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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 133–154 Anke Jaspers Digitalisierung als epistemische Praxis. Vom Nutzen und Nachteil der digitalen Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken I. Einleitung. Kataloge privater Bibliotheken haben eine lange Tradition, die nachweislich bis ins späte Mittelalter zurückreicht. Neben der Inventarisierung des Bestands dienten Kataloge durch ihre Ordnung nach wissenschaftlichen oder poetologischen Kategorien der Selbstinszenierung, als Ausweis von Besitztum, Gelehrtheit und literarischer Kenner- schaft oder als Anreiz für den intellektuellen Austausch.1 Die meisten Privatbibliotheken wurden nicht erhalten, sondern – wie auch neuzeitliche Gelehrtenbibliotheken – bald nach dem Tod ihrer Besitzer:innen versteigert.2 Die zu diesem Zweck erstellten Aukti- onskataloge stellen bis heute wertvolle Quellen der Autor:innenbibliotheksforschung dar,3 sind als solche aber bei der Rekonstruktion von Büchersammlungen aufgrund ihrer un- vollständigen bibliographischen Daten durchaus problematisch, da sich anhand der Anga- ben bspw. nicht erschließen lässt, welche Auflage der Exemplare gemeint ist.4 Wenn Bibliotheken wie etwa diejenigen Goethes und Schillers gesammelt erhalten blieben, wurden – meist mit großer zeitlicher Verzögerung – Verzeichnisse für den archi- varischen, bibliothekarischen und wissenschaftlichen Gebrauch abgefasst und veröffent- licht.5 Teilweise dienten diese als Prototypen für Werkausgaben, die ein Verzeichnis der Sammlung als „Werk zweiter Ordnung“ samt ihren Lese- und Gebrauchsspuren aufneh- men.6 Solch ein Projekt hat im deutschsprachigen Raum vermutlich zum ersten Mal die Grillparzer-Werkausgabe von August Sauer und Reinhold Backmann unternommen, der 1 Vgl. Fürbeth (2020). 2 Vgl. Loh (1995–2017). 3 Ich fasse Bibliotheken literarischer und wissenschaftlicher Autor:innen unter einem Begriff zusammen, da sie sich medial und materiell im Gegensatz zu Künstler:innen- und Komponist:innenbibliotheken wenig unter- scheiden. Die gendergerechte Sprache soll hier ein Augenmerk darauf legen, dass kaum Bibliotheken von Frauen überliefert sind, und dazu dienen, in Zukunft größere archivarische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Bücher schreibender, forschender, gestaltender, komponierender Frauen zu lenken. Zur Erforschung von Autorinnenbibliotheken vgl. Gleixner (2018). 4 Vgl. Rohmann (2015, 47). Bestandsschichten und Provenienzen sind in einem Auktionskatalog nicht abgebildet. Wie jeder Katalog einer Privatbibliothek enthält er außerdem nicht alle Bücher, die sich einmal in der verzeichneten Sammlung befunden haben. Er operiert zudem mit einem Bibliotheksbegriff, der sich allein auf Druckschriften (Buch, Broschüre, Zeitschrift) bezieht und allfällig vorhandene Flachware oder Figürliches in der Bibliothek nicht einschließt. Um zu einem Verständnis dessen zu kommen, was eine Autor:innenbibliothek eigentlich ist und wie sie funktioniert, wäre dieser holistische Blick auf die Medialität von Büchersammlungen – samt ihrer spatialen und temporalen Dimensionen – aber von Relevanz. „[E]phemera should be treated as an integral part of the private library […][,] allowing scholars to make important connections between writers’ books and the larger cultural and social environment in which they lived and wrote“ (Nicholson [2014, 43 f.]). 5 Oftmals wurde nicht nur die reale, sondern – sofern rekonstruierbar – auch die virtuelle Bibliothek verzeichnet (zur Erklärung der Begriffe vgl. Anm. 11). Vgl. exemplarisch Ruppert (1958). 6 Werle (2018, 30). © 2022 Anke Jaspers - http://doi.org/10.3726/92171_133 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
134 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken entsprechende Band erschien 1930.7 Das verstärkte Interesse an Autor:innenbibliotheken manifestiert sich heute zunehmend im digitalen Medium. Mit den technischen Möglichkei- ten der Datenerfassung und -verarbeitung von Excel, OPAC, XML, Citavi & Co. entstehen digitale Bibliothekskataloge und Online-Plattformen, die sich seit einigen Jahren nicht mehr nur der Verzeichnung von Büchern8 und ihren Gebrauchsspuren9 widmen. Als Pio- nierprojekt kann Melville’s Marginalia online gelten, „an electronic catalog of books owned and borrowed by American author Herman Melville, and a digital edition of marked and annotated books that survive from his library“.10 Die Website zeigt seit ihrem Launch im Jahr 2009 Faksimiles von Exemplaren der realen und der virtuellen Bibliothek11 Melvilles und wird seit 2021 um Forschungsliteratur und eine Visualisierung der Daten erweitert. Sie entspricht damit (bald) nicht mehr einem Online-Katalog, der einen organisierenden, dokumentierenden und (re-)präsentierenden Zugriff inszeniert und ermöglicht, sondern entwickelt sich zu einer Plattform zur Sammlung, Strukturierung und Veröffentlichung nachgelassener Materialien und wissenschaftlicher Inhalte zu Leben und Werk des Autors. Wie sich das Spektrum der digitalen Erschließung von Autor:innenbibliotheken mitt- lerweile erweitert hat, mag ein Vergleich der beiden Online-Kataloge der Karl-Jaspers- Bibliothek und des Projekts Nietzsche Source veranschaulichen. Ersterer ist ein Auszug des regionalen Katalogs der wissenschaftlichen Bibliotheken in Oldenburg, ORBISplus, und bietet Zugriff auf die 12.000 erhaltenen Bände des Philosophen. Neben den bibliographi- schen Daten führt jeder Eintrag Lese- und Gebrauchsspuren des Exemplars auf. Faksimiles der Buchtitel und -seiten oder die digitalisierten Einlagen können online allerdings nicht angesehen werden.12 Nietzsche Source hingegen ist eine eigene Website, die sich als Open Scholar Community on the Web13 versteht und in ihrem editorischen Teil digitale Repro- duktionen des gesamten Nietzsche-Nachlasses mitsamt der Bibliothek sowie eine kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe enthält.14 Geplant ist u. a. auch die Aufnahme von 7 Vgl. Sauer, Backmann (1930, 98–212). 8 Autor:innenbibliotheken enthalten im Regelfall nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften, Typoskripte, eingelegte Briefe, Grafiken usw. Der Einfachheit halber spreche ich trotz dieser medialen und materiellen Vielfalt im Folgenden von ‚Büchern‘, ‚Bänden‘ und ‚Exemplaren‘. Zum medialen Wandel von digitalen Autor:innenbi- bliotheken und deren Archivierung vgl. Haber (2010). 