Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung
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Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Alfred Stiglbauer1 Im Jahr 1994 legte die OECD die Jobs Study, eine Analyse der Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit in Europa, vor. Ihr zufolge seien ungeeignete Arbeitsmarktregeln und -gesetze ein wesentlicher Grund dafür. Deshalb wurde empfohlen, die Arbeitsmarktinsti- tutionen zu deregulieren und zu liberalisieren. Mittlerweile haben neue empirische Unter- suchungen den Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Arbeitslosigkeit erforscht. Diese Arbeiten haben die Empfehlungen der Jobs Study nur teilweise bestätigt. In einer Evaluation kommt die OECD nunmehr zu dem Schluss, dass unterschiedliche Kombinati- onen von Institutionen eine gute Arbeitsmarktperformance fördern können. Österreich zählt – mit den skandinavischen Ländern – zu einer Gruppe von Ländern mit ausge- prägten Arbeitsmarktinstitutionen und geringer Arbeitslosigkeit. 1 Einleitung Arbeitsmarktpolitik haben eine ähn- Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit liche Stoßrichtung (Aiginger, 2006). in vielen europäischen Staaten ist Es ist eine gängige Meinung, dass immer noch eines der dringendsten rigide AMI die Ursache der hohen Probleme der Wirtschaftspolitik. Arbeitslosigkeit in manchen europä- Eine Reihe von Ökonomen und inter- ischen Ländern sind (Siebert, 1997). nationalen Organisationen haben in Gleichzeitig sind Reformen dieser den letzten Jahren argumentiert, dass Institutionen oft unpopulär bzw. ist die Ursachen der (kontinental) euro- mit dem Widerstand von Interessen- päischen Arbeitslosigkeit in den insti- gruppen zu rechnen. Es scheint klar tutionellen Regelungen der Arbeits- zu sein, welche Maßnahmen ergriffen märkte (Arbeitsmarktinstitutionen – werden müssen, lediglich die Umset- AMI) lägen. Zur Beseitigung der Ar- zung ist schwierig. Der luxembur- beitslosigkeit sei es notwendig, diese gische Ministerpräsident Jean-Claude Institutionen zu reformieren – etwa Juncker hatte wohl auch Arbeits- durch eine Lockerung der Kündi- marktreformen vor Augen, als er ein- gungsschutzbestimmungen, eine Re- mal bemerkte: „We all know what to duktion der Arbeitslosenunterstüt- do. We just don’t know how to be zungen und der lohnabhängigen Ab- re-elected once we’ve done it.“ (The gaben etc.1 Economist, 2006). Eine Studie der in Paris ansässi- Im Juni 2006 hat die OECD eine gen Organisation für wirtschaftliche Evaluierung der Jobs Study publi- Zusammenarbeit und Entwicklung ziert: Die gesamte Ausgabe ihrer (OECD), die „Jobs Study“ aus dem jährlichen Arbeitsmarktpublikation Jahr 1994, hat großen Einfluss unter „Employment Outlook“ ist diesem Ökonomen und für die Verabschie- Thema gewidmet (OECD, 2006). dung von wirtschaftspolitischen Emp- Die OECD hat in dieser Evaluierung fehlungen (beispielsweise in den einige der ursprünglichen Empfeh- Wirtschaftsberichten der OECD) lungen abgeschwächt bzw. abgewan- ausgeübt. Auch die Empfehlungen delt: Die Arbeitsmärkte müssen dem- der Europäischen Union (EU) zur nach nicht notwendigerweise deregu- Wissenschaftliche Begutachtung: 1 Ich danke Manfred Fluch, Ernest Gnan, Markus Knell, Wolfgang Pointner und Helene Schuberth für Anregungen Markus Knell, OeNB. und Verbesserungsvorschläge. Die Aussagen des Beitrags geben die persönliche Meinung des Verfassers wieder. 66 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Grafik 1 Arbeitslosigkeit seit 1960 in % in % Arbeitslosenquoten in Europa im Vergleich zu den USA ausgewählten europäischen Ländern 20 20 16 16 12 12 8 8 4 4 0 0 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 USA WWU-12 AT DK ES FI FR EU-15 UK IT NL SE DE Quelle: AMECO-Datenbank. liert werden, um die Arbeitslosigkeit gente Entwicklung wird meist so in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit interpretiert: In den USA schwankt zu senken. Vielmehr dürften ver- die Arbeitslosenquote um einen sta- schiedene Kombinationen von AMI bilen Gleichgewichtswert. In Europa geeignet zu sein, die Beschäftigung hat sich hingegen im Lauf der Zeit die zu fördern und niedrige Arbeitslosig- gleichgewichtige Arbeitslosenquote keit zu ermöglichen. Der vorliegende selbst erhöht. Dies verhindert, dass Beitrag fasst die Ergebnisse der Be- in Zeiten stärkeren Wachstums die wertung der Jobs Study sowie der Arbeitslosigkeit wieder ein niedri- jüngeren Fachliteratur zusammen. geres Niveau erreicht. 2 Hohe Arbeitslosigkeit 2.2 Aber große Unterschiede in manchen europäischen zwischen den europäischen Ländern Staaten 2.1 Hohe und persistente Grafik 1 (rechte Abbildung) stellt die Arbeitslosigkeit Entwicklung der Arbeitslosenquoten Grafik 1 (linke Abbildung) zeigt ein in ausgewählten einzelnen Ländern bekanntes Problem: Europa (die dar. Es zeigt sich, dass es das europä- EU-152-Staaten bzw. die Mitglied- ische Arbeitslosenproblem nicht gibt. staaten der Wirtschafts- und Wäh- Es gibt einige Länder, die in den letz- rungsunion) hatte bis in die Achtzi- ten Jahren ähnlich niedrige Arbeits- gerjahre eine geringere Arbeitslosen- losenquoten aufwiesen wie die USA. quote als die USA. Diese stieg dann Dazu zählen nicht nur das Vereinigte zwischen Mitte der Siebziger- und Königreich mit einem vergleichsweise Achtzigerjahre rasch an und verharrt wenig regulierten Arbeitsmarkt, son- seither – mit zyklischen Änderun- dern auch Österreich, die Nieder- gen – auf hohem Niveau. Diese diver- lande und Dänemark. Die Höhe und 2 Die neuen Mitgliedstaaten weisen teilweise ebenfalls eine hohe Arbeitslosigkeit auf. Die Ursachen dafür liegen jedoch eher im Umstand, dass es sich bis 1990 um zentralverwaltete/sozialistische Volkswirtschaften gehandelt hat und die Anpassung an einen derart massiven Systemwechsel viel Zeit in Anspruch nimmt. Deshalb werden sie in diesem Beitrag nicht weiter betrachtet. Ostdeutschland allerdings ist in den Datenreihen zur EU bzw. zu Deutschland ab 1991 inkludiert. Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 67
