Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin

 
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Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Vision       Saison
findet Stadt   2018/2019
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,

 Seit 130 Jahren ist die Urania Berlin eine       In unserer heutigen Welt braucht es einen
 herausragende Berliner Institution. Ein Ort      Ort, an dem im Respekt des Dialogs aus
 für Wissensvermittlung, Weiterbildung und        vielen Mosaiksteinen das Bild der Zukunft
 eine wichtige Plattform für gesellschaft­        entsteht. „Im Raum wie in den Schöpfun­
 liche Diskussionen. Das neue Programm            gen des Verstandes fangen die Traum-
 für die Saison 2018/2019 unter dem Motto         bilder da an, wo die zuverlässigen Kennt­
 „Vision findet Stadt“ zeigt deutlich, dass die   nisse aufhören“, resümierte einst Alexander
 Urania am Puls der Zeit ist. Denn Prozes­        von Humboldt, Impulsgeber für die Grün­
 se wie Globalisierung und Digitalisierung        dung der Berliner Urania 1888. Die Urania
­b edeuten weitreichende Veränderungen            Berlin – welcher Ort könnte geeigneter sein,
 für alle Bereiche unserer Gesellschaft. Und      basierend auf den Erkenntnissen der Wis­
 auch Berlin befindet sich im Wandel und          senschaft und auf Augenhöhe, miteinander
 hat zahlreiche spannende Entwicklungen           nach Antworten, nach Wegen zu suchen,
 vorzuweisen. Ich freue mich, dass sich die       die uns alle in Frieden und im Einklang mit
 Urania künftig noch stärker als Ort posi­        unserer Umwelt voranbringen? Wir müssen
 tioniert, an dem Bürgerinnen und Bürger          es nur wagen, die Barrieren von gestern und
 an den wichtigen Debatten unserer Zeit           heute zu überwinden. Und zwar zuallererst
 teilhaben können. Allen Teilnehmerin­            in unseren Köpfen und miteinander. Des­
 nen und Teilnehmern, die die vielfältigen        halb bringen Sie sich ein in unser ebenso
 Angebote nutzen werden, wünsche ich viel         zukunftsweisendes wie spannendes Jahres­
 Freude, interessante Einblicke und neue          programm 2018/2019. „Vision findet Stadt“
 Perspektiven.                                    in Ihrer Urania. Wir freuen uns auf Sie!

C Michael Müller                                  C Gabriele Thöne
Regierender Bürgermeister von Berlin              Vorstandsvorsitzende der Urania Berlin e. V.

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Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Inhalt

Grußwort                           Frauen und
C Michael Müller                   Männer
C Gabriele Thöne    03            C Svenja Flaßpöhler    28
                                   C Sookee               30

Ein starker Ort
für neue Impulse                   Tiny Town
C Ulrich Weigand    06            Urania
                                   C Van Bo Le-Mentzel    32

Warum Europa?
C Gregor Gysi       10            Zukunft der
                                   Städte
                                                           36
Urban Gardening
                                   C Christine Edmaier 

C Nicolas Flessa    14
                                   Urania Berlin:
                                   das erste
Ist unsere                         Science-Center
­Demokratie                        der Welt               40
 noch zu retten?
C Jürgen Wiebicke   18
                                   Saisonausblick
                                   2018/2019              45
Kultur im Salon
C Pegah Ferydoni
C Klaus Wowereit    22            Impressum              54

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Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Ein starker
 Ort für neue
  Impulse
                                                                 130 Jahre Innovation:          war es ja, einen neuen Ort       setzung gegenüber, etwa
                     Ulrich Weigand                              Wie begegnen Sie diesem        zu schaffen, an dem Bürger       zu Fragen des gesellschaft­
                                                                 Widerspruch?                   Wissen verständlich erleben      lichen Wandels. Den
                             Interview
                          Nicolas Flessa                         Erst einmal mit Respekt!       können. Diese Idee hat nichts    ­Anfang machen wir mit
                                                                 130 Jahre sind ja eine         an Aktualität verloren.           einem Angebot, das sich
                                                                 ­Tradition, die in Berlin                                        dezidiert an die direkte
                                                                  nicht häufig zu finden ist,   Sie haben angekündigt,            Nachbarschaft der ­Urania
                                                                  überflügelt nur von weni­     die Urania zu einer               richtet. Unser Haus ist
                                                                  gen Einrichtungen wie                                           in Schöneberg verortet,
Im 130. Jahr ihres Bestehens stellte sich der traditions­         der Humboldt-Universität
                                                                                                „Bürger­plattform für d
                                                                                                gend notwendige g
                                                                                                                        ­ rin-
                                                                                                                    ­ esell-      einem Berliner Bezirk, der
reiche Kulturverein Urania Berlin e. V. unter der Leitung         oder der Akademie der         schaftliche Debatten“             eine unglaubliche Vielfalt
                                                                  Wissenschaften. An sich                                         bietet – von bürgerlichen
des Kommunikationswissenschaftlers Ulrich Weigand                 gibt es viele Themen, die
                                                                                                weiterzuentwickeln. Wie
                                                                                                kam es dazu?                      Familien und Geflüchteten
neu auf. Wir haben uns mit dem neuen Direktor über                nur wieder in den Mit­        Ich habe beobachtet, dass         über den Schwulen- und
                                                                  telpunkt gerückt wer­         es in dieser Stadt tatsäch­       Lesbenkiez bis hin zu Men-
seine Kriterien für Exzellenz, die Notwendigkeit viel­            den müssen, wie die Lust      lich an Foren und Dialog­         schen, die die nahe gelege­
stimmiger Podien und den Aufbau einer öffentlichen                auf Veränderung und die       orten mangelt. Dem steht          ne City West zum Ein­
                                                                  ­Neugier auf die Zukunft.     ein breites Bedürfnis für         kaufen nutzen. Eine erste
Wissensplattform unterhalten.                                      Ziel der Urania-Gründer      persönliche Ausein­ander­         Maßnahme ist ein Projekt
                                                            06   07
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
zum Urban Gardening, das       erworben haben. Auch           stark auf Zuwendungen          etwa im Web, die es er­         in der Stadtgesellschaft ver­    Bislang lag der Fokus un­
im Frühjahr 2019 anlaufen      Akteure, die in ihrem je-      von Dritten angewiesen         möglichen, Veranstaltun­        netzen. Wichtig werden           serer Öffentlichkeitsarbeit
wird.                          weiligen Wirkungsbereich       ist. Neben der Akquise von     gen partizipativ vorzube­       in diesem Zusammenhang           vor allem im Bereich der
                               über außerordentliche          Fördermitteln geht es auch     reiten, etwa durch Fragen       auch Themen wie Gender,          Programmkommunikation.
Die Exzellenz der Redner       Fähigkeiten verfügen und       darum, gesellschaftlichen      an die Referenten. Da­          Digitalisierung und politi­      Ich denke, es ist an der Zeit,
hat in der Urania Tra­         denen es gelingt, ihr Thema    Wandel verständlich zu ma­     neben spielt für mich das       sche Diskussionen, wie           darüber hinaus einen be­
dition: An Ihrem Haus gilt     in die Gesellschaft zu         chen und mit Menschen zu       Thema Bürgerwissen eine         etwa die Zukunft von Euro­       sonderen Mehrwert zu bie­
eine „Nobelpreisträger-                                                                      große Rolle. „Bürger schaf­     pa und unserer Demokratie.       ten. Das ist im Printbereich
quote von 1,3“ pro Jahr,                                                                     fen Wissen“ ist diesbezüg­      Dazu haben wir eine Reihe        natürlich nur begrenzt
so „Der Tagesspiegel“.          „Wenn wir einen echten Diskurs                               lich eine ganz spannende        neuer Formate eingeführt.        möglich und sinnvoll. Wir
Welche Kriterien für Ex-        ­wollen, dürfen wir uns nicht                                Bewegung, die ich auch an                                        werden daher ­unseren
zellenz werden Sie der                                                                       der Urania ansiedeln            Wie möchten Sie Men-             Internet­auftritt immer
Auswahl der Redner zu-           den Stimmen verweigern, die uns                             möchte. Etwa im Rahmen          schen erreichen, die sich        mehr zu einem echten On­
grunde legen?                  ­unangenehm erscheinen.“                                      eines Kurses, in dem die        in Zeiten einer zunehmen-        line-Magazin ausbauen,
Es ist weiterhin unser Ziel,                                                                 Teilnehmer lernen, neue         den Skepsis kaum noch            mit Hintergrundinforma­
die großen Kapazitäten                                                                       Erkenntnisse aufzube­           am öffentlichen Diskurs          tionen zu den Veranstal­
aus Wissenschaft und           tragen, sind für die Urania    diskutieren, die davon be­     reiten und gemeinsam            beteiligen?                      tungen und redaktionellen
Forschung an unser Haus        höchst interessant. Hier       troffen sind. Die Urania war   mit Wissenschaftlern zur        Zum Beispiel über unsere         Beiträgen, aber auch mit
zu holen. Das ist ganz klar    entscheidet nicht der          und ist Wissensvermittler.     ­Diskussion zu stellen. Ziel    Reihe, die wir zur Zukunft       multimedialen Inhalten.
ein Mehrwert, den so in        Schulabschluss oder der        Diese Tradition möchte ich      ist es, unsere Besucherin­     der Demokratie planen.           Damit wird es möglich wer­
Berlin nur die Urania          akademische Titel, sondern     mit meinem hochengagier­        nen und Besucher selbst        Dort behandeln wir etwa          den, einen Besuch in der
bietet – neben den Univer­     eine exzellente Kommuni­       ten Team um die Dimen­          zu aktiven Wissensver­         die Frage, welche Bedeu­        ­Urania besser vorzuberei­
sitäten, mit denen wir wie     kation, die neue Fragen        sionen des Dialogs und der      mittlern zu machen, wenn       tung Streit für die Demo­        ten, und in Teilen nach­
im Falle der angesproche­      eröffnet und diskutierbar      Vernetzung erweitern. Bei­      sie über eine bestimmte        kratie besitzt. Hier müssen      zuvollziehen, was in den
nen Nobelpreisträgerinnen      werden lässt.                  des ist wichtig, damit neues    Expertise oder Wissen ver­     wir auch den Mut haben,          Veranstaltungen präsen­
und Nobelpreisträger auch                                     Wissen entsteht.                fügen, das aus der tägli­      die Vielfalt auf den Podien      tiert worden ist. Darüber
erfolgreich kooperieren.       Sie kommen aus der                                             chen Praxis heraus erwor­      zu stärken, ohne natürlich       hinaus drucken wir unsere
So ermöglicht es der neue      Kommu­nikation und Öf-         Die Urania gilt seit 1888       ben wurde.                     gemeinsame Regeln aus            Programm­ankündigungen
Präsident der Freien           fentlichkeitsarbeit. Ist       als „Zentrum für den                                           den Augen zu verlieren, die      in Zukunft in einem monat­
Universität Berlin, G
                    ­ ünter    dies ein Hinweis darauf,       Dialog von Wissenschaft        Für die kommende Sai-           für das Gelingen eines sol­      lichen ­Turnus und stellen
Ziegler, den wir für den       dass die Vermittlung im        und Öffentlichkeit“.           son 2018/2019 legen Sie         chen Dialoges erforderlich       diese verstärkt in der gan­
Vorstand der Urania            internationalen Wissen-        Welche Rolle fällt der         einen Schwerpunkt auf           sind. Wenn wir einen ech­        zen Stadt und über unsere
gewinnen konnten, dass         schaftsbetrieb wichtiger       Ausein­ander­setzung           das Thema „Vision findet        ten Diskurs wollen, dürfen      ­Partner zur Verfügung.
für ein Fachpublikum           geworden ist?                  des Publikums mit den          Stadt“. Wen möchten             wir uns nicht den Stimmen
einge­ladene internationale    Mit meiner Person steht        Experten zukünftig zu?         Sie damit erreichen?            verweigern, die uns unan­
Gäste ihre Forschungser­       tatsächlich das erste Mal      Ganz klar eine noch stär­      Vor allem Menschen, die         genehm erscheinen.               Ulrich Weigand, geboren 1974, ist
gebnisse anschließend auch     ein Mensch ohne explizite      kere als bisher. Den Men­      aktiv Gesellschaft gestalten.                                   seit April 2018 Direktor der Urania
                                                                                                                                                             Berlin. Zuvor war der studierte Kommu­-
vor dem interessierten         Wissenschaftslaufbahn an       schen, die weitergehen         Ich möchte noch stärker als     Dieses Magazin ist das          nikationswissenschaftler im Berliner
Publikum der Urania prä-       der Spitze der Urania. Dies    wollen als „nur“ zuzuhö­       bisher Studierende, Berufs­     wohl sichtbarste Element        Bauhaus-Archiv mitverantwortlich
                                                                                                                                                             für die erfolgreiche Realisierung des
sentieren. Für mich            geht auf die Einschätzung      ren, möchte ich nach und       tätige, ehrenamtlich Aktive     des kommunikativen              Museumsneubaus. In seiner neuen
                                                                                                                                                             Aufgabe wird Weigand die Zukunfts-
sind Experten aber nicht       des Vorstands zurück,          nach die Möglichkeit einer     und Neuberliner*innen           Neustarts der Urania            sicherung der Urania Berlin voran­
                                                                                                                                                             bringen. Dazu baut er das traditions-
nur Menschen, die ihre         dass Kommunikations­           echten Plattform eröffnen.     erreichen. Gerade ­letztere     Berlin. Welche weiteren         reiche Wissensforum Urania zu einer
Reputation durch wissen­       fähig­keit ein Schlüssel für   Dafür bedarf es natürlich      wollen sich nach ihrem          Innovationen haben              Bürgerplattform aus und rückt die
                                                                                                                                                             vielfältige Stadtgesellschaft stärker
schaftliche Leistungen         eine Institution ist, die      bestimmter Werkzeuge,          ­Zuzug orientieren und sich     Sie ergänzend geplant?          in den Fokus.