9 Der Begriff ‚Gebrauchsspuren‘ umfasst neben Lesespuren auch diejenigen stiftlichen und nichtstiftlichen Spuren in einem Buch, die nicht auf eine Lektüre, sondern allein auf dessen Gebrauch schließen lassen (Widmung, Signatur, Besitzvermerk, Stempel, Buchschild etc.). 10 , zuletzt: 7.7.2021. 11 Daniel Ferrer unterscheidet zwischen der realen Bibliothek, die alle Bände umfasst, die ein:e Autor:in besessen hat, und der virtuellen Bibliothek, in der alle Bücher enthalten sind, die ein:e Autor:in nachweislich je gelesen oder besessen hat. Vgl. Ferrer (2010, 15). 12 Vgl. , zuletzt: 7.7.2021. 13 Open Scholarship umfasst eine Reihe von Phänomenen und Praktiken rund um die Nutzung digitaler und vernetzter Technologien durch Wissenschaftler:innen, die von bestimmten Grundannahmen zur Offenheit und Demokratisierung der Wissenserstellung und -verbreitung untermauert werden. Den Mitgliedern geht es um eine wissenschaftliche Praxis nach den Prinzipien der vernetzten Partizipation sowohl auf personeller als auch auf technischer Ebene, die meist im digitalen Raum ermöglicht wird und international ausgerichtet ist. Die so entstehenden Ergebnisse eines in der Regel auf lange Dauer angelegten Projekts werden zu Lehr- und Forschungszwecken laufend open access und online veröffentlicht. 14 , zuletzt: 7.7.2021. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 135 Sekundärliteratur, so dass es zukünftig möglich sein wird, Nietzsches Denk- und Arbeits- prozess von der Lesespur über Notizen und Manuskripte bis ins Werk zu verfolgen15 und in Forschungsarbeiten nachzuvollziehen.16 Die Vielfalt der Projekte und Forschungsergebnisse erfordert es, innezuhalten und die oben skizzierte Entwicklung und den Status Quo der (digitalen) Erschließung von Autor:in- nenbibliotheken zu ermitteln. Angesichts einer internationalen Drittmittelförderung, die Projekte mit digitalen Komponenten bevorzugt, scheint der Vergleich von Buchkatalogen und digitalen Datenbanken bzw. Online-Plattformen fast zu spät zu kommen, ist doch die rein analoge Erschließung von Autor:innenbibliotheken nur noch eine Option für kleine, selbstfinanzierte Projekte. Was der Erschließung und Erforschung von Autor:in- nenbibliotheken bislang allerdings fehlt, ist eine Kritik der entstandenen und entstehen- den digitalen Kataloge, Datenbanken und Plattformen, deren Qualität in Ermangelung verbindlicher Standards stark variiert. Ziel dieser Kritik sollte es sein, aus der Erfahrung im Umgang mit den Büchersammlungen praktische Hinweise und Empfehlungen zu formulieren17 und die bereits vorhandenen Regeln zu ihrer Erschließung zu ergänzen,18 damit zukünftige Projekte daran anknüpfen können. Eine solche Zusammenschau würde außerdem den Grundstein für eine zentrale Datenbank für überlieferte wie rekonstruierte Privatbibliotheken legen.19 Ein einzelner Beitrag kann dies nicht leisten.20 Ich werde mich darauf beschränken, zum einen traditionelle Buchkataloge mit Online-Plattformen zu vergleichen (II.) und zum anderen den epistemischen Mehrwert der Online-Formate für Forschung und Archiv am Beispiel der Thomas Mann Nachlassbibliothek online darzustellen (III.). Im Fokus stehen die Möglichkeiten der Konservierung und Verfügbarmachung des (teils verstreuten) Materials, die Dynamisierung der Bibliotheksordnungen, die Durchsuchbarmachung von bibliographi- schen Metadaten und Gebrauchsspuren, die Auflösung der Hegemonie von Konzepten wie ‚Autor‘ und ‚Werk‘, die konventionell den Umgang mit Autor:innenbibliotheken bestimmen, 15 Wolfgang Lukas hat klargestellt, dass es sich hierbei nicht um den unmittelbaren Nachvollzug „einer Text- genese als ein[es] ununterbrochene[n] Kontinuum[s]“ handeln kann. Streng genommen geht es nicht um die Rekonstruktion der kreativen Prozesse, die als solche nicht erfahrbar sind, sondern um die Rekonstruktion der „fixierten Resultate dieser Handlung[en]“ (Lukas [2019, 28], Herv. i. O.). 16 Vgl. D’Iorio, Sommer (2019). Welche Herausforderungen sich mit dieser bislang einzigartigen und zugleich auf völlig neue Art kanonisierenden Erschließung und Repräsentation von Nachlass und Werk eines Autors sowie der dazu entstandenen Forschung ergeben, lässt sich bislang nur erahnen. 17 Vgl. , zuletzt: 7.7.2021, Nicholson (2014). 18 Vgl. , zuletzt: 7.7.2021, , zuletzt: 7.7.2021, , zuletzt: 7.7.2021. 19 Vgl. mit ähnlichen Forderungen Rohmann (2015, 20, 51). Dalia Bukauskaite hat bereits einen ersten Vergleich von Buchkatalogen vorgenommen, der zeigt, wie unterschiedlich die jeweiligen Ansprüche und damit auch Art und Umfang der Edition und Kommentierung sind. Vgl. Bukauskaite (2006, XXXII–XXXVI). 20 Weitere Überlegungen bieten Nicholson (2014) und Rohmann (2015), die Möglichkeiten und Notwendig- keiten der Erschließung und Rekonstruktion von Nachlassbibliotheken aufgezeigt haben. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
136 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken sowie – damit einhergehend – die Sichtbarmachung des intertextuellen21 und interperso- nellen Netzwerks der Bibliothek. Mit den letzten beiden Punkten ist bereits angesprochen, worum es mir geht: Digitalisierung nicht allein als „Verdatung“, also als Umwandlung von Text und Bild in Zahlenwerte bzw. als Voraussetzung für die Speicherung der generierten Bilddateien zu verstehen, sondern als wissenschaftliche Methode.22 Digitalisierung ist in diesem Sinne ein Forschungszugriff auf die Bibliothek als Phänomen. Denn die Entmateri- alisierung des Gegenstands, die uns dessen materielle Gemachtheit und soziale Bedingtheit erst bewusst macht,23 bewirkt Erkenntnisprozesse, die ohne diesen Medienwandel vielleicht nicht möglich gewesen wären. II. Vom Buchkatalog zur Online-Plattform. Faksimiles. Die Katalogisierung von Autor:innenbibliotheken erfasst deren Bestände und liefert meist exemplar- oder seitenspezifisch Informationen über Lese- und Gebrauchs spuren. Lesespuren in Autor:innenbibliotheken dienen der literaturwissenschaftlichen Forschung oft als textgenetische Zeugen und zur Vereindeutigung hypertextueller Bezie- hungen, denn Autor:innen sind auch Leser:innen, und ihre Lektüre beeinflusst ihr Den- ken und Schreiben auf vielfältige Weise. Gedruckte Kataloge in Buchform verzeichnen teils nur das Vorhandensein von Lesespuren und kategorisieren sie mitunter nach Form und Funktion. In manchen Fällen sind die Marginalien, also schriftliche Stiftspuren24 im Textblock, oder die Widmungen transkribiert. Meist