WANDEL e v . d Einblick in Forschung und Lehre der PTHV 2019/20 - DIE UNIVERSITÄT FÜR THEOLOGIE UND PFLEGEWISSENSCHAFT
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PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHE HOCHSCHULE VALLENDAR Kirchlich und staatlich anerkannte Wissenschaftliche Hochschule in freier Trägerschaft WANDEL .de . p thv w ww Einblick in Forschung und Lehre der PTHV 2019/20 DIE UNIVERSITÄT FÜR THEOLOGIE UND PFLEGEWISSENSCHAFT
2| ÜBERSICHT Grußwort der Prorektorinnen |3 1 Jahresthema Wandel | 4-30 Wandel Trägerschaft / Ringvorlesung „Digitalisierung“ |4 Antworten auf die Corona-Krise |6 Pflege im Wandel: „CHN“-Studium | 10 Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit | 12 Segen über eine kranke Welt | 14 Konzilsforschung in Zeiten von Corona | 16 Rosa Flesch: Vor- und Leitbild | 18 Studium im Wandel: Online-Lehre | 20 Kinder sind die Garanten des Wandels | 22 (Altenheim-)Seelsorge im Wandel | 24 Herausforderungen in der Langzeitpflege | 26 PTHV im Wandel: Renovierung der Bibliothek | 28 2 Einblick in die Forschung: Theologie | 30 3 Einblick in die Forschung: Pflegewissenschaft | 34 4 Träger, Förderer und Sponsoren | 38 5 Zahlen und Fakten | 40 Termine | 42 Impressum | 43 — „Gott sucht sich das Kleine aus, wenn er Großes vorhat.“ — Lernen Sie Mutter M. Rosa Flesch (1826–1906) und ihre Ideale kennen. Sie war die Gründerin der Waldbreitbacher Franziskanerinnen und ist neben Vinzenz Pallotti ein wichtiges Leit- und Vorbild für die PTHV. An verschiedenen Stellen in diesem Jahresbericht können Sie Zitate von ihr entdecken. Viel Freude beim Suchen, Finden und Verstehen!
3 | GRUßWORT DER PROREKTORINNEN LIEBE LESERINNEN UND LESER, LIEBE FREUNDINNEN UND FREUNDE DER PTHV, als wir das Thema „Wandel“ als Thema für den Jahresbericht 2019/20 vereinbarten, ahnte nie- mand, wie sehr dieses Thema uns einholen würde. Es gibt Jahre, die man nicht vergessen wird, und dazu gehört das Jahr 2020. So war bei allem Wandel, der uns freiwillig, aber auch unfreiwillig beschäftigte, gerade die Hochschulleitung damit beschäftigt, Kontinuität in Zei- ten der Corona-Pandemie zu gewährleisten: Fortführung der Lehre, wenn auch auf digitalem Weg, Kontakte unter den Kolleginnen und Kollegen, Studierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der räumlichen Zerstreuung des Homeoffice, Planung in eine sich manchmal mehrfach täglich verändernde Zukunft hinein. Leben in Unsicherheit, eine in der Pflegewis- senschaft zentrale Kompetenz, wurde plötzlich zum allgemeinen Exerzitium. Das wäre nicht gelungen ohne die zupackende und kollegiale Zusammenarbeit vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in beiden Fakultäten, nicht zu vergessen die Pallottinische Hausgemeinschaft und die Geschäftsführung, die die gesamte PTHV gGmbH im Blick hatten. Dafür gebührt allen Beteiligten ein großer Dank. Die Themen, die in der Gesellschaft diskutiert werden, betreffen zentral die Fächerkombinati- on an der PTHV (von der Virologie einmal abgesehen): Heil und Heilung, Gerechtigkeit und le- benswerte Zukunft in einer verwundbaren und schicksalhaft aufeinander verwiesenen Welt. Der vorliegende Jahresbericht gibt Einblicke in das, was uns in diesen Monaten bewegte. Ein zwar angekündigter Wandel war für die PTHV mit einem schmerzlichen Abschied verbun- den: Zum Ende des Wintersemesters wechselte unser Rektor, Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski, an die Universität Erfurt. Wir verdanken ihm viel von dem, was sich in den letzten Jahren, in denen er das Rektorat führte, an der PTHV gewandelt hat, zusammengewachsen ist und in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Seine Abschiedsvorlesung „Freiheit und Menschenwür- de – im Schatten der Corona-Pandemie“ fasste die Kernanliegen seines philosophischen und humanen Denkens eindringlich zusammen. Leider konnte die Verabschiedung aufgrund der Pandemie nur im kleinen Rahmen stattfinden. Den Diskurs um die theologischen und pflege- wissenschaftlichen Kernanliegen, die Herausforderungen und notwendigen Veränderungen, die an die Hochschule gestellt werden, führen wir auch in sich wandelnden Zeiten fort. In anderer Form, im wahrsten Sinne des Wortes gewandelt, aber wie immer fruchtbar. Prof. Dr. Erika Sirsch Prof. Sr. Dr. Margareta Gruber OSF Proektorin Pflegewissenschaftliche Fakultät Prorektorin Theologische Fakultät
4| 1 PTHV: WANDEL IN DER TRÄGERSCHAFT Nach vielen Verhandlungen der bisherigen Träger der PTHV – Marienhaus und Pallottiner – ist es jetzt klar: Ab dem kommenden Jahr wird es ohne Marienhaus weitergehen. Ende Juli beschloss die Provinzversammlung der deutsch-österreichischen Pallottinerprovinz die Fortführung als Alleingesellschafter ab 2021. In der Pressemitteilung heißt es: Die Provinzversammlung der Pallottiner KdöR hat sich am 27. und 28. Juli 2020 in Vallendar mit der Zukunft der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Gesellschaft des Katholischen Apostolates (Pallottiner) in Vallendar, abgekürzt PTHV, befasst. Die PTHV ist eine katholische Hochschule in freier Trägerschaft im Rang einer Universität. Träger der Hochschule ist die PTHV gGmbH. Ihre Gesellschafter sind die Vinzenz Pallotti gGmbH und die Marienhaus Hol- ding GmbH. Die Marienhaus Holding zieht sich zum Jahresende 2020 aus der Trägerschaft der Philoso- phisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) zurück. Sie unterstützt die Hochschule allerdings noch mit einem einmaligen namhaften finanziellen Beitrag, um so den Fortbestand der Hochschule mit zu sichern. Die Marienhaus Unternehmensgruppe tut diesen Schritt, um sich noch stärker auf ihr Kerngeschäft – also den Betrieb von Kliniken, Senioreneinrichtungen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Hospizen – konzentrieren zu können. Aufgrund dieser Entscheidung haben die Pallottiner geprüft, ob sie die Trägerschaft als Al- leingesellschafter übernehmen und die Hochschule mit einem innovativen Konzept alleine in eine neue Zukunft führen können. Nach eingehenden Beratungen in der Gemeinschaft mit anderen Institutionen, externen Beratern und Gutachtern aus dem Bereich Hochschulen und Hochschulförderung hat die Provinzversammlung am 28. Juli 2020 in Vallendar mit großer Mehrheit ein Konzept zur Sanierung und Neuausrichtung der Hochschule beschlossen. Die Pallottiner übernehmen damit auch die alleinige Verantwortung als Träger der PTHV. Bis Ende des Jahres 2020 wird eine konkrete Strategie zur Neuausrichtung der Hochschule erarbeitet und gleichzeitig ein Sanierungsprogramm zur Reduzierung der Kosten einge leitet. Die Pallottiner sind sehr froh, dieses traditionsreiche Apostolat mit einer zeitgemäßen Visi- on in eine neue Zukunft führen zu können. Provinzial Pater Helmut Scharler SAC sagte: „Die Entscheidung für die Fortführung der Hochschule ist ein starkes Zeichen der Lebendigkeit unserer Provinz. Es spricht für unser Vertrauen in die Zukunft und zeugt von einem jungen Herzen“. Autor | Prof. P. Dr. Paul Rheinbay SAC
