Diskussionsforum Raumentwicklung - MORO Informationen . Nr. 14/6 . 2019 Gleichwertige Lebensverhältnisse - Grundlage für Heimatstrategien ...

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Diskussionsforum Raumentwicklung - MORO Informationen . Nr. 14/6 . 2019 Gleichwertige Lebensverhältnisse - Grundlage für Heimatstrategien ...
MORO Informationen . Nr. 14/6 . 2019

Diskussionsforum
Raumentwicklung
Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlage für Heimatstrategien

Ein MORO-Forschungsfeld

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MORO Informationen . Nr. 14/6 . 2019

Diskussionsforum
Raumentwicklung
Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlage für Heimatstrategien

Ein MORO-Forschungsfeld
Diskussionsforum Raumentwicklung - MORO Informationen . Nr. 14/6 . 2019 Gleichwertige Lebensverhältnisse - Grundlage für Heimatstrategien ...
Vorwort
Das Ziel der Raumordnung ist es, in ganz Deutsch-        mehr (nur) um die Unterschiede der Lebensverhält-
land gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen.       nisse in Stadt und Land; sowohl im ländlichen Raum
Diese Leitvorstellung ist in Paragraf 1 des Raumord-     als auch in den Städten liegen prosperierende und
nungsgesetzes allen weiteren Regelungen des Geset-       hinter den Durchschnitt fallende Regionen oft nah
zes vorangestellt. Die oft zitierte Verankerung dieses   beieinander.
Ziels im Grundgesetz der Bundesrepublik dagegen ist
nur implizit, nämlich als Begründung für ein gesetz-     Die Regierung hat sich in dieser Legislaturperiode
geberisches Einschreiten des Bundes in Konkurrenz        deshalb vorgenommen, das Land neu zu vermes-
zu den ansonsten zuständigen Ländern. Übrigens           sen, ein „großes Blutbild“ zu erstellen, und dafür
war im Grundgesetz von 1949 im entsprechenden            eine Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse
Artikel 72 noch von „Einheitlichkeit“ der Lebensver-     eingesetzt. Hier sind alle Länder und die kommuna-
hältnisse „über das Gebiet eines Landes hinaus“ die      len Spitzenverbände vertreten. Sechs Arbeitsgruppen
Rede. Im heutigen Artikel 72 erlaubt dagegen die Ge-     arbeiten an Themenschwerpunkten. Die Arbeitsgrup-
fährdung der „Herstellung gleichwertiger Lebensver-      pe 3 befasst sich mit dem Beitrag der Raumordnung.
hältnisse“ ein gesetzliches Einschreiten des Bundes.     Aus diesem Anlass haben wir den Kreis der Disku-
                                                         tanten erweitert und das Thema Gleichwertigkeit
Einheitlich oder gleichwertig – im Kern geht es im       der Lebensverhältnisse für das Diskussionsforum
Grundgesetz darum, dass der Bund sicherstellt, dass      Raumentwicklung gesetzt.
kein Land Regelungen zu Lasten anderer Länder
trifft, damit die Unterschiede der Lebensbedingun-       Das Ergebnis des Diskussionsforums am 22.11.2018
gen in den Ländern nicht das Gesamtgefüge – den          liegt nun vor – ich wünsche eine interessante Lektü-
sozialen Frieden – der Bundesrepublik gefährden.         re.

Da sich die Lebensbedingungen beständig ändern
und Kräften und Einwirkungen unterworfen sind, die
weder planbar noch gesetzlich abschließend regelbar      Vera Moosmayer
sind, ist die Schaffung gleichwertiger Lebensverhält-
nisse eine Daueraufgabe. Es geht um ein beständiges      Leiterin der Unterabteilung Raumordnung, Regio-
Feinjustieren, um bei wechselnden Winden den Kurs        nalpolitik und Landesplanung im Bundesministerium
zu halten. Dabei spielen sehr viele Faktoren mit.        des Innern, für Bau und Heimat
Technische Weiterentwicklungen beeinflussen die
Lebensbedingungen in den Regionen ebenso wie
politische Veränderungen, wirtschaftliche Entwick-
lungen und Veränderungen der Umwelt. Beispiele
sind Internet, Mobilfunk, Klimawandel, Energiever-
sorgung, Mobilität, die deutsche und europäische
Einheit mit ihrer Binnenfreiheit.

Heute sind wir an einem Punkt, an dem die Unter-
schiede der Lebensbedingungen in den verschiede-
nen Regionen wieder stärker in den Fokus rücken
und debattiert werden – nicht nur in Deutschland,
in ganz Europa und darüber hinaus. Wie viel Unter-
schiedlichkeit wollen und können wir uns als Gesell-
schaft leisten, wann sind die Menschen „abgehängt“,
nur weil sie hier und nicht dort leben? Es geht nicht

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Inhalt
Vorwort.................................................................................................................................................................................. 4

Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlage für Heimatstrategien................................................................... 6

Thesen zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse................................................................................................. 9

Strategien zur Entwicklung ländlicher Räume aus der Sicht der Region Oberfranken....................................14

Erste Diskussionsrunde....................................................................................................................................................16

Gibt es in Deutschland abgehängte Regionen?..........................................................................................................18

Strategischer Rückzug aus peripheren Ortsteilen mit hohem Leerstand............................................................22

Zweite Diskussionsrunde.................................................................................................................................................31

Stadt und Region 2035 – Wie wir leben, wohnen und arbeiten.............................................................................32

Wie können aus kleinen Gemeinden im ländlichen Raum Zukunftsorte werden?............................................34

Digitale Transformation – zur Zukunft der Arbeits- und Unternehmenswelt....................................................37

Dritte Diskussionsrunde...................................................................................................................................................40

Fazit und Empfehlungen..................................................................................................................................................41

Kontakt.................................................................................................................................................................................46

Impressum..........................................................................................................................................................................47

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Gleichwertige Lebens-
verhältnisse - Grundlage für
Heimatstrategien
Marco Wanderwitz
Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich begrüße ich Sie zum Diskussionsforum            Deshalb werden wir gerade diese Regionen im Schul-
Raumentwicklung des Bundesministeriums des               terschluss mit den Ländern und Kommunen stärker
Innern, für Bau und Heimat auf der geschichtsträch-      unterstützen. Jede Region hat Stärken und Potenzia-
tigen Halbinsel Schwanenwerder. Dies ist die sechste     le, die aktiviert werden können. Das heißt nicht, dass
Veranstaltung dieser Reihe, jedoch die erste, die in     jede kleine ländliche Gemeinde jetzt Klein-München
der Regie des BMI stattfindet. Wenn ich die The-         oder Klein-Hamburg werden soll. Im Gegenteil:
men der bisherigen Veranstaltungen betrachte, sind       wir wollen die Identitäten der Regionen erhalten
wichtige aktuelle Fragen und ihre Zusammenhänge          und stärken, wir wollen die Eigenheiten feiern, wir
mit der Raumentwicklung behandelt worden – von           wollen die Lebensleistung der Menschen würdigen
der Energiewende über Migration und Leitbilder bis       und Wahlmöglichkeiten lassen, wie sie leben wollen.
zur digitalen Infrastruktur. Es ist gelungen, das Dis-   Und wo – auf dem Land, in der Kleinstadt oder in der
kussionsforum als ein Markenzeichen der Raument-         Großstadt!
wicklung zu etablieren. Die Bundesregierung setzt in
dieser Legislatur neue Akzente – auch für die Rau-       Die Lebensverhältnisse sollen auch nicht gleich sein.
mentwicklung. Der Aufgabenbereich ist nun Teil der       Aber gleichwertig!
neuen Abteilung Heimat des BMI. Übergeordnetes
Thema der Heimatstrategie sind die gleichwertigen        Dazu soll auch die am 18. Juli eingesetzte Kommissi-
Lebensverhältnisse in allen Teilräumen Deutschlands      on „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ beitragen. Sie
– einem Leitsatz auch der Raumentwicklung. Darü-         hat im September ihre Arbeit aufgenommen, um bis
ber wollen wir heute diskutieren.                        Sommer nächsten Jahres Handlungsempfehlungen
                                                         vorzulegen. Das ist ein sehr ambitionierter Zeitplan.
Unser Ziel ist es, Ungleichheiten in den Lebensver-      Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Hei-
hältnissen der Menschen in den verschiedenen Regi-       mat hat den Vorsitz inne, das Bundesministerium für
onen Deutschlands abzubauen und das Lebensgefühl         Ernährung und Landwirtschaft und das Bundesmi-
spürbar zu verbessern. Viele Menschen, die Regionen      nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
abseits der florierenden Schwarmstädte München,          die Co-Vorsitze. Außerdem sind in der Kommission
Berlin, Hamburg oder Leipzig ihre Heimat nennen,         die weiteren Bundesressorts einschließlich der Be-
fühlen sich zunehmend von Berlin nicht wahrgenom-        auftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-
men. Weiterhin ziehen viele Menschen aus ländli-         dien sowie für Migration, Flüchtlinge und Integration
chen Regionen in die Großstädte und Ballungsräume.       und des Beauftragten der Bundesregierung für die
Je weniger Menschen in einer Region aber leben und       neuen Länder vertreten. Mitglieder der Kommission
arbeiten, desto schwieriger wird es für diese Region,    sind zudem alle Länder und die drei kommunalen
wieder attraktiver zu werden und den Trend umzu-         Spitzenverbände. Die Kommission hat sechs Arbeits-
kehren.                                                  gruppen unter dem Vorsitz je eines Bundesressorts
                                                         eingesetzt:

