DieStadtmission 1 Was ist ein Zuhause? Wohnraum statt Wohnform 2017 - stadtmission-halle.de
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Stadtmission 1 1 die 2017 M A G A Z I N D E R E VA N G E L I S C H E N S TA D T M I S S I O N H A L L E / S A A L E Was ist ein Zuhause? Wohnraum statt Wohnform Editorial S. 3 Zukunft Wohnen S. 8 In dieser Wärmestube S. 13 Ausgabe: Das diaonische Profil S. 20 Im Verbund der
2 Diakonie für Menschen Die Reformation geht weiter Gedanken zum Jubiläum „2017“ Das Leben der Kirche ohne Martin Luther ist denkbar, aber wertige Geschöpfe Gottes anerkennen müssen, anstatt sie nicht möglich. als Hexen anzuklagen und zu vernichten? Doch was wären Luther und die Männer der Reformation Hätte man die kulturellen Leistungen der Muslime, ihre ohne die wagemutigen, wortgewaltigen und tatkräftigen Erkenntnisse in Medizin und gesunder Ernährung nicht Frauen aus Palästen und Klöstern, Bürgerhäusern und anerkennen können, anstatt auch sie zu verteufeln? Bauernkaten? Hätte man sich mit den ausgeplünderten Bauernfamilien Was wäre die Reformation in Gemeinden, Kirchen und nicht soldarisieren können und ihren Kampf gegen Ausbeu- Diakonie heute ohne die vielen engagierten Frauen und tung rechtfertigen müssen, anstatt die Heere der Fürsten einsatzfreudigen Ehrenamtlichen in und außerhalb der auf sie zu hetzen? Institutionen? Hätte man die Juden nicht als Schwestern und Brüder des Aber „Der Luther“ steht da: das „Denkmal“ der Kirche, Jesus aus Nazareth erkennen und ehren müssen, anstatt vermarktet als „Playmobilfigur“, jeweils mit der „Heiligen sie als Brunnenvergifter und Christusmörder zu verurteilen Schrift“ in der Hand. und mit der „Judensau“ zu verspotten? 2017 feiern Kirchen und Gemeinden das Jubiläum der Re- Hätte man die weltlichen Obrigkeiten nicht mit kritischer formation, auch mit einem Kirchentag. Gäste aus aller Welt Distanz begleiten müssen, statt ihnen die Gewalt des besuchen Ausstellungen und besichtigen bedeutende Orte Schwertes gegen alle Andersdenkenden zuzugestehen und der Reformation: das Geburtshaus, die Studierstube, Tisch jene zeitlos gültige „Zwei-Reiche-Lehre“ zu propagieren? und Kanzel, selbst die Totenmaske. Bilder von Cranach zei- Hätte Luther sowohl die Bedeutung des Einzelnen in seinem gen Martin, seine Frau Katharina, die Eltern, Reformatoren ganz persönlichen Verhältnis zu Gott herausstellen sollen, und Fürsten. Rechtzeitig zum Ereignis wurden zahlreiche als auch den gemeinsamen, solidarischen Glauben an ihren Bücher über Luthers Leben und Wirken herausgebracht Erlöser und die Rechtfertigung aller Sünden mitten in einer und verkauft. vielseitigen, komplizierter werdenden Welt? 1517 herrschte weithin noch Mittelalter. In Stadt und Land Für jede Reformation an Haupt und Gliedern muss gelten, spürten viele Menschen Ängste und Weltuntergangsstim- sie kann ohne das positive Bild von den erlösten Menschen mung. Sie fürchteten das Jüngste Gericht und lebten in und ihren schöpferischen Kräften nicht gelingen. einem tiefsitzenden Sündenbewusstsein. Doch vielerorts In der Geschichte der Menschheit ist und bleiben Refor- verbreitete sich Aufbruchsstimmung. Menschen entdeckten mationen „ewige“, zumindest immerwährende Ereignisse. die Welt. Die bewohnte Erde war keine Scheibe. Sie be- Sie bedeuten die entscheidende Aufgabe für die gesamte wegte sich um die Sonne. Humanisten betonten den „freien christliche Gemeinde, für Kirche und Diakonie, ebenso für Willen“ des Menschen. Die Kunst, Bücher zu drucken, ver- alle Religionen und Weltanschauungen, schließlich auch für breitete Schriften in deutscher Sprache. So wurden auch die nach 1945 und 1989 errungene Demokratie und das Luthers „Gute Werke“ bekannt: seine „Verdeutschungen“ Leben in einer bewohnbarer gestalteten Welt. Es geht um der hebräischen und griechischen Bibel und des Gottes- das glückend gelingende Zusammenleben in Familien und dienstes. Man predigte in der Sprache des Volkes, die Partnerschaften, unter Nachbarn und zwischen Völkern. Feier des Abendmahls in beiderlei Gestalt, Erläuterungen Denn jeder Mensch ist ein geliebtes und zur Freiheit aller zum Katechismus, Aussagen zur Ordnung von Kirche und berufenes Geschöpf Gottes – mit Würde und Rechten. Gemeinde, zum Priestertum aller Glaubenden, zur Bildung. Vor allem betonte Luther die Bedeutung der Schrift in ihren Ohne die wirksame Botschaft von Versöhnung und Frie- Aussagen zu der nicht verdienbaren, allein zuvorkom- den, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, Bewahrung menden Gnade Gottes, die er allen Menschen schenkt. Das der Schöpfung ist das Leben von Christen in Kirche und ereignet sich durch den barmherzigen, gekreuzigten Jesus, Gesellschaft weder zu verantworten, noch möglich. den auferstandenen, versöhnenden Christus. Andreas Riemann Was aber hätten die Reformatoren „um der zuvorkom- menden „Liebe Christ willen“ und aufgrund der biblischen Botschaft, in der neuen Zeit glaubhaft gestalten können? Hätte man viele Frauen in ihren Kenntnissen für Naturheil- verfahren nicht als „Kräuterweiber“ achten und als gleich-
Diakonie für Menschen 3 Inhalt Magazin 1/17 Seite 2 Andacht Seite 14 Thema: Melchiorsgrund Seite 3 Inhaltsverzeichnis Seite 15 Einkauf für 2,50 Seite 3 Editorial Seite 16 Moderne Arbeitsplätze Seite 5 Suchet der Stadt Bestes Seite 16 Der Inklusionsbetrieb Seite 6 Thema: Nichts ist so beständig Seite 17 Gemeinsam spielt es sich besser wie der Wandel Seite 18 Leuchtende Farben Seite 8 Thema: Mehr als nur vier Wände Seite 19 Feiertage neu entdecken Seite 10 Thema: Auf der Suche nach einem Seite 19 Das diakonische Profil Leben in Würde Seite 22 Du hast die Wahl Seite 12 Thema: Ein offenes Haus Seite 23 Termine und Öffnungszeiten Seite 13 Thema: Zuversicht und Vertrauen Seite 24 Impressum Editorial Gedanken zum Bundesteilhabegesetz Liebe Leserinnen und Leser! Das vorliegende Stadtmissionsmagazin beschäftigt sich träger und ebenso für die Beschäftigten der Werkstätten unter anderem mit dem Thema Wohnen und somit indirekt ein attraktiver Sozial- und Marktpartner zu sein. mit dem zum 01.01.2017 in Kraft getretenen Bundesteil- Mit dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes wurde habegesetz (BTHG). Aufgrund der hohen Komplexität der für die Werkstätten eine Frauenbeauftragte gesetzlich nor- Gesetzgebung wird das Gesetz in mehreren Stufen umge- miert und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des setzt werden. Nach derzeitigem Stand wird die Umsetzung Werkstattrates überarbeitet und erweitert. Daraus ergibt des BTHG bis 2023 dauern. sich ein höheres Maß an Selbstbestimmung, Mitwirkung und Mitbestimmung. Aus meiner Sicht ist mit dem BTHG der von der Bundesre- Eine offene Frage ist weiterhin, wie ein zukünftiger arbeits- gierung gewollte Paradigmenwechsel in der Eingliederungs- rechtlicher Status eines Werkstattbeschäftigten sein könnte hilfe bewirkt worden. Nicht mehr die Fürsorge des Staates und welche staatlich alimentierten Möglichkeiten es gibt, gegenüber den Hilfebedürftigen steht im Vordergrund, son- den Werkstattbeschäftigten einen gerechten Arbeitslohn dern das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmte Teilhabe bereitzustellen, von dem er fürsorgefrei und selbstbestimmt an Arbeit und Gesellschaft. Die Teilhabeleistungen werden leben kann. Ein spannendes und wichtiges Thema, auch zukünftig nicht mehr pauschal, sondern personenzentriert für diakonische Einrichtungen. Insbesondere stellt sich die auf Antrag des Betroffenen erbracht. Frage, ob die Werkstattbeschäftigten in einer inklusiven Gesellschaft ein Teil der Dienstgemeinschaft sein müssten. Wichtig ist für viele Menschen, die einen Arbeitsplatz in den Werkstätten gefunden haben, dass die Politik sich Die Werkstattbeschäftigen haben ein arbeitsnehmerähn- sehr eindeutig für den Fortbestand der Werkstätten im liches Rechtverhältnis mit der Stadtmission als Leistungs- BTHG ausgesprochen hat und gleichzeitig neue offenere erbringer. Sie sind daher den Mitarbeitenden rechtlich Instrumente für die Eingliederung in Arbeit und Gesellschaft nicht gleich gestellt, verrichten jedoch ihre tägliche Arbeit geschaffen hat. Zu nennen wäre hier das „Budget für Arbeit“ in unseren Einrichtungen. Gehören sie trotzdem zu unserer und die sogenannten „Anderen Anbieter“. Abzusehen ist Dienstgemeinschaft, oder bleiben sie ausgeschlossen? aber auch, dass die Werkstätten offene neue Werkstatt- und Eine Frage, die einer ehrlichen Antwort bedarf: Arbeitskonzepte entwickeln müssen, um für die Leistungs- Ja oder nein?