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Persistenz der Arbeitslosigkeit scheint 3 Die Jobs Study: ein einfluss- vielmehr das Problem der großen reiches Dokument kontinentaleuropäischen Länder – Als Antwort auf die in den euro- Spanien3, Frankreich, Italien, und päischen Mitgliedstaaten gestiegene Deutschland – zu sein. Arbeitslosigkeit erhielt die OECD Die europäischen Länder sind den Auftrag, eine umfangreiche Stu- auch heterogen im Hinblick auf die die zu den Ursachen sowie eine Liste Ausgestaltung ihrer arbeitsmarkt- von Politikempfehlungen zusammen- relevanten Institutionen (Kapitel 4). zustellen. Diese Studie wurde im Jahr Die OECD hat 1994 in der Jobs Study 1994 publiziert (OECD, 1994a und die Ansicht vertreten, dass diese ins- 1994b sowie eine Reihe von Folge- titutionellen Besonderheiten eine we- publikationen). Die Politikempfeh- sentliche Rolle bei der Entstehung lungen wurden unter zehn Haupt- der Arbeitslosigkeit und ihrer Persis- themen präsentiert (siehe nachfol- tenz spielen. gender Kasten): Empfehlungen der Jobs Study: 1. Set macroeconomic policy such that it will both encourage growth and, in conjunc- tion with good structural policies, make it sustainable, i.e. non-inflationary. 2. Enhance the creation and diffusion of technological know-how by improving frame- works for its development. 3. Increase flexibility of working-time (both short-term and lifetime) volunta- rily sought by workers andemployers. 4. Nurture an entrepreneurial climate by eliminating impediments to, and restrictions on, the creation andexpansion of enterprises. 5. Make wage and labour costs more flexible by removing restrictions that prevent wages from reflecting local conditions and individual skill levels, in particular of younger workers. 6. Reform employment security provisions that inhibit the expansion of employment in the private sector. 7. Strengthen the emphasis on active labour market policies and rein- force their effectiveness. 8. Improve labour force skills and competences through wide-ranging changes in edu- cation and training systems. 9. Reform unemployment and related benefit systems – and their inter- actions with the tax system – such that societies’ fundamental equity goals are achieved in ways that impinge far less on the efficient functioning of labour markets. 10. Enhance product market competition so as to reduce monopolistic tendencies and weaken insider-outsider mechanisms while also contributing to a more innovative and dynamic economy. Anmerkung: Fette Hervorhebungen (unmittelbar arbeitsmarktrelevante Empfehlungen) nicht im Original. 3 In Spanien hat sich allerdings, wie Grafik 1 zeigt, die Arbeitslosenquote im letzten Jahrzehnt – ausgehend von beinahe 20 % – etwa halbiert. 68 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Wie die Auflistung zeigt, wurde begreifen. Blau und Kahn (1999) ver- bei diesen Empfehlungen nicht davon stehen unter AMI das System von ausgegangen, dass die Ursachen der Gesetzen, Programmen und Konven- Arbeitslosigkeit ausschließlich in den tionen, die das Arbeitsmarktgesche- AMI liegen. Abgesehen von der Beto- hen beeinflussen können und bewir- nung der Makropolitik (1.) wird an- ken, dass der Arbeitsmarkt anders deren strukturellen Aspekten wie In- funktioniert als ein Wettbewerbs- novation und Forschung, Unterneh- markt. mensgründungen, dem Bildungssys- Tatsächlich wird aber in der hier tem und der Wettbewerbspolitik (1., besprochenen empirisch orientierten 2., 4., 8., 10.) ein hoher Stellenwert Literatur nicht von einer formellen zugewiesen. Die Hälfte der Empfeh- Definition ausgegangen. Vielmehr lungen aber (3., 5., 6., 7., 9.; fett her- wird eine weithin akzeptierte Liste vorgehoben im Kasten) konzentriert von AMI verwendet. Diskutiert wer- sich auf institutionelle Regelungen den Arbeitslosenunterstützung, der der Arbeitsmärkte im engeren Sinn. Beschäftigungsschutz (Kündigungs- Auf diese Empfehlungen sei im Fol- schutz), Gewerkschaften und Lohn- genden eingegangen.4 verhandlungssysteme, aktive Arbeits- Die Jobs Study hat großen Ein- marktpolitik sowie die Höhe der Ab- fluss auf die wirtschaftspolitische gaben, die auf Arbeitseinkommen zu Diskussion sowie auf die Themenset- entrichten sind. Die Grenzen zwi- zung in der angewandten wissen- schen AMI und anderen institutio- schaftlichen Literatur ausgeübt.5 Ähn- nellen Regelungen sind fließend liches gilt für das Buch Unemploy- (Nickell und Layard, 1999): Produkt- ment von Layard, Nickell und Jack- marktregulierungen sind häufig auch man, das 1991 erstmals erschien und durch Arbeitnehmerschutzinteressen 2005 unverändert (ergänzt um ein motiviert (z. B. Ladenöffnungszeiten), aktualisiertes Vorwort mit einem län- werden aber konventionsgemäß nicht geren Literatur-Survey) neu aufgelegt zu den AMI gezählt, bestimmte As- wurde (Layard et al., 2005). In die- pekte des Steuersystems, deren Be- sem Buch spielen AMI ebenfalls eine deutung über den Arbeitsmarkt weit Schlüsselrolle für das Verständnis des hinausgeht, hingegen schon (z. B. Arbeitslosigkeitsproblems in Europa. Einkommensteuern). Warum gibt es überhaupt AMI? 4 Arbeitsmarktinstitutionen: Häufig wird argumentiert (Agell, ein erster Überblick 1999), dass diese Institutionen 4.1 Was sind Arbeitsmarkt- Marktunvollkommenheiten ausglei- institutionen und warum chen sollen (Unsicherheit, asymmet- existieren sie? rische Information etc.). Agell In Anlehnung an North (1991) könnte (2002) verweist auf die Wirtschafts- man AMI als formelle und informelle geschichte, in der Arbeitsmarktprob- Regeln, die das Verhalten der Ak- leme zur Entstehung von AMI teure auf den Arbeitsmärkten lenken, (Arbeitslosenversicherung, Gewerk- 4 Allerdings spielt in der hier durchgesehenen Literatur der Aspekt der Arbeitszeitflexibilisierung (Punkt 3.) keine Rolle. 5 Vergleiche die Einschätzung von Blanchard (2006): „The [Jobs Study] was – and its general line still is – extremely influential.“ (S. 26). Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 69
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung schaften) geführt hätten und nicht land, Frankreich und Schweden). umgekehrt. Andere Ansätze sehen Im Vereinigten Königreich be- AMI kritischer: AMI dienten Interes- trägt dieser Anteil etwa 30 %, in sengruppen (beispielsweise „Insider“ den USA lediglich 14 %. In den – Beschäftigte – im Gegensatz zu skandinavischen Ländern ist der „Outsidern“ – Arbeitslose oder pre- hohe Gewerkschaftseinfluss auch kär Beschäftigte), die sich mit ihrer mit hohen Mitgliedszahlen ver- Hilfe ökonomische Renten sicherten bunden (Organisationsgrad von (Blau und Kahn, 1999). über 70 %; OECD, 2004b). – Lohnverhandlungssysteme: Während 4.2 Vielfalt von Institutionen die Lohnfindung in den angelsäch- AMI sind in den meisten europä- sischen Ländern dezentral (d. h. ischen Ländern stark ausgeprägt. Je- auf der Betriebsebene) erfolgt, doch variierte ihre relative Bedeutung vollzieht sie sich in vielen Ländern von Land zu Land: auf der sektoralen und/oder regi- – Höhe und Dauer von Arbeitslosen- onalen Ebene (z. B. in Österreich geldern: Diese Arbeitslosengelder oder Deutschland.) Manche skan- sind in Skandinavien und Mittel- dinavischen Länder haben stark europa (darunter Österreich) eher zentralisierte (d. h. landesweite) großzügig. In den USA und dem Lohnverhandlungen. Dezentrali- Vereinigten Königreich sind sie sierte Lohnverhandlungen können deutlich geringer, in manchen dennoch koordiniert sein. Dies ist südeuropäischen Staaten (z. B. etwa in Österreich und Finnland Italien) sogar äußerst gering der Fall (OECD, 2004b). (OECD, 2006). – Die Bedeutung der aktiven Arbeits- – Kündigungs-/Beschäftigungsschutz: marktpolitik variiert ebenso: Die In den OECD-Mitgliedstaaten entsprechenden Ausgaben sind in gibt es unterschiedliche Kündi- den USA gering (2004: 0,16 % gungsfristen und arbeitsrechtliche des BIP), in Österreich und dem Möglichkeiten, Kündigungen an- Vereinigten Königreich auf mitt- zufechten. Der Beschäftigungs- lerem Niveau (um 0,5 %) sowie schutz ist in den USA und dem in den Niederlanden und in Däne- Vereinigten Königreich sehr ge- mark hoch, d. h. über 1 % ring, in Dänemark, Finnland und (OECD, 2006). Österreich6 mäßig und in Frank- – Besteuerung von Arbeit: Die Steu- reich und Spanien sehr hoch ern auf Arbeit (Lohnsteuer und (OECD, 2004a). sonstige lohnabhängige Abgaben) – Gewerkschaftseinfluss: In manchen sind in Italien, Finnland und europäischen Ländern verhandeln Schweden hoch, in Dänemark und die Gewerkschaften für mehr Österreich auf mittlerem Niveau als 90 % der Arbeitnehmer die und im Vereinigten Königreich kollektivvertraglichen (Mindest-) und den USA gering (OECD, Löhne aus (z. B. Österreich, Finn- 2006). 6 Die Stärke des Beschäftigungsschutzes in Österreich hat sich durch die Einführung der „Abfertigung neu“ deutlich reduziert. Die OECD hebt diese Reform als ausgesprochen vorbildhaft hervor (Editorial in OECD, 2006). 70 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung 4.3 Institutionen und quantitative 4.3.2 Beschäftigungsschutz Institutionenvariablen Unter dem Beschäftigungsschutz sind Institutionelle Regelungen auf den institutionelle Auflagen zu verstehen, Arbeitsmärkten sind komplex. Aka- die die Auflösung eines Dienstver- demische Forscher und insbesondere hältnisses durch den Dienstgeber er- die OECD selbst haben in den ver- schweren. Dazu gehören der Kündi- gangenen beiden Jahrzehnten viel gungsschutz (diverse Kündigungs- Mühe in die Konstruktion von Indi- fristen für verschiedene Gruppen katoren investiert, die die wesent- von Arbeitnehmern, absolute Kün- lichen Merkmale von institutionellen digungsverbote), die Ermöglichung Regelungen abbilden sollen. von befristeten Dienstverhältnissen, Die Indikatoren wurden im Lauf arbeitsrechtliche Möglichkeiten der der Zeit immer wieder revidiert und Anfechtung von Kündigungen, die verfeinert. Während sie heute oft re- Verpflichtung von Vorausmeldungen lativ gut in der Lage sind, Unter- an die Arbeitsämter, Auflagen für schiede zwischen den Ländern im Massenkündigungen etc. Empirisch Querschnitt abzubilden, sind die Ver- umgesetzt werden die vielfältigen Re- gangenheitswerte wohl ungenauer. gelungen durch die Bildung von ag- Überhaupt weisen viele AMI-Variable gregierten Indizes (siehe Beitrag von über die Zeit eine geringe Variation Pointner in diesem Heft). auf. Sie sind schwer zu ermitteln und daher nicht für jedes einzelne Jahr 4.3.3 Gewerkschaften und Lohnver- verfügbar, weshalb sich viele Forscher handlungssysteme mit Interpolationen etc. behelfen. In den meisten OECD-Staaten wer- den Löhne (häufig Mindestlöhne für 4.3.1 Arbeitslosenversicherung verschiedene Sektoren und Berufe) Die Höhe der Arbeitslosenversiche- nicht individuell zwischen Arbeitge- rung wird regelmäßig über die Er- ber und Arbeitnehmer verhandelt. satzraten, über die Dauer der Zahlung Arbeitnehmer werden meist durch von Arbeitslosengeldern bzw. eine Gewerkschaften vertreten; ebenso Kombination aus beiden abgebildet. verhandeln die Arbeitgeber oft nicht Die Ersatzrate ist dabei der Anteil des individuell, sondern lassen sich durch Arbeitslosengeldes am letzten Netto- Verbände vertreten. lohn im ersten Jahr der Arbeitslosig- Der Einfluss von Gewerkschafts- keit. Typischerweise wird dabei ein macht wird in empirischen Untersu- Mittelwert über mehrere Lohnni- chungen meist durch den gewerk- veaus und Familienumstände (Allein- schaftlichen Organisationsgrad (An- verdiener/beide Partner berufstätig, teil der Gewerkschaftsmitglieder an mit/ohne Kinder) gebildet. Ein kom- allen Arbeitnehmern) abgebildet. Eine biniertes Maß aus Ersatzraten und alternative Variable, der Deckungs- Dauer gewinnt man, indem man grad (d. h., der Anteil der Arbeitneh- einen Mittelwert der Höhe der Er- mer, für den die Kollektivverträge satzrate im ersten, zweiten, dritten relevant sind) wäre vorzuziehen, ist usw. Jahr bildet und dabei die Werte jedoch viel schwieriger zu ermitteln. für die späteren Jahre geringer ge- Weiters werden Lohnverhand- wichtet (Nickell et al., 2005). lungssysteme durch die Ebene, auf der Lohnverhandlungen stattfinden, charakterisiert. Hier wird auch die Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 71
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Arbeitgeberseite (deren Verbände) mensteuer unter Berücksichtigung berücksichtigt. Der üblichen Eintei- allfälliger Transferzahlungen) gemes- lung zufolge können Lohnverhand- sen. Manchmal werden auch noch lungen dezentral (auf der betrieb- die indirekten Steuern berücksichtigt lichen Ebene), auf Branchenebene so- (z. B. in Nickell et al., 2005). wie auf gesamtwirtschaftlicher Ebene Die OECD veröffentlicht regel- erfolgen. Außerdem wird versucht mäßig Werte für die Höhe des Steuer- abzubilden, ob die einzelnen Lohn- keils („tax wedge“) zwischen Arbeits- verhandlungen weitgehend isoliert kosten und Nettolöhnen. Dabei wer- voneinander oder koordiniert vor sich den typischerweise Mittelwerte der gehen.7 für verschiedene Typen von Arbeit- nehmern ermittelten Steuerkeile an- 4.3.4 Aktive Arbeitsmarktpolitik gegeben. Die Jobs Study von 1994 empfahl eine Ausweitung der aktiven Arbeits- 5 Arbeitsmarktinstitutionen marktpolitik im Vergleich zu den und Arbeitslosigkeit „passiven“ Maßnahmen. Einer übli- 5.1 Theoretische Überlegungen chen Klassifikation zufolge gehören und Kritik an den AMI-Indika- dazu die Ausgaben für die Arbeits- toren vermittlung und Unterstützung bei Für die Erklärung der gleichgewich- der Jobsuche, Schulungsmaßnahmen, tigen (von konjunkturellen Schwan- Lohnsubventionen und Programme kungen unbeeinflussten) Arbeitslosig- für Behinderte. Dabei sind die ersten keit gibt es in der vorherrschenden beiden Kategorien (Vermittlung und Literatur zwei Klassen von Model- Schulung) die wichtigsten. In empi- len.9 Auf diese wird im Folgenden rischen Untersuchungen wird die Be- Bezug genommen. Im Vordergrund deutung von aktiver Arbeitsmarkt- stehen statische Modelle unvollkom- politik meist durch die Höhe der Aus- menen Wettbewerbs auf Arbeits- gaben in Relation je Prozentpunkt und Produktmärkten, in denen die Arbeitslosigkeit angegeben.8 Arbeitslosigkeit aus dem Zusammen- spiel von Lohn- und Preissetzungs- 4.3.5 Besteuerung von Arbeit verhalten erklärt wird (NAIRU- Üblicherweise wird das Ausmaß der Modelle). Alle Faktoren, die die Besteuerung an der Differenz zwi- Preise (gegeben die Löhne) sowie die schen den gesamten Arbeitskosten Löhne (gegeben die Preise) erhöhen, (Bruttolöhne zuzüglich Arbeitgeber- führen zu einem Anstieg der Arbeits- beiträge zur Sozialversicherung) und losigkeit. den Nettolöhnen (Bruttolöhne nach Darüber hinaus gibt es Modelle, Abzug der Dienstgeberbeiträge zur die die Arbeitslosigkeit als ein dyna- Sozialversicherung und der Einkom- misches Gleichgewicht von Zugängen 7 Manchmal werden Lohnverhandlungssysteme auch nach dem Grad ihres „Korporatismus“ charakterisiert. Unter Korporatismus kann man eine starke politische Partizipation von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden verstehen. Diese geht in der Regel einher mit zentralisierten bzw. koordinierten Lohnverhandlungssystemen (Flanagan, 1999; Aidt und Tzannatos, 2002). 