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•   AG 1: „Kommunale Altschulden“ unter Vorsitz              Wahlkreis. Hier grenzen zwischen Chemnitz und
    des Bundesministeriums der Finanzen,                     dem Erzgebirge viele kleinere und größere Gemein-
•   AG 2: „Wirtschaft und Innovation“ unter Vorsitz          den aneinander, die man nicht alle „ländlich“ nennen
    des Bundesministeriums für Wirtschaft und                würde. Er gilt laut Landesentwicklungsplan Sach-
    Energie,                                                 sen deshalb auch richtig als verdichteter ländlicher
•   AG 3: „Raumordnung und Statistik“ unter Vorsitz          Raum – das zeigt, dass es „den“ ländlichen Raum
    des Bundesministeriums des Innern, für Bau und           nicht gibt: die ländlichen Räume sind mindestens
    Heimat                                                   so unterschiedlich wie die Städte. Ländliche Räume
•   AG 4: „Technische Infrastruktur“ unter Vorsitz           kann man deshalb nicht über einen Kamm scheren.
    des Bundesministeriums für Verkehr und digitale          Es genügt ein Blick auf meinen eigenen Wahlkreis
    Infrastruktur,                                           Chemnitzer Umland / Erzgebirgskreis II, der völlig
•   AG 5: „Soziale Daseinsvorsorge und Arbeit“ unter         anders strukturiert ist als z. B. ländliche Räume im
    Vorsitz des Bundesministeriums für Arbeit und            dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern oder
    Soziales,                                                solchen im Süden Deutschlands.
•   AG 6: „Teilhabe und Zusammenhalt der Gesell-
    schaft“ unter Vorsitz des Bundesministeriums für         Wenn wir den ländlichen Raum stärken wollen,
    Familie, Senioren, Frauen und Jugend.                    müssen wir vor allem die kleinen Städte im ländli-
                                                             chen Raum stärken – es gibt 2012 Kleinstädte mit
Die Arbeitsgruppen arbeiten bereits und werden der           Einwohnern zwischen 5.000 und 20.000. Diese sind
Kommission bis Anfang Mai 2019 ihre Berichte vor-            die Ankerpunkte ihrer Region, sie stellen die Versor-
legen. Der Bericht der Kommission soll dann bis Juli         gung sicher.
2019 vorgelegt werden. Es genügt aber nicht, Papiere
zu liefern; es geht uns um konkrete Maßnahmen, die           Wenn wir von Gleichwertigkeit reden, meinen wir:
wir zügig umsetzen – die ersten sollen noch in dieser        Jede und jeder soll Zugang zu Bildung, Gesundheits-
Legislaturperiode umgesetzt werden.                          versorgung, Arbeit, Teilhabe am gesellschaftlichen
                                                             Leben haben können, egal wo und wie sie oder er
Ein Fokus in der Diskussion um Gleichwertigkeit der          wohnt. Wir müssen den Druck aus den wachsenden
Lebensverhältnisse ist die Stärkung ländlicher Regio-        Ballungsräumen nehmen und dazu den Wegzug aus
nen. Ich komme selbst aus einem ländlich geprägten           den ländlichen Regionen stoppen. Dazu müssen

Abbildung 1: Marco Wanderwitz (Foto: a.k.m. GmbH & Co. KG)

