EINFACH LISA Weil sie nicht weiß ist, wird Lisa angegriffen. Ihr geht es wie vielen Menschen, die täglich Rassismus erfahren - Kurt.digital

 
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EINFACH LISA Weil sie nicht weiß ist, wird Lisa angegriffen. Ihr geht es wie vielen Menschen, die täglich Rassismus erfahren - Kurt.digital
JULI 2020

Studierendenmagazin für Dortmund

EINFACH
LISA
Weil sie nicht weiß ist, wird Lisa angegriffen.
Ihr geht es wie vielen Menschen,
die täglich Rassismus erfahren.
EINFACH LISA Weil sie nicht weiß ist, wird Lisa angegriffen. Ihr geht es wie vielen Menschen, die täglich Rassismus erfahren - Kurt.digital
Eins vorab
                                                                                 Nadja, Ali, Sarah und Lisa erfahren in
                                                                                        ihrem Alltag häufig Rassismus.
                                                                                   Sie berichten von ihren Erlebnissen
                                                                                            und sagen, was sich in der
                                                                                             Gesellschaft ändern muss.

                                                                                                                    6

TEXTROMAN WINKELHAHN FOTODANIELA ARNDT

L  iebe Leser*innen,
   es geht in diesem Heft um Träume und Freiheiten – und um die Rück-
schläge, die mit ihnen einhergehen. Wir sprechen über Schicksale, über Men-
schen, die ihr Glück verloren haben, über jene, die es gefunden haben, und
über die, denen die Suche verdammt schwer gemacht wird. Die Themenwahl
dieses Heftes ist, um den Schriftsteller Heinrich Böll zu zitieren, „weder be-
absichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“.

Tim lag am Boden, dabei wollte er doch Basketball-Profi werden. Die Ge-
schichte eines fallenden Nachwuchstalents und seiner wackligen Schritte zu-
rück aufs Feld, erzählt von unserer Autorin Mona (Seite 14).

Jonas verfolgt seinen Traum hinter'm Rasenmäher. Sein Spielfeld ist der
Schrebergarten. Nein, Jonas ist kein Rentner. Das macht ihn und sein Hobby
                                                                                  14             Tim stand kurz vor einer
                                                                                            Karriere als Profibasketball-
                                                                                             spieler. Dann bereitete eine
so außergewöhnlich. Autor Sascha stand für euch auf Jonas' perfekt gemäh-
                                                                                             schwere Verletzung seinem
tem Rasen (Seite 20).
                                                                                            Traum ein abruptes Ende. Er
Im Vergleich zu Mietwohnungen sind Kleingärten für wenig Geld zu haben.                       wurde depressiv. Wie Tim
Autorin Alice hat für dieses Heft die Diskriminierung auf dem Wohnungs-                          sein Leben neu ordnete.
markt untersucht (Seite 30). Ihr Experiment bestätigt die traurige Wahrheit:
Im Schatten von George Floyds Tod steht ein Ungeheuer namens Alltagsras-
sismus. Seine hässliche Grimasse zeigt es, wenn Marie und Lukas eher eine
Wohnung bekommen als Fahima und Yusuf.

„Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“ Auch dieser                                  20
Satz stammt von Heinrich Böll. Hinfallen, aufstehen, nicht aufgeben. Träu-          Kleingärtner*innen in Deutschland
me und Schicksale sind so unterschiedlich wie wir Menschen.                         werden immer jünger. Dem Nach-
                                                                                      wuchs geht es nicht nur um Grill-
Habt euch lieb! Viel Spaß beim Lesen.
                                                                                   partys im Grünen. Er baut auch sein
                                                                                        eigenes Obst und Gemüse an.
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Inhalt
  4        MOMENTE
           Ein Sommer, wie er ohne Corona hätte sein können