8 In OECD (2006) wird folgendes Maß verwendet: Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik je Arbeitslosen im Verhältnis zum BIP pro Kopf. 9 Siehe Carlin und Soskice (2006) für eine einführende Darstellung bzw. Cahuc und Zylberberg (2004) für eine weiterführende Diskussion. 72 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung und Abgängen begreifen. Solche Fluss- stecken“ lässt oder die Existenz von modelle berücksichtigen, dass das entmutigten Arbeitslosen, die die Ar- „Matching“ von Arbeitslosen mit den beitssuche aufgegeben. Für die Ar- offenen Stellen in einer Ökonomie beitslosenquote als primären Zielin- Zeit braucht, da sowohl die offenen dikator für den Arbeitsmarkt spricht, Stellen, als auch die Arbeitnehmer dass Beschäftigungsquoten auch das heterogen sind. Jede Institution oder Ergebnis unterschiedlicher Präfe- wirtschaftspolitische Maßnahme, die renzen für Freizeit, kultureller Un- diesen Matching-Prozess beschleu- terschiede (vor allem bei der Frauen- nigt, führt zu einem Rückgang der beschäftigung) sowie weiterer Beson- gleichgewichtigen Arbeitslosigkeit. derheiten (z. B. Ausmaß von Früh- Im Folgenden werden die theo- pensionierungen) sind. retischen Wirkungen verschiedener Eine ausführlichere Diskussion AMI auf die Arbeitslosigkeit disku- der Arbeitsmarktwirkungen von Ins- tiert. Gleichzeitig wird dabei betont, titutionen sollte die Beschäftigungs- dass die verwendeten Variablen mög- quote ebenfalls berücksichtigen. In licherweise nicht in der Lage sind, die OECD (2006) wird tatsächlich aus- Essenz der tatsächlichen Wirkungen führlicher darauf Bezug genommen von AMI zu erfassen. als noch in der Jobs Study (siehe Natürlich ist die Auswirkung ebenso Europäische Kommission, einer AMI auf die Arbeitslosenquote 2004). Auch ist zu begrüßen, dass die nicht das einzige Beurteilungskrite- neueren Untersuchungen der OECD rium der Arbeitsmarktsituation. Eine Arbeitslosigkeit und Beschäftigung umfassendere Evaluation muss auch stärker als früher in Teilgruppen der andere Aspekte, etwa Wohlfahrtsge- Bevölkerung (z. B. nach Geschlecht, winne durch höhere Einkommenssi- Alter und Qualifikationsstufen) ana- cherheit berücksichtigen (Agell 1999 lysieren. und 2002; Pissarides, 2001). Ebenso sind auch die Auswirkungen von AMI 5.1.1 Arbeitslosenversicherung auf das längerfristige Wirtschafts- Die Höhe der Arbeitslosenunterstüt- wachstum relevant.10 zung verlängert die Zeit, die Arbeits- Eine andere Zielvariable der Wirt- lose für die Suche nach einer neuen schaftspolitik – die Beschäftigungs- Stelle in Anspruch nehmen. Insbe- quote (der Anteil der Beschäftigten sondere wenn die Suchbemühungen an der Bevölkerung im erwerbsfä- nicht vollständig überwacht werden higen Alter) – bleibt im vorliegenden (bzw. weil dies nicht vollständig mög- Beitrag aus Platzgründen ebenfalls lich ist) besteht das Problem des „mo- außer Acht. Es gibt Argumente dafür, ralischen Risikos“ (Moral Hazard). der Beschäftigungsquote den Vorzug Die Großzügigkeit von Arbeits- als Arbeitsmarktindikator gegenüber losenunterstützungen (gemessen an der Arbeitslosenquote einzuräumen, Ersatzrate und Dauer) erhöht ceteris beispielsweise der Umstand, dass sich paribus den Anspruchslohn von Ar- Arbeitslosigkeit durch Maßnahmen beitslosen und verhindert somit eine der aktiven Arbeitsmarktpolitik „ver- Räumung des Arbeitsmarktes. Mi- 10 Siehe Nickell und Layard (1999) für eine allgemeine Diskussion der Wachstumswirkungen von AMI. Aidt und Tzannatos (2002) bieten eine umfassende Diskussion der ökonomischen Wirkungen von Gewerkschaften und Lohnverhandlungssystemen. Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 73
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung krostudien zeigen tatsächlich, dass isoliert voneinander betrachtet wer- die Austrittswahrscheinlichkeit aus den. Zum Indikator selbst ist zu sa- der Arbeitslosigkeit kurz vor Beendi- gen, dass verschiedene Aspekte von gung der Anwartschaft auf Arbeitslo- Beschäftigungsschutz einfach addiert sengeld stark ansteigt. Arbeitslosen- werden, wobei nicht klar erscheint, unterstützungen ermöglichen es Ar- wie stark die einzelnen Elemente beitnehmern aber auch, Arbeitsplätze (z. B. reguläre Kündigungen, Mög- zu finden, die ihrer individuellen Pro- lichkeit von befristeten Verträgen duktivität besser entsprechen (OECD, etc.) gewichtet werden sollen. 2006; Arpaia und Mourre, 2005). Es ist kritisch zu hinterfragen, ob 5.1.3 Gewerkschaften und Lohnver- die verwendeten Indikatoren zur handlungssysteme Großzügigkeit von Arbeitslosenversi- Grundsätzlich ermöglicht höhere Ge- cherungen per se aussagekräftig sind. werkschaftsmacht höhere Löhne, was Andere Dimensionen der Arbeitslo- ceteris paribus die gleichgewichtige senversicherung stellen ebenfalls we- Arbeitslosigkeit erhöht. Gewerk- sentliche Aspekte deren Gestaltung schaften haben jedoch im Allgemei- dar. Es ist mittlerweile weithin ak- nen auch die Beschäftigungssituation zeptiert, dass die Ausbezahlung von vor Augen und berücksichtigen die Arbeitslosengeldern an die Bedin- Rückwirkungen der Nominallöhne gung geknüpft sein soll, dass Arbeits- auf die Preissetzung. Calmfors und lose tatsächlich intensiv Arbeit su- Driffill (1988) zeigen, dass niedrige chen. Dies wird etwa durch eine enge Arbeitslosigkeit sowohl mit stark de- Betreuung, „Aktivierung“, Monito- zentralen sowie zentralisierten Lohn- ring sowie – im Fall von Nichtkoo- verhandlungssystemen vereinbar ist. peration – durch diverse Sanktions- In dezentralen Lohnverhandlungen mechanismen erreicht. (z. B. auf der Betriebsebene) ist für die Gewerkschaften der Einfluss 5.1.2 Beschäftigungsschutz (zu) hoher Löhne auf die betriebliche In einer Ökonomie, in der Kündi- Arbeitsnachfrage unmittelbar ersicht- gungen von Arbeitnehmern schwie- lich. Lohnverhandler mit einer ge- rig sind, werden Firmen zögerlich