4 Diakonie für Menschen Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer mit dem Paul Gerhardt Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud in die- ser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben, schau an der schönen Gärten Zier und siehe wie sie mir und dir sich ausgeschmückte haben, sich ausgeschmücket haben“. Ihr Ernst-Christoph Römer Ernst-Christoph Römer Vorstandsvorsitzender Suchet der Stadt Bestes Städtisches Leben und soziale Probleme Martin Luther wird der Überlieferung nach folgende Fabel Der Soziologe Georg Simmel hat bereits in seinem Aufsatz zugeschrieben: „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) auf den Anspruch des Individuums nach der Selbstständigkeit und „Eine Stadtmaus ging spazieren und kam zu einer Feld- Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesell- maus. Die tat sich gütlich an Eicheln, Gersten, Nüssen und schaft, das geschichtlich Ererbte der äußerlichen Kultur und woran sie konnte. Aber die Stadtmaus sprach: »Was willst Technik des Lebens zu bewahren, aufmerksam gemacht du hier in Armut leben! Komm mit mir, ich will dir und mir und so Begrifflichkeiten in unser Denken eingeführt, welche genug schaffen von allerlei köstlicher Speise.« Die Feld- heute noch als Eckpfeiler vieler Diskussionen zum Thema maus zog mit ihr hin in ein herrlich schönes Haus, darin die Stadt und städtisches Leben eine Rolle spielen. Das Leben Stadtmaus wohnte, und sie gingen in die Kammern, die voll in der (Groß-) Stadt ist schnell, ja vielleicht zu schnell ge- waren von Fleisch, Speck, Würsten, Brot, Käse und allem. worden, persönliche und andere Bindungen – Dahrendorf Da sprach die Stadtmaus: »Nun iss und sei guter Dinge. sprach von Ligaturen als Zugehörigkeiten und Bindungen, Solcher Speise habe ich täglich im Überfluss.« Da kam der ohne die gesellschaftliches Leben nicht möglich ist – sind Kellner und rumpelte mit den Schlüsseln an der Tür. Die schwieriger aufrechtzuerhalten. Mäuse erschraken und liefen davon. Die Stadtmaus fand bald ihr Loch, aber die Feldmaus wusste nirgends hin, lief Mit der Weiterentwicklung in technologischer, sprachlicher die Wand auf und ab und gab schon ihr Leben verloren. und in arbeitsteiliger Hinsicht muss das Individuum, der Da der Kellner wieder hinaus war, sprach die Stadtmaus: Mensch in der Stadt „mithalten“, was oft erst mit zeitlicher »Es hat nun keine Not, lass uns guter Dinge sein.« Die Verzögerung in der städtischen Umwelt gelingt. Das zeit- Feldmaus antwortete: »Du hast gut reden, du wusstest lich getaktete Leben, das Funktionieren als Spezialist und dein Loch fein zu treffen, derweil bin ich schier vor Angst die damit gegebenenfalls verbundenen Erfolge stehen gestorben. Ich will dir sagen, was meine Meinung ist: bleib im Widerspruch zu dem von der Lutherschen Feldmaus du eine Stadtmaus und friss Würste und Speck, ich will ersehnten Orientierung und Zugehörigkeit, denn so die ein armes Feldmäuslein bleiben und meine Eicheln essen. Feldmaus: „Wer reich ist, hat viel Sorge.“ Du bist keinen Augenblick sicher vor dem Kellner, vor den Katzen, vor so vielen Mäusefallen, und das ganze Haus ist Doch nicht „jede Stadtmaus“ wird in der Stadt reich, die dir feind. Von alldem bin ich frei und bin sicher in meinem Segregation städtischen Lebens, die seinen Ausdruck in armen Feldlöchlein.« Wer reich ist, hat viel Sorge. „guten“ und „schlechten“ Stadtvierteln findet, bis hin zu sogenannten „no-go-areas“ zeigen deutlicher oder früher
Diakonie für Menschen 5 als andernorts die Ambivalenzen gesellschaftlichen Lebens gungen aller Menschen in einem Stadtviertel, einem sozi- in städtischen Wohnviertel an. „Die Unwirtlichkeit unserer alen Raum und versucht dies durch Bedürfnisorientierung, Städte“, welche Alexander Mitscherlich schon 1965 für Ermutigung zur Veränderung im eigenen Wohngebiet, auch Westdeutschland beklagt hatte, mag hier mancher städ- durch Vernetzung untereinander und Integration aller zu er- tischen Entwicklung direkt oder indirekt Vorschub geleistet reichen. Hierzu sind Positionspapiere und Integrations- und haben. Wohnungslosigkeit, Alkoholismus, Betteln sind in Vernetzungsvorschläge bereits vorgelegt worden. größeren Städten erkennbare Zeichen einer Entwicklung, die „gespaltene“ Gesellschaften in „gespaltenen“ Städten Auch auf der Homepage der Aktion Mensch finden sich sichtbar werden lassen. Die soziale Situation in Deutschland hierzu erklärende Worte: „Ein selbst gewähltes Wohn- geht einher mit einer enormen Herausforderung für die umfeld mitten in der Gesellschaft, vielfältige Wohnkon- Städte und Kommunen , die sozialen Probleme wachsen. zepte, die Isolation verhindern und ein selbstbestimmtes, Der Geschäftsführer des Diakoniewerkes Duisburg hat unabhängiges Leben ermöglichen – die Aktion Mensch im Februar diesen Jahres davor gewarnt „Maßnahmen unterstützt das Zusammenleben von Menschen mit und zu ergreifen, die ausschließlich auf die Vertreibung dieser ohne Behinderung. Die Bedürfnisse assistenzbedürftiger Menschen ausgerichtet sind. Es wird politisch dazu führen, Bewohner werden bereits bei Neubauten und Sanierungen dass wir die Geister, die wir dann rufen, nicht mehr loswer- stärker berücksichtigt. Kommunen und Städte arbeiten an den. Die Stadt gehört allen und wir müssen lernen, dass einem inklusiven Gemeinwesen der Zukunft. Die Aktion nicht nur alles das gut und richtig ist, was gutbürgerlich Mensch informiert über die verschiedenen Wohnformen geordnet scheint. Die Attraktivität einer Stadt erhöht sich und stellt Wohnprojekte vor, in denen Inklusion gelebt und nicht dadurch, indem wir Probleme definieren, die keine neue Maßstäbe für das inklusive Zusammenleben gesetzt sind und Reaktionen zeigen, die völlig unangemessen sind“. werden. Eine freundliche Nachbarschaft, naheliegende Ein- Wenn die Stadt aber allen gehört, dann ist auch darüber kaufsgelegenheiten, Freizeitangebote und eine barrierefreie nachzudenken, wie Menschen mit Behinderung in der Stadt Umgebung sind Kriterien, die selbstbestimmtes Wohnen leben können, wie dem Anspruch der weitgehenden Au- und Teilhabe im direkten Umfeld lebenswert machen. Un- tonomie von Menschen mit Behinderung auf kommunaler ser Förderprogramm Wohnen 2014 stellt den Menschen Ebene entsprochen werden kann. Kommunale Aktionspläne und seine individuellen Vorstellungen vom Wohnen in den Inklusion versuchen die Anforderungen von Artikel 21 der Mittelpunkt.