5 | ONLINE RINGVORLESUNG „DIGITALISIERUNG“ Auch im akademischen Jahr 2019/20 bot die PTHV für die interessierte Öffentlichkeit eine Ringvorlesung mit Lehrenden aus beiden Fakultäten (bis zu den Corona-Beschränkungen wie gehabt an verschiedenen Veranstaltungsorten, danach digital) an. Dieses Mal zum Thema „Digitalisierung“. Alle Vorlesungen sind wieder in der Mediathek von Domradio Köln zu finden (www.domradio.de) sowie auf der PTHV-YouTube-Seite. „Was ist, wenn der Computer den Pflegebedarf bestimmt?“ Prof. Dr. Erika Sirsch „Die Gefahr der Verallgemeinerung – Ezechiels Kritik an Sprichworten und Günter Grass‘ Analyse moderner Hassmedien in ‚Krebsgang‘“ Prof. P. Dr. Alban Rüttenauer SAC „Vom Pergament zum Internet. Medien der Glaubensvermittlung in der Geschichte der Kirche“ Prof. P. Dr. Joachim Schmiedl ISch „Auch Technik läuft auf Gott hinaus. Der hl. Bonaventura zum Verhältnis von Technik und Theologie“ Prof. P. Dr. Markus Schulze SAC „How dare we? Philosophische Überlegungen zur ökologischen Krise“ Prof. Dr. Franziskus von Heereman „Der Mensch als Prometheus – Mängelwesen oder Krone der Schöpfung“ Dr. Michael Schmude „Mia oder Paro? Zum Einsatz von Hunden und Robotern in der Therapie von Menschen mit Demenz“ JProf. Dr. Sabine Nover „Sprachmittlung, Übersetzung, Kommunikation. Eindrücke aus dem Forschungsprojekt TONGUE zu kultureller Vielfalt im Krankenhaus“ Nils Fischer und Dr. Sabine Könninger „Mission im Zeitalter der Digitalisierung“ Prof. Dr. mult. Klaus Vellguth
6| ANTWORTEN AUF DIE CORONA-KRISE Theologie, Ethik, Pflege: Durch die Corona-Krise wird die Republik vor große Herausfor- derungen gestellt. Vor allem in den Kliniken, den Pflegeheimen und der ambulanten Ver- sorgung sind die Auswirkungen erkennbar. Der öffentliche Diskurs wird durch die Medizin bestimmt, vor allem durch die virologische Fachkompetenz. Diese Perspektive ist wichtig, gerade in der aktuellen Krise essentiell. Aber es kann wenig Zweifel dahingehend geben, dass mit der Corona-Krise theologische, ethische sowie pflegewissenschaftliche Fragen verbunden sind, die weit über die aktuelle Situation hinausgehen. Aus diesen drei Pers- pektiven wird im Folgenden eine Reflexion im Hinblick auf die Corona-Krise vorgenom- men. Der Text ist zuerst auf dem Internetportal katholisch.de erschienen. Die theologische Perspektive: Dass Würde und Wert des Menschen in seiner Gottebenbild- lichkeit begründet liegen, ist eine der zentralen Einsichten der christlichen Theologie. Gegen- über substanz- und eigenschaftsontologischen Ansätzen, welche das Wesentliche des Men- schen am Vorhandensein bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten festmachen (z. B. Vernunft, Sprache, Bewusstsein), wird aus dieser Tradition als anthropologische Fundamen- talbestimmung herausgestellt, dass alle Menschen vor Gott gleich sind und als Personen An- erkennung beanspruchen können. Mehr noch: Vulnerabilität und Endlichkeit gehören subs- tantiell zur menschlichen Existenz. Das wird uns mit jeder Krankheit vor Augen geführt, nicht zuletzt auch in der aktuellen Krise. Aus christlicher Sicht ist es das Leben und Sterben Jesu von Nazareth, aus dem ein Lebensent- wurf abgeleitet werden kann, der sich von Barmherzigkeit, Solidarität und konkretem Engage- ment für die Letzten und Verwundbarsten leiten lässt und der im Ernstfall sogar den Einsatz des eigenen Lebens nicht scheut. Für eine Gesellschaft im Ausnahmezustand ist es aus dieser Perspektive die Solidarität, über die zwingend nachzudenken ist. Niemand hat das je besser
7 | JAHRESTHEMA WANDEL ins Bild gesetzt als Pier Paolo Pasolini, der abseits aller sentimentalen Klischees in seinem Film „das 1. Evangelium – Matthäus“ aus dem Jahre 1964 die sozialen Aspekte der Botschaft Jesu in den Vordergrund gerückt hat. Christus wurde als leidenschaftlicher Bekämpfer des Unrechts dargestellt, das die Menschen sich selbst zugefügt haben. Nun ist die Corona-Krise kein Leid, für das irgendjemand verantwortlich gemacht werden kann; bestenfalls Regierungen, die zu spät, halbherzig oder falsch gehandelt haben. Die Konsequenz im Sinne eines radikalen Christentums ist jedoch gleich: Sorge, Mitgefühl und praktische Hilfe für die Schwachen und die Ärmsten sind das Gebot dieser Stunde. Deshalb ist es ein hoffnungsvolles Zeichen, dass ausgerechnet einer der reichsten Männer der Welt – Bill Gates – zur Unterstützung der afrikanischen Staaten aufruft. Er weiß, dass Nächstenliebe nicht nur eine Floskel ist. Denn gerade in den ärmsten Ländern wird die Krise am deutlichsten zuschlagen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass auch bei uns (und in allen europäischen Ländern, Asien und den USA) große Herausforderungen erkennbar sind. Aber niemand wird in Abrede stellen können, dass die Katastrophe ganz woanders eintreten wird. Wir wissen, dass dies so geschehen wird. Und wir sind zur Solidarität (in Form von Schuldenerlassen, Un- terstützung durch medizinisches Gerät, Unterstützung durch Fachpersonal, etc.) aufgerufen. Dies war auch eine der klaren Aussagen in der Osterbotschaft von Papst Franziskus. Der ethische Blickwinkel: Ethische Kriterien für eine klinische Entscheidung knüpfen an die grundlegenden Gedanken einer theologischen Anthropologie an und stellen die Menschen- würde ins Zentrum. Damit verbunden sind Hinweise dahingehend, wie Willkür, Diskriminie- rung oder Instrumentalisierung von Menschen zu vermeiden sind (Vgl. auch die aktuelle Stellungnahme des Ethikrats katholischer Träger von Gesundheits-und Sozialeinrichtungen im Bistum Trier: www.pthv.de/forschung/institute/ethik-institut/ethikrat/stellungnahmen- des-ethikrats/). Als normative Richtschnur dienen die vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik: der Selbstbestimmung, der Fürsorge, des Nichtschadens und der Gerechtigkeit. Es darf kein Unterschied im Zugang, der Behandlung und der Therapie gemacht werden, etwa im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Religion, kulturellem Hintergrund, Sozialstatus etc. Einzig und allein medizinisch-pflegerische, fachliche und ethische Überlegungen sind ausschlag- gebend. Auch in Fällen, bei denen nicht ausreichend Ressourcen vorhanden sind (z. B. zu wenig Beat- mungsgeräte), ist eine Orientierung unzulässig, die mit Werturteilen über die Person des Pati- enten verbunden ist. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die technischen und personellen Ressourcen einer Intensivstation im Prinzip für alle Patienten mit intensivmedizinischem Be- handlungsbedarf zur Verfügung stehen müssen. Machen wir es konkret: In Italien hatte man sich dazu entschlossen, möglichst viele Lebensjahre zu retten. Aufgrund der unzureichenden Ressourcen stand man aber vor der Herausforderung, ältere Menschen, mehrfach erkrankte