  6        WOHER KOMMST DU?
           Betroffene sprechen über Rassismus im Alltag

13         SAG MAL, PROF …?
           Warum wird Bier in dunklen Flaschen abgefüllt?

14         NOT THE LAST DANCE
           Tims harter Weg zurück aufs Basketball-Parkett

19         KURTS MITTEILUNG
           Unsere Autorin fordert: Werbeverbot für Billigfleisch

20        SEIN KLEINER GRÜNER GARTEN
          Jonas ist 24, Kleingärtner und überhaupt nicht spießig

27        KURTS ARBEIT
          Gräfin Zahl und die Symptome des Coronavirus

28        I WOULD WALK 500 MILES
          Zahlen zeigen, wie Corona uns (nicht) bewegt hat

30         DER DEUTSCHE NAME MACHT'S
           Diskriminierung bei der Wohnungssuche in Dortmund

37         KURT DAHEIM
           Heimaturlaub: Fernweh auf der Couch

38         KURTS TRIP
           Die „Mona Lisa“: jetzt im Taschenformat

39         IMPRESSUM
           Wer wann was gemacht hat und Rätsel

FOTOSIMON JOST & MAGNUS TERHORST
COVERDANIELA ARNDT BACKCOVERZERXZA/PIXABAY
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DIE SÄULEN
DER KRISE
EINFACH LISA Weil sie nicht weiß ist, wird Lisa angegriffen. Ihr geht es wie vielen Menschen, die täglich Rassismus erfahren - Kurt.digital
Sie sind groß, sie sind majestätisch
und sagen verlässlich das nächste
 Konzert von Andrea Berg voraus:
 Litfaßsäulen prägen nahezu jedes
     Stadtbild in Deutschland. Wäh-
   rend der Corona-Pandemie sind
   sie traurige Erinnerungen daran,
            was wir alles verpassen.

               TEXTJANA-SOPHIE BRÜNTJEN
                      FOTOSARAH LINNERT

                                          11
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IST DOCH
 NICHT SO
    GEMEINT …
Die aktuelle Black Lives Matter-Bewegung führt uns Rassismus in seiner schlimmsten Form vor
Augen. Hier schildern fünf Personen ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus. Es geht um vermeintlich
unbedachte Äußerungen, die Menschen verletzen. Lasst uns drüber reden.
PROTOKOLLANABEL SCHRÖTER FOTODANIELA ARNDT, JAN LADWIG, MAGNUS TERHORST & PRIVAT

                                         Lisa Brück                                   Durch mein Umfeld konnte ich diese
                                         21 Jahre, aus Duisburg                       Gefühle nicht früher entwickeln, denn
                                                                                      ich bin in einer weißen Gegend aufge-
                                         Ich bin müde. Einfach nur müde. Vom          wachsen. Es gab nichts, mit dem ich
                                         Alltagsrassismus, davon ihn akzeptieren      mich hätte identifizieren können. Kei-
                                         zu müssen und dass ich für die Menschen      ne Ideale und keine Vorbilder. Keine
                                         immer etwas Besonderes bin. Es treibt        Schwarzen Disney-Prinzessinnen, Baby
                                         mich in die Verzweiflung. Ich kann nir-      Borns oder Barbies.
                                         gendwo hingehen, ohne dass mir jemand
                                         ungefragt in meinen Afro, meine Rasta-       Trotzdem habe ich mich nie anders ge-
                                         zöpfe oder meine Braids fasst. Damals in     fühlt als die anderen. Im Kindergarten
                                         der Schule. Heute im Club, im Bus oder       und in der Grundschule wurde ich im-
                                         wenn ich jemanden im Krankenhaus be-         mer wieder zum Thema gemacht, weil
                                         suche. Die Menschen verstehen nicht,         ich anders aussehe. Dadurch brannte
                                         dass mich dieses Verhalten stört. Wenn sie   sich der Gedanke in meinen Kopf, da-
                                         mich um Erlaubnis bitten würden, wäre es     zugehören zu müssen. Ich wollte Bestä-
                                         in Ordnung, weil sie mir gegenüber dann      tigung erhalten und hatte das Gefühl,
                                         respektvoll wären.                           mich beweisen zu müssen. Auf Dauer
                                                                                      macht das müde.
                                         Erst seit vier Jahren laufe ich mit offe-
                                         nem Haar herum. Zuvor habe ich mich          Deshalb wünsche ich mir für meine spä-
                                         geschämt, wollte nicht auffallen, keine      teren Kinder, dass sie mehr Vorbilder ha-
                                         Aufmerksamkeit erregen. Deshalb habe         ben. Dass sie sehen: „Ich bin nicht allein.“
                                         ich schon als Kind meine Haare mit einem     Dass sie sich mit jemandem identifizieren
                                         chemischen Mittel geglättet. Nicht aus ei-   können. Und vor allem, dass sie nicht sol-
                                         nem Gefühl der Zugehörigkeit, sondern        che Erfahrungen wie ich machen müs-
                                         eher der Anpassung. Mit der Zeit habe ich    sen. Dass Rassismus einfach kein Thema
                                         meine Haare lieben gelernt.                  mehr ist.