fehlt in der Erfassung aus prag- matischen Gründen der Text, auf den sich die Spur bezieht.25 Ein solcher Buchkatalog ermöglicht es, sich einen Überblick über das vorhandene Material zu verschaffen und Hy- pothesen über mögliche Lektüren und Hypotexte in einem ersten Schritt zu überprüfen, bevor die philologische Arbeit am konkreten Buchexemplar fortgesetzt wird. Viele der digitalen Kataloge enthalten heute Faksimiles der Bücher oder zumindest derjenigen Buchseiten, die Gebrauchsspuren aufweisen. Hierin liegt ein großer Vorteil der 21 Dort, wo von konkreten Textrelationen die Rede ist, operiere ich mit Genettes Begriff der Hypertextualität. Vgl. Genette (2015, 14 f.). Den weiteren Intertextualitätsbegriff Kristeva’scher Prägung verwende ich, um auch Beziehungen zwischen Texten fassen zu können, bei denen Genettes Typologie nicht greift. Genette selbst weist darauf hin, dass gerade in Bezug auf den Begriff der Hypertextualität „noch einiges im argen“ liege (Genette [2015, 14]). Das Desiderat einer (am Material entwickelten) Terminologie für Textrelationen zeigt sich z. B. bei der Bezeichnung von Beziehungen innerhalb intertextueller Netze in der Bibliothek, die sich aus den Bezügen zwischen einer bestimmten Lesespur (‚Nietzsche‘, s. u.) und ihren jeweiligen Referenztexten (in der Bibliothek und ggf. im Werk) ergeben. 22 Krämer (2018, 6). 23 Vgl. Wieland (2015, 148). 24 Bei ‚Stiftspuren‘ handelt es sich hier um Markierungen mittels Stift im Buch. Ihre Stiftlichkeit bezieht sich auf das Medium ihrer Produktion bzw. daraus folgend ihre Materialität. ‚Schriftliche Stiftspuren‘ sind demgemäß stiftliche Markierungen im Zeichensystem der Schrift. Zu den Begriffen vgl. Bamert (2020b, 98). 25 Die Verzeichnisse der Bibliotheken Voltaires und Grillparzers sowie der philosophischen Bibliothek Celans stellen drei der wenigen Ausnahmen dar. Hier haben die Herausgeber:innen in vielen Fällen auch den Referenztext der Annotationen mitabgedruckt. Ebenso hilfreich wie problematisch ist dabei die Auswahl des Textes, die bereits eine erste Kommentierung der Annotation darstellt. Wie Annotation und Text tatsächlich zusammenhängen, lässt sich aber nicht aus der Erschließung, sondern allein aus der Interpretation des Einzelfalls herleiten. Vgl. Albina, Voronova, Manévitch (1979, 49). Siehe auch Grillparzer (1930), Richter, Alac, Badiou (2004). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 137 digitalen Erschließung. Zum einen konserviert und schützt die Digitalisierung die Bücher. Autor:innenbibliotheken sind als Sammlungen ein wertvolles Kulturgut, zudem enthalten sie teilweise alte, rare und anderweitig unikale Exemplare. Ihr Zustand kann abgebildet und ihr Material durch die verringerte Nutzung länger erhalten werden. Zum anderen erleichtern Faksimiles den Forschungszugriff auf das Material. Die Spur kann unmittelbar am heimischen Bildschirm in ihrem textlichen Zusammenhang wahrgenommen und ana- lysiert werden. Mithin kann das gesamte Exemplar, von dem im Zweifelsfall nicht in jeder Forschungsbibliothek eine Doublette vorhanden ist, gelesen werden. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich den mühsamen Arbeitsschritt, nur die markierten Buchseiten zu filtern, zu sparen und alle Bücher, Zeitschriften, Einlagen und anderes Material der Bibliothek integral zu digitalisieren, zumal das Fehlen von Lesespuren ebenso aufschlussreich sein kann wie eine Markierung.26 Virtuelle Rekonstruktion. Der Wechsel ins Digitale erlaubt im Sinne der Verfügbarkeit auch, verstreute Bestände virtuell zusammenzuführen und die Erfassung der realen Bib- liothek um Einträge zur virtuellen Bibliothek zu erweitern. Die neuere Bibliotheks- und Leseforschung hat bewirkt, dass sich der positivistische Zugriff auf das vorhandene Ma- terial in Autor:innenbibliotheken um ein Verständnis von der Lesebiographie ihrer Besit- zer:innen erweitert hat.27 Die Rekonstruktion von Lektüren, also der virtuellen Bibliothek, ist allerdings sehr aufwendig, weil sie ein systematisches Suchen in Lebenszeugnissen wie Briefen, Tagebüchern, Notizen, Fotos etc. oder sogar den publizierten Werken erfordert. Da sie auf einer Interpretation dieser Quellen beruht, schlägt Dirk Van Hulle vor, die ent- sprechenden Forschungsergebnisse mit einer Unsicherheitsskala zu verknüpfen.28 Ebenso zeit- und kostenintensiv ist das Auffinden aller noch existierenden, aber transnational ver- streuten Exemplare, die ehemals Teil einer Bibliothek waren. Die Rekonstruktionsarbeiten bei Bibliotheken, deren Geschichte von Krieg, Exil oder Aufteilung auf mehrere Erben geprägt ist, können sich über Jahrzehnte erstrecken.29 Nachhaltig verwaltete digitale Kata- loge und Plattformen bieten nun im Gegensatz zu gedruckten Katalogen die Möglichkeit, Katalogisate über große Zeiträume laufend zu ergänzen und diese zudem einer internatio- nalen Forschungsgemeinschaft jederzeit zur Verfügung zu stellen. Dabei sollte es nicht um Vollständigkeit der Rekonstruktion der realen und der virtuellen Bibliothek gehen, die weder im Buch- noch im digitalen Medium erreicht werden kann.30 Ganz im Gegenteil: Hinweise darauf, dass das Vorhaben der Editor:innen Utopie bleiben muss, auf mögliche ‚blinde Flecken‘, auf Lücken des Bestands sowie der Erschließung und auf eventuell andauernde Rekonstruktionsarbeiten erhöhen bei den Nutzer:innen das Be- wusstsein für die Intertextualität literarischer Werke, deren Erforschung der Blick in die 26 Vgl. Schönbächler (2020a, 185–188). 27 Vgl. aktuell Speer, Reuke (2020, Teil X. Virtuelle Bibliotheken, 721–771), Anschütz u. a. (2021). 28 Vgl. Van Hulle (2016a, 198–202). 29 Vgl. Höppner u. a. (2021). 30 Am Beispiel der James Joyce Digital Library hat Dirk Van Hulle auf die Gefahr aufmerksam gemacht, dass bei einer digitalen Edition der Eindruck entstehen könne, „(1) what is presented is all there is and that (2) all that is presented is of equal calibre“ (Van Hulle [2016b, 237]). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