8| Personen oder andere „Risikogruppen“ nicht mehr an die Beatmungsmaschinen anzuschlie- ßen und stattdessen jüngere und weniger gefährdete Menschen zu bevorzugen. Eine sol- che Selektion vulnerabler Personen ist aus ethischer Sicht inakzeptabel. Denn sie verstößt letztlich gegen die Menschenwürde. Und diese Praxis führt in der Konsequenz dazu, dass Stigmatisierung, Angst und Ausgrenzung bei älteren Menschen und Schwachen zunehmen, davor warnen bereits Fachgesellschaften, u. a. die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Der Wandel der Pflegebranche und die neue Rolle der Pflege: Die grundlegende Orien- tierung seitens der christlichen Theologie (d. h. Solidarität) und die konkreten Empfehlungen für kritische Entscheidungssituationen aus ethischer Sicht (d. h. Diskriminierungsverbot) müs- sen vor einem z. T. substantiellen Wandel des Gesundheits- und Pflegesystems und neuen Anforderungen an die Pflege verortet werden. Zwar wird aktuell den „Helden des Alltags“ applaudiert; die wichtigste Botschaft aus der Corona-Krise muss aber lauten, die Misere der Pflege politisch in den Blick zu nehmen und nachhaltig (und nicht nur symbolisch) Mängel in der Bedeutung der Pflege und ihrer professionellen Versorgungspraxis zu beseitigen. Wir haben die Krankenhäuser als Profitcenter umfunktioniert, zwischen 1995 und 2006 insgesamt 51.000 Pflegestellen dort wegrationalisiert, die Zahl der Patienten um sechs Prozent erhöht und die Verweildauer von 13,3 Tagen 1992 auf 7,3 Tage 2017 reduziert. Aktuell kommen nur 19 Pflegende auf 1.000 Fälle, in Japan sind es 53,1 Pflegende und selbst im OECD-Durchschnitt sind es 31,9. Deutschland nimmt im europäischen Vergleich – vor Israel und Ungarn – den drittletzten Platz ein. Bekannt ist die extreme Belastung des Pflegeberufs, seine geringe Bezahlung (vor allem in der Altenpflege), seine ambivalente gesellschaftliche Anerkennung. Geradezu skandalös ist die niedrige Akademisierungsquote der Pflege; sie liegt aktuell bei 0,6 Prozent bundesweit. Der Wissenschaftsrat hatte vor fast zehn Jahren bereits einen Anteil von 10 bis 20 Prozent gefordert, hiervon sind wir noch weit entfernt. Wenn wir wirklich Innovationen und Weiterentwicklungen wollen, dann brauchen wir einen Schub für die Hochschulen, die akademische Entwicklung und die Professionalisierung der Pflegenden. Nur so kann eine Anschlussfähigkeit an internationale Entwicklungen, z. B. in den skandinavi- schen Ländern aber auch an Schottland und Großbritanien, ermöglicht werden. Aber es geht nicht nur um Konkurrenz; aus pflegerischer Perspektive lautet die wichtigste Lehre aus der Corona-Krise, dass die Rolle der Pflege neu aufgestellt werden muss. Niemand hat das besser formuliert als der deutsche Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock, und zwar bereits vor 25 Jahren. Er war der Meinung, dass von Eigenständigkeit, angemessener Problemwahrnehmung und erst recht von einer wissenschaftlichen Fundierung des Pflege- handelns keine Rede sein kann. Denn nach einer langen caritativen Tradition wurde die Pflege im 19. Jahrhundert als ärztliche Assistenzarbeit neu konzipiert. Die Medizin hat es verstanden,
9 | JAHRESTHEMA WANDEL das caritative Element der Pflege als Dienst am Nächsten in den Dienst am Arzt umzuwan- deln. Dieses Monopol, so muss die Konsequenz aus der Corona-Krise lauten, hat sich heute überlebt. Eine neue Vision für unser Gesundheitswesen kann nur multi- und interdisziplinär gedacht werden, und zwar mit neuem Selbstbewusstsein der Pflege – jenseits ihrer politi- schen Regulierung und der Unterordnung unter die ärztliche Profession. Die Konsequenz: Die These dieses kurzen Textes lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Wenn wir nicht nur aktuell die Krise bewältigen wollen, sondern aus ihr lernen und die richti- gen Konsequenzen ziehen wollen, dann müssen wir folgende Punkte beachten: –– Erstens darf die Deutungshoheit über das Gesundheitswesen nicht allein der Medizin – und vor allem den Virologen – überlassen werden. Deren Vorschläge an die Politik sind aktuell hoch bedeutsam. Aber mittel- und langfristig kann nur eine übergreifende Per- spektive Richtschnur sein und nachhaltige gesellschaftliche Akzeptanz beanspruchen. Dazu gehören die genannten Disziplinen, sicher auch noch weitere. Sie müssen sich zu Wort melden, eine multi- und interdisziplinäre Besinnung ist am Ende notwendig. –– Zweitens sollten wir das Aufgaben- und Kompetenzprofil der Pflege überdenken. Wie soll eine professionelle Arbeitsweise etabliert werden, wenn am Ende jede noch so bana- le Verordnung vom Arzt angeordnet und nicht selbständig seitens der Pflege verantwor- tet wird? Wir verlangen nach engagierten, motivierten und klugen Köpfen in der Pflege, blockieren aber jede Veränderung durch ein arztzentriertes Gesundheitssystem, welches sich längst überholt hat – von der Akademisierung ganz zu schweigen. –– Drittens sollten wir die Krise zu einem Innehalten und zu einem Moratorium nutzen – auch für die Politik. Die ist im Moment mit der Bewältigung der Krise beschäftigt. Aber die Zeit danach sollte genutzt werden für eine neue Vision eines Gesundheitswesens – jen- seits der Profitmaximierung, der Ausbeutung der Pflegenden und der Benachteiligung der Schwachen. Die Zeit ist reif für die Renaissance der Gemeinwohlidee im Gesundheits- wesen. Dazu brauchen wir öffentliche Foren der Verständigung, und zwar unter Beteili- gung der Hochschulen – nicht nur als Talkshow-Inszenierungen. Versinken wir also nach der Krise nicht in einer neuen Geschäftigkeit und Besinnungslosigkeit, sondern tun wir das, was das Schwerste ist: Lernen! * ANMERKUNG: FÜR KRITISCHE UND KONSTRUKTIVE HINWEISE DANKE ICH PROF. SR. DR. MARGARETA GRUBER OSF, PROF. P. DR. PAUL RHEINBAY SAC UND PROF. DR. ERIKA SIRSCH. DER BEITRAG MUSS ALS GEMEINSAME ARBEIT UND FÄCHERÜBERGREIFENDE STELLUNGNAHME AUF DIE CORONA-KRISE VERSTANDEN WERDEN. Autor | Prof. Dr. Hermann Brandenburg *
10 | PFLEGE IM WANDEL: „CHN“-STUDIUM Im Wintersemester 2020/21 startet erstmalig der an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der am Lehrstuhl Pflegewissenschaft von Prof. Dr. Frank Weidner zusammen mit Dr. Maria Peters und Manuela Völkel entwickelte Masterstudiengang „Community Health Nursing“ (CHN). Die Entwicklung wurde an insgesamt drei Hochschulen in Deutschland von der Robert Bosch Stiftung und der Agnes-Karll-Gesellschaft gefördert und unterstützt. PTHV: Prof. Weidner, worum geht es bei Community Health Nursing? F. W.: „Community Health Nursing“ ist ein international verbreitetes Konzept für die erwei- terte Pflegepraxis, vorrangig im häuslichen und kommunalen Bereich. Wir übersetzen CHN als primäre und kommunale Gesundheitspflege. Sie hat zum Ziel, Prävention, Beratung und Gesundheitsversorgung für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie hochaltrige Menschen, aber auch für Familien und Menschen mit Vorerkrankungen anzubieten. Die Themen In- terdisziplinarität und Vernetzung im Sozialraum stellen dabei zentrale Perspektiven dar. So sollen bestehende und neue Angebote im Quartier besser auf die individuellen Bedarfe der Zielgruppen abgestimmt und dazu die verschiedenen Akteure optimal miteinander vernetzt werden. Dazu gehören gleichermaßen professionelle Angebote von Ärzten, ambulanten Pfle- gediensten oder Physiotherapie genauso wie niedrigschwellige Angebote und Einsatz von ehrenamtlich Engagierten. PTHV: Wo wird die Community Health Nurse (männlich und weiblich) konkret eingesetzt? F. W.: Die Community Health Nurse arbeitet zum einen im Gesundheitswesen zusammen mit Ärzten und Therapeuten z. B. in Gesundheitszentren, Ärztenetzwerken und Medizinischen Versorgungszentren. Sie kann dort als erste Ansprechpartnerin für Patienten agieren und organisiert dann je nach Bedarf die weiteren Behandlungsschritte. Ferner kann sie in enger Absprache mit dem interdisziplinären Team chronisch kranke Menschen besuchen, beglei- ten und behandeln. Zum anderen gibt es ein großes Einsatzfeld für die CHN-Absolventen in der kommunalen Daseinsvorsorge. Hier planen und organisieren sie im Netzwerk mit anderen Akteuren beispielsweise bedarfsgerechte Unterstützungs- und Pflegeangebote im Sozialraum und übernehmen Verantwortung für die kommunale Pflegestrukturplanung. Gesundheitsförderung, Prävention, Vernetzung und Befähigung von Menschen stehen als Handlungsstrategien dabei im Vordergrund.