                                                                                       08    09
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Gregor Gysi
                           Essay

Nachdem es auf unserem Kontinent über J    ­ ahrhunderte
schreckliche Kriege gab, ist es für uns heute selbstver­
ständlich, dass zwischen den EU-Staaten Konflikte nicht
mehr militärisch ausgetragen werden. Die Idee der
Montan­union, einer der Vorgängerinstitutionen der EU,
war es, die Kriegsindustrien nach dem Zweiten Weltkrieg
zu vergemeinschaften, um den innereuropäischen Frieden
zu sichern. Dies wurde insbesondere von Deutschland
und Frankreich vorangetrieben, angesichts der Erfahrung
von zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten. Zumin­
dest zu diesem Zeitpunkt war die europäische Einigung
ein Friedensprojekt, und diesen Aspekt sollten wir nicht
unterschätzen.
     Zudem ermöglicht der im Rahmen der europäischen
Einigung erreichte Wegfall der Grenzkontrollen zwischen
11
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
den Mitgliedsstaaten der EU bzw. des Schengen-Raums               deshalb notwendig, weil angesichts global agierender
  eine Reisefreiheit, die wir im Alltag spüren und die wir        Konzerne und weltweiter Verflechtungen der Ökonomien
 nicht missen möchten. Man stelle sich vor, es fände bei­          eine Antwort im nationalen Rahmen keine Chancen hat.
 spielsweise ein Spiel der Champions-League im Fußball            Es ist gerade auch im Interesse des unteren Drittels
 zwischen Bayern München und Paris St. Germain statt,              der Gesellschaft, dass es auf europäischer Ebene soziale
 und die Fans müssten für das Auswärtsspiel erst ein lang­        ­Garantien und Mindeststandards gibt, denn sonst wird der
wieriges Visa-Verfahren durchlaufen, um einreisen zu               brutale Wettbewerb kapitalistischer Nationalökonomien
 dürfen. Der Jugend von heute wäre das nicht zu vermitteln,        auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. Im Gegen­
viele junge Leute können sich ein Leben ohne die euro­             satz zu heute muss die EU wieder mit sozialer Wohlfahrt
 päische Integration kaum vorstellen.                             verbunden werden. Sie kann nur bestehen bleiben,
       Allerdings stellt die falsche Politik der EU-Institu­      wenn sie von den Mehrheiten der Bevölkerungen aller
 tionen das Bekenntnis zu Europa auf eine harte Probe:            Mitgliedsländer getragen wird.
 Denn Europa darf kein neoliberales Elitenprojekt sein –
 aus der Perspektive beispielsweise der südeuropäischen
Jugend gibt es erstmal gute Gründe, die europäischen
­Institutionen abzulehnen, die ihren Ländern eine knall­
 harte Einsparpolitik aufgezwungen haben.
       Wenn die EU eine Zukunft haben und nicht weiter
  den Rückhalt in den Bevölkerungen verlieren will, muss
 sie sich grundlegend ändern, quasi vom Kopf auf die Füße
 stellen. Die Einsparpolitik und das Fehlen verbind­licher
 einklagbarer sozialer Grundrechte lassen der EU die Luft
 ausgehen – die Krise der EU ist vor allem eine soziale ­Krise.
 Eine EU auf neoliberaler Grundlage zerstört die euro­
 päische Idee. Deshalb muss die EU solidarisch, sozial,
 ­demokratisch, ökologisch nachhaltig, transparent, unbüro­
 kratisch gestaltet und entmilitarisiert werden. In all diesen    U Ab Frühjahr 2019 lädt Gregor Gysi zur G
                                                                                                          ­ esprächsreihe
                                                                  „Warum Europa“ Gäste aus Politik und Medien in die
                                                                                                                            C Dr. Gregor Gysi, geboren 1948, ist gelernter Facharbeiter
                                                                                                                            für Rinderzucht und Rechtsanwalt. Er ist geschieden und
 Punkten muss die europäische Politik einen anderen               ­Urania Berlin ein.                                       hat drei Kinder. Ende 1989 bis 1993 war er Vorsitzender der
                                                                                                                            PDS. Von 1990 bis 2002 und seit 2005 wurde er direkt in

Weg einschlagen, als sie ihn derzeit geht. Dies ist auch
                                                                                                                            den Bundestag gewählt, bis 2015 als Fraktionsvorsitzender
                                                                                                                            von PDS bzw. DIE LINKE. 2002 war er Bürgermeister und
                                                                                                                            Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin.

