Kultur der Aufmerksamkeit - für Weltoffenheit und Demokratie - Bistum Magdeburg

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Kultur der Aufmerksamkeit - für Weltoffenheit und Demokratie - Bistum Magdeburg
Kultur der
Aufmerksamkeit –
für Weltoffenheit und
Demokratie
Inhalt
05      VORWORT                                   12   GESPRÄCHE – DIE AUFGABE                     22   HINSEHEN. HINHÖREN.                             38   GEBETE, LIEDER UND
        Von Bischof Dr. Gerhard Feige                  DER KIRCHE                                       HANDELN.                                             GEDENKTAGE
                                                       Über den Umgang mit unterschiedlichen            Oft unterm Radar, aber hier mit der Kraft            So holen wir die Kultur der Aufmerksamkeit
                                                       Sichtweisen in christlichen Pfarreien und        der Stimme: Menschen, die geholfen haben             ins Hier und Jetzt
06      CHRISTSEIN IM ANGESICHT                        Gruppen

        DES ANDEREN                                    Von Christine Böckmann
                                                                                                   32   KLEINE METHODEN,                                42   ANGEBOTE UND KONTAKTE
        Der Mensch baut auf und zerstört,
        doch im Angesicht des Anderen offenbart                                                         GROSSE WIRKUNG                                       Bischöfliche Fachkommission, Flüchtlingshilfe,
        sich das Christsein                       18   STRUKTUREN IN                                                                                         Gemeindeberatung, Katholische Erwachsenen­-
                                                                                                        Zwei Tools, um auch bei strittigen Positionen
                                                                                                                                                             bildung, Weltkirche – hier finden Sie Hilfe,
        Von Dr. Friederike Maier                       BEWEGUNG?                                        miteinander ins Gespräch zu kommen – und
                                                                                                                                                             Bildungsangebote und Beratung
                                                                                                        im Gespräch zu bleiben
                                                       Über Zwänge und Widerstände auf dem
                                                       Weg einer Beteiligungsförderung
10      EIN IMPULS AUS DER                             Von Susanne Brandes                                                                              46   PUBLIKATIONEN, PORTALE,
                                                                                                   36   WAS TUN GEGEN
        MYSTIK                                                                                                                                               PLATTFORMEN
                                                                                                        RECHTSEXTREMISMUS?
        Was wir alle von der Magdeburger
                                                                                                                                                             Ausgewählte Bücher, Artikel,
        Mystikerin Mechthild lernen können                                                              Die 11 besten Antworten und Tipps –
                                                                                                                                                             Download-Links und Internetseiten –
                                                                                                        eine Checkliste
        Von Prof. Dr. Hildegund Keul                                                                                                                         Tipps, um sich auf den Stand zu bringen

     2 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                                                          Kultur der Aufmerksamkeit 3
Vorwort
Von Bischof Dr. Gerhard Feige

                          „In Deutschland hat sich eine neue rechte Bewe-
                          gung etabliert“, so hieß es in der Einladung zu
                          einer Tagung, die im Herbst 2017 in Magdeburg
                          stattfand. Diese Bewegung greift die Stimmung all
                          derer auf, denen die Zuwanderung von geflüchte-
                          ten Menschen Angst macht und die sich vor einer
                          angeblichen „Überfremdung“ unserer Kultur
fürchten. In unserer Region spricht sie darüber hinaus auch all diejenigen
an, die sich „abgehängt“, zu kurz gekommen und entwurzelt fühlen.
     Rechtspopulistische Positionen, in denen sich derzeit nicht wenige
Menschen wiederfinden, stellen jedoch die grundlegenden Werte des
Zusammenlebens in unserer Gesellschaft in Frage. Erst recht sind sie mit
dem christlichen Glauben unvereinbar. Gott ist weder ein Kulturgut noch
ein Nationalgott. Und in der prophetischen Tradition des Alten und Neuen
Testaments stehen gerade die Opfer rechtsextremistischer Gewalt im Mit-
telpunkt: die Fremden und Verfolgten. Dies ist eine geradezu kopernikani-
sche Wende in der Kulturgeschichte: Die Fremden soll man nicht nur nicht
unterdrücken, sondern sogar lieben wie sich selbst.
     Die Absage gegenüber jeder Art von Fremdenfeindlichkeit ist deshalb
für Christinnen und Christen nicht verhandelbar. Wir haben den Auftrag,
zusammen mit anderen nach menschenfreundlichen und konstruktiven
Lösungen zu suchen.
     Ich bin dankbar, dass wir im Bistum Magdeburg schon seit längerem
auf diesem Weg sind. Seit vielen Jahren gibt es Initiativen, in denen Men-
schen gegen rechtsextreme Tendenzen aufbegehren, unbürokratische Hilfe
für Geflüchtete leisten, für die Menschenwürde und die Menschenrechte
eintreten und die Demokratiefähigkeit der Menschen stärken. Einige Bei-
spiele dieses Engagements finden sich in der vorliegenden Broschüre.
     Diese Broschüre will all diejenigen ermutigen und unterstützen, die
sich in Pfarreien, Gruppen und als Einzelne für eine solidarische Zivil-
gesellschaft und eine neue Kultur der Mitmenschlichkeit einsetzen. Dem
dienen sowohl die einzelnen Artikel, in denen verschiedene Aspekte und
Voraussetzungen eines solchen Engagements beleuchtet werden, als auch
die zahlreichen praktischen Tipps und Hinweise am Ende der Broschüre.
     Ich danke allen, die diese anregende und hilfreiche Broschüre erarbei-
tet und ermöglicht haben und wünsche ihr viele aufmerksame Leserinnen
und Leser.

                                                             Kultur der Aufmerksamkeit 5
„Was ist der Mensch, dass Du an ihn denkst,
                                                                                                                    stündliche Entscheidung, dem Guten und Aufbauen-
                                                             was ist das Kind eines Menschen, dass Du es
                                                                                                                    den den Vorrang vor dem Zerstörerischen oder Trost-
                                                             lieb hast? Du hast ihm fast die Würde eines
                                                                                                                    losen zu geben.
                                                             himmlischen Wesens gegeben. Mit Schönheit

                                                         E
                                                                                                                         Diese grundsätzliche Unberechenbarkeit des Men-
                                                             und Adel hast Du ihn gekrönt.“
                                                                                                                    schen ist manchmal schwer auszuhalten, vor allem
                                                                    in Staunen liegt in diesem Psalmvers: ein       wenn es um sein Gewaltpotenzial geht. Im alltägli-
                                                                    Staunen über die Größe und Würde, die           chen Umgang aber sind die Achtung vor dem Nächsten

                  Christsein
                                                                    dem Menschen gegeben ist, und ein Staunen       und die Akzeptanz, dass er nie vollständig verfügbar
                                                                    über Gott, der dem Menschen solches Anse-       oder berechenbar ist, die Voraussetzung für Liebe. „Du
                                                         hen schenkt. Die besondere Würde des Menschen wird         sollst dir kein Bild machen“ (Ex 20,4) – dieses Gebot
                                                         auch an anderen Stellen in der Bibel betont. So wird       ist auch für den mitmenschlichen Umgang wichtig, um

                im Angesicht
                                                         sie in der ersten Schöpfungserzählung mit der Gott­        den anderen nicht einzuengen, zu überhöhen oder zu
                                                         ebenbildlichkeit ausgedrückt: „Gott schuf also den         unterdrücken.
                                                         Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er            So ist der Mit-Mensch nah und fern, vertraut und