11 | JAHRESTHEMA WANDEL PTHV: Es wird im Zusammenhang mit CHN auch von einer erweiterten Pflegepraxis gesprochen – was bedeutet das genau? F. W.: Deutlich wird ja, dass es sich sowohl bei der primären als auch der kommunalen Gesundheitspflege um neue, er- weiterte Aufgabenfelder mit deutlich mehr Verantwortung für die Pflege handelt. Das hat sowohl mit Umsetzung von Diagnostik und Therapie, aber auch mit Planungs- und Organisationsverantwortung zu tun. Je nach gesetzlicher Rahmenbedingung und Kooperationsvereinbarung vor Ort wird die Pflege zukünftig mehr eigenständige Heilkundeaus- übung übernehmen, so wie es international schon üblich ist. CHN stellt dabei einen Prototypen für die erweiterte Pflege- praxis im Sozialraum dar. Prof. Dr. Frank Weidner PTHV: Was erwartet die Studierenden im CHN-Studium – ist Studiengangsleiter welche Schwerpunkte gibt es? des neuen Angebots F. W.: Wir legen in Vallendar gezielte Schwerpunkte auf die Rahmenbedingungen, Theorie und Praxis des CHN genauso wie auf Methoden des Case und Care Management, der Be- ratung und Vernetzung. Eine besondere Betonung legen wir auf ethische Fragen sowie auf praktische Anwendungen. Der Mensch wird ausdrücklich mit seinen individuellen Bedürf- nissen und Wünschen nach Selbstbestimmtheit und Teilhabe gesehen. Die Studierenden müssen Praktika absolvieren, die im In- wie im Ausland stattfinden können. Das Studium dauert in der Regel zwei Jahre in Präsenz- und Selbststudien- zeiten, findet in intensiver Kleingruppenarbeit statt und wird digital unterstützt. Kurzum: Wir machen die Studierenden fit für ihre neuen Aufgaben in der primären und kommunalen Gesundheitspflege. Der Masterstudiengang „Community Health Nursing – primäre und kommunale Gesundheitspflege“ startet zum Wintersemester 2020/21 an der PTHV und schließt nach vier Semestern mit einem Master of Science (M.Sc.) ab. Es gibt ein Zuwendungsprogramm von bis zu 4.000,- Euro aus der Robert Bosch Stiftung pro Studierende/n der ersten Studienkohorte. Weitere Informationen unter: www.community-health-nursing.de Interview | Verena Breitbach
12 | CHANCEN- UND GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT In ihrem Beitrag plädiert JProf. Dr. Maria Marchwacka, Lehrstuhl für Berufspädagogik mit dem Schwerpunkt Gesundheits- und Pflegedidaktik, Studiengangsleitung Lehramt Pflege an Berufsbildenden Schulen (BBS) und Gleichstellungsbeauftragte an der PTHV, für eine Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit, Teilhabe und Teilnahme. Die erste Frau, die das Amt einer Bundesministerin bekleidet hat, Elisabeth Schwarzhaupt (zu- gleich Juristin, die sich für Gleichberechtigung einsetzte), war Anfang der 1960er Jahre für das Ressort Gesundheitswesen zuständig. Ein Bereich, der vorwiegend von Frauen begleitet wird. Die aktuelle Covid-19-Pandemie-Situation hebt die Bedeutung der gesundheitlichen Versor- gung, der Fürsorge – im physischen, psychischen und sozialen Sinne – und damit die Tätigkeit der Frauen hervor. Fürsorge oder Pflege bzw. Care (aus dem Englischen) wird im Sinne pfle- gerischer bzw. medizinischer (aber auch emotionaler) Fürsorge verstanden, eben Betreuen, Kümmern, Sorgen. Hierbei bezieht sich die Zuwendung sowohl auf den privaten Haushalt, als auch auf den Beschäftigungssektor: im Kontext der Kinderbetreuung, Sozialarbeit, Alten- und Krankenpflege aber auch Unterstützung im Haushalt, in der Sterbebegleitung. Die genannten Tätigkeiten übernehmen mehrheitlich Frauen in unserer Gesellschaft. So offenbaren Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2019, dass beispielsweise in Krankenhäusern 76 Prozent Frauen und 24 Prozent Männer arbeiten, in den Kindergärten und Vorschulen 93 Pro- zent Frauen und sieben Prozent Männer und im Einzelhandel mit Nahrungsmitteln 73 Prozent Frauen und 27 Prozent Männer. In Krisenzeiten werden diese Berufe besonders geschätzt und politisch als „systemrelevant“ eingestuft. Gleichwohl bleiben diese Tätigkeiten im Alltag meist unsichtbar, auch wenn aktuell unverkennbar wird, wie unverzichtbar diese sind. Die Covid-19-Pandemie verdeutlicht das Engagement und die Bedeutung der Frauen in ge- sellschaftlichen Strukturen, insbesondere in der Care-Arbeit. Zugleich sind sie dem Risiko auf- grund ihres großen Anteils am Gesundheitspersonal der Infektionsgefahr ausgesetzt – laut dem WGH-German-Netzwerk (Women in Global Health 2020). Hinzu kommen weitere Risiken wie Kurzarbeit bzw. Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste, die auf die hohe Beschäfti- gungsrate der Frauen in den Tätigkeitsbereichen als Servicekräfte in der Gastronomie und Hotelbranche sowie Reinigungskräfte zurückzuführen ist. Diese Tätigkeitsfelder zählen zum einen zu den ohnehin unterbezahlten Berufen, zum anderen sind sie aktuell besonders durch Kurzarbeit betroffen. Des Weiteren sind Frauen, die mit Familie ihr berufsbegleitendes Studi- um (auch in der Pflege) aufgenommen haben bzw. beruflich aufsteigen, der Doppelbelastung (Erwerbsarbeit und Kindererziehung, Unterricht, Haushalt – insbesondere Alleinerziehende) ausgesetzt. Folglich entstehen ihnen Nachteile für die berufliche Karriereentwicklung.