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wir auch die Attraktivität der ländlichen Regionen        Die Förderprogramme sind im Allgemeinen für die
verbessern. Der Ausbau der Infrastruktur ist hierbei      kleineren Gemeinden wichtiger als für Großstäd-
zentral: die Erreichbarkeit einer Region, die Mobilität   te, die eher aus eigener Kraft handeln können. Die
in der Region – Stichwort ÖPNV! – muss verbessert         Programme der Städtebauförderung tragen viel zur
werden. Daneben sind der flächendeckende An-              Gleichwertigkeit bei – auch wenn der Name es nicht
schluss an Mobilfunk und Internet heute Schlüssel-        unbedingt nahe legt, profitiert gerade auch der länd-
faktoren für die Entwicklung.                             liche Raum von der Förderung. Fast die Hälfte der
                                                          Bundesmittel – und das sind 2018 immerhin 790 Mil-
Ich baue auf die Kraft des Faktischen. Ich bin sicher,    lionen € – fließt in Städte und Gemeinden in ländli-
dass nicht alle Menschen in die Großstadt ziehen,         chen Regionen. Mit dem Programm „Kleine Städte
weil sie die Großstadt ihrer Heimat per se vorziehen,     und Gemeinden“ stellt der Bund ein gezielt auf den
sondern weil sie dort ein besseres Paket der Le-          ländlichen Raum zugeschnittenes Paket bereit, aber
bensbedingungen vorfinden. Wenn die Attraktivität         auch das Programm Stadtumbau trägt zur Stärkung
in ihrem Heimatort besser ist, ziehen sie auch ganz       von Klein- und Mittelstädten bei. Die Sanierung der
schnell wieder zurück.                                    Ortskerne hilft, den Leerstand zu reduzieren und so
                                                          den Ort attraktiver zu machen. Das trägt zur positi-
Zur Stärkung der ländlichen Regionen gehört auch          ven Entwicklung der gesamten Region bei.
ein neues Nachdenken über Standorte von Behör-
den und Unternehmen. Wenn ich mir die Behörden            Heute werden auch die Ergebnisse des kürzlich
des BMI auf einer Karte ansehe, sehe ich, dass diese      abgeschlossenen Modellvorhabens „Planspiel Aktive
vorrangig in Großstädten angesiedelt sind. Hier muss      Anpassung peripherer Siedlungsstrukturen“ vorge-
der Bund mehr tun – wir müssen uns ansehen, was           stellt. Es geht um das Thema Schrumpfung, denn
passt, vielleicht auch in eine Kleinstadt? Auch die       auch das gibt es, neben den Wachstumstendenzen.
Länder müssen hier tätig werden – Bayern hat eine         Das Thema ist aus der kommunalen Praxis an uns
Dezentralisierungsstrategie, auch Hessen tut hier         herangetragen worden. Im Planspiel wird anhand
bereits einiges.                                          fiktiver, aber realitätsnaher Beispiele untersucht,
                                                          wie eine kleine Gemeinde einen Teilort zurückbauen
Wir wollen die Gemeinden stärken und wieder in die        kann, wenn dies nötig wird und andere Möglichkei-
Lage versetzen, selbst ihre Entwicklung zu gestalten.     ten fehlen. Der Umgang mit Schrumpfungsprozessen
Es geht dabei natürlich auch um eine angemesse-           ist nie populär, zumindest nicht am Anfang. Ich darf
ne finanzielle Ausstattung der Kommunen. Durch            an die Anfänge des Programms „Stadtumbau Ost“
die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen              erinnern, das anfangs als Abrissprogramm missver-
stehen den Ländern ab 2020 deutlich mehr Mittel           standen wurde – Es beruhte immer auf einer Dop-
zur Verfügung. Es gibt frisches Geld des Bundes in        pelstrategie aus Rückbau und Aufwertung und war
Höhe von etwa 10 Milliarden Euro für die Länder. Wir      ein beachtlicher Erfolg, weit über die Stabilisierung
müssen dafür sorgen, dass diese auch bei den Kom-         der Wohnungsmärkte hinaus.
munen ankommen. Aus den starken Regionen höre
ich schon: am besten ist es, ihr lasst uns in Ruhe.       Sie sehen: Wir haben bereits ein Bündel von Instru-
Andere benötigen unsere Unterstützung. Denn die           menten für die Schaffung gleichwertiger Lebensver-
Länderpolitik heißt oft: Zuweisungen nach Einwoh-         hältnisse und entwickeln es beständig weiter. Wir
nerzahl. Je größer die Gemeinde, umso besser also         werden die Ergebnisse der Gleichwertigkeits-Kom-
die finanzielle Ausstattung – diese Pauschalzuwei-        mission zügig in die Tat umsetzen, damit wir dem
sungen bevorzugen große Gemeinden und können              Ziel näher kommen: Gleichwertigkeit der Lebensver-
kleine Gemeinden schwächen und die Abwanderung            hältnisse in allen Teilräumen Deutschlands.
aus dem ländlichen Raum sogar noch verstärken.
Sachsen hat bereits erste Schritte unternommen,           Ich wünsche der Konferenz einen erfolgreichen
um hier gegenzusteuern. Die Fachförderprogramme           Verlauf!
sind zwar mühsamer in der Abwicklung, helfen den
kleinen Gemeinden aber oft mehr.

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Thesen zur Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse
Univ.-Prof. Dr. Gabi Troeger-Weiß
Lehrstuhl Regionalentwicklung und Raumordnung der TU Kaiserslautern

Präambel                                                     Thesen zur Schaffung und Sicherung gleich-
Die Schaffung und der Erhalt gleichwertiger Lebens-          wertiger Lebensverhältnisse
verhältnisse in allen Landesteilen ist eine gesell-
schaftliche Aufgabe, die nicht zur Disposition steht.        These 1:
Die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen von               Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ein aktuelles
Räumen bedeutet vergleichbare Startchancen,                  Handlungsfeld von Staat und Kommunen und kon-
vergleichbare Entwicklungsmöglichkeiten, Zugang              kretisieren sich insbesondere über den physischen
und Erreichbarkeit zu öffentlichen und privaten              und funktionalen Zugang zu Einrichtungen und
Einrichtungen der Daseinsvorsorge, jedoch auch ein           Dienstleistungen der Daseinsvorsorge in differen-
vergleichbarer Zugang zu Fördermöglichkeiten auf             ziert strukturierten ländlichen Räumen.
der Ebene der EU, des Bundes und der Länder und
damit vergleichbare Möglichkeiten zur Gestaltung             Das „ob“ der Gleichwertigkeit steht nicht zur Dispo-
des demographischen, sozialen und wirtschaftlichen           sition. Allerdings erscheint eine Diskussion über die
Strukturwandels. Ferner bedeutet Gleichwertigkeit            inhaltliche, funktionale und distanzielle Ausgestal-
der Lebensverhältnisse vergleichbare Lebensqualitä-          tung erforderlich. Die Verantwortbarkeit und Leis-
ten, vergleichbare Qualifikationschancen für Arbeit-         tungsfähigkeit staatlicher, kommunaler, privater
nehmerinnen und Arbeitnehmer und vergleichbare               und zivilgesellschaftlicher Träger ist dabei gerade im
(technologische) Innovationsmöglichkeiten für                Bereich der Daseinsvorsorge ein wichtiger Maßstab.
Unternehmen.                                                 Damit verbunden ist die Frage, auf welche Weise
Dem Diskussionsforum Raumentwicklung zum The-                gleichwertige, flächendeckende Versorgung zu an-
ma „Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlage             gemessenen Preisen sichergestellt werden kann?
für Heimatstrategien“ liegen folgende Thesen zu-             Die Sicherung von Einrichtungen und Dienstleistun-
grunde, die Impuls und Basis für eine weiterführende         gen der Daseinsvorsorge bestimmt wesentlich die
Diskussion sein sollen:                                      Bleibeoptionen von Bevölkerung und Unternehmen

Abbildung 2: Diskussionsforum Raumentwicklung (Foto: a.k.m. GmbH & Co. KG)