                                                             12   13
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Urban
1             Text
         Nicolas Flessa
             Fotos
         Marco Clausen

     2                    Gardening
                           Wie man Gemeinschaft                                             1
                                                                                Der Prinzessinnengarten
                               wachsen lässt                                    bietet Umweltbildungs-
                                                                                spiele für verschiedene
                                                                                    Altersstufen an.

                                                                                            2
                                                                                  Die Laube, ein experi­
                                                                                menteller Holzrahmenbau,
                                                                                   steht gemeinwohl­
                                                                                 orientierten N
                                                                                              ­ utzungen
                                                                                          offen.

                                                                                             3
                                                                                 Gegärtnert wird in aus-
                                                                                 sortierten Bäckerkisten.

                                                                                            4
                                                                                 Die besondere Gemein-
                                                                                schaft zeigt sich auch im
                                                                                   Rahmen von Festen.

                                                   3                            4

     Wo zu Kaisers Zeiten eines der wichtigsten
     Warenhäuser der Reichshauptstadt den
     Konsumrausch von Anwohner*innen und
     Besucher*innen gleichermaßen zu triggern
     verstand, entsagen sie heute freiwillig der
     Logik von Zeitdruck, Verbrauch und Be­
                                                   5
     sitz. Grund für diese Ausnahmesituation ist                                            5
     eine urbane Vision, die vor knapp 10 Jahren                                Das Gartencafe serviert
                                                                                   Erntefrisches und
     in ein sichtbares Projekt gegossen wurde:                                   ökologische Produkte
     der Prinzessinnengarten am Kreuzberger                                         aus der Region.

    ­Moritzplatz.
           Marco Clausen, einer der Initiatoren                             6
     des mobilen Gemeinschaftsgartens, weiß
                                                             6
     um die Aktualität seines Impulses, einen       Jeden Montag lädt die
     grünen und für alle zugänglichen Erho­        „Wunschproduktion“ zur
                                                   Commons-Abendschule.
     lungsraum zu schaffen, der gemeinschaft­
     lich gestaltet wird. „Hier können wir uns
    15
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
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                                                                           1
                                                                                           3                                                erhalten. Wir haben gezeigt, wie viel Poten­
                                                               Teil des Prinzessinnen­                                                      zial dieser Ort hat und wie viel Bedarf es
                                                                 gartens sind Kurse
                                                                zur wesensgemäßen                                                           an ihm gibt.“ Dass es trotz seines Kampfs
                                                                    Bienenhaltung.
                                                                                                                                            für den Bestand neue Plätze für Gemein­
                                                                         2                                                                  schaftsgärten braucht, steht für Clausen
                                                                Möglich ist auch die
                                                              Übernahme einer Beet-                                                         außer Frage: „Durch den Wandel der Nach­
                                                              bzw. Gartenpatenschaft.
                                                                                                                                            barschaft wird das Publikum einheitlicher,
                                                                           3                                                                auch touristischer. Um andere Menschen
                                                                 Die offenen Garten-
                                                               arbeitsstunden wenden                                                        zu erreichen, müssen wir sie selber stärken
                                                                sich an alle am Urban
                                                              Gardening Interessierten.                                                     einbinden und auch an andere Orte gehen.
                                                                                                                                            Wir arbeiten auch in Flüchtlingsunterkünf­
                                                                                                                                            ten, in Kitas, in Schulen.“
                                                  2                                                                                               Auch die Initiatoren der „Wunsch­
                                                                                                                                            produktion Prinzessinnengarten 99 Jahre“
                                                                                                                                            fordern daher neue politische Spielregeln
                                                                                                                                            und haben mit Interesse wahrgenommen,
                                                                                                                                            dass der Berliner Senat unlängst eine eige­
                                                                                          Fragen“, so Clausen. Aber auch die Entlas­        ne Stelle für urbane Gärten eingerichtet hat.
                                                                                          tung von Abwässerkanälen oder gar der             Ob diese den Auftrag bekommen wird, neue
                                                                                          Eingriff ins Klima sind gute Gründe für Ur­       Flächen an Projekte wie am Moritzplatz zu
                                                                                          ban Gardening-Projekte; so ist es am Moritz­      vergeben, steht in den Sternen. Für Marco
                                                                                          platz gelungen, die Temperatur trotz Klima­       Clausen sind Städte wie Paris ein gutes Bei­
                                                                                          wandel im Vergleich zur restlichen Stadt um       spiel, dass das nicht undenkbar ist. „Rela­
                                                                                          vier Grad zu senken.                              tiv große Flächen, die zum Beispiel baulich
                                                                                                 Trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile für   schwierig sind, sind dort für urbane Land­
                                                                                          Stadt und Anwohner sind viele informelle          wirtschaft vorgesehen.“
 austauschen, bilden und ernähren und tun                                                 Gärten durch ihre prekären Mietverhältnis­              Dass das Gärtnern in der Stadt nicht
 gleichzeitig noch etwas für die biologische                                              se dauerhaft bedroht, wie das „Himmelbeet“        nur für die Umwelt, sondern auch für das
 Vielfalt in der Stadt.“ Dabei spiegeln Orte                                              in Wedding oder die „Prachttomate“ in Neu­        politische Klima einer Stadt wichtig ist,
 wie der Prinzessinnengarten neben un­                                                    kölln. Sie gelten weder als Grün­fläche noch      macht Urban Gardening zu einem Gesell­
 terschiedlichen Anbaumethoden auch die                                   4
                                                                                          als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge         schaftsauftrag: „Die Sorge um Vielfalt ist
                                                  4
 vielfältigen Esstraditionen ihrer Anwoh­                     Hier lernt man alles über   und werden doch in Medien und Politik             etwas, das man im Garten lernen kann“, so
                                                               ökologischen Gemüse­
 ner ­wider. „Manche Menschen entdecken                          anbau in der Stadt,      ­immer wieder als Vorbilder genannt. „Daher       Clausen. „Ein homogener Garten funktio­
 bei uns Dinge, die sie im Supermarkt nicht                    Biodiversität und Kom-
                                                               postierungsmethoden.
                                                                                           ist es an der Zeit, über gemeinwohlorientier­    niert nur, wenn man permanent Gift sprüht
 finden, zu denen Sie aber eine kulturelle                                                 te Eigentumsformen nachzudenken“, so             und rausrupft, was nicht reinpasst.“ Damit
                                                                          5
­Beziehung haben.“                                             Seit 2011 sind allein in    ­C lausen. Ein Ansatz sei es, am mobilen         solch monokulturelle Ansätze dauerhaft bei
                                                              Berlin schon 40 Ableger-
       Genauso groß geschrieben wie die Ar­                      gärten entstanden.         Charakter dieser Gärten festzuhalten. „Wir      der Wurzel gepackt werden können, sorgen
 tenvielfalt wird dabei das partizipative Prin­                                             als Common Ground sagen hingegen, dass          Orte des Austauschs und der Teilhabe wie
                                                          5
 zip. Am Ende ist es Gemeinschaft, die über                                                 das Konzept Zwischennutzung in Berlin           der Prinzessinnengarten für erlebbare ge­
 den Zweck und die Ziele eines solchen Pro­                                                 nicht mehr tragfähig ist.“                      sellschaftliche Wachstumsprozesse.
 jektes entscheidet. „Das können politische                                                      Clausen plädiert für eine generations­
                                                                                                                                            U In der kommenden Saison wird sich die Urania verstärkt
 Ziele sein, Bildungsziele, der Wunsch nach                                                 übergreifende Erbpacht von 99 Jahren für        mit dem Thema Urban Gardening auseinandersetzen. Im
 ökologischem Anbau, Inklusion, Bienen­                                                     das Areal am Moritzplatz. „Unser Ziel ist es,   Februar 2019 gibt es einen ersten Vortrag von den Urban-
                                                                                                                                            Gardening-Experten Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen
 haltung in der Stadt oder auch ästhetische                                                 den Prinzessinnengarten als Gemeingut zu        und Jonathan Kuhlburger.