                 des Anderen
                                                         ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27). Dieser    geheimnisvoll zugleich. Eine tiefer gehende Begeg-
                                                         bereits in der ägyptischen Königstheologie bekannte        nung ist durch den gegenseitigen Anblick möglich.
                                                         Topos der Ebenbildlichkeit ist hier von revolutionärer     Das betont die Philosophin Edith Stein in ihrer phä-
                                                         Kraft, da er für alle gilt: Jeder Mensch, egal welchen     nomenologischen Untersuchung „Der Aufbau der
                                                         Geschlechts oder welcher Herkunft, ist nach Gottes         menschlichen Person“: „Wenn zwei Menschen einan-
                                                         Bild geschaffen. Als Ebenbild ist er zugleich ein Gegen-   der anblicken, dann stehen ein Ich und ein anderes Ich
              Der Mensch baut auf und zerstört. Doch     über Gottes, von ihm geliebt und zur Liebe bestimmt.       einander gegenüber. Es kann eine Begegnung vor den
              im Angesicht des Anderen, im Fremden       Er existiert in Beziehung zu Gott und zu seinen Mit-       Toren sein oder eine Begegnung im Innern. Wenn es
                                                         menschen, ist mit Vernunft und Freiheit begabt und         eine Begegnung im Innern ist, dann ist das andere Ich
               und Geheimnisvollen, offenbart sich       dazu beauftragt, Verantwortung für sich, den anderen       ein Du.“ Für Emmanuel Lévinas, ebenfalls Phänome-
                das Christsein, das das Böse nicht       und die Welt zu übernehmen.                                nologe, offenbart sich die „Spur des Unendlichen“ im
                                                              Doch zugleich weiß die Bibel um die Schattensei-      Anblick des Anderen und macht diesen unendlich kost-
              ausblendet und sich am Guten erfreut –     ten des Menschen: Als geschaffenes Wesen ist er auch       bar. Das zwingt in eine strikte Verantwortung für ihn.
                  und niemals aufhört zu staunen.        abhängig, schwach, bedroht, und er kann für andere         In seiner Schrift „Totalität und Unendlichkeit“ betont
                                                         zur Gefahr werden. Am Beispiel des Sündenfalls, des        er: „Ich sehe, dass er mich ansieht, und er sieht so auch
                              Von Dr. Friederike Maier   Brudermords von Kain an Abel, der Eifersucht Sarahs        mich. In seinem ‚Antlitz‘ zeigt sich eine unendliche
                                                         auf Hagar, des Verrats Jakobs an Esau und in vielen        Fremdheit, aus der mich die ganze Menschheit anblickt
                                                         anderen Erzählungen wird fast von Beginn an die Dra-       und sagt: ‚Du wirst keinen Mord begehen.‘“ Fremd-
                                                         matik des Menschseins dargestellt. Und so gesellt sich     heit ist bei Levinas positiv konnotiert: Der Andere, der
                                                         zum Staunen über die Schönheit des Menschen der            Fremde, erinnert mich an das Unendliche, an Gott, an
                                                         Schrecken über seine Abgründe. Auch wenn beides            das Geheimnis. Daraus entsteht der Imperativ, dass ich
                                                         kaum zusammenzubringen ist, liegt darin die Stärke         dem anderen keine Gewalt antun darf und dass er –
                                                         biblischer Erzählungen: Sie sind gesättigt von Erfah-      wie ich – persönliche und soziale Grundrechte hat.
                                                         rungen im Miteinander und verschweigen nur allzu
                                                         Menschliches nicht.
                                                              Bis heute besteht diese Spannung: Menschen
                                                                                                                    IN UNSERER ZEIT
                                                         haben verschiedene Seiten und können unterschiedli-        WIRD OFT VERSUCHT,
                                                         che Gesichter zeigen. Von außen ist oft nicht zu beur-
                                                         teilen, was in einem Menschen vor sich geht. Personen,
                                                                                                                    DAS FREMDE ZU
                                                         für die man die Hand ins Feuer gelegt hätte, können        (VER-)MEIDEN.
                                                         Täter werden. Und Menschen, die argwöhnisch beäugt
                                                         werden, weil sie irgendwie „anders“ sind, können               Zum einen scheint es das Fremde durch Reisefrei-
                                                         sich als Retter in der Not erweisen. Wer ehrlich mit       heit, Globalisierung und Internet gar nicht mehr zu
                                                         sich selbst ist, weiß um die eigenen Schattierungen        geben. Bestimmte Marken setzen sich weltweit durch,
                                                         der Gefühle und Stimmungen, kennt in sich Missmut,         die unterschiedlichen Kulturen vermischen sich immer
                                                         Aggression oder gar Hass ebenso wie Dankbarkeit            mehr und die Möglichkeit, überall auf der Welt nach
                                                         und ungetrübte Freude. Es ist eine tägliche, manchmal      den eigenen Gewohnheiten zu leben, steigt. Zum

6 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                               Kultur der Aufmerksamkeit 7
anderen wird das Fremde, der mir fremde Mensch,               neuen Herausforderungen lebt. Wichtig ist dabei, dass
oft als Bedrohung empfunden, da er unsicher macht             sich Menschen als wirkmächtig erfahren, die Umwelt
und aus der Bequemlichkeit des Bekannten heraus-              zu gestalten, und so Hoffnung und Offenheit für die
holt. In der Folge werden Menschen abgewehrt statt            Zukunft gewinnen.
geachtet: Sie werden nicht als Individuum betrachtet,              Für Christinnen und Christen ist das Handeln
sondern eingruppiert, abgewertet, um auszugrenzen.            Jesu Vorbild. Er sieht die Licht- und Schattenseiten der
Das Fremde und Befremdliche, das diese Reaktionen             Menschen, er erkennt ihre Not und verurteilt nicht,
auslöst, kann in einer anderen Hautfarbe, Nationalität,       sondern richtet auf. Er schenkt Vertrauen und Lebens-
Kultur, Religion, Lebensform, sexuellen Orientierung          mut. Jesus zielt – wie Papst Franziskus betont – nicht
oder politischen Ansicht gesehen werden.                      auf Ausschluss, sondern auf Integration. Dabei ruft er
    Natürlich kann im Umgang mit Menschen Vor-                im Umgang miteinander immer wieder zu Vergebung
sicht geraten sein. Aber eine Vorsicht, die abwägen           und Umkehr auf. „Kehrt um und glaubt an das Evan-
und differenzieren kann; eine Vorsicht, die bereit ist,       gelium!“, so lautet die Botschaft Jesu bei seinem ers-
jedem Menschen das Gute zuzutrauen. Wo Differen-              ten öffentlichen Auftreten in Galiläa (Mk 1,15). „Denkt
zierung und Unterscheidung ver-                                                   darüber hinaus“, „denkt weiter“,
loren gehen, entstehen pauschale                                                  könnte man das griechische Wort
Urteile, wachsen Populismus,                                                      „Metanoeite“ wörtlicher übersetzen,
Fundamentalismus und Extre-                                                       „und glaubt an die Frohe Botschaft“.
mismus. Die wiederum können                                                            In einer schwierigen Situation
tödlich sein. Unsere Gesellschaft                                                 gefangen, ohne Hoffnung auf eine
braucht dagegen einen offenen                                                     Lösung, wütend oder mutlos, lohnt
Dialog mit einer Diskussions- und                                                 es sich demnach innezuhalten. Was
Streitkultur, die den anderen nicht                                               treibt mich um? Was lässt mich
unterdrückt, sondern in seinen                                                    nicht zur Ruhe kommen? Könnte
unterschiedlichen Anschauungen                  Dr. Friederike Maier              man die Situation auch anders
respektiert. Zugleich benötigen                                                   betrachten? Der Ruf zur Umkehr
wir eine gemeinsame Anstren-          ist gebürtige Heidelbergerin, leitet seit   ist ein Appell, sich in schweren
gung, Meinungen durch den Dis-        2015 den Fachbereich „Pastoral in Kir-      Zeiten zu erheben und nach neuen
kurs, durch sachliche Informati-      che und Gesellschaft“ im Bistum Mag-        Wegen Ausschau zu halten, wei-
onen und durch die Fähigkeit zur      deburg. Davor war sie gut sieben Jahre      ter, großherziger und umfassen-
Empathie zu bilden. Wir brauchen      als Pastoralreferentin an der Katholi-      der zu denken. Dadurch vermeidet
eine Wachsamkeit für Übergriffe       schen Hochschulgemeinde in Karlsruhe        der christliche Glaube Vorurteile,
und Angriffe auf die Menschlich-      tätig, als geistliche Mentorin in der       gesteht jedem Menschen Ansehen
keit und einen deutlichen Einsatz     Kirchlichen Studienbegleitung sowie         und einen unbedingten Wert zu
gegen jede Form der Gewalt. Wir       als geistliche Begleiterin bei Ferienaka-   und fördert eine Aufmerksamkeit,
brauchen eine Gesellschaft, die sich  demien und Graduiertentagungen im           die das Schwere nicht ausblendet,
an ihre demokratischen Grund-         Cusanuswerk. 2008 promovierte Dr.           aber auch das Schöne wahrnimmt
werte erinnert und sie auch in den    Friederike Maier in Freiburg (Breisgau).    und nicht aufhört zu staunen. ◆ ◆ ◆