                                                      Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien   9
Diskussionsforum Raumentwicklung - MORO Informationen . Nr. 14/6 . 2019 Gleichwertige Lebensverhältnisse - Grundlage für Heimatstrategien ...
und damit die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume.       These 3:
Geprüft werden müssen dabei allerdings auch der         Innovative Organisationsformen im Bereich der
Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit sowie die         Daseinsvorsorge können einen Beitrag zur Gleich-
Stärkung der Flexibilität bei der Leistungserbringung   wertigkeit in ländlichen Räumen leisten.
und bei Standards.
                                                        Innovativen organisatorischen Lösungen kommt eine
These 2:                                                zentrale Bedeutung bei der Sicherung der Daseins-
Rahmenbedingungen, Voraussetzungen, Herausfor-          vorsorge zu. Es bedarf einer verstärkten Umsetzung
derungen und Handlungsbedarfe sind in ländlichen        von Modell- und Pilotprojekten. Auf kommunaler
Räumen in Deutschland sehr unterschiedlich, was         und regionaler Ebene ist ein Denken in funktionaler
eine individualisierende Betrachtung erfordert.         Daseinsvorsorge und interkommunalen sowie regio-
                                                        nalen Kooperationen erforderlich (z. B. Bündelungs-
Den ländlichen Raum gibt es in Deutschland nicht.       und Paketlösungen bei der Bildungsinfrastruktur
Vielmehr sind die ländlichen Räume von sehr un-         – Schulen, bei medizinischer Infrastruktur – Kran-
terschiedlichen demographischen, sozialen, sied-        kenhäuser oder bei technischer Infrastruktur – Bau-
lungsstrukturellen und wirtschaftlichen Rahmen-         höfe u. a.). Dabei ist vor allem auch die Übertragung
bedingungen und Herausforderungen geprägt. Die          von Best Practices aus dem europäischen Ausland
agrarisch geprägten ländlichen Räume weisen andere      auf ländliche Räume in Deutschland zu erproben.
Handlungsbedarfe auf wie etwa touristisch geprägte
ländliche Räume, periphere ländliche Räume, ländli-     These 4:
che Räume im Umfeld von Verdichtungsräumen oder         Zur Sicherung der Gleichwertigkeit der Lebens-
ländliche Räume mit einer hohen wirtschaftlichen        verhältnisse sind die derzeit laufenden Tendenzen
Dynamik, um nur einige Beispiele zu nennen. Die         einer Privatisierung von einzelnen Bereichen der
verschiedenen Raumtypen haben sehr unterschied-         Daseinsvorsorge zu prüfen.
liche Handlungserfordernisse. Unabhängig von der
unterschiedlichen materiellen und strukturellen Aus-    In einigen Bereichen der Daseinsvorsorge ist und war
gangssituation lassen sich Handlungserfordernisse       der Trend zu Privatisierungen zu beobachten (insbe-
definieren, die für alle Raumtypen zutreffen.           sondere im Bereich der Kommunikation – Telekom-
                                                        munikation, Postdienstleistungen, jedoch auch im
•    Integrierte Sichtweisen und Handlungsansätze.      Bereich der medizinischen Versorgung in Gestalt der
•    Integrative Projekte und Projektmanagement.        Übernahme von Krankenhäusern durch Konzerne).
•    Schwerpunktsetzung auf territorial-räumliche       Die Privatisierung von Einrichtungen und Dienst-
     Handlungsansätze und Verringerung rein sekto-      leistungen zieht in der Regel aufgrund von Kosten-
     raler Ansätze.                                     Nutzen-Erwägungen eine räumliche Zentralisierung
•    Verstärkte Einbeziehung von Best Practices und     nach sich. Für die Entwicklung ländlicher Räume
     damit Diffusion von Positivbeispielen.             kommt der staatlichen und kommunalen Für- und
•    Schwerpunktsetzung auf Dauerhaftigkeit und         Vorsorge besondere Bedeutung zu, insbesondere
     Langfristigkeit von Handlungsansätzen.             in den Bereichen medizinische Versorgung, Tele-
•    Nutzung der emotionalen Bindung sowie der          kommunikation, Postdienstleistungen, technische
     Heimatidentitäten von Entscheidungsträgern         Infrastruktur (Ver- und Entsorgungsinfrastruktur, z.
     und Bevölkerung in ländlichen Räumen.              B. Wasser, Energie, Abfall) und Bildung; andernfalls
•    Verzicht auf technokratischen Instrumentenein-     kann bei Bevölkerungsgruppen der Eindruck der Pe-
     satz.                                              ripherisierung (umgangssprachlich des „Abgehängt-
                                                        Seins“) entstehen.

10     MORO Informationen • Nr. 14/6 • 2019
Abbildung 3: Gabi Troeger-Weiß (Foto: a.k.m. GmbH & Co. KG)

These 5:                                                      Verfügbarkeit von Flächen für eigengenutzte Immo-
Die Digitalisierung ländlicher Räume stellt eine              bilien) in ländlichen Räumen nutzen und (Wochen-)
wesentliche Voraussetzung für die Gleichwertigkeit            Pendlertätigkeiten in Kauf nehmen. Ferner bietet die
der Lebensverhältnisse dar.                                   Digitalisierung eine bislang noch zu wenig genutzte
                                                              Chance zur wirtschaftlichen Entwicklung ländlicher
Die Digitalisierung ländlicher Räume ist für Bevöl-           Räume als Standorte insbesondere für kleine und
kerung und Unternehmen eine der zentralen Vor-                mittlere Betriebe im Dienstleistungsbereich (z. B.
aussetzungen für eine zukunftsfähige Entwicklung              Kreativbranche, Dienstleistungsbranche – Unterneh-
und birgt weitreichende Chancen für eine innovative           mensberatungen, Architektur- und Ingenieurbüros,
Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge.                öffentliche Verwaltungen usw.).
Gerade angesichts der wachsenden Arbeitsmobi-
lität der Bevölkerung (Trennung von Arbeits- und              These 6:
Wohnstandorten) entsteht durch die Digitalisierung            Die Dimensionen von (Mega-)Trends und deren
für ländliche Räume ein erhebliches Entwicklungs-             Relevanz für ländliche Räume und deren Akteure
potential. Zum einen ist hierdurch eine Reduzierung           bedürfen verstärkt der Diskussion.
des Pendleraufkommens denkbar (home offices),
zum anderen ist bereits heute beobachtbar, dass               Die Bedeutung und die Relevanz von (Mega-)Trends
gerade junge, hochqualifizierte Bevölkerungsgrup-             für die Schaffung und Sicherung gleichwertiger
pen die günstigen Wohnbedingungen (Kosten und                 Lebensverhältnisse befinden sich erst am Anfang

                                                       Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien   11
der Diskussion. Globalisierung der Märkte und damit      Bereich der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen
verbunden globale Kaufkraftverschiebungen mit er-        und in Metropolen gleichermaßen. Von Bedeutung
heblichen Konsequenzen für die Standorte konsum-         ist dabei die Raumrelevanz der veränderten Verhal-
güterorientierter Schlüsselindustrien (z. B. Automo-     tensweisen verschiedener Bevölkerungsgruppen.
bilbranche), Metropolisierung, Digitalisierung, hohe
demographische Dynamik, strukturelle Veränderun-         These 8:
gen in der Mobilität, verändertes Verbraucherverhal-     Die Standortvorteile und Attraktivitätspotentiale
ten (Onlineshopping, E-Health, Teilen statt Besitzen),   für Bevölkerung und Unternehmen bedürfen eines
geänderte Ansprüche von Bevölkerungsgruppen              verstärkten Regionalmarketings.
an gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung
(Engagement im bürgerschaftlichen Bereich),              Das Instrument „Regionalmarketing“ bedarf eines
Veränderungen in der Arbeitswelt, Akzeptanz von          verstärkten Einsatzes, um die Potentiale, Standort-
Infrastrukturgroßprojekten und hohe Investitions-        und Entwicklungspotentiale ländlicher Räume (als
bedarfe im Bereich der (kommunalen) Infrastruktur        Heimat) transparent zu machen und breiten Ziel-
ziehen gerade in ländlichen Räumen weitreichende         gruppen sowohl in der Bevölkerung als auch gegen-
raumbezogene Handlungsfelder nach sich. Vor allem        über Unternehmen, insbesondere in Verdichtungs-
bedarf es – beispielsweise auch durch das Diskussi-      räumen und Metropolregionen, zu verdeutlichen. Die
onsforum Raumentwicklung – der Information und           Entlastung von Metropolregionen, insbesondere im
damit Sensibilisierung regionaler und kommunaler         Bereich Wohnen und Mobilität/Verkehr, zugunsten
Entscheidungsträger.                                     von ländlichen Räumen kann einen wesentlichen
                                                         Beitrag zu einer neuen Wertigkeit und Wertschöp-
These 7:                                                 fung in ländlichen Räumen und damit zur Schaffung
Neue Verhaltensmuster der Bevölkerung erfordern          von gleichwertigen Lebensverhältnissen leisten.
eine Überprüfung von Angebot und Nachfrage in            Voraussetzung hierfür ist die Analyse von Bleibe- und
verschiedenen Bereichen.                                 Haltefaktoren sowohl in ländlichen Räumen als auch
                                                         in Metropolregionen, wobei es hierzu einer regional
Bei einer Reihe von Bevölkerungsgruppen zeichnen         differenzierten Betrachtung bedarf.
sich derzeit neue Verhaltensweisen und -muster ab,
die differenziert nach einzelnen Strukturbereichen       These 9:
sowohl neue Mobilitätsmuster nach sich ziehen,           Die Handlungsansätze der Raumordnung auf der
zum anderen jedoch auch von großen Persistenzen          Ebene des Bundes und der Länder bedürfen einer
geprägt sind. So zeigt sich in manchen Strukturberei-    regionalen und kommunalen Individualisierung in
chen, beispielsweise bei der Versorgung mit Gütern       Gestalt von „passgenauem“ Instrumenteneinsatz.
des nicht-täglichen Bedarfs oder auch bei speziellen
Gütern des täglichen Bedarfs (z. B. regionale Produk-    Das Instrumentarium der Raumordnung, Landes-
te, ökologisch angebaute Lebensmittel) eine hohe         und Regionalplanung sowie Regionalentwicklung
Mobilität, die sich in großen Einkaufsreichweiten        bedarf im Hinblick auf die Gleichwertigkeit von Le-
niederschlägt. Hingegen lassen sich trotz enger und      bensverhältnissen einer Erweiterung: so kann – auch
hochpreisiger Immobilienmärkte Wohnmobilitä-             als „Antwort“ auf die Ausweisung von Metropolregi-
ten über die Grenzen der Metropolregionen hinaus         onen – die Ausweisung eines Netzes von Regiopolen
in ländliche Räume nicht oder nur sehr vereinzelt        mit Anker- und Haltefunktionen für Bevölkerungs-
erkennen. Sowohl durch die steigende Zahl der            gruppen und als Innovationspole für Unternehmen
Senioren als auch durch verändertes Konsumenten-         geprüft werden, ohne das bewährte Prinzip der
verhalten, die veränderte Wahrnehmung von Alltags-       Zentralen Orte zu relativieren. Ferner erscheint es im
räumen und verändertes Mobilitätsverhalten bedarf        Hinblick auf die Daseinsvorsorge sinnvoll, das Prinzip
es einer Überprüfung von Angebotsstrukturen im           „Managing Diversity“, also flexible Einrichtungen und