13 | JAHRESTHEMA WANDEL „Frauen halten die Gesellschaft am Laufen“ Pointiert kann hierbei das Zitat von Henrik Ibsen angeführt werden: „Die Frauen sind die Stüt- zen der Gesellschaft“. Frauen halten die Gesellschaft am Laufen und ihre Tätigkeiten werden in der Gesellschaft als selbstverständlich in Anspruch genommen – am Arbeitsplatz, im Eh- renamt und im Haushalt. An dieser Stelle ist eine Frage erlaubt: Werden Frauen angesichts ihres Engagements, ihrer Verdienste gesellschaftlich adäquat honoriert? Diese beinahe rhetorische Frage verweist auf die Problematik der Gleichberechtigung, die auch über 100 Jahre nachdem Frauen erstmals in Deutschland wählen durften, weiterhin im Entwicklungsprozess ist. Gegenwärtig ist es selbstverständlich, dass Frauen arbeiten, studieren und einflussreiche Positionen überneh- men. Zugleich sind Frauen in Führungspositionen (insbesondere in der Wirtschaft sowie an Hochschulen) unterrepräsentiert und verdienen weniger: je höher die Besoldung, desto niedriger der Frauenanteil, so die Statements der Wissenschaftskonferenzen. Insofern sind die arbeitenden und studierenden Frauen nicht allein als Indiz für die Gleichberechtigung zu betrachten. Vielmehr ist das die Frage der ökonomisch angemessenen Vergütung und damit einhergehender Anerkennung sowie Entscheidungspositionen, die weiterhin Ungleichheiten und Benachteiligung offenbaren. „Als Gleichstellungsbeauftragte sehe ich meine Rolle in der Vernetzung“ Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit sind ein großes Anliegen der PTHV, die hierzu einen heterogenen Ausschuss vorweist, um sich adäquat für die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kolleginnen und Kollegen, Studierenden und ihre Rechte einzusetzen. Als Gleichstellungsbeauftragte sehe ich meine Rolle u. a. in der Vernetzung, im Austausch mit diversen Organisationen und Einrichtungen – regional, national und international. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass die Gleichberechtigung nicht allein vor dem Hintergrund des Geschlechts betrachtet werden darf. Frauen sind im intersektionalen Sinne zu betrachten, d. h. deren soziale, kulturelle und ökonomische Ressourcen sowie gesundheitlicher Status, das Alter aber auch die ethische Herkunft sind hierbei zu berücksichtigen; sie erschweren oder erleichtern die Gleichstellung. Meines Erachtens ist Gleichstellung im Sinne der Fürsorge und Selbstsorge zu verstehen, die der Ausgrenzung jeder Form entgegenwirkt, für Chan- cengerechtigkeit steht, Teilnahme und Teilhabe sowie Selbstbestimmung gewährleistet und Empowerment fördert. Für Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit brauchen wir institutionellen, politischen und durchaus gesellschaftlichen Wandel, Menschen, Strukturen und nachhaltige Politik, die sich kontinuierlich für Gleichberechtigung und Barrierefreiheit einsetzt und dafür sensibilisiert. Autorin | JProf. Dr. Maria Marchwacka
14 | SEGEN ÜBER EINE KRANKE WELT Prof. Sr. Dr. Margareta Gruber OSF lässt uns an ihren Gedanken teilhaben, die sie seit dem 27. März 2020, dem Beginn des „sakramentalen Lockdowns“, bewegten. Dazu zählen un- ter anderem die Fragen: Was bedeutet die „Systemrelevanz“ der Frauen in der Kirche, de- ren Hingabe ihres Lebens nicht in vollem Sinn als Christusrepräsentanz gewertet werden darf? Wie dürfen wir das ergreifende Zeichen vom Abend des 27. März 2020, den Segen über die kranke Welt, deuten? Es gibt Bilder, die vergisst man nicht: Am Abend des 27. März 2020 ist Papst Franziskus mit dem eucharistischen Herrn in der Monstranz über die Schwelle des Petersdoms getreten, um die kranke Welt zu segnen. Es war, wie wenn er mit ihm hinausgehen wollte in die dunkle und menschenleere Stadt, zu den in ihren Häusern eingeschlossenen Menschen. Das Läuten der Glocken vermischte sich mit den Sirenen der römischen Ambulanzen. Als ich diese Bilder sah, saß ich Zuhause in einer vom Gesundheitsamt verordneten Quaran- täne. Die Angst der ersten Tage vor einem möglichen Ausbruch der Krankheit vergesse ich nicht. Der Segen aus Rom traf mich vielleicht deshalb so stark. Ich war Gott so dankbar für diese Möglichkeit in meiner Kirche, Menschen nicht nur durch das Wort, sondern, und sei es auch nur über den Bildschirm, sakramental zu erreichen. Es folgten die langen Wochen des „sakramentalen Fastens“, wie die Zeit der geschlossenen Kirchen manchmal genannt wurde. Die Gläubigen verbrachten Stunden in verschiedenen Streamingformaten. Aber auch vor Ort fanden Hausgottesdienste statt, in denen Gläubige sich in der Rolle des Liturgen oder der Liturgin erfuhren.
15 | JAHRESTHEMA WANDEL — „Gott ist so gut, Du brauchst nicht traurig zu sein.“ — Mutter M. Rosa Flesch Seither wird in den kirchlichen Medien darüber diskutiert, wie das Erfahrene zu deuten sei. Welches Bild von Kirche vermitteln diese gestreamten Feiern? Sind sie nicht durch eine über- mäßige Konzentration auf das priesterliche Handeln geprägt? Wo bildet sich die Liturgie als Handeln des Volkes Gottes ab? Wem „gehören“ die Sakramente? Und wer „verwaltet“ sie im Auftrag der Kirche? So führte die Erfahrung des sakramentalen Entzugs der Gläubigen viele geistliche Zeitdiagnostikerinnen und Zeitdiagnostiker, Bischöfe wie Laien, zum Ruf nach der Priesterweihe für verheiratete Männer und zur klaren Vorstellung von mehr Aufgaben und Ämtern für Frauen. Die höchste Form der Christusrepräsentanz ist seit der frühen Kirche der Märtyrer und die Märtyrerin. Am Abend des 27. März 2020 rief der Papst die Menschen ins Gedächtnis, „die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben“ und nannte dabei natürlich auch die Frauen. Die öffentliche Nennung dieser plötzlich als „systemrelevant“ be- zeichneten Menschen wie der Pflegekräfte wurde oft mit dem Verweis darauf verbunden, dass sie „unsichtbar“ seien, was ihrer Bedeutung nicht entspräche. Mögen diesen applaudier- ten Worten Taten folgen! Was aber bedeutet die „Systemrelevanz“ der Frauen in der Kirche, deren Hingabe ihres Lebens nicht in vollem Sinn als Christusrepräsentanz gewertet werden darf? Aufgewertet werden sie im kirchlichen Sprachgebrauch durch den Hinweis auf die die- nende Existenz Marias. Diese Rhetorik erinnert mich an das schlechte Gewissen der Politiker gegenüber den „Heldinnen des Alltags“. Vielleicht aber will Maria heute Modell sein für eine priesterliche Existenz in einer diakonischen Kirche, zu der Männer und Frauen gerufen sind? Die Pandemie wird nach der Missbrauchskrise vielleicht zum zweiten großen Zeitzeichen, das der Kirche ihren Weg in die Zukunft weisen will: als diakonische Kirche in einem umfassenden Sinn, heilendes, befreiendes, das Erbarmen Gottes in die Welt bringendes Sakrament für die Welt. Das „Feldlazarett“ entspricht der Not und der Sehnsucht einer kranken Welt. Dies wird auch die Theologie des kirchlichen Amtes prägen. Zweifellos hat niemand ein „Recht“ auf ein Amt, weder Mann noch Frau. Doch hier geht es um den zentralen Auftrag der Kirche, wie ihn Papst Franziskus in seiner Predigt vor dem großen Segen noch einmal eindringlich formuliert hat: Den Menschen das Evangelium zu bringen, die österliche Botschaft der Hoffnung. Wie also darf ich das ergreifende Zeichen vom Abend des 27. März 2020, den Segen über die kranke Welt, deuten? Ist es eine weitere mächtige Bestärkung der priesterlichen Vollmacht in der Hand des männlichen Amtsträgers, der den sakramentalen Herrn „in der Hand“ hält? Oder ist es ein erster Schritt dieses sakramentalen Herrn hinaus aus dem Innenraum der Kir- che hinein in die leidende Welt, die ihn ersehnt und seine Anwesenheit bitter entbehrt? Wo und in welcher Weise will er sich dort sakramental vergegenwärtigen? Und wer darf ihn dann priesterlich tragen? Autorin | Prof. Sr. Dr. Margareta Gruber OSF