     8 Kultur der Aufmerksamkeit
Ein Impuls                                                                                                                               SICH SELBST
                                                                                                                                                              UND ANDEREN
                   aus der Mystik                                                                                                                             REINEN WEIN
                                                                                                                                                              EINZUSCHEN-
                                                                                                                      wie es im Mittelhochdeutschen
                                                                                                                                                              KEN, DAS HÄLT                           die Kinder gemeinsam die Schule
  Die Kultur der Aufmerksamkeit entdecken und entwickeln:                                                             heißt: vor Mangel und Gebrechen         MECHTHILD FÜR                           besuchen, wo man shoppen geht
  Dafür können die Magdeburgerinnen und Magdeburger auf                                                               bis hin zum Zusammenbruch.
                                                                                                                                                              BESONDERS                               oder Erholung sucht. Alle Tage
                                                                                                                           Aber dieser Selbstschutz soll                                              haben wir die Möglichkeit, eine
 ganz eigene Quellen zurückgreifen. Denn im 13. Jahrhundert                                                           in Verbindung stehen zu dem,            WICHTIG.                                Kultur der Aufmerksamkeit zu
   hat hier die Mystikerin Mechthild (* 1207) gelebt, die als                                                         was man für andere Menschen                                                     initiieren.
                                                                                                                      tut. Mechthild nennt die Aufmerksamkeit für andere              Bedeutet das nun, dass das Vier-Augen-Gespräch
    einziger Mensch mit dem Beinamen „von Magdeburg“                                                                  „liebevoll“, denn hier kommt es auf die innere Hal-        ausreicht und damit eine öffentliche Debatte nicht mehr
 weltberühmt wurde – eben weil sie sich für ihre Mitmenschen                                                          tung an. Natürlich kann man andere Menschen voller         notwendig ist? Nach Mechthild keinesfalls. Das persön-
                                                                                                                      Misstrauen beobachten, um herauszufinden, wo sie           liche Gespräch, wo man sich reinen Wein einschenkt, ist
                         stark machte.                                                                                Schwächen haben und Fehler machen. Aus einer sol-          ein Eckstein, aber nicht die ganze Kultur. Die Mystikerin
                                                                                                                      chen Haltung heraus entsteht das Ressentiment: Man         hat die öffentliche Wirksamkeit selbst praktiziert, als sie
                                            Von Prof. Dr. Hildegund Keul
                                                                                                                      stellt die Schwächen der anderen groß raus, um selbst      in ihrem Buch sehr deutlich Kritik an den Zuständen in
                                                                                                                      gut dazustehen. In der Politik oder auch in vielen Talk-   Kirche, Gesellschaft und Politik übte. Damals wollten ihr

E
                                                                                                                      shows herrscht ein solches Verhalten, das Misstrauen       daraufhin einige Menschen den Mund verbieten und sie
                                                                                                                      schürt und Menschen gegeneinander positioniert. Das        zum Schweigen bringen. Mechthilds Antwort auf diese
           s war ihre Mystik, dank derer sich Mecht-            In Zeiten des Postfaktischen und tiefer gesell-       ist jedoch nicht Sache der Mystik.                         Attacken lautet: „Die Wahrheit kann niemand verbren-
           hild im Hochmittelalter sozial engagierte        schaftlicher Gräben ist dieser Satz eine Provokation.          Aber „liebevoll“ heißt auch nicht, dass man um des    nen“ (FLG II, 26). ◆ ◆ ◆
           und in öffentliche Belange einmischte. Aus       Aufmerksam sein; wirklich hinschauen auf das, was         lieben Friedens willen der Wahrheit ausweicht und
           eigener Erfahrung und aus den Gesprächen         sich zeigt; sich den Veränderungen unserer Zeit stel-     leichtsinnig über das hinwegschaut, was falsch läuft.
mit ihren Mitmenschen kannte sie die Schwierigkeiten        len, auch wenn sie uns nicht zupasskommen. Nur            Vielmehr gilt es, offen zu benennen, wo Fehler pas-
und Chancen des freiwilligen, heute würden wir sagen        wenn man sich der Wirklichkeit stellt und die Wahr-       sieren, wo verschwiegene Konflikte brodeln und wo
„bürgerschaftlichen“ Engagements. Es ist nicht immer        heit zu sagen versucht, kann man das Zusammenle-          krasses Unrecht geschieht – „missetun“ heißt es im
leicht, das richtige Maß zu finden und das zu tun, was      ben friedlich und möglichst gerecht gestalten. Beides,    Mittelhochdeutschen. Sich selbst und anderen reinen
eine Gemeinschaft wirklich weiterführt. In ihrem Buch       die Aufmerksamkeit für sich selbst und die für andere,    Wein einzuschenken, das hält Mechthild für besonders
„Das fließende Licht der Gottheit“ schreibt Mechthild:      sind bei Mechthild untrennbar miteinander verbun-         wichtig. Ein offenes Wort wagen – auch und gerade da,
                                                            den. Niemandem ist geholfen, wenn man den Selbst-         wo dies unerwünscht ist. Ingeborg Bachmann hat das
    „Eine heilige Aufmerksamkeit sollen wir für uns         schutz vernachlässigt, sich jeder Gefahr aussetzt und     in ihrem Gedicht „Alle Tage“ die „Tapferkeit vor dem
    selbst haben und zu allen Zeiten in uns tragen,         sich überfordern lässt von all den Aufgaben, die die      Freund“ genannt. Mit dieser Tapferkeit beginnt eine
    dass wir uns vor Gebrechen bewahren. Eine               Gegenwart stellt. Aufmerksamkeit für uns selbst sol-      Kultur der Aufmerksamkeit.                                                  Prof. Dr. Hildegund Keul
    liebevolle Aufmerksamkeit sollen wir für unsere         len wir „zu allen Zeiten in uns tragen“. Das ist etwas         Tatsächlich könnte man sich auch heute viel
    Mitmenschen haben. Wenn sie falsch handeln              Aktives: Die Balance herstellen zwischen den Bedürf-      unnütze Rede ersparen, vor allem in der Öffentlichkeit,    leitet die Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen
    und Unrecht tun, sollen wir ihnen dies unter vier       nissen, die ich selbst habe, und denjenigen, die andere   wenn man die Auseinandersetzung unter vier Augen           Bischofskonferenz. Sie ist zudem außerplanmäßige Professo-
    Augen und wohlmeinend sagen. So können wir              zeigen. Wer sich selbst aus dem Blick verliert, kann      nicht scheute. Denn es gibt zwar die tiefen Gräben         rin für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswis-
    uns viel unnütze Rede ersparen. Amen.“                  anderen nicht mehr lange dienen. Wer aber auf sich        in unserer Gesellschaft. Es gibt aber auch unzählige       senschaft an der Universität Würzburg. Ihr Themenschwer-
    (FLG II, 26 – Übersetzung HK)                           selbst achtet und sich im richtigen Moment vor Über-      Möglichkeiten, Brücken zu bauen: wo man sich in der        punkt: Verwundbarkeit – als Schlüsselthema in Kirche und
                                                            forderung schützt, kann sich vor „gebresten“ bewahren,    Straßenbahn oder sonst wo unterwegs begegnet, wo           Gesellschaft.

    10 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                                                                                         Kultur der Aufmerksamkeit 11
Die Ausgangslage: Wir alle sind Teil des                   auch vorhanden sind, wenn keine Gespräche darüber
                                                          Problems – und der Lösung                                  stattfinden.
                                                          Menschenfeindliche, rechtsextreme und abwertende                Daher wird oft argumentiert, dass gerade wir Chris-
                                                          Einstellungen machen nicht vor Kirchentüren halt.          tinnen und Christen mit allen das Gespräch suchen
                                                          Wir müssen daher davon ausgehen, dass es in unse-          und uns mit Ausgeschlossenen sowie Sünderinnen

                  Gespräche –
                                                          ren Pfarreien und Gremien Menschen gibt, die andere        und Sündern an einen Tisch setzen sollten. An vielen
                                                          abwerten, diskriminieren oder ausgrenzen – und auch        Stellen und Orten wird das bereits versucht – jedoch
                                                          wir selbst sind nicht frei von diesen Tendenzen. Rechts-   mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Es lohnt, von
                                                          extremismus und Rechtspopulismus sind also keine           diesen Erfahrungen zu lernen und sich Gedanken zu

                  die Aufgabe
                                                          Phänomene außerhalb von uns, sondern wir Christin-         machen, wie Gespräche über Grenzen hinweg gestaltet
                                                          nen und Christen sowie unsere Pfarreien, Einrichtun-       werden können, die allen Menschen gerecht werden
                                                          gen und Organisationen sind Teil des Problems. Damit       und dem christlichen Geist entsprechen.