samtwirtschaftlichen Perspektive wer- sein, neue Mitarbeiter einzustellen den darüber hinaus besonders auch (weniger offene Stellen bei gegebener die reale Kaufkraft der verhandelten Anzahl der Arbeitslosen). Arbeitslose Nominallöhne berücksichtigen. Die finden also nicht so schnell einen Job. schlechteste Arbeitsmarktperformance Andererseits gibt es auch geringere weisen im Calmfors-Driffill-Modell Zuflüsse in die Arbeitslosigkeit Lohnverhandlungssysteme auf „mitt- (weniger Arbeitslose bei gegebenen lerer“ Ebene (z. B. auf Branchen- offenen Stellen). A priori erscheint ebene) auf. Bei diesen werde weder nicht klar, welcher Effekt hinsicht- die Rückwirkung auf die Arbeits- lich der Gesamtarbeitslosigkeit über- nachfrage betrachtet (alle Firmen wiegt. einer Branche müssen die gleichen Ähnlich wie Arbeitslosenversiche- Löhne zahlen), noch werde die Rück- rungen reduziert Beschäftigungs- wirkung über die höheren Preise auf schutz das Risiko eines Einkommens- die Reallöhne adäquat berücksichtigt. ausfalls durch Arbeitslosigkeit. Des- In späteren Arbeiten wurde argu- halb sollten beide Institutionen nicht mentiert, dass es weniger auf die for- 74 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung male Charakterisierung der Verhand- Indikatoren wie Organisationsgrad lungsebene ankommt, sondern auf dies erfassen könnten. Blanchard die Art und Weise, inwieweit die ein- (2006) meint, dass das Vertrauen zelnen Lohnverhandlungen miteinan- zwischen den Arbeitgebern und Ar- der koordiniert werden. Tendenziell beitnehmern möglicherweise ein ent- werden stärker koordinierte Lohn- scheidender Einflussfaktor ist. In so- verhandlungssysteme eher in der Lage zialpartnerschaftlich orientierten Län- zu Lohnzurückhaltung sein und so- dern seien die Arbeitsbeziehungen mit eine niedrigere Arbeitslosigkeit vergleichsweise harmonisch (etwa begünstigen. Auch höherer Wettbe- wenige Streiks). In anderen Ländern werb auf den Produktmärkten be- (z. B. Italien und Frankreich) seien günstigt Lohnmoderation. diese konfliktgeladener und führten Höhere Gewerkschaftsmacht führt dadurch zu geringerer Lohnmode- zu einer gleicheren Einkommensver- ration. teilung (OECD, 2004b). Häufig wird argumentiert, dass Gewerkschaften 5.1.4 Aktive Arbeitsmarktpolitik die Verteilung der Löhne im Quer- Aktive Arbeitsmarktpolitik, insbe- schnitt komprimieren und dadurch sondere die Hilfe bei der Jobsuche die Beschäftigungschancen von Ar- oder Requalifizierung von Arbeitslo- beitskräften mit geringer Produktivi- sen etc. beschleunigt grundsätzlich tät gefährden. Kritiker weisen darauf den Matching-Prozess (bei gegebener hin, dass die empirische Bestätigung Anzahl der offenen Stellen werden für die Lohnkompressionshypothese mehr Arbeitslose vermittelt). In wel- ausbleibt und dass in den europä- chem Ausmaß dies der Fall ist, hängt ischen Ländern mit höherer Einkom- nicht nur von der Höhe der Ausga- mensgleichheit auch das Bildungs- ben, sondern auch von der Effektivi- niveau gleichmäßiger verteilt ist tät der Vermittlungs- und Trainings- (Nickell und Layard, 1999; Schett- maßnahmen ab, deren Gestaltung kat, 2003; Howell, 2006). viele Aspekte hat (OECD, 2005). Die Wiederum scheinen Zweifel an- empirische Evaluation von Maßnah- gebracht, ob die verwendeten Insti- men der aktiven Arbeitsmarktpolitik tutionenvariablen gute Indikatoren ist besonders schwierig. Es erscheint für die Wirkungen von Gewerk- daher fraglich, ob die üblichen Aus- schaften bzw. Lohnverhandlungssys- gabenindikatoren gut in der Lage temen sind. Freeman (2005) verweist sind, die Wirkungen aktiver Arbeits- auf die Gewerkschaften im Vereinig- marktpolitik abzubilden. ten Königreich und in Deutschland und vergleicht deren Verhalten in den 5.1.5 Besteuerung von Arbeit Siebziger- und in den Neunzigerjah- Die Höhe der Elastizitäten des Ar- ren. Er meint, dass in den Siebziger- beitsangebots und der Arbeitsnach- jahren die britischen Gewerkschaften frage bestimmen, inwieweit Angebot wenig verantwortungsvoll gehandelt und Nachfrage nach Arbeit auf die hätten, in den Neunzigerjahren hin- Einhebung einer Steuer mit einem gegen mehr Bedacht auf die ökono- Rückgang reagieren. Theoretisch sind mische Situation ihrer Betriebe ge- die Wirkungen unbestimmt (nicht nommen hätten. In Deutschland wäre nur Substitutions-, sondern auch Ein- das Gegenteil der Fall gewesen. Es sei kommenseffekte sind zu beachten). unwahrscheinlich, dass aggregierte Ebenso kann die relative Stärke von Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 75
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Arbeitgeber- und Arbeitnehmerver- onen des Grenzsteuersatzes zu unter- tretern eine Rolle dafür spielen, wel- scheiden seien. che Arbeitsmarktseite betroffen ist. Die empirische ermittelte Lohnelas- 5.2 Empirische Ergebnisse tizität des Arbeitsangebots ist gering In Tabelle 1 werden die Ergebnisse (bei Männern sogar manchmal nega- von Panel-Regressionsstudien zum tiv). Die Lohnelastizität der Arbeits- Zusammenhang von AMI und Ar- nachfrage ist empirisch gesehen hin- beitslosigkeit überblicksartig darge- gegen höher und klar negativ (Cahuc stellt. Der obere Teil enthält – zur und Zylberberg, 2004). Illustration – einige Arbeiten aus den In statischen Arbeitsmarktmodel- letzten Jahren: Eine Studie des Inter- len werden höhere Steuerkeile derart nationalen Währungsfonds (IWF, abgebildet, dass ein verändertes Preis- 2003), die Studie von Nickell et al. setzungsverhalten der Firmen die (2005), die empirischen Ergebnisse Gleichgewichtsarbeitslosigkeit erhöht. von Baker et al. (2005) sowie die Er- Blanchard (2006) illustriert aber an- gebnisse eines OECD-Arbeitspapiers hand einer suchtheoretischen Be- (Bassanini und Duval, 2006) zur Eva- trachtung, dass Steuern nur dann die luation der Jobs Study. Arbeitskosten erhöhen, wenn sie aus- Eine derartige Darstellung ver- schließlich auf Arbeit erhoben wer- birgt viele methodische Details, den. Steuern mit einer breiteren Basis schließlich verwenden alle Autoren wie Einkommensteuern sowie Ver- mehrere Spezifikationen für ihre brauchsteuern erhöhen die Lohnkos- Regressionen. Sie bedienen sich un- ten hingegen nicht. Außerdem müsse terschiedlicher Indizes, Kontroll- bei Sozialabgaben auch berücksichtigt variablen für den Konjunkturzyklus werden, dass diese eine direkt sicht- und sonstiger makroökonomischer bare Gegenleistung erbringen (z. B. Schocks sowie weiterer Einflussfak- Krankenversicherung, Pensionsver- toren und beziehen sich auf unter- sicherung; Disney, 2004). Blanchard schiedliche Zeiträume und eine un- hält somit die in den empirischen Un- terschiedliche Anzahl von Ländern. tersuchungen verwendeten Steuer- Darüber hinaus wird in den empi- keildaten für wenig aussagekräftig. rischen Untersuchungen eine