                                                                                    16    17
Vision Saison 2018/2019 - Urania Berlin
Herr Wiebicke, 2017             Antwort auf die extrem        Eine Ihrer ersten Fest-
                                                               erschien Ihr Buch „Zehn         ungleiche Verteilung von      stellungen im Buch ist,
                                                               Regeln für Demokratie-          Reichtum. Das sind so         dass Demokratie nicht

   Ist unsere
                                                               Retter“. Wie sind Sie auf       komplexe Probleme, dass       nur eine Regierungs-
                                                               das Thema Demokratie            man eigentlich sofort als     form, sondern auch eine
                                                               gestoßen?                       Lügner dasteht, wenn          Lebensform sei. Was
                                                               In diesem Buch habe ich         man darauf mit einfachen      meinen Sie damit?

  Demokratie
                                                               versucht, mit einfachen         Antworten reagiert.           Wenn ich beispielsweise
                                                               Merksätzen zu formulie­         Die Demokratie, wie ich sie   mit Jugendlichen über
                                                               ren, dass wir einen neuen       verstehe, erkennt diese       das Thema spreche, dann
                                                               Anfang machen müssen,           Komplexität an. Bei vielen,   mache ich das an einem
                                                               um für demokratische            die sich die Dimensionen      krassen Beispiel klar:

      noch
                                                               Werte einzustehen. Seit         dieser Probleme klar          Wenn wir ab nächste
                                                               ­einiger Zeit stehen wir        machen, entsteht jedoch       Woche keine Demokratie
                                                                vor scheinbar unlösbaren       ein Hang zu Fatalismus        mehr haben, dann dürfen
                                                                Problemen. Wir haben           und Tatenlosigkeit. In        euch eure Eltern wieder

   zu retten?
                                                                einen Klimawandel, der         einer solchen Situation       schlagen. Die sind zwar
                                                                aus dem Ruder läuft, wir       geht es für mich darum        erst einmal verdutzt, aber
                                                                haben Flüchtlingsbewe­         zu klären, was die Rolle      nach und nach verstehen
                                                                gungen von Millionen von       des Einzelnen in der          sie, worauf ich hinaus
                                                                Menschen, wir haben k ­ eine   Demo­kratie sein kann.        will: Demokratie heißt näm-
                                                                                                                             lich nicht nur, dass wir
                                                                                                                             Frau Merkel oder jemand
                                                                                                                             anderen haben, die da
                                                                                                                             oben im Berliner Reichs­
                                                                                                                             tag Politik machen;
                   Jürgen Wiebicke                                                                                           Demokratie betrifft unser
                                                                                                                             ganzes Leben. Wenn wir
                           Interview
                         Erik Günther                                                                                        keine Demokratie mehr
                                                                                                                             haben, ändern sich auch
                                                                                                                             unsere Verhältnisse am
                                                                                                                             Arbeitsplatz und in den
                                                                                                                             Familien. All das, was wir
                                                                                                                             zivilisa­torisch erreicht
Die Demokratie ist in Gefahr. Die aktuellen politischen                                                                      haben, zum Beispiel dass
Entwicklungen zeigen, wie wenig selbstverständlich die                                                                       man konstruktiv streiten
                                                                                                                             kann oder Konflikte eben
Werte sind, auf denen unser gesellschaftliches Zusam­                                                                        nicht willkürlich, sondern
menleben beruht. Ist unsere Demokratie noch zu retten                                                                        regelhaft löst, all das geht
                                                                                                                             weit über den politischen
und welche Rolle kann dabei die Urania Berlin als soge­                                                                      Bereich hinaus. Da gerät
nanntes Demokratielabor übernehmen? Darüber haben                                                                            also noch sehr viel mehr
                                                                                                                             mit ins Rutschen als nur
wir mit dem Journalisten Jürgen Wiebicke gesprochen.                                                                         die Regierungsform. Und
                                                          18   19
genau das ist vielen Men-    Was hat das zur Folge?         strotzen vor Utopien und                                                                   Es ist also besser, nicht
schen nicht klar, wenn       Ich sehe, dass es da eine      politischen Bewegungen,         „Ich bin seit einigen Jahren auf                           sofort in blinden Aktio­
man momentan beobachtet,     große Versuchung gibt,         welche am liebsten sofort                                                                  nismus zu verfallen,
wie viele Gesellschaften     unsere Gesellschaft            die Weltrevolution aus­         der Suche nach guten Orten, nach                           sondern gelassen zu blei-
den autoritären Versuchun­   in lauter Gemeinschaften       rufen wollen. Ich glaube,      ­sogenannten Demokratielaboren.                             ben und nur so viel zu
gen nachgeben.               von Gleichgesinnten zu         dass wir so eine Zeit                                                                      leisten, wie es für jeden
                             zerlegen. So entstehen         gerade nicht haben und          Damit meine ich gut funktionierende                        Einzelnen möglich ist?
Wenn ich das erkannt         Meinungsblasen. Und das        dass wir uns das dringend       Netzwerke, in denen man besichtigen                        Ganz genau. Und Netz­
habe, stellt sich die        hat zur Folge, dass wir        eingestehen müssen. Ich                                                                    werke sind besonders dann
Frage, wie ich persönlich    immer weniger verstehen,       schlage stattdessen vor,        kann, wie jeder der Beteiligten etwas                      aussichtsreich, wenn sie
anfangen kann, mich          wie andere Menschen auf        dass wir kleine Anfänge         bewirken kann; wie Menschen                                dem Einzelnen die Mög­
zu engagieren. Sie selbst    die Welt schauen. Die          machen und erst einmal                                                                     lichkeit geben, das zu tun,
beginnen das Buch mit        unangenehmen Folgen von        in der eigenen Umgebung         die Erfahrung machen, dass es auf                          was den eigenen Talenten
der Regel „Liebe deine       Identitätspolitik kann man     schauen, was wir für            sie ankommt.“                                              entspricht. Dann ist ge-
Stadt“. Was hat meine        im Moment überall besich­      Beiträge leisten können,                                                                   währleistet, dass Menschen
Stadt mit Demokratie         tigen. Weil das Nationale      die wir auch unmittelbar                                                                   gesehen werden und An-
zu tun?                      wieder hochkocht. Da stellt    wahrnehmen. Es geht            Engagement als etwas          Und wenn ich jetzt los­       erkennung erhalten. Denn
Stadt ist auch ein Teil      sich die Frage, wie wir        dabei um die Erfahrung         Selbstverständliches          legen möchte, die Demo-       Engagement ist nicht per
der Identität und ich        anders auf die Identitäts­     von Selbstwirksamkeit,         ansehen. Natürlich brau­      kratie zu retten, wie         se selbstlos. Wir bringen
glaube, dass wir heute       frage antworten können.        die unbedingt gestärkt         chen gut funktionierende      fange ich da am besten        uns nicht ein, weil wir wie
eine gute Antwort auf        Wichtig ist: Menschen          werden muss.                   Netzwerke digitale Kom­       an?                           Mutter Theresa sind und
die Frage nach Identität     wollen identifiziert sein.                                    munikation, ganz prag­        Zuerst kann man sich in       uns selbst dabei aufgeben,
brauchen. Gerade im          Wir sind nicht nur als         Sie unterstreichen, dass       matisch als Medium            der eigenen Nachbarschaft     im Gegenteil: Wir wollen
Gespräch mit jüngeren        Einzelne unter lauter          analoge Orte wie die           der Verständigung und         erkundigen; wo sind           gesehen werden und
Menschen erlebe ich          Einzelnen unterwegs. Um        ­Urania für demokratische      des Austauschs. Aber          dort eigentlich Menschen      Respekt für das eigene Tun
immer wieder, dass die       sich als Teil eines Ganzen      Debatten heute mehr           der entscheidende Spirit,     unterwegs, die schon          spüren. Menschen sind auf
Fragen „Wer bin ich?“,       zu begreifen, ist meiner        denn je wichtig sind.         also das, was Menschen        Anfänge gesetzt haben.        Anerkennung angewiesen,
„Was verbindet mich mit      Meinung nach die beste          Worin genau liegt für         zusammenbringt und            Dann muss ich bestrebt        und auch das ist bei
anderen?“, „Was trennt       Grundlage, dass man sich        Sie das Potenzial dieser      Engagement auch auf           sein, mich mit denen –        demokratischem Engage­
mich von anderen?“ im        mit dem Sozialraum, in          realen Treffpunkte?           Dauer stärkt und nicht nur    ­digital formuliert – zu      ment extrem wichtig.
Moment unglaublich           dem man lebt, identifiziert.    Ich bin seit einigen Jahren   reflexhaft für eine Online­    verlinken. Das ist der
scharf gestellt sind. Und    Identifizieren heißt auch,      auf der Suche nach guten      petition genutzt wird, das     Anfang. Ich glaube aber,
es gibt Versuchungen,        dort für gute und gerechte      Orten, nach sogenannten       läuft nach analoger Logik.     dass es wichtig ist, dass
diese Fragen nach Iden­      Verhältnisse sorgen zu          Demokratielaboren. Damit                                     man sich vernetzt, ohne
tität möglichst einfach      wollen. Und das gelingt am      meine ich gut funktionie­     Was meinen Sie damit?          sofort an ein konkretes
zu beantworten. Diese        besten, wenn ich in meiner      rende Netzwerke, in denen     Dass wir uns in die Augen      Projekt zu denken. Erst in   U Ab 2019 befasst sich ­Jürgen
                                                                                                                                                       ­Wiebicke im Rahmen einer Gesprächs­-
Antworten sind entweder      Stadt beziehungsweise           man besichtigen kann,         gucken wollen; wir wollen      einem weiteren Schritt        reihe in der Urania Berlin mit dem
                                                                                                                                                        Thema Demokratie.
nationalistisch oder         vor der eigenen Haustür         wie jeder der Beteiligten     einen Dissens austragen.       sollte man überlegen, was
                                                                                                                                                        Jürgen Wiebicke, geboren 1962,
reli-giös geprägt. Oder      anfange.                        etwas bewirken kann; wie      Vor allem aber wollen wir      wir überhaupt verändern      lebt als freier Journalist in Köln. Jeden
sie beziehen sich auf den                                    Menschen die Erfahrung        die Erfahrung machen,          wollen. Dann ist auch die    Freitag moderiert er „Das Philoso-
                                                                                                                                                       phische Radio“ im WDR5. Mit Svenja
privaten Lebensstil: Wie     Kann das denn                   machen, dass es auf sie an-   dass andere das sehen und      Wahrscheinlichkeit           Flaßpöhler, Wolfram Eilenberger und
                                                                                                                                                       Gert Scobel ist er Teil der Programm-
verhalte ich mich zum        ­aus­reichen?                   kommt. So erst kann es        anerkennen, dass wir uns       größer, dass das Netzwerk    leitung des Philosophie-Festivals
Beispiel als Veganer          Es gibt visionsreichere        möglich werden, dass die      bemühen – und das geht         stabil bleibt und Krisen     „phil.cologne“. Sein Buch „Zehn Regeln
                                                                                                                                                       für Demokratieretter“ erschien 2017 im
gegenüber Fleischessern?      Zeiten als unsere, die         Menschen gesellschaftliches   nur im Analogen.               übersteht.                   Verlag Kiepenheuer & Witsch.