                   der Kirche
                                                          können wir aber auch Teil der Lösung sein, wenn wir             Zudem werden kirchliche Akteurinnen, Akteure
                                                          uns aktiv dem Problem stellen und die Chancen nut-         und Pfarreien in politischen Auseinandersetzungen
                                                          zen, die sich uns bieten.                                  und lokalen Konflikten oft als neutraler Boden wahr-
                                                               In Pfarreien kommen unterschiedliche Menschen         genommen, auf dem sich unterschiedliche Menschen
                                                          zusammen: Sie haben unterschiedliche Herkünfte,            treffen und Gespräche konstruktiv stattfinden können.
                                                          Erfahrungen, Ressourcen und unterschiedliche poli-         Daher werden z. B. oft auch Pfarrerinnen und Pfarrer
                Wie umgehen mit unterschiedlichen         tische Einstellungen oder Meinungen zu Sachfragen.         zur Moderation angefragt. Das ist eine große Chance
              Sichtweisen in christlichen Pfarreien und   Das ist eine große Chance, aber auch eine Herausfor-       für die Kirchen, birgt allerdings auch Herausforde-
                                                          derung oder gar Zerreißprobe, nämlich dann, wenn           rungen, da die Neutralität im Konflikt mit einer men-
               Gruppen? Nun, es gibt unterschiedliche     lokale politische Konflikte eskalieren und durch Pfar-     schenfreundlichen und respektvollen Haltung bzw. der
              Wege und Lösungen – aber auch Hürden        reien gehen. Solche Konflikte außen vor zu lassen,         christlichen Ethik stehen kann.
                                                          geht nur selten gut. Themen und Probleme, die die
                    und unbequeme Tatsachen.              Menschen und Gemeindemitglieder beschäftigen, soll-        Das christliche Menschenbild: Die Gleichheit
                                                          ten auch Platz im Zusammenleben der Pfarrei haben.         aller Menschen

                                                              „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der                 „Da alle Menschen eine geistige Seele haben
                               Von Christine Böckmann         Menschen von heute, besonders der Armen                    und nach Gottes Bild geschaffen sind, da
                                                              und Bedrängten aller Art, sind auch Freude                 sie dieselbe Natur und denselben Ursprung
                                                              und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger                  haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich
                                                              Christi.“ (Gaudium et Spes, 1)                             derselben göttlichen Berufung und Bestim-
                                                                                                                         mung erfreuen, darum muss die grundlegende
                                                          Christliche Pfarreien und Gruppen:                             Gleichheit aller Menschen immer mehr zur
                                                          Orte für Dialog und gesellschaftliche                          Anerkennung gebracht werden.“ (Gaudium et
                                                          Aushandlungsprozesse                                           Spes, 29)
                                                          Das Gespräch ist ein wichtiges Handlungsfeld von
                                                                                                                         Die Gleichheit aller Menschen ist ein Fundament
                                                          Christinnen und Christen und steht in der Tradition
                                                                                                                     des christlichen Glaubens. Ihr sollten wir in allem, was
                                                          Jesu, der sich bewusst mit Ausgeschlossenen sowie
                                                                                                                     wir tun, gerecht werden. Wenn die Gleichheit aller
                                                          Sünderinnen und Sündern an einen Tisch gesetzt hat.
                                                                                                                     Menschen also in Frage gestellt oder negiert wird, soll-
                                                          Gerade in einer Zeit, in der sich Gesellschaften frag-
                                                                                                                     ten wir dem – aus unserem christlichen Glauben her-
                                                          mentieren und wir uns aus einem breiten Angebot
                                                                                                                     aus – deutlich widersprechen. In diesem Widerspruch
                                                          von Medien und Nachrichten diejenigen aussuchen
                                                                                                                     müssen wir allerdings bedenken: Auch denen, die die
                                                          können, die unserem eigenen Weltbild entsprechen, ist
                                                                                                                     Gleichheit in Frage stellen, sollte die gleiche Achtung
                                                          es notwendig, dass wir mit Meinungen und Sichtwei-
                                                                                                                     entgegengebracht werden.
                                                          sen konfrontiert werden, die nicht den eigenen ent-
                                                          sprechen. Es geht um Austausch und um die gemein-              „Achtung und Liebe sind auch denen zu
                                                          same Suche nach „der Stadt Bestem“ (Jer 29,7). Dazu            gewähren, die in gesellschaftlichen, politi-
                                                          gehört auch das Ansprechen schwieriger Fragen sowie            schen oder auch religiösen Fragen anders
                                                          die Begegnung mit problematischen Sichtweisen, die ja          denken oder handeln als wir. Je mehr wir in

12 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                              Kultur der Aufmerksamkeit 13
WICHTIG IST,
                                                                                                                                                              DASS EIN
                                                                                                                                                              SCHRITT GETAN,
                                                                                                                                                              EIN ANFANG
    Menschlichkeit und Liebe inneres Verständnis            offen stehen, der dies wünscht. Ob man alle Menschen      oft benutzt wird, um Ressentiments      GEMACHT WIRD,                          aussprechen können. Gleichzeitig
    für ihr Denken aufbringen, desto leichter wird
    es für uns, mit ihnen ins Gespräch zu kom-
                                                            bei einer öffentlichen Veranstaltung auf ein Podium
                                                            setzt oder bei Veranstaltungen bestimmte Teilnehmer­
                                                                                                                      gegen Muslime zu schüren.
                                                                                                                           Kontroverse       Diskussionen
                                                                                                                                                              OHNE DASS                              sollte daran gearbeitet werden,
                                                                                                                                                                                                     wie sich Ängste und Sorgen über-
    men.“ (Gaudium et Spes, 28)                             innen und Teilnehmer ausschließt, ist eine ganz andere    machen dort Sinn, wo wir Hoff-          ANSCHLIE-                              winden lassen, damit sie uns nicht

Die Person achten und die
                                                            Frage. Letzteres ist keine strikte Verweigerung eines
                                                            Gesprächs an sich, sondern lediglich die Verweigerung
                                                                                                                      nung haben, dass sich mit den Dis-
                                                                                                                      kussionen Probleme lösen oder
                                                                                                                                                              SSEND GLEICH                           lähmen (oder sie gar für politische
                                                                                                                                                                                                     Ziele instrumentalisiert werden)
menschenverachtende Position ächten                         einer konkreten Form.                                     Meinungen verändern lassen. Es          DIE GESAMTE                            und wir der Botschaft der Engel