“ UN-Behindertenrechtskonvention konkret umzusetzen, u.a. das Recht von behinderten Menschen sich Informationen Die aktuelle Diskussion über die Zukunft der Städte wird und Gedankengut frei zu beschaffen, zu empfangen und in Deutschland publizistisch stark dominiert von dem im weiterzugeben. In ihrem Artikel 9 Absatz 1 verpflichtet Mai 2017 erschienenen Buch „Stress and the city“, in dem die UN-Behindertenrechtskonvention ihre Unterzeichner- der Autor Mazda Adli sich in 15 Kapiteln mit den Fragen staaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um für Men- beschäftigt, die schon den Untertitel seines Werks kenn- schen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen zeichnen: „Warum Städte uns krank machen und warum den Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, sie trotzdem gut für uns sind“. zu Information und Kommunikation, einschließlich Informa- tions- und Kommunikationstechnologien und -systemen, Im Kapitel zum sozialen Stress führt er aus: “Insbesondere sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der können Diskriminierungserfahrungen extremen sozialen Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen Stress auslösen. Solche Erfahrungen machen zum Beispiel stehen oder für sie bereit gestellt werden, zu gewährleisten. Zuwanderer, die in die Großstädte ziehen und dort auf Wichtig ist hierbei eine möglichst umfassend barrierefrei engem Raum mit anderen Migranten zusammenkommen. gestaltete Umwelt als Grundlage für eine gleichberechtigte Während die Zuwanderer der ersten Generation davon pro- gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinde- fitieren können, dass sie sich mit Menschen aus demselben rungen. Der Anspruch auf Barrierefreiheit wird auch durch Kulturkreis zusammentun, leidet die Nachfolgegeneration das Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) rechtlich stärker unter den Folgen dieses Verhaltens. Es besteht dann unterstützt. die Gefahr, dass es zu einer Ghettobildung kommt und dass die Zuwanderer und ihre Kinder unter sich bleiben.“ (S. 46) Das in der sozialen Arbeit entwickelte Konzept der Sozi- Im Kapitel „Macht Stadtluft krank? Stadt und Gesundheit“ alraumorientierung als ganzheitliches Handlungskonzept referiert er die Schizophrenierisikounterschiede zwischen setzt den Fokus auf die Verbesserung der Lebensbedin- Stadt und Land ebenso wie die WHO-Definition einer
6 Diakonie für Menschen gesunden Stadt und die Initiativen zu mehr grün, bevor er im darauffolgenden Kapitel „Zu viel, zu dicht, zu allein. Weiterführende Informationen Sozialer Stress in der Stadt“ Verrohung und Einsamkeit als Phänomene modernen städtischen Lebens diskutiert. Bundeszentrale für politische Bildung: Das soziale Kapital der Stadt, ihre Integrationsfähigkeit und http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/ die Hoffnung, dass vor dem Hintergrund von Pluralität und soziale-situation-in-deutschland/ Diversität so etwas wie eine Gemeinschaft entstehen kann, bieten – trotz aller sozialen Probleme städtischen Lebens Deutscher Caritasverband: – keinen hoffnungslosen Ausblick an. https://www.caritas.de/glossare/sozialraumorientie- rung Und doch stellt der Psychiater und Psychotherapeut Mazda Adli seinem Buch als Geleitwort Jerima 29:7 voraus: Aktion Mensch: Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen https://www.aktion-mensch.de/themen-informieren- lassen, und betet für sie zum Herrn, denn wenn‘s ihr wohl- und-diskutieren/wohnen-sozialraum.html geht, so geht‘s euch auch wohl. Mazda Adli - Stress and the City: Dr. Andreas Weber Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotz- dem gut für uns sind, C. Bertelsmann (2017) Nichts ist so beständig wie der Wandel Stadtmission sorgt für ein lebenswertes Zuhause Die Evangelische Stadtmission Halle hat eine wechselvolle Personalsuche nimmt immer mehr Zeit in Anspruch und Geschichte durchlebt und ist von einem andauernden wird zu einer Kernaufgabe der Arbeit. Wandel geprägt. Seit 1888 haben sich die Anforderungen Mit den neuen gesetzlichen Anforderungen des BTHG stetig geändert, die politischen Systeme gewandelt und sollen die Leistungen für Menschen mit Behinderung aus sich unzählige ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter für dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgelöst und die die Belange Hilfebedürftiger eingesetzt. aktive Lebensgestaltung und die stärkere Teilhabe an der Die gegenwärtige Zeit setzt wieder einmal die große Gesellschaft gefördert werden. Exemplarisch für die um- Veränderungsfähigkeit der Stadtmission voraus. Mit der fangreichen Änderungen seien hier nur wenige Eckpunkte, Inkraftsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), der die die Wohnformen der Stadtmission betreffen, genannt. Pflegestärkungsgesetze und weiteren gesetzlichen Ände- Das BTHG definiert das Verhältnis zwischen dem Lei- rungen stehen alle Einrichtungen und Dienste der Einglie- stungserbringer Stadtmission und den Bewohnern neu, derungshilfe in Deutschland vor großen Herausforderungen. indem die Trennung von existenzsichernden Leistungen Um auch künftig das bestehende Leistungsspektrum für und Fachleistungen der Eingliederungshilfe vorgenommen die Bewohner und Klienten anbieten zu können, müssen wird. Die Unterscheidung von „ambulanten und stationären strukturelle Anpassungen vorgenommen und neue An- Wohnformen“ wird zugunsten von „eigenem und gemein- gebote geschaffen werden. Der demografische Wandel, schaftlichem Wohnraum“ aufgegeben. Die Feststellung des also die Veränderungen der Bevölkerungsstruktur in Bedarfs und der dafür notwendigen Hilfen kann in Zukunft Deutschland, vollzieht sich auch in unseren Wohnformen, auch ausschließlich durch die Sozialämter ohne Beteiligung sodass Lebenserwartung und Pflegebedürftigkeit zuneh- der Stadtmission erfolgen. Der Klient muss sich mit seinen men. Darüber hinaus verschärft sich der viel beschriebene Angehörigen oder seinem gesetzlichen Betreuer allein Fachkräftemangel auch in der Stadtmission spürbar. Die mit den staatlichen Stellen auseinandersetzen und seine
Diakonie für Menschen 7 Interessen vertreten. Die immer komplexer werdende und rungsbewegungen, die sich vom Land in die Stadt und aus unübersichtliche Sozialgesetzgebung birgt die Gefahr, dass Sachsen-Anhalt heraus in andere Regionen Deutschlands die berechtigten Ansprüche der Klienten nicht in jedem vollziehen, nimmt das Potential gut ausgebildeter Arbeits- Fall gewährt werden und somit könnten Kürzungen des kräfte stetig ab. Verstärkt wird diese Entwicklung durch Leistungsumfangs die Folge sein. die oben genannte Zunahme der Pflegebedürftigkeit durch die alternde Bevölkerung, denn so wird auch der Bedarf Mit den Pflegestärkungsgesetzen wird ein neuer Pflege- an Pflegepersonal steigen. Das Finden von geeigneten bedürftigkeitsbegriff eingeführt, der den Hilfebedarf eines Mitarbeitern, die künftig den diakonischen Auftrag der Menschen nicht mehr an Minuten, sondern am Grad der Stadtmission erfüllen, wird somit noch stärker als zuvor Selbstständigkeit festmacht. Auch ein neues Begutach- eine wesentliche Aufgabe sein. tungsinstrument zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit Die dezentrale