Vielzahl Cahuc und Zylberberg (2004) weisen von Interaktionsvariablen zwischen außerdem darauf hin, dass diese Maße verschiedenen AMI-Variablen11 sowie nur Durchschnittswerte repräsentie- fallweise auch Variablen zu Interakti- ren und dass die theoretischen Wir- onen zwischen AMI und makroöko- kungen von Veränderungen der durch- nomischen Schocks verwendet.12 In schnittlichen Steuerhöhe von Variati- Tabelle 1 hingegen werden aus Platz- 11 Wegen der Verzahnung zwischen AMI ist die Inkludierung von Interaktionsvariablen grundsätzlich sinnvoll. Allerdings ist a priori häufig nicht recht klar, welche Spezifikationen nun genau in die Regressionen aufgenom- men werden sollen. Die Anzahl der möglichen Spezifikationen von Interaktionen zwischen AMI-Variablen ist groß. Die Anzahl der Freiheitsgrade ist hingegen beschränkt – vor allem wenn man bedenkt, dass viele dieser Variablen nur in geringerWeise über die Zeit variieren (Freeman, 2005) 12 Blanchard und Wolfers (2000) argumentieren, es erscheine unplausibel, dass die Arbeitsmarktinstitutionen alleine für die hohe Arbeitslosigkeit in manchen Ländern verantwortlich seien. Vielmehr sei es das Zusammenspiel makroökonomischer Schocks und relativ stabiler AMI, das die Entwicklung der Arbeitslosigkeit erklären könne. Nickell et al. (2005) hingegen kommen zu dem Schluss, dass der überwiegende Anteil (55 %) der Veränderung der Arbeitslosigkeit durch dieVeränderung der AMI erklärt werden könne. 76 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung gründen nur die Haupteffekte der – Hinsichtlich der Arbeitslosenun- betreffenden Variablen dargestellt. terstützung gibt es eine deutliche Um die Tendenz der Ergebnisse Mehrheit von Studien, die zu dem besser darstellen zu können, gibt der Ergebnis kommen, dass sich de- untere Teil von Tabelle 1 an, wie häu- ren Großzügigkeit erhöhend auf fig in dem in OECD (2006) ange- die Arbeitslosigkeit auswirkt. führten Literaturüberblick in den – Noch deutlicher ist dies bei der gesichteten Studien die einzelnen Besteuerung von Arbeit: Höhere Variablen einen erhöhenden (+) oder Steuern auf Arbeit bewirken cete- senkenden Einfluss (–) auf die Ar- ris paribus eine Erhöhung der beitslosigkeit ausübten.13 Arbeitslosigkeit. Tabelle 1 illustriert, dass die em- – Recht robust ist auch das Ergeb- pirische Literatur gemischte Resul- nis, dass zentralisierte bzw. koor- tate findet. Nicht alle untersuchten dinierte Lohnverhandlungssysteme AMI bewirken höhere Arbeitslosig- mit niedrigerer Arbeitslosigkeit keit: einhergehen. Tabelle 1 Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Arbeitslosigkeit – empirische Ergebnisse Variable für Arbeitsmarktinstitutionen Quelle Zeitraum Arbeits- Aktive Gewerk- Zentra- Steuer- Beschäf- losen- Arbeits- schafts- lisation/ keile tigungs- gelder markt- macht Koordi- schutz politik nation von Lohn- verhand- lungen Einzelstudien: IWF (2003)1 1960 bis 1998 (+) x (+) (–) (+) (+) Baker et al. (2005)2 1960 bis 1999 (–) 0 0 (–) 0 0 Nickell et al. (2005)3 1961 bis 1995 (+) x (+) (–) (+) 0 Bassanini und Duval (2006)4 1982 bis 2003 (+) x 0 (–) (+) 0 Literatur-Survey in OECD (2006):5 ● Anzahl der Studien, in denen AMI-Variable die Arbeitslosig- keit… …erhöht 9 0 5 2 12 6 …senkt 1 6 1 10 0 1 ● Anzahl der Studien, in denen AMI-Variable keinen (eindeu- tigen) Einfluss auf die Arbeits- losigkeit hat 2 1 11 3 5 8 Anmerkung: (+): Variable erhöht die Arbeitslosigkeit; (–): Variable senkt die Arbeitslosigkeit; 0: kein statistisch signifikanter Einfluss; x: Variable wurde nicht untersucht. 1 Variante (4). 2 Tabelle 3.6, Spezifikation (3). 3 Tabelle 5, Spezifikation 1. 4 Tabelle 1.2 bzw. Tabelle 7.A1.1, Baseline specification. 5 Tabelle 3.3, Tabelle 3.5, Tabelle 3.8, Tabelle 3.9, Tabelle 3.12 und Tabelle 3.13. 13 Die in den ersten vier Zeilen von Tabelle 1 erwähnten Studien sind auch im Literatur-Survey der OECD enthalten. Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 77
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung – Klar erscheint auch das Ergebnis, als Empfehlung interpretieren, dass aktive Arbeitsmarktpolitik von zentralisierten Lohnverhand- die Arbeitslosigkeit senkt. Aller- lungssystemen abzugehen und dings wird diese erklärende Vari- eine stärkere Flexibilisierung der able in vielen Studien (vor allem Löhne etwa durch Verhandlungen den neueren) nicht verwendet. auf der betrieblichen Ebene zu – Relativ schwache Bestätigung lie- erzielen. Die arbeitslosigkeitsen- fern die Ergebnisse dafür, dass kenden Wirkungen von koordi- höhere Gewerkschaftsmacht zu nierten Lohnverhandlungssyste- höherer Arbeitslosigkeit führt. men widersprechen einer derar- – Gleiches gilt für den Beschäfti- tigen Empfehlung. gungsschutz: Es gibt deutlich – Empfehlung 6 (Reform employment mehr Studien, die keinen Einfluss security provisions) wurde auch als auf die Arbeitslosigkeit feststellen eine Empfehlung zur Abschwä- als solche, bei denen Beschäfti- chung von Beschäftigungsschutz- gungsschutz die Arbeitslosigkeit regelungen interpretiert. Diese erhöht. lässt sich aufgrund der empi- rischen Ergebnisse nur einge- 5.3 Diskussion schränkt rechtfertigen. 5.3.1 Schwierige wirtschafts- – Empfehlung 7 (Strengthen the em- politische Schlussfolgerungen phasis on active labour market poli- bei mitunter wenig robusten cies) wird durch die empirischen empirischen Ergebnissen Ergebnisse gestützt. Zwischen den verwendeten komple- – Empfehlung 9 (Reform unemploy- xen theoretischen Modellen und em- ment and related benefit system) pirischen Methoden einerseits und wird meist als Empfehlung für der Interpretation bzw. den wirt- weniger großzügige Arbeitslosen- schaftspolitischen Schlussfolgerungen gelder interpretiert. Großzügige andererseits besteht mitunter ein Arbeitslosenunterstützungen kor- Spannungsfeld (McCloskey, 1983). relieren tatsächlich mit hoher Ar- Fragen der Robustheit der Ergebnisse beitslosigkeit. und deren Widersprüchlichkeiten wer- Haben die Empfehlungen der alten den oft vernachlässigt (Baker et al., Jobs Study zu einer Reduktion der 2005; Freeman, 2005).14 Arbeitslosigkeit beigetragen? Grafik 2 Was bedeuten diese Ergebnisse trägt die Veränderung der Trend- im Hinblick auf die Empfehlungen arbeitslosenquote gegen einen Sam- der Jobs Study? melindikator auf, mit dem in einem – Empfehlung 5 (Make wage and OECD-Arbeitspapier (Brandt et al., labour costs more flexible) lässt sich 2005) die Intensität der durchge- 14 Der IWF (2003) etwa argumentiert anhand einer Modellsimulation, dass eine Reduktion von Arbeitslosengeldern, des Beschäftigungsschutzes und der Arbeitssteuern im Euroraum auf US-amerikanisches Niveau die Arbeitslosigkeit langfristig um 3 ¼ Prozentpunkte senken würde (S. 141). In den zugrunde liegenden Ergebnissen ihrer Panel- Regressionen aber hat die Ersatzrate der Arbeitslosenversicherung lediglich in einem von vier Fällen einen signifikant erhöhenden Einfluss auf die Arbeitslosigkeit (in einem anderen Fall hingegen einen senkenden Einfluss). Die Koordination der Lohnverhandlungen – eine Variable mit deutlich senkendem Einfluss auf die Arbeitslosigkeit – wird hingegen in der Simulation nicht berücksichtigt (S. 147). Layard et al. (2005) interpretieren Lockerungen des Beschäftigungsschutzes als gute Reformen (S. xxxviii f.), obwohl sie in ihrem Literatur-Survey (S. xvii) zu der Einschätzung gelangen, dass es keine entscheidenden Hinweise dafür gibt, dass der Beschäftigungsschutz die Arbeitslosigkeit erhöht. 