    „Diese Liebe und Güte dürfen uns aber keines-
                                                                 Wichtig bei allen öffentlichen Gesprächen ist,
                                                            deutlich zu machen, auf welcher Grundlage sie statt-
                                                                                                                      gibt Menschen und Organisatio-
                                                                                                                      nen, denen es in Gesprächen und
                                                                                                                                                              WELT GERET-                            „Fürchtet euch nicht!“ folgen kön-
                                                                                                                                                                                                     nen. Auch sollten wir im Gespräch
    wegs gegenüber der Wahrheit und dem Guten
    gleichgültig machen. Vielmehr drängt die
                                                            finden: Ohne Achtung der Menschenwürde und der            öffentlichen Diskussionen nicht         TET SEIN MUSS.                         über Ängste und Sorgen darauf
                                                            Menschenrechte kann es für uns keine Gespräche            um ein sachliches und respektvol-                                              achten, dass politische oder gesell-
    Liebe selbst die Jünger Christi, allen Menschen
                                                            geben. Und das sollte nicht verhandelbar sein – die       les Gespräch geht, sondern darum, uns zu beeinflussen       schaftliche Entwicklungen bei unterschiedlichen Men-
    die Heilswahrheit zu verkünden. Man muss
                                                            Religionsfreiheit zum Beispiel ist für uns laut Grund-    und die eigene politische Agenda voranzutreiben. Wer        schen sehr unterschiedliche Ängste und Sorgen aus-
    jedoch unterscheiden zwischen dem Irrtum,
                                                            gesetz und laut katholischer Soziallehre bindend. Kön-    aber nur politische Parolen äußert, Behauptungen auf-       lösen. Diese verschiedenen Sichtweisen sollten Raum
    der immer zu verwerfen ist, und dem Irren-
                                                            nen wir dann darüber verhandeln, ob einer Religion        stellt oder sich dem fairen Austausch von Argumenten        bekommen. Wer z. B. Angst vor „Überfremdung“
    den, der seine Würde als Person stets behält,
                                                            das Recht abgesprochen werden soll, Gotteshäuser zu       verweigert, will nicht ergebnisoffen diskutieren, son-      äußert, sollte die Perspektive derjenigen kennen-
    auch wenn ihn falsche oder weniger richtige
                                                            bauen? Sehr wohl lässt sich darüber diskutieren, ob die   dern seine eigene Position durchdrücken und andere          lernen, denen dieses Aussprechen von „Ängsten vor
    religiöse Auffassungen belasten.“ (Gaudium et
                                                            Gestaltung eines konkreten Baus Zustimmung findet,        Meinungen abwerten.                                         Überfremdung“ Angst macht.
    Spes, 28)
                                                            ob bei öffentlichen Bauvorhaben die Bevölkerung aus-           Die Erfahrung zeigt: Ein öffentlicher Dialog mit
     In seinen Gesprächen mit Sünderinnen und Sün-          reichend informiert wurde, wie man damit zusammen-        rechtsextremistischen Kadern ist wenig sinnvoll, weil       Probleme und Themen differenziert behandeln
dern negiert auch Jesus nicht das Unrecht oder die          hängende Probleme löst usw.                               es ihnen meist nur darum geht, eigene Themen und            In vielen Diskussionen mit Konfliktstoff werden ver-
Sünde. Basis seiner Gespräche bleibt die Nächstenliebe,                                                               Thesen in die Öffentlichkeit zu bringen – wodurch ein       schiedene Themen oftmals gleichzeitig behandelt.
die immer allen gilt und alle Menschen in den Blick         Kein Gespräch um des Gesprächs willen führen              wirklicher Austausch auf Augenhöhe und eine Achtung         So wird z. B. in Diskussionen um die Aufnahme von
nimmt – den Zöllner und diejenigen, die aufgrund            Weil in gesellschaftlich fragmentierten Zeiten zusätz-    der Würde aller nicht möglich sind. Je tiefer Menschen      Geflüchteten oft gleichzeitig die Frage nach der sozi-
des Handelns des Zöllners zu viel bezahlen mussten.         liche Gesprächsangebote und „Dialoge über Grenzen         in die rechte Szene eingestiegen sind, je gefestigter ihr   alen Gerechtigkeit gestellt oder über mangelnde Inf-
Wie lässt sich diese Haltung konkret umsetzen? In           hinweg“ gefordert werden, sind manche versucht, diese     rechtsextremistisches Weltbild ist, umso weniger offen      rastruktur geklagt; die Rede von der Gefahr der „Isla-
der Nächstenliebe sollten wir für alle Menschen offen       Forderung umzusetzen, ohne nach Sinn und Zweck            werden sie für einen fairen Dialog unter Gleichberech-      misierung des christlichen Abendlandes“ ist nicht nur
sein und niemanden vorweg verurteilen. Das bedeutet         geschweige denn nach Zielen zu fragen. Wenn wir in        tigten sein.                                                eine Aussage über Muslime oder den Islam in Deutsch-
aber nicht, dass alle Formen der Begegnung und des          Dialog treten wollen, um gesellschaftliche Konflikte           Allerdings kann es bei öffentlichen Veranstaltun-      land, sondern auch eine über das Christentum. Hier ist
Gesprächs geeignet sind, um in einer menschenfreund-        zu lösen, dann sollten wir uns immer fragen, wen wir      gen auch trotz aller Vorsicht und trotz eines (begrün-      es wichtig, die verschiedenen Themen getrennt von-
lichen Atmosphäre Konflikte zu besprechen. Wir soll-        in diese Dialoge einbeziehen: Kommen die Betroffe-        deten) Ausschlusses bestimmter Personenkreise zu            einander zu betrachten und Sachverhalte differenziert
ten daher genau überlegen, welche Methoden und For-         nen zu Wort? Werden diejenigen gehört, die – oft aus      Situationen kommen, in denen menschenverachtende            zu behandeln. Die Frage nach der Sanierung maro-
men des Gesprächs wir wählen.                               unterschiedlichen Gründen – marginalisiert werden?        Positionen vertreten werden. Wir sollten uns also in        der Schwimmbäder ist eine andere als die Gestaltung
                                                            Und wie wirkt es auf Dritte, wenn wir bestimmte The-      jedem Fall überlegen, wie wir in solchen Situationen        einer menschenwürdigen Aufnahme von Geflüchteten.
Unterschiedliche Gesprächsformen kennen                     men diskutieren, bestimmte Personen oder Organisa-        damit umgehen wollen.                                       Gerade weil wir alle dazu neigen, Themen miteinan-
Entscheidend für Gespräche ist der Rahmen – und             tionen zu uns einladen und ihnen ein Podium bieten,                                                                   der zu vermischen und diese in den Medien zudem
es ist ein großer Unterschied, ob Gespräche auf dem         andere Perspektiven aber nicht zulassen? Wie würde        Unterschiedliche Sichtweisen deutlich machen                zugespitzt dargestellt werden, sollten wir uns darum
Podium einer öffentlichen Veranstaltung oder in der         es z. B. auf Muslime wirken, wenn wir über „Islami-       Den Gefühlen der Menschen sollte auch in politisch          bemühen, den Wahrheiten auf den Grund zu gehen
Vertraulichkeit einer seelsorglichen Einzelsitzung statt-   sierung“ reden? Sollten wir nicht vorher diskutieren,     kontroversen Debatten Raum gegeben werden. Es ist           und unterschiedliche Themen und Probleme auseinan-
finden. Ein seelsorgliches Einzelgespräch sollte jedem      ob wir diese Einschätzung teilen? Zumal der Begriff       daher wichtig, dass Menschen ihre Ängste und Sorgen         der zu halten.