16 | KONZILSFORSCHUNG IN ZEITEN VON CORONA Eigentlich war dieses Jahr ganz anders geplant. Das interkontinentale Forschungsprojekt zum Zweiten Vatikanischen Konzil von Prof. P. Dr. Joachim Schmiedl ISch war gerade da- bei „Fahrt aufzunehmen“. Bereits im letzten Jahresbericht der PTHV „Transfer“ (S. 16/17) wurde über den Projektstart berichtet. Nun kam durch Covid-19 alles anders. Im November und Dezember 2019 hatten sich die Studien- Screenshot der virtuellen gruppen getroffen. Die Lateinamerikaner berieten in Carácas Besprechung im in Venezuela; in der politischen und wirtschaftlichen Krisensi- Konzilsprojekt über sämtliche tuation des Landes war das ein wichtiges Zeichen, weil der Kontinente hinweg Workshop in Verbindung mit einem großen theologischen Kongress mit über 300 Teilnehmern stattfand. In Philadelphia kamen die Kolleginnen und Kollegen aus Nordamerika, Aust- ralien und dem pazifischen Raum zusammen. An beiden Veranstaltungen konnte ich teilnehmen. Und schließlich fand auch bei den asiatischen Kolleginnen und Kollegen ihr Work- shop im indischen Bangalore unter tatkräftiger Mithilfe von Prof. Dr. mult. Klaus Vellguth (PTHV) statt. Für das Jahr 2020 war geplant, dass sich die europäische Stu- diengruppe im belgischen Leuven, die lateinamerikanische in Mexiko, die nordamerikanisch-pazifische wieder in Phila- delphia, die asiatische in Bangalore und die afrikanische in Jo- hannesburg treffen würden. Dabei sollten die kontinentalen
17 | JAHRESTHEMA WANDEL — „Alles tun aus Liebe zu Gott, für Gott, mit Gott, um zu Gott zu gelangen. Dann wird auch das Aufheben eines Strohhalms zum Gebet.“ — Mutter M. Rosa Flesch Rezeptionen des Konzils und seiner Dokumente in den Blick genommen werden. Als Dreh- und Angelpunkt dieser Konferenzen war ein mehrtägiges Symposium in Leuven vorgesehen, das den Startschuss für die zweite Phase des Projekts, nämlich die Erarbeitung von Kommen- taren zu den Konzilsdokumenten in interkontinentalen Arbeitsgruppen, geben sollte. Doch dann kam Corona. Die steigenden Fallzahlen in Deutschland und dem angrenzenden europäischen Ausland machten sehr schnell klar, dass die Konferenzen in Leuven Mitte Juni 2020 gecancelled werden müssen. Gleichzeitig liefen aber früher als geplant die ersten Beiträ- ge dafür ein. Was tun? Wir entschieden uns, die Arbeitsweise zu ändern. Noch im März 2020 fanden die ersten Videokonferenzen statt. Die Texte wurden vorher auf eine gemeinsame und allen zugängliche Internet-Plattform hochgeladen. An der Diskussion der überschaubaren Einheiten nahmen im Durchschnitt ein Dutzend Kolleginnen und Kollegen teil. Wir bespra- chen zunächst die Beiträge aus der europäischen Studiengruppe. Das geplante Symposium wurde ersetzt durch eine Serie von Konferenzen, bei denen hermeneutische Perspektiven des Konzils und seiner Bedeutung für Kirche und Gesellschaft der Gegenwart im Vordergrund standen. Die Koordination des Projekts geschieht dabei nach wie vor durch das Leitungsteam (Schmiedl, Eckholt, Hünermann und Vellguth sowie als Projektmitarbeiter Zamagni). Wichtige Weichen- stellungen besonders für die Kommentierungsphase werden zusammen mit den Koordina- toren der kontinentalen Studiengruppen und den Koordinatoren der Kommentargruppen besprochen und an die mehr als Hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommuniziert. Diese Arbeitsweise hat sich nach drei Monaten Corona recht gut eingespielt. Und sie wird sich auch weiter bewähren müssen. Denn auch für den Rest des Jahres wurden die geplanten Workshops abgesagt. Die Corona-Situation erlaubt weder ein Treffen in Johannesburg noch in Mexiko, Philadelphia oder Bangalore. Ob und wann diese Workshops nachgeholt werden können, wissen wir derzeit noch nicht. Die Alternative aber wird weiter praktiziert. Es ist eine besondere Erfahrung des Miteinander-Arbeitens, sich zu sehen und doch über Kontinente hinweg voneinander entfernt zu sein. Online-Konferenzen sind so selbstverständlich gewor- den wie Online-Lehre. Doch eine Erfahrung zeigt sich nach mehreren Monaten Lockdown. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die als Priester, Ordensleute oder Ehepartner mit erwachsenen Kindern mehr Freiraum als gewöhnlich für die wissenschaftliche Arbeit haben. Und es gibt solche, die in einer engen Wohnung mit kleinen Kindern durch Homeschooling und Betreuung noch mehr gefordert sind als sonst. Das bedeutet für unser Projekt, dass wir auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten leben und rechnen müssen. Wie sich das auswirken wird, wenn es auf die Redaktion und Publikation der Texte zugeht, wird sich noch zeigen müssen. Autor | Prof. P. Dr. Joachim Schmiedl ISch
18 | ROSA FLESCH: VOR- UND LEITBILD Sr. Edith-Maria Magar ist Franziskanerin von Waldbreitbach und seit 2012 Generaloberin der Waldbreitbacher Franziskanerinnen und Vorsitzende der Waldbreitbacher Franzis- kanerinnen e. V. Mit uns sprach sie über die Anliegen der seligen Mutter Rosa Flesch, der Gründerin der Ordensgemeinschaft, auch im Hinblick auf das Titelthema „Wandel“. PTHV: Wer war Rosa Flesch, was war das Besondere an ihr und was war ihr Anliegen? Sr. E.-M.: Mutter Rosa (Margaretha) Flesch, 1826 in Schönstatt bei Vallendar geboren, war das älteste Kind armer Leute. Nach dem frühen Tod der Mutter blieben die 6-jährige Margaretha und ihre beiden jüngeren Schwestern sich oft selbst überlassen, weil der Vater für den Le- bensunterhalt sorgen musste. Chronisten beschreiben sie als aufgewecktes Kind mit klarem Verstand, überdurchschnittlicher Lernbereitschaft und erstaunlicher emotionaler Intelligenz. Ihr Herzensanliegen blieb Zeit ihres Lebens die Hinwendung zu den Armen und Kranken, den Verlassenen und Alten, wie auch die Förderung von Frauen und die Qualifizierung ihrer Schwestern für den Dienst an den Kranken. Selbst widrigste Bedingungen konnten sie nicht aufhalten. PTHV: Wie kann man Rosa Flesch mit dem Begriff des Wandels vereinbaren? Sr. E.-M.: Das möchte ich mit folgenden Beispielen skizzieren: • Ihre leibliche Schwester litt an Epilepsie, für deren Behandlung es damals keine spezialisier- ten Einrichtungen gab. Epilepsiekranke Menschen hatten in der Gesellschaft und der Kirche keinen Platz. Mutter Rosa stand zu ihrer Schwester und band sie in ihr Leben ein, auch auf die Gefahr hin, dass erste Interessentinnen die Gemeinschaft wegen der teils unerträgli- chen Anfälle wieder verließen. • Unmittelbar nach ihrer Erstprofess, der Gründung der Gemeinschaft im März 1863, erreichte Mutter Rosa ein Notruf aus Adenau. Ohne zu zögern schickte sie ihre beiden ersten und einzigen Gefährtinnen in die Eifel. • Zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges begab sie sich kurzentschlossen mit 50 Schwestern, das waren mehr als die Hälfte der Gemeinschaft, zur Pflege der Verwundeten in die Kriegslazarette. • Ihre Freundschaft mit Gräfin Octavie de Lasalle von Louisenthal war deshalb außergewöhn- lich, weil die Standesunterschiede zwischen den beiden Frauen kaum größer hätten sein können. Zudem waren „Partikular-Freundschaften“ zur damaligen Zeit in Klöstern verpönt. Mutter Rosa setzte sich über diese Ressentiments hinweg. PTHV: Was ist den Waldbreitbacher Franziskanerinnen im Anschluss an das Erbe Rosa Fleschs im Hinblick auf den Begriff des „Wandels“ besonders wichtig?