                                                                                     20    21
Kultur
     im Salon
                    Pegah Ferydoni

                    Klaus Wowereit
                            Collage
                         Nicolas Flessa
                            Fotos
                         Hanna Becker

Ab März 2019 laden Pegah Ferydoni und Klaus Wowereit
zum Kultur-Salon in die Urania Berlin. Wir waren beim
ersten Ortstermin dabei und haben der Schauspielerin und
Sängerin und dem früheren Regierenden Bürgermeister
von Berlin bei ihrem Brainstorming über die Schulter
­gesehen. So viel sei verraten: Diese Veranstaltungsreihe
 wird nicht nur bei den Machern für gute Laune sorgen.
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PEGAH FERYDONI                                                                                               K. W.
     „Ich fürchte, wir werden uns über die                                                                                               „Für gute Kunst braucht es eine
     Aufgabenverteilung streiten müssen.                                                                                                 ­bestimmte Aufgeregtheit. Ist die denn
       Wer macht auf ernst, wer ist unter-                                                                                                schon da? Das bezweifle ich noch.“
                                haltsam?“
                                                KLAUS WOWEREIT
                                                „Oder wer nimmt wen?
                                                Zur Not losen wir!“                                                                      P. F.
                                                                                                                                         „Durch die internationale Regression
                                                                                                                                         haben die Künstler wieder Themen,

Die Moderatoren stehen fest, ihre Rollen sind                                                                                            die sie vorher nicht hatten. Das merkt
                                                                                                                                         man schon.“

noch fließend: Wer macht hier eigentlich was?
                                                                                                                                         K. W.
                                                                                                                                         „Ich bin auch ganz zuversichtlich,
                                                P. F.
                                                „Am besten laden wir nur einen Gast                                                      denn ich kenne die Kraft der Künstler.
                                                ein und machen einen auf Good Cop,                                                       Kulturpolitik muss natürlich den
                                                Bad Cop und nehmen den richtig                                                           ­Rahmen geben, zum Beispiel durch
                                                schön in die Zange.“                                                                      das Künstleratelierprogramm, aber
                                                                                                                                          Kreativität lässt sich nicht anordnen
                                                                                                                                          oder untersagen.“
                                                K. W.
                                                „Klaus, fass!“

                                                                                            Die Gäste werden ihnen kaum ausgehen: ­
                                                                                           In Berlin ist schließlich jede*r Künstler*in.

                                                                                                                                K. W.
                                                                                                   „Der Anspruch sollte sein, dass
                                        P. F.
         „Ich kann mir auch gut vorstellen,                                                            die Zuschauer etwas nach
     dass wir nur über die anderen reden,                                                         Hause ­nehmen, was sie so auch
    Zitate, Situationen, Ereignisse, und wir                                                                 noch nicht wussten.“
        rekonstruieren: So wars gewesen.“

                                                                                                                                 P. F.
                                                                                                     „Darauf hätte ich wirklich Lust:
                                                                                                ­Personen, die energetisch sind, die
                                                                                              inspirierend sind für andere, dass da
                                                                                              der Funke ins Publikum überspringt.“
                                       K. W.
               „Alle Fragen sind möglich –
                   Antworten nicht immer.“

                                                                                                                                         P. F.
                                                                                                                                         „Es ist eine spannende Zeit.
                                                                                                                                         Zu jedem Hashtag rennen die Leute
                                                                                                                                         auf die Straße und die Künstler in
                                                                                                                                         die Ateliers.“

                                                                                      25
Frauen
                                    P. F.
         „Wenn ich in den vertäfelten
    ­Sendesaal von der Masurenallee
komme für ein Konzert, bekomme ich
   immer noch Gänsehaut. Das ist so
eine Art Lokalpatriotismus. Ich denke
                dann: Mensch, SFB!“
                                   K. W.
   „Durch die Nachbarschaft bin ich
abends öfter mal in der Schaubühne,
     ist das dann Kiezpatriotismus?“

  Auch die Offszene findet Stadt:
vom Heimathafen Neukölln bis zum

                                                                                                                                &
   Kulturhaus Centre Bagatelle.
                                    P. F.
    „Das Schöne in dieser Stadt ist ja,
dass es nicht den einen Ort für Kultur
gibt. In Berlin entstehen immer wieder
   neue Räume wie kürzlich The Haus.
    Da standen die Leute wochenlang         K. W.

                            Schlange.“      „Auch bei etablierten Veranstaltungen
                                            wie der Berlin Art Week muss man                                 Svenja Flaßpöhler
                                            präsent sein, da verkauft man dann
                                            auch. Das hat sich gehalten.“
                                                                                                                 Sookee

                                            U Ab März 2019 laden Pegah Ferydoni und Klaus Wowereit
                                            wechselnde Gäste in den Kultur-Salon ein, um über die
                                            Themen Kunst, Kultur und Berlin zu sprechen.

                                            C Pegah Ferydoni, geboren 1983 in Teheran, ist in Berlin
                                                                                                             Männer
                                                                                                        Wie wollen wir zusammenleben? Angesichts der Debatten
                                                                                                        über Sexismus und Geschlechtergerechtigkeit muss diese
                                            aufgewachsen und arbeitet als Schauspielerin, Modera-
                                            torin und Sängerin. Ihren schauspielerischen Durchbruch
                                            hatte sie 2005 mit der ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“.
                                                                                                        Frage auch aus gender- und identitätspolitischer Perspek­
                                            2011 – 2013 moderierte sie das Kulturmagazin zdf.kultur­
                                            palast. Anfang 2018 präsentierte sie das Berlinale-Studio   tive betrachtet werden. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler
                                            im rbb Fernsehen und ist ab Oktober in der Hauptrolle
                                            des Kino-Dramas „Die defekte Katze“ zu sehen.
                                                                                                        und die Rapperin Sookee beweisen mit ihren jeweiligen
                                                                                                        Statements die Vielstimmigkeit des Diskurses, kommen­
                                            C Klaus Wowereit, geboren 1953 im damaligen West-Berlin,
                                            war von 2001 bis 2014 Regierender Bürgermeister von
                                            Berlin und von 2009 bis 2013 einer der stellvertretenden
                                            Bundesvorsitzenden der SPD. In seinem neuen Buch
                                            „Sexy aber nicht mehr so arm: mein Berlin“ wirft er einen   tieren die Gegenwart und entwickeln Visionen über die
                                                                                                        Zukunft der Geschlechterverhältnisse.
                                            Blick auf sein bewegtes Politikerleben – und auf „sein“
                                            Berlin. Im Rahmen des Kultur-Salons wird der Liebhaber
                                            von Kunst und Vielfalt neue Seiten zeigen.