78 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Grafik Reformintensität im Sinne der Jobs Study und Veränderung der Trendarbeitslosenquote Reformintensität 1993 bis 2003 25 20 DK FI NL 15 IT DE AU BE IE SE UK AT 10 CA PT NO GR FR KR NZ US ES 5 CH JP IS 0 –7 –6 –5 –4 –3 –2 –1 0 1 Veränderung der Trendarbeitslosenquote in Prozentpunkten (Mittelwert 2000 bis 2005 abzgl. Mittelwert 1994 bis 1999) Quelle: AMECO-Datenbank, Brandt et al. (2005). Anmerkung: Rote Punkte stellen Länder dar, die 1994 bis 1999 eine höhere Arbeitslosigkeit aufwiesen als die USA. Blaue Punkte symbolisiere Länder, deren durchschnittliche Arbeitslosenquoten damals gleich niedrig oder geringer waren (sowie die USA selbst). führten Arbeitsmarktreformen zwi- 6 Arbeitsmarktinstitutionen: schen 1993 und 2003 im Sinne der „mehrere Wege führen Jobs Study abgebildet wurde (z. B. nach Rom“ Reduktion von Steuern auf Arbeit, 6.1 OECD hat ihre Einschätzung Erleichterungen von befristeten Ar- angepasst beitsverhältnissen, strengere Rege- Die zuvor zusammengefassten empi- lungen bei der Arbeitslosenversiche- rischen Untersuchungen könnten fol- rung etc.). Dabei wurden alle Re- gendermaßen interpretiert werden: formschritte bei diversen AMI Verringere die Arbeitslosengelder, bewertet und einfach addiert.15 erhöhe die Mittel für aktive Arbeits- Grafik 2 legt nahe, dass die Ver- marktpolitik, führe Koordinations- ringerung der Arbeitslosigkeit nicht elemente in die Lohnverhandlungen sehr stark mit der Reformintensität ein und verringere die Steuern auf korreliert ist – insbesondere wenn Arbeit. Angesichts der eingeschränk- man berücksichtigt, dass einige Län- ten Eignung der AMI-Indikatoren der eine niedrige Arbeitslosigkeit auf- und der komplexen Beziehungen wiesen und daher wohl einen gerin- zwischen den einzelnen Arbeits- geren Reformbedarf gehabt haben marktinstitutionen wäre eine solche (blau markierte Symbole).16 Schlussfolgerung aber naiv. 15 Eine derartige Vorgehensweise berücksichtigt natürlich keine Interaktionen und Komplementaritäten zwischen Arbeitsmarktinstitutionen (dies ist den Autoren bewusst). 16 Brandt et al. (2005, Grafik 35) verweisen aber darauf, dass zwischen dem Rang der Reformintensität und der Veränderung im Rang der Trendarbeitslosenquoten ein positiver Zusammenhang besteht. Auch in der Evaluierung der Jobs Study findet sich die Feststellung, dass Arbeitsmarktreformen wesentlich zur Reduktion der Arbeitslosig- keit im letzten Jahrzehnt beigetragen haben. Dies wird durch Simulationen untermauert, die auf den Panel-Re- gressionsergebnissen der OECD basieren (OECD, 2006, Grafik 7.3). Simulationen sind jedoch kein Beleg für Richtigkeit der Politikempfehlungen in der Jobs Study, sondern spiegeln lediglich die gemeinsame Signifikanz der AMI-Variablen in den OECD-Regressionen wider. Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 79
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Tatsächlich nimmt die Evaluie- 6.2 „Angelsächsisches“ und rung der Jobs Study nun stärker „skandinavisches“ Modell Rücksicht auf die komplementären weisen eine gute Arbeitsmarkt- Beziehungen zwischen den verschie- performance auf denen institutionellen Regelungen Die aktuelle Sichtweise der OECD ist (Arpaia und Mourre, 2005; OECD, weitgehend von der isolierten Be- 2006). Dabei stellt sich heraus, dass trachtung einzelner Arbeitsmarktins- auch Modellkombinationen erfolg- titutionen abgerückt und betrachtet reich sind, die der naiven Interpreta- diese jetzt eher im Verbund. Tabelle 2 tion sogar deutlich widersprechen: So gibt eine wesentliche Schlussfolge- weist etwa das viel beachtete dänische rung der OECD aus ihrer Evaluation „Flexicurity“-Modell einen geringen der Jobs Study wider. Die OECD- Beschäftigungsschutz und hohe Ar- Staaten lassen sich aufgrund einer beitslosengelder (sowie intensive ak- empirischen Analyse in mehrere tive arbeitsmarktpolitische Maßnah- Gruppen gliedern.18 Zwei Länder- men) auf. Die zuvor erwähnten empi- gruppen mit äußerst unterschied- rischen Ergebnisse deuten hingegen licher Kombination von AMI weisen in eine andere Richtung (Beschäfti- eine erfolgreiche Arbeitsmarktper- gungsschutz hat kaum einen Einfluss; formance (niedrige Arbeitslosigkeit, hohe Arbeitslosengelder erhöhen die hohe Beschäftigung) auf. Arbeitslosigkeit). Einerseits handelt es sich um die Während sich die OECD 1994 in geringer Weise regulierten Ar- noch für eine Deregulierung von Ar- beitsmärkte der angelsächsischen beitsmärkten ausgesprochen hat, hat Länder (und einiger weiterer Staaten) sie nun ihre Einschätzung angepasst: sowie andererseits um Länder – un- Es gibt unterschiedliche institutio- ter ihnen die meisten skandinavischen nelle Modelle von Arbeitsmärkten, Länder und Österreich – mit teil- die mit einer erfolgreichen Arbeits- weise starker Arbeitsmarktregulie- marktperformance vereinbar sind: rung (insbesondere hinsichtlich der „Experience shows that there is no single Großzügigkeit der Arbeitslosenversi- golden road to better labour market per- cherung, der Bedeutung der aktiven formance.“ (OECD, 2006; S. 13).17 Arbeitsmarktpolitik oder dem Ein- fluss von Gewerkschaften), jedoch mit nur mäßigem Beschäftigungs- schutz und durchschnittlicher Besteu- 17 Es ist nicht leicht, diesen Wandel in den Empfehlungen zu belegen. Sowohl bei der alten als auch bei der neuen „Jobs Study“ handelt es sich um umfangreiche Dokumente, die – bei den einzelnen Themenkapiteln – eine Vielzahl von Autoren aufweisen. Bei der Entstehung dieser Dokumente haben die Mitgliedstaaten der OECD mehrmals Gelegenheit Einwände vorzubringen, und es werden – besonders in den einleitenden und zusammenfassenden Dokumenten – Formulierungen geändert (meist abgeschwächt). Aus diesen Gründen sind die Dokumente nicht immer kohärent, und es ist somit nicht klar, was jetzt die Aussage der Jobs Study ist. Dennoch ist die Auffassung verbreitet, dass die OECD tatsächlich eine markante Änderung ihrer Position zu AMI vorgenommen hat (siehe z. B. Freeman, 2005). Manche bedauern, dass die OECD einige der stärker reguliertenVolkswirtschaften Europas nun als gleich erfolgreich wie die angloamerikanischen Länder betrachtet: „Corporatist state labor markets are not as efficient as the U. S. labor market.They are just effective in disguising long term problems.