19 | JAHRESTHEMA WANDEL — „Ich will schlicht und einfach unter den Menschen leben.“ — Mutter M. Rosa Flesch Sr. E.-M.: Sicher ihre Risikobereitschaft, sich allen Widerstän- den zum Trotz entschieden für Benachteiligte einzusetzen. Ich denke an den Einsatz für geflüchtete Menschen und die Unterstützung des Kirchenasyls. Wichtig ist uns die Förde- rung von Frauen, ihre Einbindung in Führungsverantwor- tung, der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche durch die Zusammenarbeit mit dem ‚Netzwerk Diakonat der Frau‘, sowie der barmherzige Umgang mit wiederverheiratet geschiedenen Mitarbeitenden. Gegenwärtig befassen wir uns weiterhin mit neuen situationsgerechten Formaten in Leitungsstrukturen von Ordensgemeinschaften, grundsätz- lich mit interkongregationaler Vernetzung und Kooperation. Als dringlich erachten wir das Ausloten von zeitgemäßen Ge- staltungsformen des Ordenslebens mit zukunftsfähigen Ge- Sr. Edith-Maria Magar ist meinschaftsformaten, die suchende Menschen ansprechen Generaloberin der Waldbreit- und zum Mitleben einladen. Von Mutter Rosa inspiriert, gilt bacher Franziskanerinnen unsere Zuwendung den Menschen, die durch Lebenskrisen, Glaubensnot, Einsamkeit, Arbeits- und Wohnungslosigkeit in Not geraten sind. PTHV: Was können wir heute von Rosa Flesch lernen? Sr. E.-M.: Oft beklagen wir unsere Demografie und den feh- lenden Nachwuchs. Wie wir gesehen haben, hat Mutter Rosa kurz nach der Gründung, ohne lange zu überlegen, ihre beiden ersten Schwestern dahin geschickt, wo die Not am größten war. Darin kann sie uns Vorbild sein: unabhängig von der Zahl der Schwestern Prioritäten zu setzen und das, was uns allein nicht mehr möglich ist, im Verbund mit anderen zu verwirklichen. Mit unerschütterlichem Gottvertrauen trotzte sie Schwierigkeiten und Widerständen, finanziellen Problemen stellte sie sich und bewies durchaus selbstbewusstes Verhandlungsgeschick. Ihre entschiedene Option für die Armen motiviert uns, Stellung zu beziehen, wenn Gemeinwohl und solidarischer Zusammenhalt zu erodieren drohen, wenn Menschen verfolgt und gepeinigt werden. Mutter Rosas Liebe zur Schöpfung, ihre Kenntnis von Kräutern und Heilpflanzen mahnt uns zu klimaverantwortli- chem Handeln. Und schließlich dieses: Ordensleben ist nicht Selbstzweck, sondern Sendung, solange wir leben. Interview | Verena Breitbach
20 | STUDIUM IM WANDEL: ONLINE-LEHRE Nicht nur die Lehrenden, auch die Studierenden der PTHV (wie an allen anderen Uni- versitäten auch) haben sich während der Corona-Krise umstellen müssen. Alle Lehrver- anstaltungen beider Fakultäten – Theologie und Pflegewissenschaft – wurden mit dem Lockdown in digitaler Form umgesetzt: virtuelle Vorlesungen, Seminare und Prüfungen sind im Sommersemester 2020 weitestgehend reibungslos in die digitale Lehre gestartet. (Juni 2020) von Karin Herrmany-Maus, Fachschaftsvorsitzende Pflegewissenschaftliche Fakultät und Studierende im Masterprogramm Pflegewissenschaft In einem Artikel vom 28.04.2020 berichtete die Rhein-Zeitung Koblenz über einige Studierenden- vertreter in Rheinland-Pfalz, die die erste Woche des Online-Semesters als kritisch einstufen. Sie fordern, dass das laufende Sommersemester 2020 aufgrund der Corona-Krise und den damit ver- bundenen Schwierigkeiten, wie zum Beispiel Serverproblemen, nicht als Regelsemester gewertet wird. Einige Hochschulen verpflichten zudem Studierende wohl während der Online-Präsenz, die Kameras ständig einzuschalten, um die Anwesenheit zu überprüfen. Das erleben Studierende an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar anders. An der Pflegewissenschaftlichen Fakultät werden die Studiengänge Bachelor Pflegeexpertise, Master Pflegewissenschaft sowie Bachelor und Master Lehramt Pflege an Berufsbildenden Schulen sowie ein Promotions-Programm angeboten. Hier gibt es weder eine Kamerapflicht, noch gra- vierende Serverprobleme. Die Umstellung der Präsenzzeiten auf digitale Vorlesungen hat für die Zuständigen innerhalb kurzer Zeit zwar sehr viel Arbeit bedeutet, jedoch hat sich diese Investition gelohnt. Die Online-Uni funktioniert gut. Die gewählte Plattform Open Olat steht den rheinland- pfälzischen Hochschulen zur Verfügung. Sie bietet für jeden Kurs vielfältige Möglichkeiten wie einen digitalen Meetingroom, Literaturordner, Podcasts oder ein digitales „Whiteboard“. Jeder Dozent / jede Dozentin gestaltet die Online-Vorlesung individuell mit den zu Verfügung stehenden Möglich- keiten, sowohl synchron als auch asynchron. Damit wird die jeweilige Vorlesung interessant und kurzweilig. Die für dieses Semester ausstehenden Referate sind kurzerhand in schriftliche Hausar- beiten mit verlängerter Abgabefrist geändert worden. Für mündliche Prüfungen, die aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden mussten, sind für viele Studierende individuelle Lösungen gefunden worden. Eine erschwerte Situation jedoch erleben diejenigen Studierenden an der PTHV, die sich zurzeit in einer Qualifikationsarbeit befinden. So sind zum Beispiel zurzeit die Bedingungen für Interviews und die Literaturbeschaffung sehr eingeschränkt. Auch hier bietet die PTHV indivi- duelle Unterstützungsmöglichkeiten und Lösungen. Studierende, die Schwierigkeiten während einer Qualifikationsarbeit hätten, können sich umgehend mit ihrem Mentor / ihrer Mentorin oder den Betreuenden der Abschlussarbeit in Verbindung setzen, damit individuelle Lösungen gefunden werden können, wie z. B. die Umwandlung von Interviews in Telefoninterviews. Dies deutet darauf hin, dass dieses Semester nicht pauschal bewertet werden kann, sondern hier eine differenzierte Sichtweise erforderlich ist.