                                                                                                        27
Die potente
                                                                                   Auszug aus:         noch in signifikant mehr Macht­           der Selbstermächtigung nicht er­
                                                                                   Svenja
                                                                                   ­Flaßpöhler         positionen als Frauen. Einige von         greifen? #metoo-Befürworterinnen
                                                                                    „Die potente
                                                                                    Frau“ 2018         ihnen nutzen ihre Macht schamlos          und -Befürworter geben auf diese

                   Frau
                                                                                    Ullstein Verlag
                                                                                    80 Seiten
                                                                                                       aus. Und natürlich ist es gut, wenn       Frage die folgende Antwort: Weil
                                                                                    ISBN: 978-3-       Männer wie Harvey Weinstein ent­          die Möglichkeit eben doch keine
                                                                                    550-05076-3
                                                                                                       machtet werden.                           Möglichkeit ist. Weil leider immer
                                                                                                             Auffällig ist aber, dass eine       noch, gesetzliche Gleichstellung hin
                                                                                                       ganz bestimmte Perspektive in der         und her, Männer diese Welt beherr­
                                       Text                                                                                                                                              U Ab Frühjahr
                                Svenja Flaßpöhler                                                      gegenwärtigen Diskussion weit­            schen. Frauen werden von Män­           2019 wird Svenja
                                                                                                       gehend ausgespart wird: die Fra­          nern, die ihre Macht ausnutzen, ver­    Flaßpöhler in
                                                                                                                                                                                         der Urania Berlin
                                                                                                       ge nämlich, was Frauen zur Festi­         gewaltigt, genötigt, belästigt – das    mit einem neuen
                                                                                                                                                                                         Format zu e ­ r-
                                                                                                       gung der männlichen Macht, die            ist die Grundannahme.                   leben sein.
             PROLOG                                                                                    immerhin keineswegs mehr recht­                 Bereits an diesem Punkt ist       C Dr. Svenja
Rechtlich ist das Patriarchat passé.      krampfhaft festhielt an dem ihm                              lich legitimiert ist, selbst beitragen.   dringend Differenzierung gefragt.        ­Flasspöhler,
                                                                                                                                                                                           geboren 1975, ist
Die potente Frau hat es auch psy­         zugeschriebenen Opferstatus, weil                            Tatsächlich sind es Initiativen wie       Nicht in jedem Chefsessel sitzt ein       Chefredakteurin
chisch überwunden.                        noch keine andere Erzählung mög­                             #aufschrei, #neinheißtnein und            Harvey Weinstein. Nicht jedes Un­         des Philosophie
                                                                                                                                                                                           Magazins.
     Scham und Gefallsucht hat            lich schien. Vorbei die Zeit, in der                         #metoo, die, trotz allen emanzipato­      ternehmen ist ein Machtkartell im         Die promovierte
                                                                                                                                                                                           Philosophin war
sie abgestreift wie ein altes Kleid.      Frauen kaum etwas wussten von                                rischen Willens, patriarchale Denk­       Dienste der sexuellen Vorlieben ei­       Literaturkritikerin
                                                                                                                                                                                           in der Sendung
Ihr Zugang zur Lust: unmittelbar.         der eigenen Lust und Gesetze ein­                            muster blindlings wiederholen und         nes Vorgesetzten. Zudem lässt sich        „Buchzeit“ (3sat)
Ihr Begehren: eigensinnig. Sie ist        forderten, die für sie ihr Intim­-                           damit eben jene Wirklichkeit fest­        bezweifeln, dass sexuelle Übergrif­       und leitende
                                                                                                                                                                                           Redakteurin
keine Leerstelle – weder existiert sie    leben regeln. Die potente Frau ist                           schreiben, die sie beklagen: Gegen        figkeit wirklich, wie #metoo sug­         beim Deutsch-
                                                                                                                                                                                           landfunk Kultur.
für den Mann noch durch ihn. Weit         weder Realität noch ein unerreich­                           Belästigungen ist die Frau macht­         geriert, das zentrale Problem von         Ihre Bücher
entfernt davon, ein Spiegelbild sei­      bares Ideal. Sie ist eine Möglichkeit.                       los; sie kann sich nicht wehren; das      Frauen in der gegenwärtigen Gesell­       wurden in meh­-
                                                                                                                                                                                           rere Sprachen
ner Potenz zu sein, ist sie ein ihm       ­Warum ergreifen wir sie nicht?                              männliche Begehren ist allmächtig,        schaft ist. Läge es nicht näher, sich     übersetzt, zuletzt
                                                                                                                                                                                           erschien von
gleichwertiges, aber nicht gleiches                                                                    das weibliche nicht existent. Mit         mit derselben Intensität zum Bei­         ihr das viel-
Gegenüber.                                            EINLEITUNG                                       meinem Buch mache ich auf Dyna­           spiel, sagen wir, dem Thema „un­          besprochene
                                                                                                                                                                                           Buch „Verzeihen“.
     Der Unterdrückung, historisch        Seit Monaten bestimmt die #metoo-                            miken wie diese aufmerksam und            gleiche Löhne“ zu widmen? Dann            Sie lebt mit ihrer
                                                                                                                                                                                           Familie in Berlin.
betrachtet, noch nicht lang entkom­       Debatte die Feuilletons und Talk­                            plädiere für einen anderen, offen­        immerhin hätte man wirklich ein
men, liegt der potenten Frau nichts       shows. Kaum ein Tag vergeht, an                              siven Begriff von Weiblichkeit und        strukturelles Problem am Haken.
daran, nun ihrerseits zu unterwer­        dem nicht eine Schauspielerin,                               weiblicher Sexualität. Nur wenn die       Das Problem ist nur: Ein Hashtag
fen. Sie dreht den Spieß nicht ein­       Künstlerin oder Sportlerin von se­                           Frau in die Potenz findet, kann sie       #fürgeschlechtergerechtegehälter
fach um, weil sie weiß, wohin das         xualisierter Gewalt berichtet. Kaum                          Autonomie nicht nur einfordern,           hätte nicht dieselbe Resonanz und
führt: zu einer tiefen Entfremdung        ein Tag, an dem nicht von patriar­                           sondern auch leben.                       Reichweite wie #metoo, weil er kei­
der Geschlechter. Die Größe der po­       chalen Strukturen die Rede ist, die                                                                    ne vergleichbaren medialen Ver­
tenten Frau speist sich vielmehr aus      Frauen unterdrücken, und zwar                                              NOT ME                      stärker fände. Ungleiche Löhne sind
ihrem Vermögen, den Impuls der            systematisch. Männliche Gewalt,                              Die Möglichkeit steht für das Neue.       für Boulevardblätter, Wochen- und
Herrschsucht zu unterlassen: Jede         behauptet der Hashtag-Feminis­                               Für das Offene und Unbekannte.            Tageszeitungen nun einmal nicht so
Form der Verdinglichung lehnt sie         mus, ist allgegenwärtig: im Büro, im                         Wer eine Möglichkeit ergreift, weiß       sexy wie Berichte von Frauen, die
entschieden ab.                           Bett, im Leben einer jeden einzel­                           noch nicht, ob sie auch in Zukunft        detailgenau schildern, wie sie von
     Die potente Frau hat den Sprung      nen Frau.                                                    trägt. Insofern ist es bezeichnend        mächtigen Männern in Hotelzim­
aus einer überholten Gegenwart ge­             Und ja, es stimmt: Handfeste,                           für Phasen des Übergangs, dass            mern belästigt oder genötigt wur­
wagt. Vorbei die Jahrzehnte des           brutale Gewalt von Männern ge­                               Menschen das Alte bevor­z ugen,           den. […]
Übergangs, in der das sogenann-           gen Frauen (und auch gegen Män­                              selbst wenn es mit Unglück verbun­
te schwache Geschlecht beinahe            ner) existiert. Männer sitzen immer                          den ist. Warum wir die Möglichkeit
                                                                                                  28   29
Freiheit, Gleichheit,
                                                                                    Effektive Veränderung geschieht          ­ enschen gibt, bei deren Geburt
                                                                                                                             M
                                                                                    vor allem dann, wenn sich diejeni­       sich die Hebamme bei der Voll­
                                                                                    gen, die es vermeintlich nicht be­       endung des Satzes „Herzlichen