     14 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                                                                                     Kultur der Aufmerksamkeit 15
Die richtigen Gesprächspartner einladen                   -partner regelrecht auf einer „Bühne“. Sie reden nicht
Was wollen wir in unseren Gesprächen erreichen? Wel-      nur miteinander, sondern auch mit der Öffentlichkeit,
che Themen wollen wir diskutieren? Wer ist für das        in der sie ihr Gesicht wahren, sich profilieren sowie
Thema Expertin, wer Experte? Wer kann wichtige Per-       Anhängerinnen und Anhänger für ihre Sache gewin-           Weitere Tipps zur Gestaltung von Gesprächen oder zu          hier eine Grenze überschritten sehen – und warum.
spektiven einbringen? Wenn wir gesellschaftlich kon-      nen wollen. Ein öffentliches Gespräch entfaltet daher      Methoden finden Sie in der Broschüre „Dialog? Dia-           Das kann kurz und sachlich geschehen und sollte
fliktreiche Probleme lösen und Gespräche ermöglichen      immer eine eigene Dynamik, die eher zur Eskalation         log! – Reden“ des Kulturbüro Sachsen. Scheuen Sie sich       angemessen sein. Bauen Sie also eine Bemerkung am
wollen, müssen wir nicht zwangsläufig denen Raum          und Zuspitzung neigt. Wer also schwierige Themen           auch nicht, externe Hilfe für die Moderation oder Pla-       Rande nicht zum Skandal auf. Wichtig aber ist, dass Sie
geben, die Minderheiten diskriminieren, nur weil sie      ansprechen möchte, das Aussprechen ehrlicher Gefühle       nung solcher Gespräche in Anspruch zu nehmen.                reagieren. Denn für alle Umstehenden sollte deutlich
dies lautstark oder in Parlamenten tun. Wenn wir die-     und ehrliche Antworten wünscht, dem empfiehlt sich                                                                      werden: Sie achten darauf, dass die Grenzen eines res-
sen Menschen ein Podium bieten, grenzen wir damit         eher das vertrauensvolle nicht-öffentliche Gespräch.       Die Grenzen des eigenen Wissens akzeptieren –                pektvollen Umgangs nicht überschritten werden. Diese
Angehörige der Minderheiten aus. Das sollten wir bei                                                                 und andere um Unterstützung bitten                           Handhabe gibt übrigens allen Umstehenden Sicherheit
der Planung von Veranstaltungen berücksichtigen.          Bestehende Gruppen nutzen –                                Bei vielen Diskussionen oder Fachfragen stoßen wir           und ermutigt sie, ebenfalls so zu handeln.
                                                          um Gespräche zu suchen und zu führen                       mit unserem Wissen an unsere Grenzen. Wir kön-
Nicht alle Probleme an einem Abend                        Pfarreien bieten viele Möglichkeiten für Gespräche:        nen über diese Themen zwar diskutieren, sollten uns                „Oftmals wird gerade eine christliche Schau der
lösen wollen                                              Es gibt Gruppen, die sich regelmäßig treffen, Arbeits-     dabei aber der Grenzen unseres Wissens bewusst sein.               Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer
Ein Gesprächsabend kann nicht alle Probleme lösen,        kreise, Gremien. Ein großer Vorteil dieser Gruppen:        Das können wir auch ehrlich zuge-                                                 konkreten Situation nahelegen.
allen Ärger aufnehmen, alle Ängste hören und über-        Man kennt sich von anderen Begegnungen, das Set-           ben. Und was wir nicht wissen,                                                    Aber andere Christen werden
winden. Daher sollten wir nicht zu viel von einem         ting ist vertraut, der Einstieg ins Gespräch leicht. Im    können wir entweder nach einem                                                    vielleicht, wie es häufiger, und
Gesprächsabend erwarten. Wichtig ist, dass ein Schritt    Rahmen dieser Gruppen sind auch Gespräche zu poli-         Gespräch recherchieren, oder wir                                                  zwar legitim, der Fall ist, bei
getan, ein Anfang gemacht wird, ohne dass anschlie-       tischen Themen möglich. Manchmal muss man dazu             laden Expertinnen und Experten                                                    gleicher Gewissenhaftigkeit in
ßend gleich die gesamte Welt gerettet sein muss. Inso-    den Rahmen etwas verändern. Ein Pfarrgemeinderat           ein: Wissenschaftlerinnen und                                                     der gleichen Frage zu einem
fern: Nehmen Sie sich für eine Veranstaltung nicht zu     wird z. B. eine neue Asylunterkunft vielleicht nicht als   Wissenschaftler, Zuständige aus                                                   anderen Urteil kommen. Wenn
viel vor und begrenzen Sie das Thema. Wichtige The-       eigenen Tagesordnungspunkt abhandeln können, aber          Politik und Verwaltung oder auch                                                  dann die beiderseitigen Lösun-
men, die zwar angesprochen, aber nicht behandelt          möglicherweise als ergebnisoffene Gesprächsrunde im        Engagierte aus der Zivilgesell-                                                   gen, auch gegen den Willen
werden können, sollten Sie sichtbar notieren. Suchen      Anschluss an die Tagesordnung. Ein weiterer Vorteil        schaft sind oftmals gern bereit, ihr            Christine Böckmann                der Parteien, von vielen andern
Sie einen geeigneten Ort, wo das Thema später wie-        solcher Gruppen: Die Teilnehmerinnen und Teilneh-          Wissen zu teilen und ihre Spezial­                                                sehr leicht als eindeutige
der aufgenommen und bearbeitet wird. Wichtig bei          mer können sich erneut begegnen. Man kann sich also        themen zu diskutieren.                ist Diplom-Theologin und Trainerin          Folgerung aus der Botschaft
solchen „Themenspeichern“: Die Menschen sollten           auch vertagen, Themen nach und nach bearbeiten und                                               für gewaltfreie Konfliktaustragung.         des Evangeliums betrachtet
erfahren, dass ihr Anliegen aufgenommen und nicht         die Dinge auch mal „sacken lassen“.                        Aufmerksam sein –                     Ehrenamtlich engagiert sie sich in          werden, so müßte doch klar
bis zum „St. Nimmerleinstag“ verschoben wurde und                                                                    auch im Alltag                        der Friedensarbeit. Seit 2004 ist sie       bleiben, daß in solchen Fällen
im Nirgendwo verschwindet. Denn das würde nur zu          Gesprächsregeln definieren –                               Personen achten und menschen-         auf Honorarbasis in der Kursleitung         niemand das Recht hat, die
weiteren Enttäuschungen führen.                           als Hilfe für faire Gespräche                              verachtende Positionen ächten:        und Trainingsarbeit zu gewaltfreiem         Autorität der Kirche aus-
                                                          Um Gespräche respektvoll zu gestalten, gerade auch         Im Alltag sind wir häufig gefor-      Handeln und konstruktiver Konflik-          schließlich für sich und seine
Den Charakter öffentlicher und                            bei kontroversen Themen und im größeren Rahmen,            dert, genau das umzusetzen, wenn      taustragung bei gewaltfrei handeln          eigene Meinung in Anspruch
nicht-öffentlicher Gespräche verstehen                    empfiehlt es sich, Gesprächsregeln zu vereinbaren:         der rassistische Spruch beim Kaf-     e. V. tätig, dem ehemaligen „Oekume-        zu nehmen. Immer aber sollen
Öffentliche Veranstaltungen haben immer ihre eigene       • Ich behandele andere Menschen mit Respekt und            feetrinken ertönt, die abwertende     nischer Dienst Schalomdiakonat“. Seit       sie in einem offenen Dialog sich
Dynamik: Man weiß nicht, wer kommt – unter                  Achtung – egal was sie sagen oder tun.                   Bemerkung an der Kirchentür,          2002 arbeitet sie hauptberuflich in der     gegenseitig zur Klärung der
Umständen möchte z. B. die lokale rechte Szene die        • Ich höre anderen zu und lasse sie ausreden.              die diskriminierende Beleidigung      Bildungs- und Netzwerkarbeit im Verein      Frage zu helfen suchen; dabei
Veranstaltung für ihre „Wortergreifung“ nutzen; oft       • Ich gehe achtsam mit der Zeit um und gebe anderen        eines Kollegen. Hier ist es sinnvoll, „Miteinander – Netzwerk für Demokra-        sollen sie die gegenseitige Liebe
sind auch Medien präsent, die anschließend darüber          den zeitlichen Raum, den sie benötigen.                  kurz und angemessen zu reagieren:     tie und Weltoffenheit in Sachsen-An-        bewahren und vor allem auf
berichten, teils aber mit Interesse an einer Zuspitzung   • Wir alle sind gemeinsam verantwortlich für unsere        Sprechen Sie die Person, die die      halt e. V.“ und seit 2011 in der Netz-      das Gemeinwohl bedacht sein.“
der Diskussion. Hinzu kommt: Bei einer öffentlichen         Gesprächsatmosphäre. Ich helfe daher, Beleidigun-        Bemerkung geäußert hat, direkt an     werkstelle Demokratisches Magdeburg         (Gaudium et Spes, 43) ◆ ◆ ◆
Veranstaltung stehen alle Gesprächspartnerinnen und         gen und Diskriminierungen eine Grenze zu setzen.         und machen Sie deutlich, dass Sie     bei Miteinander e. V.

    16 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                                                                                        Kultur der Aufmerksamkeit 17
Strukturen                                                                        WENN WIR
                                                                                      VORURTEILE
  in Bewegung?                                                                        REFLEKTIEREN,
                                                                                      KANN ES PAS-
                                                                                      SIEREN, DASS
Die katholische Kirche und ihre Institutionen   1. Das Projekt „Kompetent für
                                                                                      WIR MIT UNSE-                          zu können. Sie erlebten, dass es
                                                                                                                             sinnvoll und wichtig ist, ihre Über-
fördern zunehmend Beteiligungen. Doch der       Demokratie“
                                                Im Rahmen des Bundesprogramms         REN EIGENEN                            zeugungen in die Gesellschaft zu
Weg ist voller Zwänge und Widerstände. Eine     „Zusammenhalt durch Teilhabe“
                                                                                      VORURTEILEN                            tragen und die Gesellschaft zu
                                                konnte die Katholische Erwachse-                                             bewegen. Die Strukturen der Kir-
             Bestandsaufnahme.                  nenbildung im Land Sachsen-An-        KONFRONTIERT                           chen Sachsen-Anhalts (und der