Aufstellung mit den verschiedenen Stand- wird etabliert. Es stellt den Menschen, seine Ressourcen orten in Halle und im Saalekreis ist Chance und Herausfor- und Kompetenzen in den Mittelpunkt. Dabei werden nicht derung zugleich. Durch Wohnformen für unterschiedliche nur Bereiche wie Körperpflege, Ernährung sowie hauswirt- Hilfebedarfe in der Stadt sowie im ländlich geprägten Raum schaftliche Versorgung betrachtet, sondern auch die kogni- ist ein breites Spektrum an Angeboten vorhanden, um in- tiven und kommunikativen Fähigkeiten, die Verhaltenswei- dividuellen Ansprüchen gerecht zu werden. Gleichzeitig ist sen und psychischen Problemlagen sowie die Gestaltung die Lage mit dem Komplexstandort Johannashall nicht für von Alltagsleben und sozialen Kontakten. Bereiche, die alle Mitarbeiter gleichermaßen gut zu erreichen. Die unzurei- bisher vornehmlich von der Eingliederungshilfe in den Blick chende Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel macht das genommen worden, rücken auch in der Pflegeversicherung eigene Fahrzeug zur Grundvoraussetzung für die Arbeit. Der in den Fokus. Daher wird mit Einführung des BTHG und den Arbeitsort Halle ist im Gegensatz dazu besser angebunden Pflegestärkungsgesetzen die Grenze zwischen Leistungen und das Einzugsgebiet an potentiellen Mitarbeitern größer, der Pflege und der Eingliederungshilfe neu justiert. Die Aus- was auch die Personalsuche etwas erleichtert. wirkungen können gravierend sein, wenn die Stadtmission Die Personalsuche verschärft sich darüber hinaus durch keine Möglichkeiten findet, eigene Angebote zu platzieren die bestehenden Arbeitsbedingungen. Die physischen und (z.B. durch einen eigenen ambulanten Pflegedienst). psychischen Belastungen im Betreuungsalltag der verschie- denen Wohnformen der Stadtmission sind im Vergleich zu Der demografische Wandel wirkt sich in zweifacher Weise anderen Tätigkeiten ungleich höher. Arbeiten im Schicht- auf die Stadtmission aus. Zum einen betrifft er die Bewohner dienst, an Wochenenden, nachts und in den Abendstunden in den verschiedenen Wohnformen. Das Durchschnitts- sowie hohe körperliche Belastung prägen den Alltag der alter und auch die Lebenserwartung der Menschen mit Mitarbeiter. Menschen, die in helfenden Berufen tätig sind, Behinderung steigt - in vergleichbarer Weise, wie das für sind selbst einem höheren Krankheitsrisiko ausgesetzt. die Gesamtbevölkerung Deutschlands zu verzeichnen ist. Dem entgegen stehen die Rückmeldung der Bewohner Damit einher gehen die zunehmende Pflegebedürftigkeit und Klienten, die große Dankbarkeit, die man erfahren kann und der steigende Pflegebedarf der Bewohner und Klienten. und die unmittelbare Arbeit mit dem Menschen, die mehr Der Hilfebedarf in den ambulanten und gemeinschaftlichen als in jeder anderen Tätigkeit den Sinn dieser Berufung Wohnformen wird weiter steigen und die Pflege mehr und spüren lassen. mehr notwendig werden. Auch Menschen mit Behinde- Unsere Aufgabe und unser Anspruch seit vielen Jahr- rung wollen von der Möglichkeit Gebrauch machen, so zehnten ist es, Menschen mit Behinderung ein „Zuhause“ lange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit zu leben. zu schaffen und die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermög- Der Geschäftsbereich „Leben & Wohnen“ wird daher noch lichen. Zuhause bedeutet Sicherheit, Geborgenheit und stärker auf die Belange der Pflege achten müssen. Auch Rückzugsmöglichkeit. Diesen Ort der Geborgenheit können die Zahl der Senioren, die das Rentenalter erreicht und wir nur bieten, wenn wir die beschriebenen Anforderungen bisher die Werkstatt für behinderte Menschen besucht aktiv angehen und gestalten, damit aus Herausforderungen haben, nimmt zu. Das bedeutet, dass tagesstrukturierende keine Unsicherheiten werden. Nur mit dem Wissen und der Angebote stärkeres Gewicht bekommen und vom Umfang Akzeptanz der aktuellen Veränderungen können wir auch zunehmen werden. den betreuten Personen in den Wohnformen weiterhin ein lebenswertes Zuhause schaffen. Ein weiteres Moment des demografischen Wandels ist die Abnahme des Arbeitskräfteangebots. Durch Wande- Anett Jäkel, Sebastian Thiele
8 Diakonie für Menschen mit Behinderung Mehr als nur vier Wände Die schwierige Suche nach der eigenen Wohnung Eine eigene Wohnung gehört zu den Grundbedürfnissen übernommen. Dabei sollte die Wohnung im Regelfall ma- der Menschen. Sie bietet vielfältigen Schutz, nicht nur vor ximal 50 qm groß sein. dem Wetter. Sie ist ein wichtiger privater Rückzugsraum. Für die Menschen ist es zudem wichtig, wie ihre eigene Solche Wohnungen befinden sich in Halle vor allem außer- Wohnung ausgestattet ist, wo so sich befindet, welche halb der Innenstadt und den Vierteln nördlich davon in den Qualität sie hat. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen Randlagen der Stadt. mit Behinderungen. Die körperlichen und/oder seelischen So wohnen die Beschäftigten oft in kleinen Zweiraumwoh- Beeinträchtigungen sind in der Regel sehr individuell. So nungen um die 40-45 qm in Halle-Neustadt, in Trotha oder sind dann auch die Bedürfnisse an den eigenen Wohnraum im Süden der Stadt. Fragt man nach Problemen, kommen sehr unterschiedlich. vor allem solche des Wohnumfeldes und der Betreuung zur Sprache. Die Größe der Wohnungen wird an sich nicht Wie sieht es aber aus der Sicht der Betroffenen aus? Gibt bemängelt. es für Menschen mit Behinderungen genügend Möglich- keiten, einen passenden Wohraum für ihre indivuduellen Wichtig für die Einschätzung ihrer Wohnsituation ist in be- Bedürfnisse zu finden? sonderem Maße eine ruhige Lage der Wohnung. „Ich will es einfach ruhiger haben.“ Dieser Satz fällt immer wieder. In einer Großstadt wie Halle gibt es eine Vielzahl von Das jedoch ist im Falle einer Wohnung in einem Neubau- unterschiedlichen Wohnungstypen, von Stadtteilen und block selten der Fall. Die Bauweise und die Vielzahl von Quartieren. Die Suche nach einem geeignetem Wohnraum Mieterparteien lässt eine angemessene Ruhe selten zu. Die wird für Menschen mit Behinderungen nicht allein vom Wohnungen sind hellhörig. Nicht jeder der vielen Nachbarn Wohnungsmarkt geregelt. Ein wichtiges Kriterium sind die nimmt Rücksicht auf sein Umfeld. gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das Sozialgesetzbuch II sieht für eine Person einen Wohnraum von 47 qm als an- Doch gerade als Mensch mit einer seelischen Beein- gemessen an. Für Menschen mit Handicaps kann jedoch trächtigung ist Ruhe ein sehr wichtiges Kriterium für das ein individueller Mehrbedarf geltend gemacht werden, so im Wohlbefinden. Kommt es zu stetigen Lärmbelästigungen, Falle der Benutzung eines Rollstuhles oder der Einschrän- fühlen sich die Betroffenen mit ihrer Wahrnehmung oft allein kung durch Sehbehinderungen. gelassen. Unterstützung für ihre Belange können sie sich