Geschwisterlichkeit
                                                                                    trifft, angesprochen fühlen und          Glückwunsch, es ist ein …“ schlicht­
                                                                                    aktiv werden. Warum sollte sich          weg getäuscht hat – und diese im
                                                                                    eine Frau ihr Stück vom Kuchen er­       Laufe ihres Lebens dieses Missver­
                                                                                    kämpfen, wenn der Mann, der sich         ständnis wieder aufwändig aus der
                                                                                    ohnehin schon mehrfach daran satt        Welt schaffen müssen. Zudem gibt
                                   Text                                                                                                                              U Ab November
                                  Sookee                                            gegessen hat, schlicht eine zwei­        es Menschen, die sich grundsätzlich     2018 sind Ver-
                                                                                    te Gabel holen und das Stück ge­         nicht in der binären Mann-Frau-­        anstaltungen mit
                                                                                                                                                                     Sookee zu den
                                                                                    schwisterlich teilen kann? Einfach       Logik wiederfinden. Die in sich wis­    Themen Gender
                                                                                                                                                                     und Identität
                                                                                    so. Aus gutem Willen, gesundem           sen, dass für sie ein ganz anderer      geplant.
                                                                                    Menschenverstand oder schlicht­          Platz der richtige ist.                 C Politik und
Der thüringische AfD-Fraktions­        verbannt werden, ewig dankbar da­            weg Anstand. Und wenn er dann                 Die Sensibilisierung für ge­       Party? Queer-
                                                                                                                                                                     feminismus
vorsitzende Björn Höcke bewirbt        für, ihrem Manne zu Diensten sein            noch richtig korrekt ist, fragt er, ob   schlechterpolitische Fragen bringt      durch HipHop?
in seiner aktuellen Buchveröffent­     zu dürfen, sind sie gefühlt doch pri­        sie lieber Kaffee, Tee oder Kakao        nichts als eine realistische Chance     Die Rapperin
                                                                                                                                                                     Sookee („Mortem
lichung traditionelle Geschlech­       mär und mehrheitlich für reproduk­           zum Kuchen mag.                          mit sich, dass wir der Lebensrealität   & Makeup“),
                                                                                                                                                                     geboren 1983,
terrollenbilder. Unter weiblichen      tive Aufgaben rund um Haushalt,                     Jeder Mann kennt einen Mann       von Menschen, ihren Biographien,        macht aus ver-
                                                                                                                                                                     meintlichen
Attributen versteht er Intuition,      Erziehung und Pflege im Privaten             mit Mario-Barth-Humor. Dem Kol­          Träumen, Fähigkeiten, Bedürfnis­        Widersprüchen
Sanftmut und Hingabe. Männlich­        zuständig. Mütterliche Fürsorge              legen deutlich vermitteln, dass es       sen und ihrem freien Willen end­        glitzernde
                                                                                                                                                                     Schnittmengen
keit bringt er mit Wehrhaftigkeit,     heißt das dann etwa. Dafür gelten            sich des Öfteren nicht um einen          lich wirklich gerecht werden. Wer       und schafft
                                                                                                                                                                     damit Räume, die
Weisheit und Führung in Verbin­        sie aber auch als das schöne Ge­             kecken Spruch, sondern um reak­          auch nur einen Funken Gerechtig­        gesellschaftliche
dung. Alles keine schlechten Eigen­    schlecht, was aufs erste Hinein­             tionäre Dummheit handelt, könn­          keitsempfinden im Leib hat, müsste      Veränderung
                                                                                                                                                                     voranbringen.
schaften. Lediglich die erzkonser­     fühlen an ein Kompliment erinnert.           te dem Witzbold mit der Zeit klar        sich also großen Herzens und guten      Kultur leistet mit-
                                                                                                                                                                     unter spezifi-
vative Sortierung nach Geschlecht      Weniger charmant wirds dann,                 werden lassen, dass Männer sich          Mutes in den entsprechenden Aus­        schere Zeit-
sollte auch noch die letzte Person,    wenn sie wahlweise eben auch als             durchaus mit Frauen solidarisieren       einandersetzungen einfinden und         diagnosen als
                                                                                                                                                                     ein Parteibuch,
die sich bislang eher wenig mit Fra­   das schwache Geschlecht gelten. In­          können. Einfach so. Und weil Schul­      für die richtige Sache streiten.        weiß Sookee.
                                                                                                                                                                     Sie ist außerdem
gen der Geschlechtergerechtigkeit      teressanterweise gibts diese Varian­         terschlüsse notwendig sind in einer                                              Mutter, Anti-
befasst hat, erkennen lassen, dass     te beim starken Geschlecht nicht.            Welt, in der vermeintliche Respekts­                                             faschistin und
                                                                                                                                                                     voller Hoffnung.
ein solches Verständnis im Jahre       Hier macht Erfolg sexy.                      personen ungestraft Übergriffigkeit                                              Zwangsläufig.

2018 eher den Eindruck von Real­             Dass offensichtlich mit zweier­        als Beweis für ihre Männlichkeit
satire vermittelt.                     lei Maß gemessen wird, mag vielen            und Macht anführen können. Denn,
      Vor dem Gesetz sind Männer       schon bewusst sein. Aber was tun?            nein, man wird doch nicht mal ein
und Frauen gleichgestellt. In den      Die politischen Mittel des Alltags           bisschen grabbeln dürfen.
Köpfen, auf dem Arbeitsmarkt, in       liegen heute neben dem Gang an die                  Grundsätzlich ist die Frage
medialen Repräsentationen, in ent­     Wahlurne in der Unterzeichnung               „Möchte ich so behandelt werden?“
scheidungstragenden Positionen, in     von Petitionen oder der allgemei­            ein ganz brauchbarer Prüfstein. Hat
der Anerkennung von Kompetenz,         nen Empörung über gesellschaftli­            schon der alte Kant gewusst, auch
in Hinblick auf körperliche und se­    che Schieflagen. Dadurch ist das Klo         wenn Frauen zu seiner Zeit weitest­
xuelle Selbstbestimmung, entlang       aber auch nicht geputzt, Sätze wie           gehend nicht mal alphabetisiert
von Schönheitsnormen, usw. leider      „Wer schön sein will, muss leiden“           ­waren. Und über diese ganzen
nicht. Auch wenn Frauen beispiels­     ihrer bitteren Realität nicht entzo­          ­B asics hinaus bringt die Debatte­
weise im Volksmund nicht ganz so       gen oder eine Tätigkeit bei gleicher           um Geschlechtergerechtigkeit auch
offensiv wie bei Höcke an den Herd     Qualifikation nicht gleich entlohnt.           mit sich, dass es beispielsweise
                                                                               30   31
Tiny
                                   Der Schauplatz des Geschehens: An der           mit ­B erliner*innen sowie irakischen, af­
               Van Bo Le-Mentzel   Urania Ecke Kleiststraße. Was gibt es dort?     ghanischen und syrischen Geflüchteten die
                                   Zwei Bushaltestellen, Sitzbänke, Straßen­       Tinyhouse University, um die Erforschung
                                   lärm und vereinzelt wartende Menschen.          zukünftiger Wohnkonzepte weiterzuverfol­
                                   Die Rede ist vom Vorplatz der Urania ­Berlin.   gen. Der Begriff der Universität ist bewusst
                                   Wie könnte man noch mehr aus diesem Ort         gewählt, da Le-Mentzel den Zugang und die
                                   herausholen? Diese Frage stellt sich der Ar­    damit verbundene Exklusivität von Wissen
                                   chitekt und Künstler Van Bo Le-Mentzel          kritisch hinterfragen möchte. Wer sind hier
     Text
Erik Günther                       in dem von ihm kuratierten Projekt „Tiny        wirklich die Experten? Das Ziel der Tiny­
                                      Town Urania.“                                house University ist es, Bildung, Ermächti­
                                                    Van Bo Le-Mentzel, ge­         gung und Selbstorganisation des Einzelnen
                                             boren in Laos und aufgewach­          in der Gemeinschaft zu stärken.
                                            sen im Berliner Wedding, hat sich            Von März 2017 bis März 2018 ent­
                                           nach dem Studium der Architektur        stand unter dem Namen „Bauhaus Campus
                                         früh mit Fragen sozialer Teilhabe,        Berlin“ ein Forschungslabor mit mehreren
                                        Minimalismus sowie der ungleichen          Tiny Houses. Auf dem Gelände des Bau­
                                      Verteilung von Wissen und Besitz be­         haus-Archivs stellte die Tinyhouse Univer­
                                     schäftigt. Größere Bekanntheit erlangte       sity eine Ansammlung der Mini-Häuser aus
                                   er mit den „Hartz-IV-Möbeln“, deren offen       und forschte öffentlich zu Themen wie der
                                   zugängliche Baupläne zum günstigen Sel­         „Mindestwohnung“ oder „Coworking für
                                   berbauen animieren. In den letzten Jahren       Geflüchtete“. Ab Sommer 2018 entwickeln
                                   beschäftigte er sich ausgehend vom Woh­         sie diese Forschung auf dem Gelände der
                                   nungsproblem in den Großstädten mit al­         Urania mit der Tiny Town Urania weiter.
                                   ternativen Wohnkonzepten. Bei der aus den             Von Juli bis September 2018 versam­
                                   USA stammenden Tiny-House-Bewegung              meln sich mehrere Tiny Houses vor dem
                                   wurde er fündig und setzte das Projekt der      Eingang der Urania und markieren eine
                                   100-Euro-Wohnung um: Das tiny100 war            künstlerische Intervention während der
                                   geboren. Das kleine Holzhaus auf Rädern         Sommerzeit. Der Name Tiny Town Urania
                                   vereint auf einer Grundfläche von 6,4 m²        ist Begriff: Le-Mentzel orientiert sich in sei­