12    MORO Informationen • Nr. 14/6 • 2019
Dienstleistungen der Daseinsvorsorge einzuführen          gungen betrifft in diesem Zusammenhang allerdings
(statt technokratischer Mindeststandards). Als Ins-       auch die Metropolregionen, deren hohe wirtschaft-
trument noch ausbaufähig ist die Dezentralisierung        liche Dynamik zu Überhitzungsprozessen führt, die
öffentlicher Einrichtungen auf der Ebene des              insbesondere im sozialen Bereich Disbalancen und
Bundes und der Länder; gerade die damit verbun-           soziale Ungleichgewichte nach sich ziehen. Zu prüfen
denen strukturpolitischen Wirkungen leisten einen         ist dabei die Ausweisung eines Programms auf der
nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur             Ebene der Bundesraumordnung, das den Aufbau von
Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse, da           regionalen Entwicklungs- und Managementagentu-
alle Bereiche durch Dezentralisierungsmaßnahmen           ren zum Ziel hat. Die Erfolge in einer Vielzahl länd-
positive Wirkungen und Vorteile erfahren (Immo-           licher Räumen in Bayern zeigen, dass es mit einer
bilienmarkt, Arbeitsmarkt, Einzelhandel usw.). Der        solchen querschnittsorientierten raumplanerischen
Neugründung bzw. Zweigstellen-Gründung von                Maßnahme gelingen kann, einen Beitrag zur Gleich-
Hochschulen, wie dies in Rheinland-Pfalz und Bayern       wertigkeit der Lebensverhältnisse zu leisten. Ziel
erfolgt, trägt wesentlich zur Aufwertung ländlicher       eines solchen Programms ist es auch, die Potentiale
Räume und zur Schaffung gleichwertiger Lebensbe-          und Chancen der ländlichen Räume darzustellen, um
dingungen bei. Mittel- und langfristig erscheint es in    gerade im Bereich des Wohnens und der Mobilität zu
einigen Bundesländern geboten, über neue kommu-           einer Entlastung der Metropolregionen beizutragen.
nale und regionale Gebietszuschnitte nachzudenken,
da bereits heute die meisten Entwicklungen und
Standortentscheidungen im kommunal-regionalen
Umfeld ablaufen.

These 10:
Die Heimatstrategien des Bundes und der Länder
sind für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
Orientierungs- und Handlungsrahmen zugleich und
bedürfen der Konkretisierung durch Projekte und
der Finanzierung über ein Regional- und Demogra-
phiemanagement-Programm des Bundes.

Vor den skizzierten neuen Herausforderungen
geht es schwerpunktmäßig um die Frage, welche
„Stellschrauben“ Einfluss auf die Entwicklungsdy-
namik einer Region nehmen. Regionen und Räume
bedürfen dahingehend der Unterstützung, dass sie
innerhalb eines Landes annähernd vergleichbare
Startchancen erfahren und damit Entwicklungsdyna-
miken entfalten können. Es geht damit um die Frage,
welche Maßnahmen und Strategien geeignet sind,
um eine gleichwertige Entwicklungsdynamik von
Regionen und Teilräumen in ländlichen Räumen und
Verdichtungsräumen zu gewährleisten. Ziel ist es,
möglichst konkrete Handlungsansätze und -strategi-
en zu erarbeiten, die bisherige „Slow-Regions“ in die
Lage versetzen, eine höhere Entwicklungsdynamik
zu erreichen. Die Gleichwertigkeit der Lebensbedin-

                                                   Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien   13
Strategien zur Entwicklung
ländlicher Räume aus der Sicht
der Region Oberfranken
Gabriele Hohenner
Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer Oberfranken-Bayreuth

Oberfranken, einer von sieben bayerischen Re-                 sellschaftlichen Kräften der Region flankiert oder
gierungsbezirken, hat jahrzehntelang unter der                gar initiiert worden sind. Als Grund für die positive
deutschen und europäischen Teilung gelitten. Ein              Entwicklung des Standorts Oberfrankens vor allem
zusätzlicher Strukturwandel in der Textil- und Kera-          in den letzten Jahren führt die IHK für Oberfranken
mikindustrie hat dafür gesorgt, dass Oberfranken in           Bayreuth folgende Thesen an:
Bayern überproportional von Abwanderung betrof-
fen war und hinsichtlich der wichtigsten wirtschaft-          1. Die Landesregierung hat die grundsätzliche
lichen Kennzahlen Aufholbedarf zum bayerischen                Notwendigkeit zur Stärkung der ländlichen Räume
Durchschnitt bestand.                                         erkannt und diese strategisch gefördert!

Seit etwa 2002 hat sich die Situation umgreifend              Die Bayerische Staatsregierung hat im Jahr 2014 eine
gewandelt, die Kennzahlen haben sich deutlich                 „Heimatstrategie“ beschlossen, die als nachhaltige
verbessert. Grund dafür waren aktive, koordinierte            Struktur- und Innovationspolitik angelegt wurde. In
strukturpolitische Maßnahmen der Bayerischen                  fünf Themenfeldern wurden konkrete Maßnahmen
Staatsregierung, die von allen wesentlichen ge-               beschlossen und umgesetzt: Strukturentwicklung in

Abbildung 4: Gabriele Hohenner (Foto: a.k.m. GmbH & Co. KG)