immer wieder bei einzelnen Nachbarn holen. Jedoch finden Die Beschäftigten der Stadtmission leben in unterschied- sie bei den Vermieter selten ausreichend Gehör. Besonders lichen Wohnformen. Einige haben ihr Zuhause in den Wohn- die privaten Vermieter, so betonen die Betroffenen, lassen heimen, andere leben im Ambulant Betreuten Wohnen. Ein es oft an Kommunikation mangeln. Hinzu kommt auch, nicht unerheblicher Teil der Beschäftigten lebt jedoch in den dass es gerade auf dem privaten Wohnungsmarkt immer eigenen vier Wänden. wieder zu einem Wechsel der Vermieter durch Weiterver- kauf der Wohnungen kommt. Da die Stadt selbst in der Wie und wo leben diese Beschäftigten? Wie denken sie Vergangenheit diese Privatisierungen von kommunalen über die Möglichkeiten, die sie am Wohnungsmarkt haben? Wohnraum betrieben hat, ist sie nach der Meinung so In einem Gespräch mit den Beschäftigten im Büropunkt der mancher betroffenen Mietpartei für die jetzt bestehenden Stadtmission im Weidenplan kamen wichtige Erkenntnisse Probleme mit verantwortlich. zu Tage. Viele von ihnen gaben im Gespräch bereitwillig über ihre Erfahrungen und Bedürfnisse Auskunft. Zu den angesprochenen Problemen gehören weiterhin Die Beschäftigten des Büropunktes leben und arbeiten steigende Mieten, der allmähliche Verdrängung aus attrak- mit unterschiedlichen seelischen Einschränkungen. Die tiveren Wohngegenden, wobei Attraktivität nicht mit der Kosten ihrer Wohnungen wird für für die Mehrzahl von Ihnen Größe und Qualität der Wohnung in Verbindung gebracht über die Grundsicherung oder die Aufstockung durch das wird, sondern mit der Lage, der Erreichbarkeit der Woh- Wohngeld auf eine Mindestrente getragen. Das schränkt nung, dem sozialen Umfeld und auch die Anbindung an von vornherein vor allem die Größe und den Standort der kulturelle und wirtschaftliche Angebote in der Stadt. Die Wohnung ein. eigene Wohnung ist eben mehr als nur die vier sprichwört- lichen Wände. Sie ist auch der Ausgangsort für soziale und In Halle werden als angemessene Unterkunftskosten für kulturelle Teilhabe. Ist der Aufwand allerdings zu dieser zu einen Einpersonenhaushalt Kosten von bis zu 302,50 € groß, der Weg zum Beispiel zu kulturellen Angeboten der
Diakonie für Menschen mit Behinderung 9 Stadt zu weit, so findet diese Teilhabe für den Einzelnen in Unterkunft (KdU) vergeben werden, befinden sich fast aus- diesem Falle nicht statt. schließlich in den Randgebieten der Stadt. Nach unserer Ist einmal der Wunsch nach einem Umzug gereift, so fühlen Erfahrung fördert dies die Entstehung von homogenen sich die Beschäftigten in diesem Falle von den Behörden Wohnräumen. Wie stehen sie zu diesem Problem? abhängig. Ein Umzug bedarf im Falle einer Grundsicherung immer auch der Zustimmung dieser. Fehlen dann noch Was sind die Gründe für diese Vergabepraxis? ausreichend Angebote an attraktivem Wohnraum, rückt der Wunsch nach einer neuen Wohnung schnell in weite Ferne. Gibt es aktuell Planungen der Stadt Halle, eine Veränderung Die Stadtmission ist sich dieser schwierigen Situation ihrer dieser Entwicklung wie zum Beispiel durch eine stärkere Beschäftigten sehr wohl bewusst. Ein Katalog an Fragen Durchmischung der abgegrenzten Sozialräume bis ins zum Quartiersmanagemnt in Halle sind an den Beigeord- Zentrum zu erwirken? neten Uwe Stäglin vom Geschäftsbereich Stadtentwicklung Die einzelnen Sozialräumen entwickeln sich sehr unter- und Umwelt gestellt worden. schiedlich. Es gibt Bereiche in der Stadt, in der das Dienst- Das Thema Inklusion findet sich nicht in den Leitbildern leistungsangebot sich der lokalen Kundschaft anpasst und Schwerpunktbereichen der Stadtentwicklung. Welchen und vor allem Discounter den Handel bestimmen. Größere Stellenwert hat dieses Thema für die Stadt Halle in Bezug Arbeitgeber siedeln sich in Stadtteilen mit einem negativen auf das Quartiersmanegement und die Stadtentwicklung? Image eher nicht an. Wie sieht die Stadt diese Entwicklung Für Menschen im Rollstuhl, die selbständig leben können, auf das Gewerbe in diesen Stadtvierteln? ist es schwer, eine geeignete, barrierefreie Wohnung zu Der Allgemeine Soziale Dienst ist ein Teil der kommunalen finden. Wie geht die Stadt mit diesem Problem um? Aufgaben. Viele Wohnungsgenossenschaft beschäftigen eigene Sozialarbeiter. Übernehmen diese Aufgaben der Die Stadtmission Halle erlebt sehr häufig, dass unseren Stadt? Klienten des Ambulant betreuten Wohnens, vorwiegend Menschen mit Behinderung, Wohnungen in „Problemstadt- Wir sind gespannt auf die Antwort. teilen“ wie dem Südpark und der Silberhöhe angeboten werden. Wohnungen, die nach der Richtlinie Kosten der Thomas Jeschner Der Wohnungsmarktbericht der Stadt Halle (Saale) Die Verwaltung der Stadt Halle veröffentlicht seit 2003 wird so eingeschätzt: Der ”... Nachfrageüberhang (bei den Wohnungsmarktberichte. Der letzte veröffentlichte Bericht Beziehern niedriger Einkommen) bleibt 2013 bestehen. Die stammt aus dem Jahr 2013. Die Ergebnisse entsprechen zukünftigen Erwartungen für dieses Marktsegment bestäti- somit nicht dem neuesten Stand. gen einen weiter steigenden Nachfrageüberhang.“ (S. 52) Im Bericht aus 2013 gibt es keine Perspektive aus der Sicht In der Zusammenfassung werden unter Punkt 10 Heraus- der Menschen mit Behinderung. Eine Schlagwortsuche forderungen an die Stadt analysiert (S. 64). Dazu zählt eine nach relevanten Begriffen und eine Textanalyse ergaben starke Ausgrenzung, denn mehr als die Hälfte der Bedarfs- keine Treffer. gemeinschaften lebt in einer Großwohnsiedlung und jeder siebente Einwohner ist von Transfereinkommen abhängig. Der Bericht weist allgemeine Analysen auf. Unter dem Punkt Die Wohnungsmarktentwicklung weist insgesamt in die 7.3 ”Merkmale des halleschen Wohnungsmarktes aus der richtige Richtung. Eine Herausforderung bleibt allerdings die Sicht der Wohnungsmarktakteure“ (S. 54) wird konstatiert: Stärkung der Innenstadt bzw. der innerstädtischen Stadt- ”Bezogen auf spezielle Mietergruppen werden zunehmend umbaugebiete sowie der Erhalt der sozialen Mischung der Schwierigkeiten von Geringverdienern bzw. Erwerbslosen Bevölkerung in den Wohngebieten. und von Ausländern/Aussiedlern bei der Wohnungssuche gesehen. Als besonders typisch werden die hohen Ansprü- Die Wohnungsmarkberichte finden sich unter: che der Mieter an die Qualität der Wohnungen herausgestellt, http://www.halle.de/de/Verwaltung/Online-Angebote/Vero- ...“. Weiterhin wird eine zunehmende räumliche Trennung so- effentlichungen/index.aspx?RecID=62&Type=0 zialer Milieus als typisch beschrieben. Die Nachfragestruktur