Town
                                   Wohn- und Schlafraum, einen Arbeitsplatz,       nem Vorhaben an den sozialen Strukturen
                                   eine Küchenzeile und ein Badezimmer. Und        eines Dorfes. Die Bewohnerinnen und Be­
                                   das zu einer Warmmiete von nur 100,- Euro.      wohner vereinen darin verschiedene Be­
                                        Auf die Idee kam Le-Mentzel wäh­           dürfnisse. Dazu gehören Wohnen, Arbeiten,
                                   rend der Flüchtlingskrise 2015, als er eine     aber auch Unterhaltungsangebote und Gas­
                                   Lösung für die wartenden Geflüchteten vor       tronomie sowie Orte für Gemeinschaft und
                                   dem Berliner Landesamt für Gesundheit           privaten Rückzug. Die Tinyhouse University
                                   und Soziales finden wollte, deren Schlaf­       beschreibt das Projekt folgendermaßen:
                                   säcke und Zelte durch die turbulenten Zu­             „Die Tiny Town Urania ist eine Mini­
                                   stände zu schnell verschlissen. So begann       stadt. Eine Stadt, die niemals fertig ist.
                                   er über mobile Behausungen nachzuden­           Eine Stadt, die über Nacht entstehen und
                                   ken. Mit geflüchteten Kindern baute er          über Nacht verschwinden kann. Ohne Spu­
                                   den Prototypen einer Holzunterkunft und         ren zu hinterlassen. Eine Stadt, die ohne

                 Urania            nannte sie das „Hotel Lageso“. In diesem
                                   Zusammenhang gründete er gemeinsam
                                                                                   Stahl­b eton und fließendes Wasser aus­
                                                                                   kommt. Ein künstlerisches Experiment
                                   33
als ­Anregung für Städteplaner*innen und         Das Projekt könnte demnach an verschie­
Zivil­gesellschaft. Hier werden neue Ar­         denen Orten stattfinden und aufzeigen, wie
beits- und Wohnmodelle erprobt und öf­           wir den Aufenthalt im öffentlichen Raum
fentlich gemacht. Wie sehen Arbeitsräume         umgestalten können. Wie Orte des Transits
aus, an denen Kinder willkommen sind?            und der Passage zu Orten des Zusammen­
Wie werden Bildung, Gastronomie, Tou­            kommens, der Produktion und des Inne­
rismus, Industrie und Wohnen miteinander         haltens werden können.
in Einklang gebracht?                                  Ein großer Vorteil dieser lauten, zu­
      Was wäre, wenn wir Stadtentwicklung        gigen Orte: Die eigene Lautstärke in­
als offenen Prozess zulassen, ohne Master­       nerhalb des Dorfes stört niemanden
plan, ohne die bekannten Muster der lang­        und so wird das Motto „Die Stadt
wierigen Genehmigungsverfahren? Thema­           als offene Werkstatt. Für eine of­
tisiert wird in diesem Festival die Stadt der    fene Gesellschaft“ in der Tiny
Zukunft, bezahlbarer Wohnraum und Do It          Town Urania wörtlich genom­
Yourself als nächste Stufe der Bürgerbetei­      men. Stadtplanung wird ganz
ligung. Unsere Tiny Houses gruppieren sich       praktisch in Form von Bau­
um einen Platz, den wir Bürgerplattform          workshops betrieben. Ebenso
nennen. Hier können sich Studierende,            finden Diskussionen mit Ex­
Künstler*innen, junge Wissenschaftler*in­        pert*innen und Publikum zu
nen und junge Familien treffen. Ziel ist es,     stadtplanerischen Themen
Begegnungen für die Bürger*innen, und            statt.
Nachbarn der Urania Berlin zu s­ chaffen.“             Auch wenn Van Bo
      Warum nun gerade der Vorplatz der          Le-Mentzel als Kurator
Urania Berlin? Was ist so interessant an         des Projekts auftritt, stellt
diesem Ort – oder besser „Unort“, wie Le-        er keinerlei Besitzanspruch auf seine
Mentzel ihn selbst nennt? An einer stark         Ideen. Er hinterfragt die Regulierung durch
befahrenen Kreuzung mit Lärm und Wind            Patente kritisch und möchte stattdessen
ist es eine Herausforderung, Orte der Be­        Wissen transparent machen – und so si­
gegnung zu schaffen. Aber Le-Mentzel reizt       cherstellen, dass es sich besser verbreiten
genau diese Herausforderung: „Es ist relativ     lässt. Damit begreift er sich selbst weniger
einfach, an einem netten Ort etwas Nettes        als Schöpfer, sondern eher als Ermöglicher
zu machen, mich interessiert die Frage, wie      für neue Lösungswege.
                  sich Menschen an diesen              Apropos neue Lösungswege: Für die
                   scheinbar übrig geblie­       Zukunft Berlins hat er auch schon eine
                     benen Restflächen der       Idee beziehungsweise einen Wunsch: „Ich
                      Stadt wohlfühlen kön­      wünsche mir von der Stadt mehr Raum für
                       nen und zusammen­         Experimente und die Offenheit, Probleme
                        kommen.“                 auch unter Einbeziehung der Betroffenen
                         		       D ie Ti ny     lösen zu lassen. Kurz gesagt, mehr Mut und
                            Town Urania sieht    weniger Überregulation.“
                             er als Blaupau­
                              se für ähnliche                                                   C Van Bo Le-Mentzel, geboren 1977 in Laos, aufgewachsen in Berlin, erlangte nach seinem Architekturstudium ­Bekanntheit
                               „Mittelinseln“                                                   durch seine Entwürfe der sogenannten „Hartz-IV-Möbel“ und dem Projekt der 100-Euro-Wohnung. Als Künstler und
                                                                                                ­Architekt arbeitet er an stadtplanerischen Zukunftskonzepten unter Einbezug der Zivilgesellschaft. Van Bo Le-Mentzel
                                 der Stadt an.                                                   lebt in Berlin.

                                                                                          34    35
Christine Edmaier
                            Essay

  Die Zukunft unserer Städte ist nicht mehr nur in der
 ­Fachwelt und in den Feuilletons ein Dauerthema.
  Die europäische Stadt, ihre architektonische und städte­
   bauliche Qualität, ihre Gefährdung durch Verkehr,
  Internet­shopping und Monostrukturen und ihre dennoch
  ungebrochene Attraktivität wird zunehmend in der ­
 Mitte der Stadtgesellschaft reflektiert und debattiert.
 Und die Bürgerinnen und Bürger, die am meisten davon
   betroffen sind, artikulieren immer selbstbewusster
  ihre Bedürfnisse.
        Verantwortliche Bürgermeister, Politiker und Beamte
  treffen sich auf internationalen Kongressen und beraten,
 wie die „Wachstumsschmerzen“ der wachsenden
­Agglomerationen durch moderne Stadttechnik, intelli­
   gente Vernetzung, ressourcenschonende Bauweise und
  ­finanzielle Hilfen für einen bezahlbaren Wohnungsbau
  in den Griff zu bekommen sind. Fachleuten aus Stadt-
  und Verkehrsplanung, Architektur und Landschafts­
  architektur bemühen sich, trotz knapper zeitlicher und
  finanzieller Ressourcen gut funktionierende, zukunfts­
  fähige und möglichst auch schöne Gebäude, Quartiere,
  Straßen und Parks zu gestalten.
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