einen Neuanfang. Auch das traditionelle Mit-    Die Unterstützung der Sozialberatungsstelle beinhaltet die
tagsgebet empfindet er als kraftspendende Bereicherung          Hilfe bei vielerlei Problemen, so mit der Wohnung, mit Miet-
in seinem Alltag. Unsere Einrichtung ist ein Ort an dem sich    schulden, mit der Justiz, bei Fragen zum Umgang mit den
die Besucher mit Würde und Respekt begegnen. Diese              Behörden. Es wird eine psychoziale Beratung angeboten.
Erfahrung stärkte sein Selbstwertgefühl und motivierte ihn,     Eine Krisenintervention hilft in Fragen der Existenzsiche-
den Weg zu den Sozialarbeitern in die Sozialberatung zu         rung. Viele weitere Dinge kommen im Einzelfall hinzu. Das
finden. Dort wird er dabei unterstützt, einen persönlichen      Angebot findet sich natürlich auf der Internetseite, ist tele-
„Hilfeplan“ zu erarbeiten, an dem er sich orientiert, um sich   fonisch zu erfragen. Ein Besuch in der Wärmestube aber
wieder Schritt für Schritt in die Gesellschaft zu integrieren   ist immer ein guter Schritt ins Vertrauen und zur Zuversicht.
und ein würdevolles Leben führen zu können. Das ist sein
Ziel.                                                           Die Einrichtung Sozialberatung & Tagesaufenthalt „Wär-
                                                                mestube“ wird im Juni in neue Räume in den Steinweg 48
Es hat etwas mit Würde zu tun, davon ist Heiko Wünsch           umziehen. Alle weiteren Informationen hierzu werden zu
überzeugt, in seiner eigenen Wohnung schlafen zu können,        gegebender Zeit veröffentlicht!
seine Kleidung und sein Brot vom eigenen Geld kaufen zu
können und vielleicht sogar wieder erwerbsfähig und tätig
zu sein.                                                                                  Heiko Wünsch, Thomas Jeschner

Laut einer Veröffentlichung der Bundesarbeitsgemein-
schaft Wohnungslosenhilfe wird die Eindämmung von
Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit eine der großen
sozialen Herausforderungen für die kommende Regierung.            Kontakt
Schätzungsweise über eine halbe Millionen Menschen
in Deutschland werden 2018 über keinen mietrechtlich              Sozialberatung & Tagesaufenthalt „Wärmestube“
abgesicherten Wohnraum verfügen. Die Tendenz ist dabei            Tel.: 0345 1715-790
steigend.                                                         Fax: 0345 2178-199
                                                                  Email: waermestube@stadtmission-halle.de
Hier zeigt sich, wie wichtig die Wärmestube für die betrof-       Adresse bis voraussichtlich Juni:
fenen Menschen und für die Stadt Halle ist. Basierend auf         Breite Straße 32a
der gesetzlichen Grundlage nach §§67-69 SGB XII richtet           06108 Halle (Saale)
sich die Einrichtung mit ihren niedrigschwelligen Angeboten       Bitte beachten Sie aktuelle Informationen bezüglich des
an einen weit zu fassenden Personenkreis. Dazu gehören            Umzugs an den neuen Standort im Steinweg 43.
Menschen die obdachlos sind, in unzumutbaren Wohn-
verhältnissen leben oder von Wohnungslosigkeit bedroht            Ansprechpartner:
sind ebenso wie Menschen mit psychosozialen Problemen,            Heiko Wünsch (Leiter der Einrichtung)
Menschen in prekären Lebenslagen, in sozialen Schwie-             Rene Pietsch (Sozialarbeiter)
rigkeiten oder Menschen, die einfach mit der Bewältigung
14    Diakonie für Menschen