10 Diakonie für Menschen Auf der Suche nach einem Leben in Würde Die Situation der Roma in Halle Wussten Sie, dass die Sinti und Roma vor über 1.000 ändert) nach Halle, um Arbeit zu finden. Sie wollen ihren Jahren aus Indien auswanderten? Dass man nur im Deut- Kindern eine Zukunftsperspektive geben, die sie selbst schen von „Sinti“ spricht und diese Gruppe schon seit nie hatten. Viele Roma in Halle kommen aus Bolintin-Va- über 600 Jahren in Deutschland lebt? Wussten Sie, dass le, einer Kleinstadt im Südosten Rumäniens unweit von 95 % aller Roma sesshaft sind? Dass die Versklavung der Bukarest. Dort verdienten sie ihren Lebensunterhalt mit Roma in Rumänien erst 1864 aufgehoben wurde? prekären selbständigen Tätigkeiten oder Gelegenheitsar- beiten. „Munca de jos“ – „niedrige Tätigkeiten“, wie sie es „Roma“ ist der international gebräuchliche Begriff für die nennen. Angehörigen der Minderheit. Die meisten der in Deutsch- land lebenden Roma nennen sich selber jedoch Sinti. Ohne Bildung und Abschlüsse bestehen auch in Halle Seitdem Roma in Europa leben, werden sie immer wie- Barrieren. Fehlende Alphabetisierung erschwert es vie- der ausgegrenzt und verfolgt. Während des Nazi-Regimes len Erwachsenen, Deutsch zu erlernen. Sprachbarrieren wurden 500.000 Sinti und Roma ermordet. Unter den in bei Ämtern und Behörden prägen den Alltag. Beratungs- den 1970er Jahren nach Deutschland gekommenen Gast- dienste für Migranten aus EU-Staaten gibt es wenig und arbeitern aus dem damaligen Jugoslawien waren viele sie sind meist völlig überlastet. Das Programm der ehren- Roma. Aus Angst vor Stigmatisierung sprachen die mei- amtlichen Sprachbegleiter in Halle kann auch nicht flä- sten jedoch nicht über ihren Roma-Hintergrund. Wäh- chendeckend Hilfe anbieten. Diese Lücke füllen inoffizielle rend des Kosovokrieges flohen ca. 500.000 Roma nach Übersetzer, die für Begleitungen bis zu mehrere hundert Deutschland. Seit 1998 sind die deutschen Sinti und Euro verlangen. Für viele Roma ist dies jedoch der einzige Roma als nationale Minderheit anerkannt. Weg, eine Wohnung zu finden, staatliche Leistungen zu beantragen oder einen Sprachkurs zu belegen. Auf Grund gesellschaftlicher Diskriminierung leben viele Roma in Europa in Armut. Ebenso wie es jedoch viele Anspruch auf Sozialleistungen hat nur, wer ein Gewerbe Roma gibt, die in ärmlichen Verhältnissen leben, arbeiten betreibt und damit einen bestimmten Umsatz erwirtschaf- viele Roma auch als Handwerker oder Ärzte. Die Lebens- tet oder wer eine feste Arbeitsstelle hat. Häufig sind die verhältnisse in Roma-Siedlungen, deren es an den Dorf- genauen Regelungen jedoch schwer zu durchschauen. und Stadträndern in Rumänien viele gibt, sind oft unvor- Ohne Einkommen ist es schwer, die Miete zu bezahlen, stellbar schlecht. geschweige denn andere Ausgaben zu bestreiten, wie z.B. für Fahrscheine. Der Weg von den Wohnbezirken wie Seit 2014 gilt die Freizügigkeit für Arbeitnehmer innerhalb dem Südpark bis ins Stadtzentrum ist weit und Mobilität der EU auch für Rumänen. Damit können sie überall in teuer. Vielfach wird den Familien das Kindergeld mehr als Europa arbeiten. In Halle leben heute ca. 1.200 von ihnen. ein Jahr vorenthalten, weil die zuständige Familienkasse Nur ein kleiner Teil davon gehört zur Bevölkerungsgruppe in Nürnberg die Anträge zu langsam bearbeitet. Wer kein der Roma. Die meisten der in Halle lebenden Roma haben Geld vom Jobcenter bekommt, kann keinen Sprachkurs nicht mehr als die Grundschule abgeschlossen, wie ein besuchen und findet schwieriger Arbeit. Auch die Woh- großer Teil der in Rumänien lebenden Roma. Dadurch ha- nungssuche ist erschwert. Können Familien die Miete ben sie geringere Chancen auf dem rumänischen Arbeits- nicht zahlen, müssen sie ausziehen und ziehen dann zu markt. 60% der Roma leben laut Statistiken in Rumänien anderen Familienmitgliedern. Häufig zieht das wiederum unterhalb der Armutsgrenze, in der restlichen Bevölkerung andere Probleme nach sich, wie z.B. Beschwerden von ist es knapp ein Viertel. Die Lebenserwartung liegt für Nachbarn wegen Lärmbelästigung, die auch wieder zur Roma mit 52 Jahren 16 Jahre unter dem Durchschnitt der Abmahnung führen können. Für viele von ihnen ist Bet- rumänischen Bevölkerung. Die Kindersterblichkeit ist bei teln in dieser Situation ein Lösungsansatz, um das geringe Roma dreimal höher. Denn die Folgen von Armut sind so- Familienbudget aufzustocken. Dieser zieht wiederum ver- wohl geringer Zugang zu Bildung, öffentlicher Versorgung, schiedene Formen von Diskriminierung und Separierung Hygiene, Gesundheit und zum Arbeitsmarkt als auch so- nach sich. Also auch hier - die zwei Teufelskreise. ziale Ausgrenzung: zwei Teufelskreise, die, ineinander ver- schlungen, kaum Ausweichmöglichkeiten bieten und de- Da Kindergeld oft die einzige Einnahmequelle ist, die nen viele der Familien durch Migration nach Deutschland durch Betteln aufgestockt wird, bleibt für Bildung und da- entkommen wollen. für notwendige Materialien wenig Geld übrig. Herr Costa- So kamen auch Lenuta und Gabriel Costache (*Name ge- che ist froh, dass die Familie zumindest regelmäßig die
Diakonie für Menschen 11 Miete zahlen kann, was bei weitem nicht alle können, so- Viele Vorurteile werden damit scheinbar bedient. Aufga- dass seine Familie nicht mit der Angst lebt, auf der Stra- be der Mehrheitsgesellschaft ist es meiner Ansicht nach, ße zu landen. Er wünscht sich aber, dass die Kinder auch diese zu hinterfragen. Dafür lohnt sich eine persönliche in die Schule gehen könnten. Aufgrund abgebrochenen Begegnung mit den zugezogenen Menschen in Halle. Schulbesuchs in Rumänien, der leider bei 75% der über Nach rassistisch motivierten Übergriffen in der Silberhöhe 14-Jährigen der Fall ist, kommt es häufig zur Überalterung zogen 2015 viele Familien in den Südpark, um dort mit bei der Klassenzuweisung, d.h. dass viele Jugendliche weniger Angst zu leben. Doch auch dort gibt es Probleme. nicht ihrem Alter gemäß die entsprechende Klassenstufe Es ist traurig, dass viele Familien wiederkehrende Diskri- besuchen können. Ein 14-Jähriger, der die sechste Klasse minierungs- und Ausgrenzungserfahrungen machen müs- besuchen muss, weil er in der achten Klasse den Stoff sen. Hier ist Offenheit der Mehrheitsgesellschaft gefragt. nicht versteht, findet das natürlich peinlich. Das würde Denn wenn man Frau Costache fragt, was sich verändern anderen Jugendlichen auch so gehen. So gibt es mehrere soll, dann wünscht sie sich einfach, dass es besser wer- Ursachen, die dazu führen können, dass Jugendliche den den solle. Schulbesuch vernachlässigen. Ute Ehlert Viele Roma leben heute im südlichen Teil von Halle Neustadt