                Von Susanne Brandes
                                                halt e. V., kurz KEB, seit 2013
                                                mit dem Projekt „Kompetent für
                                                                                      WERDEN.                                anderen „Neuen Länder“) sind
                                                                                                                             infolgedessen geprägt von einer
                                                Demokratie. Partizipation in kirch-                                          historisch wie geografisch einzig-
                                                lichen Verbänden und Gemeinden“ wertvolle neue           artigen Ausgangslage, die es im Projekt „Kompetent
                                                Erkenntnisse gewinnen. Diese bereichern die langjäh-     für Demokratie“ stets zu berücksichtigen galt.
                                                rigen Erfahrungen in der politischen Bildungsarbeit.         Die Struktur der katholischen Kirche steht insge-
                                                Das Bundesprogramm zielt auf eine Reflexion, Stär-       samt im Spannungsfeld von Communio – Kirche als
                                                kung und Demokratisierung der zivilgesellschaftlichen    Gemeinschaft – und Hierarchie. Es offenbarte sich eine
                                                Verbände. Das Projekt wiederum sensibilisierte für       Struktur voller Widersprüche, die in der Förderung von
                                                Beteiligungsmöglichkeiten, Ausschlussmechanismen         Partizipation zugleich Chance und Grenze ist.
                                                und Vorurteile im Bistum Magdeburg. Im Fokus des
                                                Projekts stand die Stärkung der kirchlichen Instituti-   3. Gelingensbedingungen
                                                onen und Verbände als Teil einer demokratischen und      Engagement bringt Strukturen in Bewegung
                                                offenen Gesellschaft, die sich jeder Form von Hass und   In vielen Pfarreien und Verbänden findet viel hauptamt-
                                                Gewalt entgegenstellt.                                   liches, ehrenamtliches und freiwilliges Engagement
                                                                                                         statt. Dadurch entstehen vielerorts Beteiligungsstruk-
                                                2. Katholikinnen und Katholiken in der                   turen, die vertikale Grenzen und Zuständigkeiten
                                                „doppelten Diaspora“                                     in Bewegung bringen. Engagierte Frauen und Män-
                                                Zum Bistum Magdeburg gehören 44 Pfarreien und            ner organisieren Hilfsaktionen, Bildungsprozesse,
                                                etwa 84.000 Katholikinnen und Katholiken – in etwa       Demonstrationen und Feste. In den Gemeinden vor
                                                auf der Fläche Sachsen-Anhalts. Der Anteil der katho-    Ort ist – bedingt durch die Überlastung der Hauptamt-
                                                lischen Gläubigen liegt im Land bei lediglich knapp      lichen – eine zuverlässige Beteiligungsstruktur beson-
                                                4 % der Gesamtbevölkerung und damit noch deutlich        ders wichtig, um das Gemeindeleben aufrechtzuerhal-
                                                unter dem Anteil der evangelischen Gläubigen, der        ten. Gemeindemitglieder erhalten hier die Chance, die
                                                etwa 14 % umfasst. Diese „doppelte Diaspora“ erzeugt     Gemeinde in vielen Bereichen eigenverantwortlich zu
                                                ein für Minderheiten typisches Phänomen: einen star-     gestalten. Im Rahmen des Projekts „Kompetent für
                                                ken Zusammenhalt nach innen, der beizeiten mit einer     Demokratie“ haben wir kontinuierlich Bildungs- und
                                                geringen Durchlässigkeit nach außen einhergeht.          Beratungsangebote für diese Ehrenamtlichen und
                                                Verstärkt wird dieser Effekt durch die Erfahrung der     Freiwilligen in den Gemeinden bereitgehalten.
                                                Christinnen und Christen in der DDR, dass Religi-
                                                onszugehörigkeit ein Grund für Benachteiligung und       Ein starker Antrieb: Nächstenliebe
                                                Ausgrenzung war. Gläubige in der DDR erfuhren die        Einrichtungen der Caritas kümmern sich haupt- und
                                                nicht-kirchliche Gesellschaft eher als feindselig und    ehrenamtlich um Hilfsbedürftige, um kranke oder
                                                infolgedessen bot eine Fokussierung auf die eigene       alte Menschen, um Menschen mit Behinderungen und
                                                Gemeinde Schutz und Sicherheit. Gleichzeitig mach-       um Menschen in materieller und seelischer Not. Das
                                                ten einige Katholikinnen und Katholiken 1989 die         christliche Gebot der Nächstenliebe spiegelt sich hierin
                                                Erfahrung, eine Gesellschaft fundamental verändern       wider. Als in Folge der weltweiten Fluchtbewegungen

                                                                                                                             Kultur der Aufmerksamkeit 19
Demgegenüber jedoch sind die Themen Geschlech-                   für Demokratie“ schnell mit einer Vielzahl an wider-
                                                                                                                      tergerechtigkeit und Homosexualität sehr umstritten.             sprüchlichen Erwartungen, Anforderungen und Reak-
eine nennenswerte Zahl Geflüchteter Sachsen-Anhalt        4. Stolpersteine                                            Einerseits gibt es viele Menschen, die sich für eine             tionen umzugehen lernen. Diese reichten von will-
erreichte, war die Hilfsbereitschaft in vielen Gemein-    Die Bedeutung der Amtsträger                                Gleichbehandlung der Geschlechter und für ein Ende               kommener Unterstützung bis zu offener Ablehnung.
den und Verbänden spontan sehr groß – und sie ist         Als wir im Herbst 2013 begannen, unser Projekt „Kom-        der Diskriminierung von Homosexualität einsetzen,                Um unsere begrenzten Möglichkeiten wissend ent-
es noch. Handlungsleitend für viele Helferinnen und       petent für Demokratie“ in den Pfarreien vorzustellen,       andererseits fällt es vielen Menschen schwer, insbe-             schieden wir, diejenigen Kräfte im Bistum zu stärken,
Helfer ist dabei deren Selbstverständnis als Christin     entgegneten einige Pfarrer ganz offen, an einer Stär-       sondere Homosexualität als Normalität anzusehen.                 die sich für Offenheit, Gerechtigkeit und Respekt ein-
und Christ:                                               kung von Beteiligung kein Interesse zu haben. Ihrer         Die naturrechtliche Perspektive auf das Geschlechter-            setzen, und nur mit denjenigen zu kooperieren, die
                                                          Wahrnehmung nach hätten sie nur zu verlieren, wenn          verhältnis steht zudem in einem Widerspruch zu dem               eine Stärkung von Partizipation anstrebten.
    „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu
                                                          die Kirche partizipativer würde. Hierin offenbarte sich     Diskurs um die Bedeutung sozialer Konstruktionen                      Dennoch mussten wir erfahren, dass auch dieser
    essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir
                                                          früh, was uns dreieinhalb Jahre lang begleiten würde:       von Geschlecht.                                                  Weg schwierig ist. Denn Beteiligungsprozesse grund-
    zu trinken gegeben; ich war fremd und obdach-
                                                          Die Strukturen der katholischen Kirche sind in vielen                                                                        sätzlich zu begrüßen, bedeutet offensichtlich nicht
    los und ihr habt mich aufgenommen (…).“
                                                          Belangen in langer Tradition vertikal organisiert. In       Die Herausforderung personenbezogener                            automatisch, auch die Konsequenzen gut aushalten
    (Matthäus 25,35)
                                                          der Projektumsetzung begegneten uns infolgedessen           Bildung                                                          zu können. Wenn wir Menschen beteiligen, kann es
     Doch die Helferinnen und Helfer sind dabei in        verschiedene Dichotomien, die häufig auch konfliktbe-       Eine weitere Herausforderung stellte unser Bildungs-             sein, dass sie etwas anderes wünschen als wir. Wenn
mehrfacher Hinsicht Widersprüchen ausgesetzt: Sie         lastet waren und nach wie vor sind: Geistliche vs. Laien,   verständnis dar, das die eigene Person stets in einen            wir Vorurteile reflektieren, kann es passieren, dass wir
erfahren für ihr Engagement soziale Anerkennung und       Hauptamtliche vs. Ehrenamtliche, Männer vs. Frauen.         inhaltlichen und emotionalen Zusammenhang zum                    mit unseren eigenen Vorurteilen konfrontiert werden.
soziale Ausgrenzung zugleich, und sie sind vielfach mit   Mit Arbeitskreisen und einer Beraterinnenausbildung         Bildungsgegenstand stellt: Wenn wir zum Beispiel                 So wurden Prozesse, die zunächst klar und einfach
eigenen Unsicherheiten und Vorbehalten konfrontiert.      haben wir uns gezielt an katholische Frauen gerichtet.      zum Thema „Gruppenbezogene Menschenfeindlich-                    erschienen, zunehmend komplex und schwierig. Die
Die polarisierte, hassgeleitete Form der Auseinander-     Dabei wurde deutlich: Insbesondere die Tatsache, dass       keit“ arbeiten, blicken wir nicht nur auf gewaltbereite,         Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, wurde für alle
setzung um geflüchtete Menschen hat die große Belas-      Frauen in der katholischen Kirche nicht die gleichen        männliche Jugendliche, sondern suchen den Ausgangs-              Projektbeteiligten zur Schlüsselqualifikation. Diese
tung vieler Freiwilliger noch verschärft und bei vielen   Rechte haben wie Männer, dass sie keinen Zugang zu          punkt in den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und                 Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz ist die Vorausset-
Menschen zu vollständiger Sprachlosigkeit geführt.        den Weiheämtern Diakonat und Priesteramt haben,             in uns: Welche Vorbehalte bringen                                                    zung für eine gelingende gesell-
Unser Projektmodul „Flucht und Asyl“ hat diese frei-      stellt für viele Frauen eine schwierige und verletzende     wir selbst mit? Welche Ausgren-                                                      schaftliche Mitwirkung.
willig Engagierten gezielt durch Bildungs- und Bera-      Situation dar.                                              zungsstrukturen begegnen uns in
tungsprozesse unterstützt.                                                                                            unseren Einrichtungen? etc. Inso-                                                    6. Perspektiven im Projekt
                                                          Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit                       fern kann ein Bildungsprozess in                                                     Im Rahmen des Projekts „Kompe-
Demokratische Elemente                                    In dem Modell gruppenbezogener Menschenfeind-               einer Einrichtung durchaus eine                                                      tent für Demokratie. Beratung und
In allen Pfarreien ist die Wahl von Pfarrgemeinderäten    lichkeit nach Wilhelm Heitmeyer werden vielfältige          unerwünschte Dynamik entfalten,                                                      Bildung für eine offene Kirche“
und Kirchenvorständen vorgesehen. Diese beiden Gre-       Dimensionen gruppenbezogener Diskriminierung                wenn plötzlich eigene Strukturen                                                     bietet die KEB bis 2019 modulare
mien verfügen über weitreichende Einflussmöglichkei-      entfaltet. Dabei konnten Heitmeyer und sein For-            und Kommunikationsformen kri-                                                        Weiterbildungen zum Erwerb von
ten, die Pfarreien zu gestalten: So besteht die Aufgabe   schungsteam feststellen, dass Menschen mehrheitlich         tisch reflektiert oder als nicht-par-              Susanne Brandes                   „Grundkompetenzen im Umgang
der Pfarrgemeinderäte unter anderem in der Mitge-         dazu neigen, nicht nur einzelne Gruppen abzuwerten,         tizipationsfördernd      identifiziert                                               mit Rechtspopulismus“ an und bil-
staltung des Gemeindelebens und in der Anbindung          sondern ihre Einstellungen insgesamt aus der Grund­         werden. In Vorgesprächen themati-       ist Erziehungswissenschaftlerin /            det Beraterinnen und Berater aus,
der Kirchengemeinde an die kommunale Struktur.            annahme der Ungleichwertigkeit von Menschen resul-          sierten wir diese Möglichkeit, und      Diplom-Pädagogin, Stellvertretende           die Konflikte im Kontext gruppen-
Die Aufgaben des Kirchenvorstands hingegen umfas-         tieren. Wer also Muslime ablehnt, wertet infolgedes-        dennoch hat es im Projekt mehr-         Geschäftsführerin und Erwachsenenbil-        bezogener Menschenfeindlichkeit
sen insbesondere die Vermögensverwaltung und die          sen auch andere Gruppe ab. Im Projekt „Kompetent            fach zu Unzufriedenheit geführt.        dungsreferentin für partizipationsför-       unterstützend begleiten. Insofern:
Erstellung von Haushaltsplänen. Beide Gremien sind        für Demokratie“ haben wir verschiedene Bildungsfor-         Dies gilt es künftig im Vorhinein       dernde Bildungsarbeit der Katholischen       Die KEB sieht sich auch weiterhin
miteinander vernetzt und schaffen viele Gestaltungs-      mate zur Sensibilisierung für gruppenbezogene Men-          noch deutlicher herauszuarbeiten.       Erwachsenenbildung im Land Sach-             in der Verantwortung, durch sen-
räume, die in vielen Pfarreien ausgefüllt werden. Die     schenfeindlichkeit durchgeführt. Dabei konnten wir                                                   sen-Anhalt e. V. Im Bundesprogramm          sibilisierende Bildungs- und Bera-
Ehrenamtlichen dieser Gremien erhielten im Rahmen         feststellen, dass uns manche Dimensionen gruppen-           5. Eine Struktur der                     „Zusammenhalt durch Teilhabe“ leitet        tungsmaßnahmen einen Beitrag
des Projekts „Kompetent für Demokratie“ Bildungs-         bezogener Menschenfeindlichkeit nicht begegneten,           Widersprüche                             sie das Projekt „Kompetent für Demo-        zu einem respektvollen Miteinan-
und Beratungsangebote, um ihre Handlungskompe-            wie bspw. die Abwertung von Menschen mit Behinde-           Aufgrund der genannten Punkte            kratie. Partizipation in kirchlichen Ver-   der in einer offenen Gesellschaft zu
tenzen zu stärken.                                        rung, von Obdachlosen und anderen Hilfesuchenden.           musste das Projekt „Kompetent            bänden und Gemeinden“.                      leisten. ◆ ◆ ◆