“ (Heckman et al., 2006). Eine Stellungnahme von Gewerkschaftsvertretern begrüßt hingegen denWandel in der Argumentation: „These conclusions […] require a significant shift in the policy focus […] to allow a more pragmatic assessment of recommendations at the national level.“ (TUAC, 2006). 18 Ergebnisse einer Principal Components-Analyse, siehe OECD (2006). 80 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung Tabelle 2 Institutionenregimes und Arbeitsmarktperformance Ländergruppe Arbeitsmarktinstitution Gruppe 1 (Australien, Gruppe 2 (Österreich, Gruppe 3 (Belgien, Kanada, Japan, Korea, Dänemark, Irland, Finnland, Frankreich, Neuseeland, Schweiz, Niederlande, Norwegen, Deutschland, Italien, Vereinigtes Königreich, Schweden) Portugal, Spanien) USA) Beschäftigungsschutz niedrig durchschnittlich hoch Großzügigkeit der Arbeitslosen- versicherung niedrig hoch hoch Aktive Arbeitsmarktpolitik (Ausgaben) niedrig hoch durchschnittlich Arbeitssteuern niedrig durchschnittlich hoch Gewerkschaftseinfluss / Koordi- nation von Lohnverhandlungen niedrig hoch hoch Produktmarktregulierung niedrig niedrig hoch Arbeitslosenrate in % (Mittelwert 2000 bis 2005) 5,3 4,8 9,0 Beschäftigungsquote in % (Mittelwert 2000 bis 2005) 70,9 71,9 62,5 Einkommensungleichheit hoch niedrig durchschnittlich Quelle: OECD (2006, Tabelle 6.3 - vereinfachte Darstellung). erung. Beide „erfolgreichen“ Länder- liche Organisationsformen19 von Ar- gruppen haben im Durchschnitt eine beitsmärkten gibt, die hohe Beschäf- eher geringe Produktmarktregulie- tigung und niedrige Arbeitslosigkeit rung (hohe Wettbewerbsintensität). fördern. Die gute Arbeitsmarktper- In der zweiten Gruppe sind außerdem formance der skandinavischen Länder die Einkommen wesentlich gleichmä- und Österreichs, die vielen Öko- ßiger verteilt als in der ersten. nomen oft rätselhaft erschien, ist aus Eine dritte Gruppe von Ländern dieser Sicht besser erklärbar. ist ebenfalls stark reguliert, betreibt aber aktive Arbeitsmarktpolitik in 7 Schlussfolgerungen geringerem Ausmaß und ist durch Es gibt kaum einen Autor, der ver- hohen Beschäftigungsschutz und ge- neint, dass Arbeitsmarktinstitutionen ringe Wettbewerbsintensität gekenn- eine wesentliche Rolle bei der Erklä- zeichnet. Zu dieser Gruppe gehören rung der persistenten Arbeitslosigkeit die großen kontinenentaleuropä- spielen.20 Die Ergebnisse der Litera- ischen Staaten mit hoher Arbeits- tur und der Evaluierung der Jobs losigkeit, also Deutschland, Italien, Study legen nahe, dass durchaus Frankreich und Spanien. „mehrere Wege nach Rom“ führen, Diese Ergebnisse deuten darauf dass die Wahl aber nicht beliebig ist: hin, dass es verschiedene gesellschaft- So gibt es Gründe anzunehmen, dass 19 Diese spiegeln Rechtstraditionen (Botero et al., 2004) und Präferenzen für Sicherheit, Einkommensgleichheit, Staatseinfluss und öffentliche Güter wider.Welche Arbeitmarktinstitutionen ein Land wählt, ist also auch eine politische Entscheidung. 20 Siehe Blanchard (2006) für eine Diskussion anderer Erklärungsfaktoren. Manche Autoren verweisen aber auch darauf, dass Länder oft ähnliche AMI aufweisen, aber dennoch sehr divergierende Arbeitsmarktentwicklungen aufweisen, wie z. B. Deutschland und die Niederlande (Schettkat, 2003). Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06 ◊ 81
Die (neue) OECD Jobs Study: eine Einführung und Bewertung die großen kontinentaleuropäischen Institutionelle Regelungen sollten Länder eine Kombination von Ar- nicht nur nach dem Kriterium der beitsmarktinstitutionen aufweisen, Arbeitsmarktperformance beurteilt die dem Abbau der Arbeitslosigkeit werden. Andere ökonomische Indi- hinderlich ist. katoren, wie beispielsweise Produkti- In einer sozialen Marktwirtschaft vität und Wachstum, sind ebenfalls müssen von Zeit zu Zeit neue Ant- von großer Bedeutung. Hier wiesen worten auf die Frage gegeben wer- die USA in den letzten Jahren eine den, welche Arbeitsmarktinstitutio- günstigere Entwicklung als im euro- nen am besten geeignet sind, hohe päischen Durchschnitt auf. Aber auch Beschäftigung und niedrige Arbeits- hier gibt es beträchtliche Heterogeni- losigkeit in einer sich rasch wandeln- tät zwischen den europäischen Län- den Gesellschaft und Wirtschaft so- dern. Es wäre zu untersuchen, ob in wie in einer globalisierten Welt zu ähnlicher Weise verschiedene institu- fördern. Einige Elemente eines Kon- tionelle Kombinationen zu hohem senses zur Arbeitsmarktpolitik schei- Produktivitäts- und Wirtschafts- nen sich herauszubilden: Hoher Wett- wachstum führen. Schließlich haben bewerb und wirtschaftlicher Wandel sich in der Währungsunion neue Er- erfordern einen Arbeitsmarkt, der fordernisse hinsichtlich der Flexibili- diese Reallokationsdynamik nicht tät und Anpassungsfähigkeit von Ar- behindert. Blanchard (2006) fasst das beitsmärkten ergeben, eine relativ so zusammen: „Protect workers, not neue Situation, in der sich Arbeits- jobs.“ Das erwähnte dänische Flexi- marktinstitutionen neu zu bewähren curity-Modell ist mit dieser Forde- haben (Blau und Kahn, 1999; Ber- rung gut vereinbar. tola, 2000). Literaturverzeichnis Agell, J. 1999. On the Benefits from Rigid Labour Markets: Norms, Market Failures, and Social Insurance. In: The Economic Journal 109. Februar. F149–F164. Agell, J. 2002. On the Determinants of Labour Market Institutions: Rent Seeking vs. Social Insurance. In: German Economic Review 3(2). 107–135. Aidt, T. und Z. Tzannatos. 2002. Unions and Collective Bargaining. Economic Effects in a Global Environment. Washington D.C.: Weltbank. Aiginger, K. 2006. A Critical Assessment of the OECD Country Report on Austria 2005 and the Austrian National Lisbon Plan. Strategies for Growth and Employment. Work- shop-Bände. OeNB. Im Erscheinen. Arpaia, A. und G. Mourre. 2005. Labour Market Institutions and Labour Market Perfor- mance: A Survey of the Literature. In: European Economy 238. Directorate-General for Economics and Financial Affairs. Dezember. Baker, D., D. Glyn, D. Howell und J. Schmitt. 2005. Labour Market Institutions and Unemployment: Assessment of the Cross-Country Evidence. In: D. Howell (Hrsg.): Fighting Unemployment. The Limits of Free Market Orthodoxy. Oxford University Press. Kapitel 3. 72–113. Bassanini, A. und R. Duval. 2006. Employment Patterns in OECD Countries: Reasses- sing the Role of Policies and Institutions. OECD Economics Department Working Paper 486. Bertola, G. 2000. Labour Markets in the European Union. In: CESifo Forum 1. 9–11. 82 ◊ Geldpolitik & Wirtschaft Q 3 / 06
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