14     MORO Informationen • Nr. 14/6 • 2019
ganz Bayern (Erweiterung des Raumes mit beson-           voraus, dass ein gemeinsames und abgestimmtes
derem Handlungsbedarf), Umsetzung der „Nord-             Auftreten gegenüber der Landespolitik mehr Erfolg
bayern-Initiative“ (600 Mio. Euro wurden in den drei     verspricht als Alleingänge.
fränkischen Regierungsbezirken und der nördlichen
Oberpfalz in rund 60 Maßnahmen zur Stärkung von          4. Die Projekte müssen konkret, realistisch und
Wissenschaft und Wirtschaft investiert), Behörden-       umsetzbar sein!
verlagerung (umfangreiche Verlagerung von Landes-
behörden aus dem Ballungsraum München in die             Am Beispiel Oberfranken lässt sich aufzeigen, dass
ländlichen Regionen), „Digitale Revolution“ (massiver    Projekte immer dann eine hohe Realisierungswahr-
Ausbau der Breitbandinfrastruktur über ein eigenes       scheinlichkeit haben, wenn sie mit Augenmaß entwi-
Landesprogramm) sowie Kommunaler Finanzaus-              ckelt wurden, einen realistischen Finanzierungsan-
gleich (Weiterentwicklung des Finanzausgleichs u.        satz haben und schnell umsetzbar sind.
a. mit Erhöhung der Stabilisierungshilfen für finanz-
schwache Kommunen).                                      Zur Abstimmungsaufgabe der Region gehört es
                                                         daher auch, unrealistische Forderungen frühzeitig
2. Für eine erfolgreiche Entwicklung ländlicher          einzufangen. Dazu empfiehlt sich ein ständiger Aus-
Räume ist ein gemeinsames, arbeitsteiliges Vorge-        tausch nicht nur mit der Landespolitik, sondern auch
hen von regionalen Akteuren und Landesregierung          mit der Ministerialverwaltung, von der die Projekte
notwendig!                                               schließlich umgesetzt werden müssen. Projektvor-
                                                         schläge müssen so formuliert sein, dass sie politisch
Die Entwicklung der ländlichen Region Oberfranken        durchsetzbar und zugleich praktisch durchführbar
erfolgte nicht „top-down“, sondern „bottom-up“. Die      sind.
regionalen Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und
Kommunalpolitik haben in einer abgestimmten Akti-        5. Wirtschaftskammern können hierbei einen
on die Stärken der Region sowie die Alleinstellungs-     wichtigen Netzwerkknoten bilden, die regionalen
merkmale herausgearbeitet und so Ansatzpunkte            Akteure einbinden und Interessen bündeln!
für eine mögliche staatliche Unterstützung definiert.
Für unterschiedliche Handlungsfelder wurden so           Die regional aufgestellten Wirtschaftskammern
konkrete Empfehlungen an die Staats- sowie die           können bei der Entwicklung von Strategiepapie-
Bundesregierung erstellt und gemeinsam vorgetra-         ren und konkreten Handlungsempfehlungen eine
gen. Die Region hat „mit einer Stimme“ gesprochen,       wichtige Rolle als Netzwerkknoten spielen. Sie sind
eine Kirchturmpolitik wurde vermieden.                   Vertretung der regionalen Wirtschaft und wirken
                                                         über kommunale Grenzen hinweg. Sie pflegen in der
3. Die regionalen Akteure müssen die Strategie der       Regel gute Kontakte zu Wissenschaft, Kommunalpo-
Landesregierung in konkrete Projekte übersetzen          litik und Verwaltung und können so eine anerkannt
und die konzeptionelle Vorarbeit leisten!                neutrale Position einnehmen. Die Themen Innovati-
                                                         on und Standortentwicklung sind zudem Kernaufga-
Um konkrete Handlungsempfehlungen bieten zu              ben der Kammern, für die auch Personalressourcen
können, muss von den regionalen Akteuren aus Wirt-       vorgehalten werden. Derartige Personalressourcen
schaft, Wissenschaft und Kommunalpolitik inhaltli-       braucht es schließlich, um Konzepte zu erarbeiten
che und konzeptionelle Vorarbeit geleistet werden.       und deren Abstimmung zu koordinieren.
Ein pauschaler Hilferuf an die Staatsregierung reicht
nicht aus, vielmehr müssen möglichst detailliert aus-
gearbeitete Vorschläge vorgelegt werden, die nach
Möglichkeit bereits in der Region abgestimmt sind.
Das setzt die Erkenntnis der Akteure in der Region

                                                  Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien   15
Erste Diskussionsrunde
In der ersten Diskussionsrunde werden die der                •    Ein positives Bild der eigenen Region nach innen
Tagung zu Grunde liegenden Thesen ebenso wie die                  und nach außen zu tragen fördert in vielen
ersten beiden fachlichen Beiträge intensiv diskutiert.            Dimensionen (bei der regionseigenen sowie der
Im Beitrag von Gabriele Hohenner sind insbesondere                -externen Bevölkerung, bei Unternehmen) die
die Thesen zwei, acht und zehn in ihrer praktischen               Wertigkeit ländlicher Räume und kann damit
Umsetzung und Relevanz für eine aktive und ermög-                 auch einen Beitrag zur Herstellung gleichwerti-
lichende Entwicklung ländlicher Räume deutlich                    ger Lebensbedingungen leisten.
geworden, was sich auch in den Diskussionsbeiträ-            •    In Bayern zeigt sich, wie „Heimatstrategien“ kon-
gen widerspiegelt:                                                kret ausgestaltet und umgesetzt werden können
                                                                  und insbesondere über eine Dezentralisierung
•    Eine individualisierende Betrachtung ländlicher              von (öffentlichen) Einrichtungen aber auch durch
     Räume ist notwendig. Die Chance integrierter                 die Gründung dezentraler (Weiter-)Bildungsein-
     Konzepte und Handlungsansätze konnte in der                  richtungen, Akademien oder Hochschulen einen
     Region Oberfranken zu einer positiven Regio-                 wesentlichen Beitrag zu gleichwertigen Lebens-
     nalentwicklung beitragen, wobei unterschiedli-               bedingungen leisten kann.
     che Akteure ebenso wie verschiedene Themen
     integriert wurden.

Abbildung 5: Diskussionsrunde mit Gabriele Hohenner und Gabi Troeger-Weiß (Foto: a.k.m. GmbH & Co. KG)

16     MORO Informationen • Nr. 14/6 • 2019
Auf die Frage, inwiefern die für Oberfranken vor-        peripherer Räume sein kann, wurde in der Diskussion
gestellten (erfolgreichen) Ansätze auch in anderen       mehrfach betont. Darüber hinaus stellt sich die
Regionen (weniger finanzkräftiger Bundesländer)          Frage, inwiefern auch für Unternehmen Anreize
funktionieren könnten und welche drei zentralen          geboten werden können, in ländlichen Räumen zu
Erfolgsfaktoren für die Entwicklung ländlicher Räu-      investieren. Eine Möglichkeit wird dabei insbesonde-
me gesehen werden, stellt Gabriele Hohenner in der       re in der Unterstützung von Existenzgründungen in
Diskussion heraus, dass                                  der Pflege gesehen, die – neben den ökonomischen
                                                         Effekten – in ländlichen Räumen auch im Hinblick
•   eine Vernetzung der regionalen Akteure von           auf die zumeist intensiver ablaufenden demogra-
    Beginn an zentral ist,                               phischen Alterungsprozesse eine wichtige Strategie
•   es als erstes darum geht (gemeinsam) eine            darstellen kann.
    Strategie zu entwickeln, zu diskutieren und
    vorzustellen, die realistisch und machbar ist        Bei der Diskussion um die Gleichwertigkeit der
    (nicht zuerst nach einer finanziellen Förderung      Lebensbedingungen stellt die Bereitstellung von
    zu fragen) sowie                                     Einrichtungen und Dienstleistungen der Daseins-
•   immer die Frage zu stellen, wer was am besten        vorsorge die wesentliche Grundlage dar, wie es im
    umsetzen kann und dabei auf die Herausforde-         Beitrag von Gabi Troeger-Weiß in der ersten These
    rungen aber vor allem auch die Handlungsspiel-       deutlich herausgestellt wurde. In der Diskussion
    räume aufmerksam zu machen.                          wurde hierbei nochmals betont, dass die soziale Di-
                                                         mension der Daseinsvorsorge elementarer Bestand-
Es wird von Seiten der Tagungsteilnehmer weiterhin       teil unseres Zusammenlebens ist und hierbei auch
die Frage aufgeworfen, ob es langfristig möglich sein    – über die Koproduktion der Daseinsvorsorge durch
wird, gleichwertige Lebensbedingungen aufgrund           unterschiedliche Träger – die Leistungen von Bürgern
der teilweise dynamisch ablaufenden Schrumpfungs-        (u. a. Bürgerschaftliches Engagement) sowie weiteren
prozesse ländlich-peripherer Räume aufrecht zu           zivilgesellschaftlichen Gruppen in ihrem Stellenwert
erhalten, oder hier ehrlicherweise auch die „Aufgabe“    und der Bedeutung betont werden müssen.
oder ein umfassender Rückzug aus einzelnen Teil-
räumen zu diskutieren ist. In diesem Kontext wurde
in der Diskussion nochmals herausgestellt, dass                   Weitere Informationen
insbesondere interkommunale Kooperationen weiter
zu stärken und auszubauen sind, um eine Bündelung            Raumordnungsbericht 2017 – Daseinsvorsorge sichern
der Infrastrukturversorgung zu erreichen und Ent-            Herausgeber: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
wicklungskerne im Raum zu schaffen, über die eine            Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und
längerfristige Versorgung der Umlandbevölkerung              Raumordnung
erfolgen kann. Die in den Thesen neun und zehn               Sonderveröffentlichung
genannten Inhalte für einen „passgenauen“ Instru-            Bonn, Oktober 2018
menteneinsatz seitens der Raumordnung sowie der
Möglichkeit zur Umsetzung von Heimatstrategien               Kostenfreier Download: www.bbsr.bund.de
stellen hierfür ebenso eine wesentliche Grundlage
dar, wie die dort – genauso wie im Beitrag von Ga-           Printversion kostenfrei zu beziehen bei:
briele Hohenner – betonte Bedeutung kommunaler               ref-1-1@bbr.bund.de | Stichwort: ROB 2017
Kooperationen zur Bündelung von Potenzialen sowie
deren gemeinsamer Inwertsetzung.