138 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken Bibliotheksbücher nicht ersetzt. Die (reale und virtuelle) Bibliothek von Autor:innen zu rekonstruieren soll nicht der Versuch sein, die Interpretationsmöglichkeiten eines Werks auf eine empirische Basis zu reduzieren. Vielmehr ermöglicht es die Arbeit mit Autor:in- nenbibliotheken, Deutungen eines Textes empirisch zu fundieren, zu modifizieren, zu ergänzen – oder überhaupt erst zu inspirieren. Hinzu kommt, dass die Provenienzforschung an Autor:innenbibliotheken Bestands- schichten freilegt und für die „Gemachtwordenheit“31 des historisch gewachsenen Bestands sensibilisiert.32 Sie befördert also die quellenkritische Verwendung der Bibliothek und des jeweiligen Exemplars, was z. B. dessen Erwerbsdatum oder den Zeitpunkt der Lektüre anbelangt. Insofern ist Van Hulle in Bezug sowohl auf die Bibliotheks- als auch auf die Exemplarebene zuzustimmen, dass es sich bei der Digitalisierung von Autor:innenbiblio- theken eigentlich um eine Form der Erforschung und Darstellung von Bibliotheksgeschichte handelt, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von historischer Bibliotheksforschung und genetischer Kritik ermöglicht.33 Materialität der Bibliothek. Was bei der Digitalisierung hingegen verloren geht, ist das sinnliche Erlebnis einer Bibliothek: der visuelle Eindruck der Buchrücken, Gefühl und Geruch der Einbände und Buchseiten. Dementsprechend versucht das grafische Design mancher digitaler Kataloge mit aneinandergereihten Buchrücken, die sich per Mausklick öffnen lassen, zumindest den visuellen Eindruck einer Bibliothek zu simulieren.34 Auch die kulturelle Praktik des Schweifens im Bibliotheksraum und Stöberns am Regal, das scheinbar zufällige Herausziehen einzelner Exemplare und das Blättern im Buch, die un- systematische, auf dem visuell-haptischen Eindruck basierende Erkenntnisse generieren können, stellen sich im Digitalen anders dar.35 Hier sind die Such- und Findewege der selbst bewegungslosen Benutzer:innen eindimensional auf Tastenklicks beschränkt. Auch wenn sich der Mehrwert der althergebrachten Praktiken für den Forschungspro- zess wohl kaum belegen lässt, so gibt es doch handfeste Gründe dafür, dass die Benutzung eines (digitalen) Katalogs den Gang ans Bücherregal einer Autor:innenbibliothek ergänzen und vorbereiten, aber nicht in jedem Fall ersetzen kann. Die meisten Kataloge enthalten auf Exemplarebene keine Informationen zu Format36 und Buchausstattung, die jedoch 31 Damit ist die mit der Professionalisierung des Nachlasswesens seit dem 19. Jahrhundert einhergehende „schrift- stellerische[] Vorausschau, Reflexion und Planung, ja mitunter sogar […] künstlerische[] Bearbeitung“ des per- sönlichen Archivs von Autor:innen gemeint, die davon ausgehen können, dass ihr Nachlass einmal erschlossen und erforscht werden wird (Sina, Spoerhase [2017, 15]). 32 Vgl. Jaspers (2020). 33 Vgl. Van Hulle (2016a, 204). Dementsprechend enthalten die meisten Buch- und digitalen Kataloge ausführ- liche Beschreibungen des Bestands und seiner Geschichte. Vorbildlich sind die Provenienzforschungen zum Verzeichnis des Bibliotheksbestands von Karl Marx und Friedrich Engels. Vgl. Harstick, Sperl, Strauss (1999, 7–84). 34 Vgl. , zuletzt: 7.7.2021. 35 Der digitale Katalog der Karl-Jaspers-Bibliothek ermöglicht ein Stöbern im virtuellen Regal. Vgl. Wätjen (2014, 65, 67). 36 Eine Ausnahme ist bspw. das Verzeichnis der Bobrowski-Bibliothek. Vgl. Bukauskaite (2006). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 139 potentiell relevant für die Analyse der Position und Form von Gebrauchsspuren sowie für die Buchgeschichte sein können. Diese ließen sich zwar integrieren, verlangen aber auf- wendige Recherchen sowie die Kooperation mit Buchgestalter:innen und Drucker:innen. Bei den meisten Projekten rechtfertigt deshalb der antizipierte Erkenntniswert nicht den dafür notwendigen finanziellen, personellen, zeitlichen und technischen Aufwand. Im Bibliotheksraum hingegen liefern ein Blick und das Anfassen des Buchs bereits Hinweise auf die mögliche Bedeutung von dessen Format und Material. Ein weiteres Problem ist schon bei physischen Bibliotheken die Interpretation von Farbe und Schreibwerkzeug einer Stiftspur, die Aufschluss über Urheberschaft und Zeitpunkt einer Annotation geben können. Lassen sich Bleistiftspuren in Farbe und Stiftart noch relativ eindeutig identifizieren, so fällt dies bei Tinte wesentlich schwerer. Ein Grün kann sich im Laufe der Zeit in Braun verfärben, und ob es sich dann um die Spur eines Tintenfüllers oder eines anderen Stifts handelt, ist selten rekonstruierbar. Der Scan einer Stiftspur verfälscht deren visuellen Eindruck auch bei hochaufgelösten TIFF-Dateien nur noch mehr. Die Kategorien ‚Farbe‘ und ‚Schreibwerkzeug‘ müssten also nicht nur wie bei Thomas Mann Nachlassbibliothek online als Farbspektrum dargestellt,37 sondern ebenso wie die Spuren der virtuellen Bibliothek mit einem Unsicherheitsfaktor versehen werden. Dynamisierung. Die wichtigsten Vorteile der Digitalisierung einer Autor:innenbibliothek sind indes, dass sie erlaubt, deren Ordnungen zu dynamisieren und wie im Fall des di- gitalen Katalogs der Nachlassbibliothek Thomas Manns sowohl die Gebrauchsspuren (dort mitsamt der transkribierten Stiftspuren)38 und den OCR-Volltext der annotierten Bücher als auch die bibliographischen Metadaten aller nicht annotierten Bücher durch- suchbar zu machen. Auch wenn Buchkataloge den Referenztext einer Annotation wie- dergeben können, enthalten sie aber nicht die Volltexte der Bibliothek. Dieser wird bei der Digitalisierung anhand von OCR-Texterkennung erstellt und mit den Digitalisaten verbunden. Hierbei wird derzeit durch markierte Textpassagen, fremdsprachige Wörter, Sonderzeichen und einen gemischten Fraktur- und Antiqua-Satz bestimmter Bücher noch eine hohe Fehlerquote produziert. Dennoch erweitert der systematische Zugriff auf den Volltext im Einzelfall das für die eigene Fragestellung relevante Korpus und beschleunigt den Forschungsprozess. Bibliotheken sind dynamische Gebilde: Sie wachsen, werden umsortiert, einzelne Bücher oder Konvolute werden aus ihnen zeitweise oder endgültig entfernt, sie zerstreuen sich, werden nach dem Tod ihrer ursprünglichen Besitzer:innen rekonstruiert oder sogar noch erweitert.39 Da sich die Bibliothek zumindest zu Lebzeiten der Autor:innen stän- dig verändert, ist es unmöglich, ihre Ordnung(en) in ihren räumlichen und zeitlichen 37 Vgl. , „Farbe der Stiftspur“, zuletzt: 7.7.2021. 38 Dazu gehören Marginalien, Korrekturen, Besitzvermerke und Adressnotizen. 39 Thomas Manns Nachlassbibliothek wurde nach dem Tod in Teilen rekonstruiert und im Sinne des Biblio- theksprofils erweitert, dazu gehören auch die ca. 100 Enteignungsexemplare, die Gegenstand der Enteignung durch das Deutsche Reich waren und größtenteils erst im 21. Jahrhundert restituiert wurden. Vgl. Jaspers (2020). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