In Melchiorsgrund
Der Alltag als Therapie für Suchterkrankte

Wir alle nutzen Drehtüren. Es gibt sie vor allem in großen     Viele der Patienten, die nach Melchiorsgrund ziehen, ha-
Gebäudekomplexen wie Hotels, Bürogebäuden und Kran-            ben eine schwierige Geschichte der Therapie hinter sich.
kenhäusern. Eine Drehtür soll eine reibungslose und schnel-    Dazu gehören gescheiterte Therapien ebenso wie eine
le Passage von vielen Menschen von einem Außen nach            Vielzahl von stationären Aufenthalten in psychiatrischen
einem Innen und umgekehrt ermöglichen. Sie funktionieren       Einrichtungen oder auch freiheitsentziehende Maßnahmen.
und sind für uns etwas Positives. Nur der Gedanke, dass        Hier in Melchiorsgrund, so die Hoffnung der Patienten und
sie es einmal nicht tun, und wir in einem solchen Falle in     der Klinikmitarbeiter, können sie in dem offenen Ansatz
einer Drehtür stecken bleiben könnten, lässt uns manchmal      verlorenes Selbstvertrauen und eine Teilhabe an allen Le-
eine Drehtür mit Argwohn betreten.                             bensbereichen wieder erlangen. Der Alltag ist die Therapie.
                                                               Dieser Gedanke geht auf den deutschen Soziologen Prof.
In der Psychiatrie beschreibt das Bild einer Drehtür dagegen   Bruno Hildenbrand zurück. Er lehrt momentan am Institut
einen negativen Effekt. Wer einmal eine Drehtür benutzt hat,   für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
kommt immer wieder zurück. In Melchiorsgrund, einem            Eine wichtige Rolle in diesem Konzept nehmen natürlich die
kulturtherapeutischen Dorf im mittelhessischen Vogel-          Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein. Im Selbstverständnis
bergskreis, möchte man diesen Drehtüreffekt mit einem          der Fachklinik heißt es: Alle Mitarbeiter begreifen sich als
besonderen Ansatz vermeiden.                                   interdisziplinäres und integrativ arbeitendes Team, wobei
                                                               jeder Einzelne aufgrund der sich durchdringenden Bereiche
Der Landkreis erhielt seinen Namen vom Vogelsberg, einem       angehalten ist, über den eigenen Verantwortungsbereich
Mittelgebirge und dem größten Vulkangebiet in Mitteluropa.     hinauszublicken und sich selbst auch als Lernender unter
Die Vulkane sind seit Jahrmillionen erloschen. Das Dorf Mel-   Lernenden zu begreifen. Teilhabe ist hier nicht nur in der
chiorsgrund gehört zur Gemeinde Schwalmtal und ist ein         Begrifflichkeit des ICF zu verstehen, sondern wird zur
offener Ort, in dem Patienten der Fachklinik Melchiorsgrund,   praktisch - empathischen Grundhaltung.
aber auch die Mitarbeiter und deren Familien gemeinsam
leben und arbeiten. Die im Dorf integrierte Fachklinik wurde   So werden Türen geöffnet, damit sich die Menschen nicht
im Jahr 1980 konzipiert und ein Jahr später als Einrichtung    im Kreise ihrer Erkrankungen immer nur weiter drehen.
der medizinischen Rehabilitation für rauschmittelabhängige
und psychisch erkrankte junge Menschen anerkannt. Gut                                                      Thomas Jeschner
die Hälfte der dort zu behandelnden Patienten werden
zum Kreis der Erkrankten mit Doppeldiagnosen gezählt,
lebten also schon vor dem Beginn ihrer Suchterkrankung
mit psychiatrischen Diagnosen.

In Melchiorsgrund werden diese beiden Erkrankungen
vom selben Therapeuten behandelt. Dies unterscheidet
die Klinik von vielen anderen therapeutischen Angebo-
ten. In Melchiorsgrund verspricht man sich von diesem
integrierten Therapieansatz erhebliche Vorteile gegenüber
Therapieformen, die nacheinander oder gleichzeitig, aber
in unterschiedlichen Settings die Patienten behandeln.
Dabei ist das offene Dorf, so die Fachklinik selbst, als
„professionell gerahmte Lebenswirklichkeit die hervorste-
chendste konzeptionelle Besonderheit.“ Ein wichtiges Ziel
des Konzeptes ist es, den Patienten einen angstfreien und
autonomen Rahmen für die Gestaltung ihrer verschiedenen
Lebensbereiche zu ermöglichen. Das Dorf bietet neben
Arbeitstätten wie die Milchviehwirtschaft eine Vielzahl
von weiteren sozialen und kulturellen Stätten der Begeg-
nung. Zum Dorf gehören ein eigener Laden, es werden
gemeinsame Kulturveranstaltungen, Feste und Seminare
organisiert.

                                                                        Melchiorsgrund - Kulturtherapeutisches Dorf im Vogelsberg
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