Das eine Dezentralisierung öffentlicher Institutio-
nen ein bedeutender Ansatz zur Stärkung ländlich-

                                                  Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien   17
Gibt es in Deutschland
abgehängte Regionen?
Dr. Christian A. Oberst
Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.

Im Beitrag wird diskutiert, inwiefern es Regionen in     Methode & Vorgehensweise
Deutschland gibt, die von der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung abgehängt sind. Die deutsche Regional-       Aufbauend auf einer klassischen Konvergenzana-
politik unterstützt üblicherweise strukturschwache       lyse betrachten wir in unserem Analyseansatz die
Regionen, Schwerpunkt der letzten Jahrzehnte war         Ausgangslage und die Entwicklung. Im Sinne des
insbesondere Ostdeutschland. Für eine zukünftige         Ziels gleichwertiger Lebensbedingungen überprü-
Ausrichtung der Regionalpolitik ist zu klären, ob auch   fen wir im ersten Schritt, ob Regionen sich bei den
andere Regionen, etwa das Ruhrgebiet, als Förder-        betrachteten regionalen Indikatoren angleichen
schwerpunkt hinzugefügt werden sollten oder ob           (Konvergenz) oder ob sie auseinanderdriften (Diver-
ein allgemeiner Regionsschwerpunkt abgeschafft           genz). Divergenz kann für den jeweiligen Indikator
werden sollte. Dazu beschreiben wir ausgewählte          potentiellen Handlungsbedarf für die Bundespolitik
regionale Entwicklungen und diskutieren, welche Re-      andeuten, während Konvergenz im Einklang ist mit
gionen besonders belastet sind. Es geht uns weniger      dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse. Zu be-
um die Identifikation von möglichen Fördergebieten,      achten ist, dass Divergenz weder eine hinreichende
sondern vielmehr darum, in der Entwicklung beson-        noch eine notwendige Bedingung für Regionalpolitik
ders belastete Regionen in Deutschland zu finden,        ist. Denn Divergenz kann gesellschaftlich gewünscht
die analog zum „Rust-Belt“ in den USA als Narrativ       sein durch die Nutzung von Lokalisations-, Urbani-
für abgehängte Regionen dienen könnten.                  sations- und Komplexitätsvorteilen (vgl. Rusche und
                                                         Oberst, 2010).
Möglichen regionalpolitischen Handlungsbedarf
sehen wir grundsätzlich bei Regionen, für die die
Mehrzahl an Standortindikatoren auf niedrigem
Niveau verharrt, also im Beobachtungszeitraum bei           „Wir haben eine sehr heterogene Problemlage.
unterdurchschnittlichen Ausgangsbedingungen                 Das heißt, wir brauchen regional differenzier-
eine unterdurchschnittliche Entwicklung aufweist.           te Ansätze. Wir müssen die Region stärken.
Als abgehängte Regionen bezeichnen wir solche,              Ein zentraler Ansatz ist die Entschuldung und
bei denen die Mehrzahl der Standortindikatoren              gleichzeitig die Sicherstellung, zukünftig Spar-
auf unterdurchschnittlichem Niveau verharrt. Als            anreize zu setzen.“
räumliche Bezugsebene nutzen wir die 96 Raumord-
nungsregionen. Zwar gibt es innerhalb der Regionen          Dr. Christian A. Oberst
relevante Entwicklungsunterschiede. Wir argumen-
tieren jedoch, dass diese lokalen Abkopplungen nach
dem Subsidiaritätsprinzip in den Aufgabenbereich
der Länder und Kommunen fallen und nicht in den          Im zweiten Schritt identifizieren wir potenzielle
des Bundes. Überdies gibt es zur Wahrung der Hand-       Handlungsregionen für eine ortsbezogene Regio-
lungsfähigkeit der Länder bereits das Instrument des     nalpolitik. Das sind unserer Vorstellung nach Regi-
Länderfinanzausgleichs.                                  onen, die auf niedrigem Niveau verharren, also im
                                                         Beobachtungszeitraum sowohl schlechte Ausgangs-
                                                         bedingungen als auch eine unterdurchschnittliche

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Entwicklung aufweisen. Für die Identifikation der                            Um den Handlungsbedarf zusammenzufassen,
Handlungsregionen evaluieren wir die Regionen                                vergeben wir für jeden Indikator die folgenden
anhand von drei Kriterien: a) unterdurchschnittliche                         Kriterienwerte: Primärer Handlungsbedarf 1 Punkt,
Entwicklung (größer oder kleiner als der Median-                             sekundärer 0,5 Punkte, sowie gefährdet/Absteiger
wert), unterdurchschnittliches Ausgangsniveau (60                            0,25 Punkte. Die Kriterienwerte summieren wir
bzw. 140 Prozent vom Median oder das 1,5fache                                jeweils für die vier Indikatoren je Bereich für jede der
des Interquartilsabstandes), sowie c) unterdurch-                            96 Regionen. Bei einem solchen Ranking ist es jedoch
schnittliche relative Entwicklung (bei Konvergenz:                           wichtig, auf die zum Teil begrenzte Aussagekraft von
starkes unterschreiten des Konvergenztrends bzw.                             einigen verwandten regionalwissenschaftlichen Indi-
bei Divergenz: stark unterdurchschnittliches Niveau).                        katoren hinzuweisen (insb. regionales BIP, Arztdichte
Wenn für einen Indikator die drei Kriterien zutreffen,                       etc.). Denn das vage Bild der Indikatoren, wie auch
sprechen wir von primärem Handlungsbedarf, sind                              der Abgrenzung von Regionen (Stichwort Modifiable
nur b) und c) erfüllt von sekundärem Handlungsbe-                            Areal Unit Problem) und die subjektive Gewichtung
darf („wachsen nicht schnell genug“) und wenn nur                            der Faktoren, stehen häufig im starken Kontrast zur
c) zutrifft von potenziell gefährdet bzw. Absteigerre-                       selbstverständlichen Nutzung in regionalpolitischen
gionen. Dieses Bewertungsverfahren wenden wir auf                            Vergleichsstudien.
alle 12 ausgewählte Indikatoren an (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Indikatorenset
                                                             Dimension
 Bereich                    Indikator                        (Interpretation)                Zeitraum                    Quelle