140 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken Dimensionen überhaupt abzubilden. Auch was als Buchbestand in den Nachlass gelangt und dort erforschbar ist, bildet nicht die Ordnung der Bibliothek zum Zeitpunkt des Todes ab. Nachlassbibliotheken sind immer schon räumlich und systematisch (re-)konstruiert. Deren Erfassung in Buchkatalogen, die in den meisten Fällen dem gezielten Auffinden eines Exemplars dient, vermag nur eine Ordnung der Bibliothek wiederzugeben, meist alphabetisch nach Autor:innen, selten nach thematischen, geschweige denn werkgeneti- schen Zusammenhängen sortiert. Eine solche Systematik einer unter Autor:innennamen sortierten Bibliothek priorisiert im Zugriff wiederum die Funktionen ‚Autor‘ und ‚Werk‘. Die Herausgeber des Marx-Engels-Bibliothekskatalogs weisen auf die Problematik einer systematischen Anordnung hin. Gerade bei älteren Bibliotheken können nämlich viele Titel ausgehend von der Wissenschaftssystematik der Zeit nicht einem bestimmten Bereich zugeordnet werden, da sie mehrere Gebiete umfassen oder sich nicht sinnvoll eingliedern lassen. Folglich entscheiden sich viele Projekte aufgrund von Umfang, Vielfalt und Spezi- fika einer Bibliothek auch aus ökonomischen Gründen für eine alphabetische Ordnung.40 Ein digitaler Katalog hingegen ermöglicht es, mit verschiedenen Sortierungsoptionen mehrere Ordnungen abzubilden und somit den dynamischen Charakter einer Bibliothek zu imitieren.41 Der Katalog zu Manns Nachlassbibliothek z. B. enthält neben den Faksi- miles der annotierten Exemplare auch die bibliographischen Metadaten aller nicht-anno- tierten Exemplare bis zum Todesjahr Manns 1955. Bereits auf der Startseite lässt sich die Gesamtmenge auf die Exemplare mit Stiftspuren, auf Enteignungsexemplare oder auf alle derzeit aus urheberrechtlichen Gründen frei zugänglichen Exemplare reduzieren. Auf eine inhaltliche Sortierungsmöglichkeit wurde verzichtet. Wenn – wie häufig der Fall –Kataloge aus verschiedenen Phasen der Geschichte einer Bibliothek erhalten sind, können die darin aufgeführten Teilmengen der gesamten Nachlassbibliothek digital dargestellt werden, um deren Entwicklung schnittstellenhaft nachzuvollziehen. Im Fall von Thomas Mann ist zwar nicht der von seiner Archivarin Ida Herz im Sommer 1925 erstellte Katalog der Bibliothek erhalten, aber immerhin die Skizze einer Bibliothekswand aus dem Jahr 1905, als das frisch vermählte Ehepaar Katia und Thomas Mann in München seine erste gemeinsame Wohnung bezog (vgl. Abb. 1). 40 Vgl. Harstick, Sperl, Strauss (1999, 87). Das Verzeichnis enthält trotz der geschilderten Problematik neben dem Katalog auch eine systematische Gliederung des Bestands, in der Titel, die mehrere Wissenschaftsbereiche umfassen oder verschiedene Sachgebiete behandeln, in mehreren Rubriken angeführt sind. Vgl. Harstick, Sperl, Strauss (1999, 729–738). 41 Ähnlich operiert das Modell „Records in Context“, das vom Internationalen Archivrat zur digitalen Verzeichnung von Archivgut entwickelt wurde. Damit soll es zukünftig möglich sein, Materialien verschiedenen Kategorien zuzuordnen und komplexe Provenienzen abzubilden. Der Schritt von „monohierarchischer zu multidimensio naler Verzeichnung“ bewirkt auch hier die Repräsentation der Sammlungsbestände als offene Netzstruktur (Messner [2018, 92]). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 141 Abb. 1: Thomas Manns Bibliotheksplan von 1905. Wenig verwunderlich für diese Schaffensphase nehmen auf den Regalbrettern die russischen, englischen („Shakespeare, Dickens“) und skandinavischen Literaturen („Ibsen, Björnson, Hamsun, Bang“) neben der deutschen einen großen Raum ein, weitere Abteilungen sind für die italienische und französische Literatur vorgesehen, Maupassant hat ein eigenes Regal. Die Bibel steht neben „Philosophie u. Kritik“, ein großer Bereich ist für Lexika eingeplant. Die eigenen Werke und diejenigen des Bruders Heinrich Mann sind unter „Deutsche Romane“ eingeordnet, selbst einiger „Schund“ hat eine Rubrik erhalten. Heute lässt sich allerdings feststellen, dass zum einen die Bibliothek im Laufe der Zeit um weitere Sam- melgebiete reicher geworden ist und zum anderen sich aus vielen der damals verzeichneten Rubriken nur wenige bis gar keine Exemplare erhalten haben.42 Abgesehen von Manns Bibliotheksplan ließe sich auch die Signaturensystematik, die das Thomas-Mann-Archiv kurz nach Übernahme des Bestands entwickelte, digital abbilden.43 Darin stellt z. B. die ins erste Exil der Familie Mann in der Schweiz als Sammlung überführte Arbeitsbibliothek zum Joseph-Roman eine Teilmenge der Bibliothek dar, die bis auf wenige Bände erhalten geblieben ist (Signaturen TM 2400–2449). Von den Bänden, die in dieser Joseph-Bibliothek zusammengestellt waren, zeugt die so genannte ‚Ida-Herz-Liste‘, auf der die Archivarin die in fünf Kisten verpackten Exemplare verzeichnet hat.44 In einer künftigen Erweiterung 42 Vgl. Bamert (2020a, 246). 43 Vgl. Signierung der Bestände der Thomas Mann-Bibliothek, die nicht geordnet waren, 21.3.1957. In: TMA, TMA-II.3–2. Ich danke dem Thomas-Mann-Archiv für die Bereitstellung und die Genehmigung zur Publi- kation der Dokumente. 44 Vgl. Herz (1933). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
142 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken des digitalen Katalogs könnte diese Teilsammlung als solche ausgewiesen und um ihre virtuellen Bände erweitert werden. Auch die Durchsuchbarmachung von Lese- und Gebrauchsspuren in digitalen Katalogen bewirkt weitere Umsortierungen der Bibliothek. Über die Stichwortsuche bei Thomas Mann Nachlassbibliothek online lassen sich neben den Metadaten aller Exemplare und dem OCR-Volltext auch alle transkribierten Stiftspuren durchsuchen. Der Katalog stellt der systematischen Ordnung der Bibliothek zunächst eine Sortierung nach Relevanz zum Suchbegriff, nach alphabetischer Reihenfolge der Titel oder der Autor:in sowie nach Publi- kationsjahr gegenüber. Je nach Stichwort (z. B. ‚Nietzsche‘, ‚Joseph‘ oder ‚Palme‘) ermöglicht sie neben einer autor- und werkzentrierten Beschäftigung mit der Bibliothek auch eine Stichwortsuche, welche die Exemplare – und damit Werke und Autor:innen – reorganisiert und entsprechend den Suchaufträgen zu Ensembles zusammenstellt. Im digitalen Katalog zu Manns Nachlassbibliothek können die erfassten Lese- und Gebrauchsspuren (dort als ‚Phänomene‘ bezeichnet) und ihre Attribute ‚Ausprägung‘ (‚einfach‘, ‚mehrfach/fett‘, ‚ausradiert‘), ‚Farbe‘ und ‚Urheberschaft‘ sowie die bibliogra- phischen Metadaten ‚Autor/-in oder Herausgeber/-in‘ und ‚Publikationsjahr‘ in Dekaden außerdem über eine Facettensuche ausgewählt und kombiniert werden, so dass es z. B. möglich ist, sich Fragezeichen im Kontext der markierten Buchseite und in Exemplaren aus den Jahren 1921–1930 anzeigen zu lassen und verschiedene Annotationsformen qualitativ oder quantitativ zu untersuchen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Die Trefferliste der Thomas Mann Nachlassbibliothek online. Ein Klick auf die Miniaturansicht eines Suchtreffers führt auf Thomas Mann Nachlassbibliothek online dann in die Detailansicht des jeweiligen Exemplars. Ganz links im Bildschirmfenster sind alle Buchseiten mit erfassten Phänomenen als Miniaturen vorausgewählt. Die Bildmitte zeigt die gescannte Buchseite, gegebenenfalls mit farbig hervorgehobenen Suchtreffern. Rechts Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 143 im Fenster werden die Detailinformationen der erfassten Phänomene angezeigt. Dort lassen sich auch die Transkriptionen der Stiftspuren nachvollziehen (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Die Detailansicht eines Exemplars mit den gescannten Buchseiten (links) und den erfassten Phänomenen (rechts). Das Projekt Goethe Digital führt zudem vor, wie Bibliothekskataloge mittels interaktiver Datenvisualisierung ergänzt werden können – dort am Beispiel von Goethes Buchausleihen, der zeitlichen und räumlichen Dimension von Buchgeschenken an Goethe sowie der Privat- bibliothek im Netzwerk der Sammlungen und Orte, die für ihre Erforschung von Relevanz sind.45 Im Anschluss an die zeitliche und räumliche Verortung von Buchgeschenken ist es zudem bspw. möglich, das soziale Netzwerk, das sich über Widmungen in der Bibliothek abzeichnet, darzustellen. Die digitale Netzwerkanalyse bietet hierfür zahlreiche Modelle, anhand derer sich Beziehungen zwischen Orten, Personen und Materialien abbilden lassen. Mitsamt den weiteren Angeboten auf Goethe Digital (Informationen zum Projekt, Beschrei- bungen von Funden auf Twitter, Hinweise auf Publikationen und Veranstaltungen) lässt sich eine solche Präsentation der Bibliothek Goethes und ihrer (Erschließungs-)Kontexte – zumal eingebettet in den Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel – kaum noch als Katalog, sondern angemessener als Online-Plattform bezeichnen. Die individuelle Handhabung eines solchen dynamischen Katalogs verdeutlicht den konstruktivistischen Charakter der Forschungsarbeit an Autor:innenbibliotheken. Umsor- tierungen im digitalen Katalog zeigen deutlich, dass hierbei ein konstruierendes Erkennt- nissubjekt einem konstruierten Erkenntnisobjekt gegenübersteht. Einfache Auflistungen der doppelten Bibliothek46 (real und virtuell) erübrigen sich aber trotz oder gerade aufgrund 45 Vgl. , zuletzt: 7.7.2021. 46 Vgl. Schönbächler (2020a, 40 ff.). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
144 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken der erwähnten digitalen Möglichkeiten nicht. Eine Überblicksdarstellung entspricht nicht nur der kulturpraktischen Tradition, sondern ermöglicht auch dort den rascheren Zugriff auf Informationen, wo die mediale Vielfalt und Dynamik eines digitalen Katalogs oder einer Plattform verwirren können. Erkenntnispotential. Das Thomas-Mann-Projekt hat in Anlehnung an archivarische und bibliothekarische Standards, aber angepasst an die materielle Spezifik der Nachlassbiblio- thek Manns, eigene Erschließungskategorien entwickelt, die sich vorrangig nach ihrer Ma- terialität, Form und Funktion, weniger nach der Position im Buch oder ihrer Urheberschaft unterscheiden.47 Ausgehend von der Erkenntnis, dass der standardmäßig verwendete, aber nicht für Autor:innenbibliotheken entwickelte Thesaurus der Provenienzbegriffe (T-PRO) der Materialität einer privaten Büchersammlung nicht angemessen ist,48 hat auch das Pro- jekt Fontanes Handbibliothek eine eigene Systematik entwickelt.49 Das unterschiedliche Vorgehen beider Projekte verhindert zwar derzeit eine Standardisierung in der Erschlie- ßung, die auch im Nachhinein nicht mehr anpassbar ist. Es verdeutlicht aber, inwiefern sich Digitalisierung auch als epistemische Praxis verstehen lässt: Erst in der Anwendung auf den konkreten Bestand und bei dessen Umwandlung vom mehrdimensionalen Buch zum egalisierenden Scan sowie vor dem Hintergrund der neueren Materialitäts- und Schreibpro- zessforschung ist deutlich geworden, dass die Verwaltung von Nachlassbibliotheken neue Sichtweisen und Praktiken erfordert.50 Gerade eine Verbindung dieser beiden Forschungs- perspektiven, die den Fokus einerseits von der Autor:in auf die Bibliothek und andererseits vom Werk auf dessen genetische Dimensionen verschieben, verspricht weitere theoretische und methodologische Erkenntnisse zum Umgang mit Autor:innenbibliotheken. Netzwerke. Der Zugriff auf die Bibliothek ist bei digitalen Katalogen wie Thomas Mann Nachlassbibliothek online oder Fontanes Handbibliothek also im Gegensatz zu einem Buchkatalog (oder gar der Bibliothek selbst) über die Gebrauchsspuren möglich. Der 47 Die Phänomene werden in nicht-stiftliche und stiftliche unterschieden, die wiederum schriftlich oder nicht-schriftlich verfasst sein können. Die schriftlichen Phänomene unterteilen sich ihrer Funktion entspre- chend in Marginalie, Korrektur, Besitzvermerk, Adressnotiz, Widmung und Institutioneller Vermerk. Alle weiteren Zeichen werden ihrer Form bzw. Funktion nach unterschieden: Unterstreichung, Anstreichung, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Umrahmung, Ankreuzung, Pfeil, Häkchen, Klammer und Weitere Stiftspur. Korrekturen und Weitere Stiftspuren können sowohl schriftliche als auch nicht-schriftliche Elemente enthalten. Zu den nicht-stiftlichen Phänomenen gehören Einlagen und ein Teil der Institutionellen Vermerke, bei allen anderen handelt es sich um Stiftspuren. Vgl. , zuletzt: 7.7.2021. 48 Vgl. Gindele (2020). 49 Vgl. , zuletzt: 7.7.2021. 