    20 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                                                                                            Kultur der Aufmerksamkeit 21
Hinsehen.
Hinhören.
Handeln.
Unser Bistum ist voller Lösungen. Auch wenn viele
dieser Lösungen unterhalb des Radars der öffentlichen
Wahrnehmung stattfinden: lokales Aufbegehren gegen
rechtsextreme Tendenzen, unbürokratische Hilfe in
Notsituationen, das Eintreten für Religionsfreiheit für alle.
Hier einige Beispiele dieses beherzten Engagements:
Dorothea Kotzian,
                                                                                                       Pastorale Mitarbeiterin in Weißenfels

                                                                                                                                               HOHENMÖL SEN:

                                                                                                                                               Impulse für den Nachwuchs
             HALLE (SA ALE):                                                                                                                   „Im November 2010 veranstalteten die Kirchen gemeinsam mit ande-
                                                                                                                                               ren Akteurinnen und Akteuren in Hohenmölsen im Protest gegen einen
             Bunt, fröhlich und auf Augenhöhe                                                                                                  NPD-Bundesparteitag ein Bürgerfest unter dem Motto ‚BUNTE STA(D)TT
             „‚Welcome-Treff‘, so steht es in Halle über der Tür des Waisenhausring                                                            BRAUNE‘. Daraufhin kam der Bürgermeister der Stadt auf die Kirchen zu
             1b. Dieser Treffpunkt möchte besonders alle neuen oder seit kurzer Zeit                                                           mit der Bitte, ein offenes Angebot für Kinder im Bürgerhaus der Stadt zu
             in Halle lebenden Geflüchteten willkommen heißen. Vor einem guten                                                                 gestalten. Seitdem findet einmal im Jahr am ersten Märzwochenende mit
             Jahr, als die Zahl der zu uns flüchtenden Menschen hoch war, wurde die-                                                           dem Material vom WELTGEBETSTAG der Frauen ein Wochenende für
             ser Treffpunkt als eine Initiative der Freiwilligenagentur in Zusammenar-                                                         Kinder statt, das am Sonntag jeweils mit einem ökumenischen Familien-
             beit mit der Stadt Halle geschaffen. An jedem Werktag ist dort ein frohes                                                         gottesdienst seinen Abschluss findet.“
             Leben und Treiben festzustellen. Am Eingang finden alle Interessierten
             einen Wochenplan in verschiedenen Sprachen: Deutsch, Arabisch, Eng-
             lisch, damit alle, die Kontakte suchen, sich kundig machen können.
                  Was zieht die noch nicht oder kaum integrierten Menschen an diesen
             Ort? Auf diesem Wochenplan finden sich Angebote zum Erwerb der deut-
             schen Sprache, aber auch der englischen wie der arabischen Sprache, letz-
             tere besonders für Deutsche. So kann auf Augenhöhe miteinander gelernt                                                                                                      Haben auch Sie Lust, die Ärmel
                                                                                                       Maria Faber,
             werden. Ferner gibt es Angebote für Kinder, wie Lernhilfen, Bastelange-                                                                                                  hochzukrempeln? Haben Sie Lust
                                                                                                       Fachbereich Pastoral
             bote und Lese- bzw. Vorlesestunden. Es ist aber auch möglich, nur zum                                                                                                     mitzuhelfen? In jedem Ort finden
                                                                                                       in Kirche und Gesellschaft,
             Kaffee- oder Teetrinken hereinzukommen und Konversation zu betrei-                                                                                                     sich viele Möglichkeiten für beherz-
                                                                                                       missio e. V. / Weltkirche
             ben. Ehrenamtliche Willkommenspaten und andere Ehrenamtliche aus                                                                                                             tes Engagement. Die Kontakt­
             der Geflüchtetenarbeit treffen sich dort, um Erfahrungen auszutauschen,                                                                                                 adressen finden Sie auf Seite 42–44
             Probleme zu besprechen, sich selbst beraten oder weiterbilden zu lassen.                                                                                                               in dieser Broschüre.
             So hat sich dieser Treffpunkt in einem reichlichen Jahr zu einem wichtigen
             Ort im Zentrum der Stadt entwickelt.“

                                                                                                                          MAGDEBURG:

                                                                                                                          Gedenkzeit für die Todesopfer
                                                                       Brigitte Schmeja,
                                                                       ehrenamtliche Unterstützerin,
                                                                                                                          rechter Gewalt
                                                                       Welcome-Treff,                                     „Die Todesopfer rechter Gewalt haben ein Gesicht, eine Geschichte, eine
                                                                       Mitglied in der Bischöflichen                      Würde. Manche Todesopfer aus Sachsen-Anhalt sind bundesweit bekannt,
                                                                       Kommission „Gerechtigkeit,                         andere scheinen seit Jahren vergessen. Im Rahmen der Gedenkzeit ‚Hei-
                                                                       Frieden, Bewahrung der                             lige Aufmerksamkeit‘ wird ihre Geschichte verlesen, ein Licht angezündet,
                                                                       Schöpfung“                                         gemeinsam geschwiegen und gebetet. Diese Gedenkzeit wird seit 2012
                                                                                                                          von einem ökumenischen Frauenteam in der Kathedrale St. Sebastian vor-
                                                                                                                          bereitet und gestaltet.“

24 Kultur der Aufmerksamkeit                                                                                                                                                         Kultur der Aufmerksamkeit 25
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