12 Diakonie für Menschen Ein offenes Haus Die Stadtmission als Schutzraum für Wohnungslose Die Wärmestube in der Breiten Straße ist eine Herzkammer bangen Nächten mit mütterlicher Liebe betreut. Einmal der Stadtmission. Am 1. Januar 1993 öffnete sie ihre Pforten wurde uns auch ein Knäblein gebracht, das die Mutter auf als Tagesaufenthalt für hilfe- und schutzsuchende Men- die Straße gelegt hatte in der Mitternacht – und es ist mit schen, damals noch in eigenen Räumen im Weidenplan. Gottes Hilfe am Leben geblieben.“ Drei Jahre später bezog die Wärmestube ihr heutiges Do- Große Zeiten der Not waren die Jahre nach den beiden mizil. Sie ist immer schon ein Anlaufpunkt für wohnungslose Weltkriegen. Die Kapazitäten der Stadtmission stießen da- Menschen. Seit Januar diesen Jahres leitet Heiko Wünsch mals schnell an ihre Grenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg die Einrichtung. In wenigen Wochen wird die Einrichtung zogen große Flüchtlingsströme durch Sachsen-Anhalt. Viele in den Steinweg umziehen. der heimatlos gewordenen Menschen fanden in Halle und Die Öffnung eines solchen Schutzraumes für Bedürftige war im Saalekreis ein neues Zuhause. Eine Bleibe und genügend 1993 mehr als notwendig geworden. In den Jahren nach Verpflegung für alle Menschen zu organisieren, gehörte zu der Wende zogen nicht nur viele Freiheiten in die neuen den größten Herausforderungen jener Zeit. Die Behörden Bundesländer ein. Es kam zu sozialen Verschiebungen und die Bestzungsmächte konnten dies nicht allein lei- und zur Sichtbarwerdung bisher verdrängter Probleme. sten. Im Weidenplan wurde praktisch aus dem Nichts ein Obdachlosigkeit gehörte dazu. Die Gesellschaft musste Flüchtlingsheim eingerichtet. Die Überzeugung, helfen zu wieder lernen, im Sinne und zum Wohl der Betroffenen können, ließ die Türen im Weidenplan offen stehen. Der damit umzugehen. Stadtmission und allen diakonischen Einrichtungen half Eine dynamische Gesellschaft birgt neben vielen Chancen bei der Bewältigung dieser Aufgaben, dass die kirchlichen immer auch Risiken. Nicht jeder Mensch nimmt gleichsam Strukturen über die Grenzen der damaligen Besatzungs- von anderen am Erfolg und am Fortschritt teil. Einzelne blei- zonen intakt blieben. ben dabei auf der Strecke. Die Gründe hiefür sind so vielfäl- Als in den Jahren nach der Wende auf den Straßen Halles tig wie die Menschen. Dies ist nicht nur ein Zeichen unserer die ersten Menschen ohne Obdach sichtbar wurden, gab Tage. Auch in den Zeiten der Gründerjahre im späten 19. es Stimmen, die meinten, dass es „so etwas“ früher nicht Jahrhundert erlebte die Stadt Halle große Umbrüche und gegeben hätte. In der DDR wurde Obdachlosigkeit ähnlich weitreichende Entwicklungen. Nicht umsonst wurde die dem Nichtnachgehen einer regelmäßigen Beschäftigung Evangelische Stadtmission in jenen Jahren gegründet. seit 1968 über den § 249 des Strafgesetzbuches als Asozi- Die Wohnungslosenarbeit war in der Stadtmission immer alität kriminalisiert. Vor allem in den Großstädten herrschte ein integrierter Teil ihrer normalen Angebote. Das 1906 allerdings akute Wohnungsnot. Wohnungslose sollte es im Weidenplan 3 mit elf Räumen eingerichtete Frauenzu- politisch nicht geben. Ihre pure Anwesenheit gefährdete fluchtsheim richtete sich an Frauen in vielfältigen Notlagen. die ”Entwicklungsgesetze der sozialistischen Gesellschaft“. Dazu gehörte in besonderem Maße drohende oder existie- Sie verschwanden aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wie rende Wohnungslosigkeit. Deutlich wird dies in den alten aber sollte man als diakonische Einrichtung ein Problem Aufzeichnungen und Berichten der Stadtmission. So findet angehen, wenn es dieses offiziell nicht geben durfte? Immer sich im „50. Jahresheft der Hallischen Stadtmission“ fol- wieder fielen Menschen aus dem sozialistischen System gende Beschreibung über die Entwicklung des Heimes: „Im der Staatsfürsorge. Institutionen wie eine Stadtmission, die Jahre 1903 fanden 27 Aufnahmen statt, 1927 wurden 575 Erfahrungen mit der Wohnungslosigkeit vorweisen konnten, Erwachsene und 110 Kinder aufgenommen. Dabei ist aber liefen Gefahr, sich konfrontativ gegen die Staatsorgane zu zu berücksichtigen, daß vielfach Obdachlose aufgenommen stellen, wenn sie sich dem Problem annahm. In Ostberlin wurden, die in zahlreichen Fällen nur vorübergehend bei arbeitete die Bahnhofsmission am Ostbahnhof als einzige uns blieben.“ ihrer Art auch in den DDR-Jahren weiter. Dort nahm man Im Jahr 1936 bezog das Zufluchtsheim größere Räume im sich der Problematik der Wohnungslosigkeit aktiv und of- Weidenplan. Im Bericht werden Beispiele für die Arbeit im fensiv an. In vielen Einrichtungen konnte man dagegen nur Zufluchtsheim aufgeführt: „Tag und Nacht steht es allen „still“ helfen. Aktiv Politik im Sinne der Wohnungslosen zu schutzsuchenden, heimatlosen Frauen und Mädchen offen. gestalten, war schwierig. Da kommt wohl mitten in der Nacht ein Wachtmeister der Dies ist seit der Wende anders. Die Stadtmission ist aktiver Schutzpolizei und bringt eine Frau, die er hilflos aufgefun- Teil eines Hilfsangebotes der Stadt zum Thema Armut den hat. ... Ein Ehemann bringt seine Frau und ein Zwillings- und Wohnungslosigkeit. Als Mitinitiator des Aktionstages pärchen, weil sie keine Wohnung haben, ... manch kleines, Wohnungsnot seit der Mitte der 1990er Jahre machte sie schwaches Menschenpflänzlein haben unsere Schwestern die Sache der Betroffenen öffentlich und sensibilisierte die sorgsam gehegt und namentlich in kranken Tagen und Stadtpolitik in deren Sinne. Thomas Jeschner
Diakonie für Menschen 13 Zuversicht und Vertrauen Die Wärmestube unter neuer Leitung ihres Lebensalltages überfordert sind und von anderen „Manchmal ist es die Hoffnung die uns lächeln lässt. Fachdiensten nicht erreicht werden. Und manchmal ein Lächeln, das uns hoffen lässt.“ Sowohl der Tagesaufenthalt als auch die Angebote der So- Dies ist ein Motto, das Heiko Wünsch seiner Arbeit voran zialberatungsstelle innerhalb der Wärmestube sind an keine stellen möchte. Seit Januar 2017 ist er der neue Leiter Vorbedingungen geknüpft. Jeder kann kommen und diese der Wärmestube der Stadtmission. Er blickt auf eine Fülle in Anspruch nehmen. Eine kleine Aufzählung soll die vielfäl- von Begegnungen und Erfahrungen. Viele werden ihm tige Arbeit vom Team um Heiko Wünsch veranschaulichen. in Erinnerung bleiben, so ein Gespräch mit Hans, einem Im Tagesaufenthalt können die Gäste Essen und Getränke obdachlosen Besucher der Wärmestube. „...jetzt habe ich gegen ein kleines Entgelt zu sich nehmen, duschen, Wäsche wieder Zuversicht“, sagte dieser kürzlich. Er, der alles ver- waschen, sich mit Lebensmitteln und Kleidern versorgen, loren hat und seit Jahren einsam auf „Trebe“ geht, schöpft ihren Alltag verbringen. Ein gemeinsames Mittagsgebet wieder Hoffnung. Es ist vor allem die menschliche Wärme gibt Halt und Struktur. in der „Wärmestube“, die ihn wieder hoffen lässt und ihm Kraft gibt, für einen Neuanfang. Auch das traditionelle Mit- Die Unterstützung der Sozialberatungsstelle beinhaltet die tagsgebet empfindet er als kraftspendende Bereicherung Hilfe bei vielerlei Problemen, so mit der Wohnung, mit Miet- in