50 Der T-Pro unterscheidet schriftliche Stiftspuren z. B. je nach Position im Buch in ‚Marginalie‘ (im Textblock) und ‚Notiz‘ (im Peritext), was sich semiotisch und im Digitalen auch medial nicht sinnvoll begründen lässt und zudem einer systematischen, digitalen Spurensuche zuwiderläuft. Allein eine funktionale und/oder semantische Einzelfallanalyse könnte über eine Unterscheidung Aufschluss geben, die aber den Benutzer:innen überlassen werden sollte. Außerdem enthält der T-PRO keine Bezeichnung für Korrekturen, obwohl diese von besonde- rem Interesse für die Schreibprozessforschung sind. Vgl. , zuletzt: 7.7.2021. Ebenso argumentiert Joseph Nicholson: „[A] simplistic, one-size-fits-all cataloging approach would clearly not do justice to the rich complexity of private libraries […]“ (Nicholson [2014, 47]). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 145 digitale Katalog bricht somit die Buchgrenze auf und macht die materiell evidente Inter- textualität der Bibliothek sichtbar.51 Das rhizomartige Geflecht von Stiftspuren, das die Bibliotheksexemplare durchkreuzt und verbindet, hebt jene Unterscheidung und Hierar- chisierung von Themen, Textsorten bzw. Autor:innen oder Werken auf, die die konventi- onelle Ordnung von Autor:innenbibliotheken prägen. So verschiebt sich erneut der Fokus von der Autorinstanz und dem Werk auf die Bibliothek sowie vom Quellenwert und von der Urheberschaft einer Annotation auf deren Zeichenform, Materialität und Funktion. Lese- und Gebrauchspuren geraten selbst als Forschungsgegenstand in den Blick, ohne von vornherein in den Dienst werkgenetischer Studien gestellt zu werden. Die Bibliothek ist somit nicht nur als Knotenpunkt eines materiellen Netzwerks von Büchern vorstellbar. In der Auflösung des Buch-Objekts als übergeordneter Einheit stellt der digitale Katalog dem Ordnungssystem der Print-Ausgabe multiperspektivische Darstellungsmöglichkei- ten gegenüber und erweitert dadurch die katalogisierende Erschließung von Autor:in- nenbibliotheken um die Repräsentation ihres genuinen Netzwerkcharakters. Neben den Buch-Biographien, die sich in der Bibliothek überkreuzen,52 macht der digitale Zugriff das Netzwerk der Lese- und Gebrauchsspuren als solches erst sichtbar und damit erforschbar. III. Im Netz der Bibliothek. Abschließend möchte ich anhand von drei Beispielen aus Thomas Mann Nachlassbibliothek online veranschaulichen, welchen Mehrwert der Katalog vor allem in Bezug auf die Rekonstruktion von Annotations- und intertextuellen Netzen generiert und wie die Digitalisierung unseren Blick auf die Autor:innenbibliothek verän- dert, indem der Katalog eine besondere Lektürepraxis verlangt. Die Beispiele betreffen zunächst eine Korpuserweiterung für intertextuelle Fragestellungen und Lektüreprakti- ken anhand der Marginalie ‚Nietzsche‘, dann ein in der Bibliothek sichtbares Konzept von Androgynität und schließlich produktions- und rezeptionslogische Lektüremodi im Netz- werk der Marginalie ‚Zbg.‘, die Thomas Mann verwendete, wenn er auf seinen Roman Der Zauberberg verweisen wollte. Möchte ich mich also mit Manns Lektüren der Werke Nietzsches beschäftigen bzw. seine Auseinandersetzung mit der Philosophie Nietzsches erforschen, habe ich – neben der textim- manenten Interpretation der Werke, Tagebücher und Briefe – im Archiv die Möglichkeit, Manuskripte, Notizen und andere Materialien danach zu durchsuchen oder die Lesespuren in den Werken Nietzsches in der Nachlassbibliothek nachzuvollziehen. Auch wenn das Verhältnis Manns zu Nietzsche in vielen Themenbereichen als gut erforscht gilt, vermag der Katalog der Nachlassbibliothek mit seinen erweiterten Erschließungskategorien und seinen spezifischen Darstellungsmöglichkeiten Manns Nietzsche-Rezeption neu zu perspektivieren. Denn suche ich konventionell über den Katalog der ETH-Bibliothek nach Titeln von oder über Nietzsche in der Nachlassbibliothek, bekomme ich nur 53 Treffer von Titeln, die Lesespuren enthalten könnten. Über den digitalen Katalog der Nachlassbibliothek erhalte ich allein mit dem Suchbegriff ‚Nietzsche‘ 814 Treffer in den Metadaten, den Volltexten und 51 Vgl. Schönbächler (2020b, 308). 52 Als Biographie eines Buchs lässt sich die „exemplarspezifische Mikrohistorie von Lektürepraktiken, Buchge- brauch und Überlieferung“ verstehen, an der sowohl das Buch als auch die mit ihm interagierenden Personen beteiligt sind (Gleixner u. a. [2017, 11]). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
146 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken den erfassten Phänomenen, darunter 30 in den transkribierten Marginalien. Genau diese 30 Treffer sind es, auf die ich ohne diesen Katalog nur per Zufall oder über Umwege gestoßen wäre, weil die Marginalien innerhalb von Büchern vorkommen, die bibliographisch nicht unbedingt ‚Nietzsche‘ zugeschrieben werden. Die Arbeit mit dem Katalog beschleunigt und systematisiert also die Recherche und erweitert darüber hinaus auf signifikante und gewinnbringende Weise das Korpus der Hypotexte respektive der Intertexte, die Manns Texte und Denkkategorien prägen. Die Vorstellung, die Thomas Mann von Nietzsches Philosophie und Person hat, findet er in Büchern von Schopenhauer, Wagner und Freud wieder und schreibt dort ‚Nietzsche‘ an den Rand. Zudem fügt er ‚Nietzsche‘ in die Sekundärliteratur zu seinem eigenen Werk ein, wenn sie Nietzsche nicht als Referenzautor für die Verbindung von Mythos und Psy- chologie in der Gestaltung des Doktor Faustus53 oder für die Wiederholung von Motiven und Themen im Gesamtwerk angibt (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Thomas Mann ergänzt „Nietzsche“ in Jonas Lesser: Thomas Mann in der Epoche seiner Vollendung. München 1952. Mann erkennt ‚Nietzsche‘ in Abhandlungen über Schillers oder Novalis’ Leben in der Idee der Produktivität von Krankheit und Leid.54 Auf das Phänomen der Doppelexistenz oder Wesensspaltung trifft Mann sowohl in Wagners Kundry-Figur als auch in der Wesensart Schlegels und bringt ‚Nietzsche‘ mit beiden in Verbindung.55 In den Lektüren Manns überblenden sich somit einerseits Primär- und Sekundärtexte und andererseits Studien über das Leben der Künstler:innen und über deren Werke. Das Netzwerk der Nietzsche-Marginalien verwischt die Grenzen zwischen einer thematischen Unterscheidung von Leben und Werk, zwischen faktualen Textsorten sowie zwischen Text und Paratext. Als weiteren Effekt zeigt es in Werken von Goethe (Einzelnheiten. Maximen und Reflexionen) und Heine (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland) die Diachronizität der Lektüren auf und reorganisiert die Chronologie der Werke. Anhand des Beispiels wird deutlich, wie Thomas Mann Autoren und Werke anachronisch – oder anders: sie in eine hypertextuelle Ordnung bringend – aus der Perspektive seiner eigenen Wahrnehmung Nietzsches liest (vgl. Abb. 5).56 53 Vgl. Carlsson (1949, 361), , Bild 34, Phänomen 5, zuletzt: 30.5.2021. 