 Wirtschaft                 Arbeitlosenquote                 in % (-)                        2011 - 2015                 BA

                            Produktivität                    in Euro (+)                     2011 - 2015                 VGR der Länder

                            Kaufkraft                        in Euro (+)                     2011 - 2015                 GfK

                            Private Überschuldung            in % (-)                        2011 - 2015                 Creditreform

 Demographie                Fertilitätsrate                  Kinder je Frau (+)              2011 - 2015                 BBSR

                            Lebenserwartung                  in Jahren (+)                   2009/11 - 2013/15           Destatis

                            Durchschnittsalter               in Jahren (-)                   2011 - 2016                 Destatis

                            Bevölkerung                      in Einwohner (+)                2011 - 2015                 Destatis

 Infrastruktur              Breitband                        in % der Haushalte (+)          2011 - 2017                 TÜV Rheinland

                            Arztdichte                       je 100.000 Einwohner            2011 - 2015                 BBSR

                            Steuereinnahmekraft sowie        jeweils in Euro (+)             2011 - 2015                 Destatis
                            kommunale Verschuldung           und (-)                         2011 - 2016

                            Immobilienpreise                 in Euro je m² (+)               2011 - 2015                 F+B
                            (Standortattraktivität)

Hinweis: Indikatorinterpretation in der Analyse, bei (+) Indikatoren sind hohe Werte erstrebenswert und niedrige Werte signalisieren Hand-
lungsbedarf (z. B. Kaufkraft). Analog sind bei (-) Indikatoren niedrige Werte erstrebenswert und hohe Werte signalisieren Handlungsbedarf
(z. B. Arbeitslosenquote).
Quelle: Christian Oberst, 2018

                                                                 Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien          19
Abbildung 6: Christian Oberst (Foto:a.k.m. GmbH & Co. KG)

Ergebnisse

Möglichen überregionalen Handlungsbedarf, an-               bietsregion Dortmund schneidet besser ab (Indika-
gezeigt durch divergierende Entwicklungen, die              torwert 1).
dem Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse
entgegenstehen, finden wir vor allem bei demogra-           Deutliche Unterschiede bestehen jedoch bei der Be-
phischen Entwicklungen sowie bei der Kommunalen             gründung des Handlungsbedarfs. Im Ruhrgebiet ba-
Verschuldung und der Immobilienpreisentwicklung.            siert dieser vor allem auf die schlechte wirtschaftli-
Im Gegensatz dazu lässt sich bei der Breitbandver-          che Situation und demographische Probleme spielen
sorgung für die regionale Ebene ein robuster und            praktisch keine Rolle. Im Gegensatz dazu sind es bei
starker Konvergenzprozess identifizieren. Jedoch            den besonders stark zurückfallenden ostdeutschen
deuten die Koeffizienten für Strukturvariablen an,          ländlichen Regionen vor allem die demographischen
dass teil-urbane und ländliche Regionen im Osten            Faktoren, bei denen Handlungsbedarf besteht. Hier
hinter der Entwicklung zurückbleiben.                       ist zusätzlich zu beachten, dass die demographische
                                                            Entwicklung insbesondere Pro-Kopf-Indikatoren be-
Bei der Gesamtbetrachtung regionsbezogener Prob-            einflusst und beispielsweise ein Bevölkerungs- oder
leme zeigt sich ein auffälliges regionales Muster: Un-      Beschäftigtenrückgang kurzfristig die wirtschaftli-
ter den Regionen mit hohem Handlungsbedarf (min.            chen und infrastrukturellen Indikatoren „beschö-
1,5) sind zwei teil-urbane und drei urbane Regionen         nigt“. Infrastrukturmängel treten dagegen sowohl bei
und die übrigen neun sind ländlich geprägte Regio-          Regionen mit starken wirtschaftlichen Problemen
nen in Ostdeutschland. Die drei urbanen Regionen            als auch bei Regionen, die demographisch den An-
mit den höchsten Werten für Wachstumsschwäche               schluss verloren haben, auf.
liegen alle im Ruhrgebiet, lediglich die vierte Ruhrge-

20     MORO Informationen • Nr. 14/6 • 2019
Zusammenfassung                                         Literatur

Die Ergebnisse zeigen, dass nicht eine einheitliche     Oberst, Christian; Kempermann, Hanno; Schrö-
Gruppe von Handlungsregionen identifiziert werden       der Christoph (2019): Räumliche Entwicklung in
kann, sondern dass die Regionalpolitik fallbezogene     Deutschland. In Institut der deutschen Wirtschaft
Antworten für vielschichtige Probleme finden muss.      (Hrsg.). „derzeit noch ohne Titel“, IW Studien (bevor-
Im Ruhrgebiet geht es weiterhin darum, für eine re-     stehende Veröffentlichung).
lative hohe Anzahl an Arbeitslosen den Anschluss an
den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, in Ostdeutschland      Rusche, Karsten; Oberst, Christian (2010): Euro-
müssen vor allem Antworten auf die Alterung und         päische Metropolregionen in Deutschland – Eine
Schrumpfung der Gesellschaft gefunden werden.           regionalökonomische Evaluation. Raumforschung
Hinsichtlich der infrastrukturellen Entwicklung müs-    und Raumordnung (64) 4, S. 243-254.
sen insbesondere die ländlichen Regionen aufholen.

Bei der wirtschaftlichen Entwicklung kann im Un-
tersuchungszeitraum für keine Region nach unserer
Definition primärer Handlungsbedarf festgestellt
werden. Am unteren Rand des Rankings finden
sich sowohl ostdeutsche Regionen als auch Teile
des Ruhrgebiets. In Verbindung mit einer über-
durchschnittlichen Entwicklung lässt sich jedoch
aus dem unterdurchschnittlichen Niveau noch kein
allgemeiner Handlungsbedarf ableiten. Zwar liegen
auch ostdeutsche Regionen nach wie vor auf unter-
durchschnittlichem Niveau, doch die Entwicklungs-
dynamik zeigt in die richtige Richtung. Eindeutiger
Handlungsbedarf besteht in Ostdeutschland jedoch
bei der demographischen Entwicklung. Die Analyse
der Infrastruktur zeigt im Osten deutlichen Hand-
lungsbedarf bei der Breitbandversorgung an, wäh-
rend im Westen die größten Schwierigkeiten beim
kommunalen Gestaltungsspielraum liegen.

Bei der Analyse ist jedoch zu beachten, dass die
Regionen mit identifiziertem Handlungsbedarf zum
Teil seit Jahrzehnten gefördert werden. Allein dies
ist ein Signal über neue Wege in der Regionalpolitik
nachzudenken. Aus den heterogenen Problemlagen
lässt sich ableiten, dass von der Politik kein Gieß-
kannenansatz gefordert ist, sondern es vielmehr
problembezogener politischer Instrumente und der
Stärkung der regionalen Handlungsfähigkeit (Land,
Regionalverbände, Kommunen) bedarf. Die ausführ-
licheren Ergebnisse werden in 2019 als Beitrag in
einer IW Studie veröffentlicht (Oberst, Kempermann,
Schröder, 2019).

                                                 Gleichwertige Lebensverhältnisse – Grundlagen für Heimatstrategien   21
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