seinem Alltag. Unsere Einrichtung ist ein Ort an dem sich schulden, mit der Justiz, bei Fragen zum Umgang mit den die Besucher mit Würde und Respekt begegnen. Diese Behörden. Es wird eine psychoziale Beratung angeboten. Erfahrung stärkte sein Selbstwertgefühl und motivierte ihn, Eine Krisenintervention hilft in Fragen der Existenzsiche- den Weg zu den Sozialarbeitern in die Sozialberatung zu rung. Viele weitere Dinge kommen im Einzelfall hinzu. Das finden. Dort wird er dabei unterstützt, einen persönlichen Angebot findet sich natürlich auf der Internetseite, ist tele- „Hilfeplan“ zu erarbeiten, an dem er sich orientiert, um sich fonisch zu erfragen. Ein Besuch in der Wärmestube aber wieder Schritt für Schritt in die Gesellschaft zu integrieren ist immer ein guter Schritt ins Vertrauen und zur Zuversicht. und ein würdevolles Leben führen zu können. Das ist sein Ziel. Die Einrichtung Sozialberatung & Tagesaufenthalt „Wär- mestube“ wird im Juni in neue Räume in den Steinweg 48 Es hat etwas mit Würde zu tun, davon ist Heiko Wünsch umziehen. Alle weiteren Informationen hierzu werden zu überzeugt, in seiner eigenen Wohnung schlafen zu können, gegebender Zeit veröffentlicht! seine Kleidung und sein Brot vom eigenen Geld kaufen zu können und vielleicht sogar wieder erwerbsfähig und tätig zu sein. Heiko Wünsch, Thomas Jeschner Laut einer Veröffentlichung der Bundesarbeitsgemein- schaft Wohnungslosenhilfe wird die Eindämmung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit eine der großen sozialen Herausforderungen für die kommende Regierung. Kontakt Schätzungsweise über eine halbe Millionen Menschen in Deutschland werden 2018 über keinen mietrechtlich Sozialberatung & Tagesaufenthalt „Wärmestube“ abgesicherten Wohnraum verfügen. Die Tendenz ist dabei Tel.: 0345 1715-790 steigend. Fax: 0345 2178-199 Email: waermestube@stadtmission-halle.de Hier zeigt sich, wie wichtig die Wärmestube für die betrof- Adresse bis voraussichtlich Juni: fenen Menschen und für die Stadt Halle ist. Basierend auf Breite Straße 32a der gesetzlichen Grundlage nach §§67-69 SGB XII richtet 06108 Halle (Saale) sich die Einrichtung mit ihren niedrigschwelligen Angeboten Bitte beachten Sie aktuelle Informationen bezüglich des an einen weit zu fassenden Personenkreis. Dazu gehören Umzugs an den neuen Standort im Steinweg 43. Menschen die obdachlos sind, in unzumutbaren Wohn- verhältnissen leben oder von Wohnungslosigkeit bedroht Ansprechpartner: sind ebenso wie Menschen mit psychosozialen Problemen, Heiko Wünsch (Leiter der Einrichtung) Menschen in prekären Lebenslagen, in sozialen Schwie- Rene Pietsch (Sozialarbeiter) rigkeiten oder Menschen, die einfach mit der Bewältigung
14 Diakonie für Menschen In Melchiorsgrund Der Alltag als Therapie für Suchterkrankte Wir alle nutzen Drehtüren. Es gibt sie vor allem in großen Viele der Patienten, die nach Melchiorsgrund ziehen, ha- Gebäudekomplexen wie Hotels, Bürogebäuden und Kran- ben eine schwierige Geschichte der Therapie hinter sich. kenhäusern. Eine Drehtür soll eine reibungslose und schnel- Dazu gehören gescheiterte Therapien ebenso wie eine le Passage von vielen Menschen von einem Außen nach Vielzahl von stationären Aufenthalten in psychiatrischen einem Innen und umgekehrt ermöglichen. Sie funktionieren Einrichtungen oder auch freiheitsentziehende Maßnahmen. und sind für uns etwas Positives. Nur der Gedanke, dass Hier in Melchiorsgrund, so die Hoffnung der Patienten und sie es einmal nicht tun, und wir in einem solchen Falle in der Klinikmitarbeiter, können sie in dem offenen Ansatz einer Drehtür stecken bleiben könnten, lässt uns manchmal verlorenes Selbstvertrauen und eine Teilhabe an allen Le- eine Drehtür mit Argwohn betreten. bensbereichen wieder erlangen. Der Alltag ist die Therapie. Dieser Gedanke geht auf den deutschen Soziologen Prof. In der Psychiatrie beschreibt das Bild einer Drehtür dagegen Bruno Hildenbrand zurück. Er lehrt momentan am Institut einen negativen Effekt. Wer einmal eine Drehtür benutzt hat, für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. kommt immer wieder zurück. In Melchiorsgrund, einem Eine wichtige Rolle in diesem Konzept nehmen natürlich die kulturtherapeutischen Dorf im mittelhessischen Vogel- Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein. Im Selbstverständnis bergskreis, möchte man diesen Drehtüreffekt mit einem der Fachklinik heißt es: Alle Mitarbeiter begreifen sich als besonderen Ansatz vermeiden. interdisziplinäres und integrativ arbeitendes Team, wobei jeder Einzelne aufgrund der sich durchdringenden Bereiche Der Landkreis erhielt seinen Namen vom Vogelsberg, einem angehalten ist, über den eigenen Verantwortungsbereich Mittelgebirge und dem größten Vulkangebiet in Mitteluropa. hinauszublicken und sich selbst auch als Lernender unter Die Vulkane sind seit Jahrmillionen erloschen. Das Dorf Mel- Lernenden zu begreifen. Teilhabe ist hier nicht nur in der chiorsgrund gehört zur Gemeinde Schwalmtal und ist ein Begrifflichkeit des ICF zu verstehen, sondern wird zur offener Ort, in dem Patienten der Fachklinik Melchiorsgrund, praktisch - empathischen Grundhaltung. aber auch die Mitarbeiter und deren Familien gemeinsam leben und arbeiten. Die im Dorf integrierte Fachklinik wurde So werden Türen geöffnet, damit sich die Menschen nicht im Jahr 1980 konzipiert und ein Jahr später als Einrichtung im Kreise ihrer Erkrankungen immer nur weiter drehen. der medizinischen Rehabilitation für rauschmittelabhängige und psychisch erkrankte junge Menschen anerkannt. Gut Thomas Jeschner die Hälfte der dort zu behandelnden Patienten werden zum Kreis der Erkrankten mit Doppeldiagnosen gezählt, lebten also schon vor dem Beginn ihrer Suchterkrankung mit psychiatrischen Diagnosen. In Melchiorsgrund werden diese beiden Erkrankungen vom selben Therapeuten behandelt. Dies unterscheidet die Klinik von vielen anderen therapeutischen Angebo- ten. In Melchiorsgrund verspricht man sich von diesem integrierten Therapieansatz erhebliche Vorteile gegenüber Therapieformen, die nacheinander oder gleichzeitig, aber in unterschiedlichen Settings die Patienten behandeln. Dabei ist das offene Dorf, so die Fachklinik selbst, als „professionell gerahmte Lebenswirklichkeit die hervorste- chendste konzeptionelle Besonderheit.“ Ein wichtiges Ziel des Konzeptes ist es, den Patienten einen angstfreien und autonomen Rahmen für die Gestaltung ihrer verschiedenen Lebensbereiche zu ermöglichen. Das Dorf bietet neben Arbeitstätten wie die Milchviehwirtschaft eine Vielzahl von weiteren sozialen und kulturellen Stätten der Begeg- nung. Zum Dorf gehören ein eigener Laden, es werden gemeinsame Kulturveranstaltungen, Feste und Seminare organisiert. Melchiorsgrund - Kulturtherapeutisches Dorf im Vogelsberg
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