54 Vgl. Müller (1905, 161), , Bild 188, Phänomen 1, zuletzt 30.5.2021; Bluth (1934, 45), , Bild 50, Phänomen 2, zuletzt: 30.5.2021. 55 Vgl. Wagner (1907, 45), , Bild 50, Phänomen 2, zuletzt: 30.5.2021; Bettex (1935, 122), , Bild 136, Phänomen 2, zuletzt: 30.5.2021. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 147 Abb. 5: Die Nietzsche-Marginalie in Goethes Aphorismen Über Literatur und Leben. Zugleich erhält Manns Nietzsche-Rezeption zusätzliches Gewicht, da Mann auch seine anderweitigen Lektüren anhand des angelesenen Wissens, sozusagen durch die Brille Nietzsches, strukturiert. Handelt es sich bei der Lektüre von Lesespurenexemplaren um eine „Beobachtung zweiter Ordnung“,57 nämlich eine Lektüre einer Lektüre (oder sogar mehrerer), so lassen sich diese Lektüren entlang der Nietzsche-Marginalien und ihrer Re- ferenztexte als Lektüren intertextueller Netze (ähnlich einer Hypertext-Struktur mit Links) begreifen. Diese sind nach den Vorstellungen des Annotators miteinander verknüpft und bilden hyper- und intertextuelle Relationen ab. Ebenso wie sich die Lektüremodi in der Bibliothek somit komplex darstellen (nämlich als Beobachtung von Lektüren, die durch vorausgehende Lektüren strukturiert sind), so lassen sich anhand dieser intertextuellen Netze auch Fragen nach der Intertextualität des Werks differenzierter beantworten. Wie das Beispiel des Nietzsche-Netzwerks zeigt, verändern unterschiedliche Konzepte von Katalogen den Umgang mit der Autor:innenbibliothek grundlegend: In der physischen Bibliothek erfolgt der Zugriff – auch dank analogem Bibliothekskatalog – über Autorinstanz und Titel, das jeweilige Exemplar wird sequentiell oder zumindest partiell linear gelesen. Demgegenüber legt der digitale Katalog dank seiner systematischen Durchsuchbarkeit ein punktuelles Lesen der markierten Textpassagen der Suchtreffer nahe. Das sich in den individuellen Suchläufen zeigende Geflecht der annotierten Scans löst die annotierten Stellen aus dem Zusammenhang des Textes bzw. des Exemplars. Die annotierten Text- passagen verschiedener Autor:innen und Werke liegen zunächst gleichberechtigt in den Denkkategorien ihres Annotators und der Katalognutzerin nebeneinander, bevor sie durch interpretatorische Verfahren reorganisiert und gedeutet werden. Zu bedenken bleibt dabei, dass sowohl eine materielle Bibliothek als auch ein Katalog immer schon durch die Prozesse der Archivierung und Erschließung vorstrukturiert sind. So ließ sich im Thomas-Mann-Projekt die Marginalie ‚N.‘ als Abkürzung für ‚Nietzsche‘ 56 Vgl. Heine (1923, 320), , Bild 325, Phänomen 1, zuletzt: 30.5.2021. 57 Wieland (2015, 158). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
148 | Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken identifizieren. Als Information ist das für die Suchenden ein Mehrwert, der allerdings alter- native Dechiffrierungen des ‚N.‘ verstellt. Auch jeder Suchauftrag ist demgemäß von Vor- annahmen geprägt, die das Schreiben und Denken, das sich in den annotierten Exemplaren niedergeschlagen hat, in neue Sinnzusammenhänge bringen. Die Katalognutzerin betätigt sich bei der Recherche also nicht nur als Entdeckerin, sondern auch als Netzbildnerin. Solche Netzwerke, die sich nicht nur auf die Autorinstanz, sondern auf Themen, Konzepte etc. beziehen, lassen sich nun vielfach mit dem Katalog re- und neukonstruieren. Wenn auch zunächst positivistisch und materialbezogen, sind systematisch Lektüren nachvollziehbar, aus denen sich gedankliche Konzepte und des Weiteren auch Textmotive bei Mann zu- sammensetzen. Mehr noch als komplexe Netzwerke von Textpassagen bilden sich entlang der Lesespuren gedankliche Konzepte Manns ab, die sich nicht nur, aber auch aus den Bibliothekslektüren selbst speisen – und sich ggf. in Manns Werken wiederfinden lassen. Damit komme ich zum zweiten Beispiel: Ein Thema, das Mann immer wieder be- schäftigt hat, ist die geschlechtliche Ambivalenz des Menschen, vor allem des Mannes. Er gestaltet sie in der Figur der Imma Spoelmann in Königliche Hoheit, lässt sie Hans Castorps Bildungsweg im Zauberberg begleiten, macht sie zum Leitmotiv in seinen Joseph-Romanen und bezeichnet schließlich auch Felix Krull als „etwas Wunderbares dazwischen“.58 Das Bild vom Menschen als androgynem Wesen findet er über Dmitri Mereschkowski und Karl Kerényi vermittelt in der sumerischen und griechischen Mythologie,59 in Bezug auf Adam in Alfred Jeremias’ Bearbeitung des Alten Testaments,60 in den Sagen der Juden, wo es ihn an Platos androgyne Kugelmenschen mit einer weiblichen und einer männlichen Hälfte erinnert (vgl. Abb. 6), bei C. G. Jung verbunden mit Christus sowie in der Philosophie Franz von Baaders, wie er bei Ricarda Huch nachliest.61 Sogar mit der Zweigeschlechtigkeit der Dattelpalme setzt er sich auseinander (vgl. Abb. 7). Abb. 6: „Plato“ in den Sagen der Juden. 58 Mann (2012, Bd. 1, 129). 59 Vgl. Mereschkowskij (1924, 250), , Bild 255, Phänomen 3, zuletzt: 30.5.2021; Kerényi (1940, 26 f.), , Bild 54 u. 56, zuletzt: 30.5.2021. 60 Vgl. Jeremias (1916, 46), , Bild 67, Phänomen 1, zuletzt: 30.5.2021. 61 Vgl. Jung, Kerényi (1940, 115), , Bild 126, Phänomen 1, zuletzt: 30.5.2021; Huch (1899, 209), , Bild 222, Phänomen 1 u. 2, zuletzt: 30.5.2021. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Anke Jaspers: Die digitale Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken | 149 Abb. 7: Die Zweigeschlechtigkeit der Dattelpalme durch künstliche Befruchtung. Zieht man Zeitpunkte und Abfolgen der Lektüren in Betracht, so ist es aufschlussreich, dass Mann nach Abschluss der Joseph-Romane bei der Lektüre eines Abschnitts über den Hermaphrodit in C. G. Jungs und Karl Kerényis Abhandlung Das göttliche Kind nicht nur die alttestamentarische Geschichte von „Rahel u. Jaakob!“ wiedererkennt (vgl. Abb. 8). Abb. 8: Der androgyne Joseph. Rahel und Jakob im Vergleich mit Aphrodite und Hermes. Denn die Marginalie veranschaulicht, dass er hier vermutlich auch seine eigene, aus dieser Verbindung entstandene androgyne Figur des Joseph und sein eigenes literarisches Motiv der Intersexualität und des Genderwechsels wiederfindet. Die Lesespuren verweisen also Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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