21 | JAHRESTHEMA WANDEL (April 2020) von Fr. Augustinus Hernández, Theologie-Student Nach einer Woche „Online-Lehre“ möchte ich sehr persönliche Gefühle teilen: Vor circa einem Jahr fing mein Studium an der PTHV an und ich muss gestehen, dass ich nicht sehr davon begeistert war, die Stille der Klosterklausur zu verlassen: Man könnte sagen, dass ich in „Quarantäne-Modus“ war und bleiben wollte. Doch: Wie schnell sollte sich meine Meinung ändern! Wie schnell wurde ich hier mit so guten Freunden beschenkt! Wie schnell habe ich diesen Ort lieb gewonnen! Nun befinden wir uns alle gezwungenermaßen in „Klausur“ und müssen physischen Abstand voneinander halten. Ich hege das genau umgekehrte Gefühl: Wie sehr würde ich mich jetzt über Vorlesungen freuen, über Gespräche vor der Kaffeemaschine, mit echten Menschen statt vor kleinen Bildern auf einem Bildschirm. Trotzdem möchte ich herzlich allen danken, die sich viel Mühe geben, um uns das Studium auf diesem ungewöhnlichen Weg zu ermöglichen. Wenn ich jemanden zitieren darf: „Wir schaffen das!“ Last, but not least, möchte ich ein Bild unserer Abteikirche teilen, wegen der Krise leer, aber erfüllt vom Licht des Auferstandenen. Hier verweile ich, während ich mir die Rückkehr der Begegnungen und Überraschungen des normalen Alltags in der Hochschule wünsche. Oremus pro invicem!
22 | KINDER SIND DIE GARANTEN DES WANDELS Der Jahresbericht steht unter dem Motto „Wandel“. „Kinder sind die Garanten des Wan- dels“, erklärt Dr. Maria Peters, Stabsstelle Studienangelegenheiten der Pflegewissen schaftlichen Fakultät. Dieser Beitrag enthält Gedanken der Autorin und ehemaligen Promovendin der PTHV aus ihrer Doktorarbeit, veröffentlicht in dem Buch: „Das frühge- borene Kind im Zentrum des Entscheidungsprozesses“. Mit jedem neugeborenen Menschen kommt die Chance eines Neuanfangs in die Welt und sie wird sich garantiert mit jedem neuen Menschen ein wenig wandeln.1 Das bedeutet jedoch für die Kinder, dass in sie große Hoffnung gesetzt wird und sie gleichzeitig zum Adressaten von Zumutungen werden, so der Pädagoge Gerold Scholz2. „Auf Kinder wird die Hoffnung über- tragen, jene Aufgaben zu übernehmen, deren Bewältigung die Generation der Erwachsenen sich im Rahmen ihrer Sinngebung vornimmt“.2 Obwohl wir, Erwachsene, dies wissen und schätzen und wir alle unser Dasein als Kinder be- gonnen haben, bringen wir Kindern nur wenig Achtung entgegen. Kinder werden leicht zu Opfern. Sie werden verdinglicht und dienten den Interessen der Erwachsenen, sagt Michael Freeman (Juraprofessor und Editor des „International Journal of Children‘s Rights“)3. Man traut ihnen nichts zu. Man erkennt sie nicht als moralisch gleichwertig an. Sie werden missverstan- den, missachtet und missbraucht. Die Ungleichbehandlung von Kindern ist in unserer Gesellschaft Programm. Sie erhalten weniger Geld zum Leben als Erwachsene (z. B. Sozialhilfe) und sind daher stärker von Armut betroffen und Krankheit, denn das eine bedingt das andere. Sie haben kein Mitspracherecht und keinen Zugang zum Rechtssystem. Zwar gibt es die Kinderrechte, aber was nützen diese ohne Zugang zum Rechtssystem.
23 | JAHRESTHEMA WANDEL Woran liegt das? Warum werden sie so anders behandelt als Erwachsene? Und: Warum gel- ten für sie andere Regeln? Janusz Korczak4, Pädagoge, Kinderarzt und Buchautor, sieht die grundlegende Gefährdung des Kindes durch Erwachsene darin, dass sie es nicht etwa nur als „andersartigen […] Organismus“ betrachten, „sondern als einen niedereren, schwächeren, ärmeren. – Als seien alle Erwachsenen – sozusagen gelehrte Professoren“. Das Kind komme in eine Welt, die Achtung und Bewunderung vor Dingen, Lebewesen und Taten zeigt, die groß sind. Dagegen sei „das Kind […] klein, leicht, es ist weniger. – Wir müssen uns bücken, wir müs- sen uns zu ihm hinunterneigen. Was schlimmer ist, das Kind ist schwach. Wir können es hoch- heben, in die Luft werfen, gegen seinen Willen hinsetzen, wir können es mit Gewalt in seinem Lauf aufhalten, seine Anstrengung zunichtemachen [… bis es] sich unterwirft, resigniert.“4 Kinder sind anders! Kinder sind anders! Das ist sicher richtig. Kinder verstehen die Welt anders und setzen andere moralische Prioritäten, aber sie sind nicht a-moralisch. Dennoch ist ihr moralischer Status, ihr „Wert“, ein anderer als der von Erwachsenen. Das gilt insbesondere für frühgeborene Kinder. So erhalten sie nachweislich nicht so selbstverständlich eine lebenserhaltende Therapie wie ältere Kinder oder Erwachsene, die nach einem Unfall das gleiche Risiko haben zu verster- ben oder mit einer Behinderung zu überleben, wie ein frühgeborenes Kind.5 Bei ihnen wird in vielen Fällen zuerst einmal abgewogen, diskutiert und Statistiken zu Rate gezogen, um schließlich zu entscheiden, ob eine Behandlung sinnvoll sein könnte. Diese schwierigen Entscheidungsprozesse sind für die Pflegeforschung interessant, weil vor- dergründig alles dafür getan wird, diese Prozesse als rationale objektive Prozesse erscheinen zu lassen. Bei genauerem Betrachten der Praxis im Rahmen des Promotionsprojektes hat sich jedoch gezeigt, dass die Akteure sehr genau das Kind im Blick haben. Sie versuchen zu ergründen, ob es lebensfähig ist oder nicht. Seine zarten Reaktionen und Signale werden wahrgenommen und flie- ßen, sofern die betroffenen Ärzte, Pflegenden und Eltern es zulassen, in die Entscheidung mit ein. In deutschen Krankenhäusern liegen jährlich etwa 1,8 Mill. Kinder-Patienten, d. h. jeder 10. Patient ist ein Kind unter 15 Jahren. Unter ihnen bilden die frühgeborenen Kinder die größte Patientengruppe6. 1 Schües, C. (2016): Philosophie des Geborenseins (2nd ed.). Alber Philosophie. Freiburg, S. 418. 2 Scholz, G. (1994): Die Konstruktion des Kindes: Über Kinder und Kindheit: Manuskript. Retrieved from www.grundschulforschung.de/ GSA/Konstruktion.pdf, S. 10; auch als Buch veröffentlicht, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. 3 Freeman, M. D. A. (1997): The moral status of children: Essays on the rights of the child. The Hague, The Netherlands, Cambridge, MA: Martinus Nijhoff Publishers. S. 22. 4 Korczak, J. (2015): Das Recht des Kindes auf Achtung: Fröhliche Pädagogik (6. Aufl.). Gütersloher Verl.-Haus. S. 10 u. 45. 5 Janvier, A.; Bauer, K. L.; Lantos, J. D. (2007): Are newborns morally different from older children? In: Theor Med Bioeth 28 (5), S. 413-425. DOI: 10.1007/s11017-007-9052-y. 6 2018 Statistisches Bundesamt; www.destatis.de. * DIE AUTORIN IST KINDERKRANKENSCHWESTER UND DOKTORIN DER PFLEGEWISSENSCHAFT UND STEHT AN DER PTHV FÜR DIE PÄDIATRISCHE PFLEGE. Autorin | Dr. Maria Peters
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