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Nadja Uamusse                               auf einmal ein Problem, die Wohnung
25 Jahre, aus Bonn                          zu sehen?

Ein Junge aus dem Kindergarten hat          Ich bin deswegen nicht verzweifelt. Ich
etwas über meine Hautfarbe gesagt.          stecke den Alltagsrassismus weg und
Ich weiß nicht mehr genau, was. Es hat      habe mich daran gewöhnt. Das macht
mich verletzt, da ich den Sinn hinter der   es nicht besser. In den vergangenen
Aussage nicht verstanden habe. Denn         Jahren gab es viele Stunden, in denen
ich war erst sechs Jahre alt. Die einzige   ich geweint habe. Ich wollte mich an das
Frage, die mir damals im Kopf herum-        europäische Bild anpassen und habe
schwirrte, war: Warum?                      meine Haare geglättet. Mit zehn Jahren
                                            zum ersten Mal. Auch die Sonne habe
Bei dieser Situation aus meiner Kind-       ich eine Zeit lang gemieden. Bloß nicht
heit blieb es nicht. Auch heute wird        dunkler werden.
über meine Hautfarbe gesprochen und
sie wird mit Essen verglichen: Schoko-      Heute, mit 25 Jahren, stehe ich zu mir.
lade, Karamell, Cappuccino. Für mich        Geholfen hat mir der Austausch mit
ist das völlig normal. Seit ich von Sie-    meiner Familie und anderen, die Ähnli-
gen nach Bonn gezogen bin, habe ich es      ches erleben mussten. Social Media trug
zum Glück nicht mehr in der Form er-        ebenfalls einen Teil dazu bei, da ich dort
lebt. Der Alltagsrassismus ist aber da,     Menschen gesehen habe, die so sind wie
etwa bei der Wohnungssuche. Als mein        ich. Schwarze müssen besser repräsen-
Freund und ich mit einem Vermieter          tiert werden. Seien es Schwarze Lehrer,
telefonisch einen Besichtigungstermin       Ärzte oder Busfahrer. Und ein Schwarzer
ausgemacht hatten, gab es keine Prob-       sollte eine Sendung moderieren, ohne
leme. Vor Ort durften wir uns die Woh-      dabei auf seine Hautfarbe reduziert zu
nung dann nicht ansehen. Es lag an un-      werden. Ich wünsche mir, dass es einfach
serer Hautfarbe. Warum sonst war es         normal ist, Schwarz zu sein.

                                                                7
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Sarah Vecera                              Im In- und Ausland wurde mir oft mein        sein möchte. Der Springerstiefel trägt
36 Jahre, aus Essen                       Deutschsein abgesprochen. Mir wurde          und eine Glatze hat. Der in den Nach-
                                          bewusst, dass der ganze Alltagsrassis-       richten erscheint und sich rechtsradikal
King Louie war meine Rolle. Nicht,        mus daher rührt, dass ich von der Gesell-    verhält, weil er oder sie sich bewusst
weil ich den Affen im Schulmusical        schaft nicht als deutsch wahrgenommen        dazu entschieden hat.
spielen wollte, sondern weil er mir       werde. Dadurch fühle ich mich nicht da-
zugewiesen wurde. Dabei wollte ich        zugehörig, obwohl ich keine andere Her-      Alltagsrassismus betrifft jeden von uns.
selbst entscheiden, welchen Part ich      kunft habe. Ich bin Deutsche. Deshalb        Durch Kinderbücher, die Medien, den
im Dschungelbuch übernehme, so wie        mag ich die Frage „Woher kommst du?“         Kindergarten und die Schule bekommen
alle meine Freundinnen. Die Chan-         nicht. Wer das fragt, zeigt mir, dass ich    wir Bilder vermittelt, die rassistisch sind.
ce bekam ich nicht. Damals habe ich       nicht als Deutsche wahrgenommen wer-         Kolonialismus und Rassismus hingegen
diese Entscheidung nicht verstanden.      de. Besonders die Diskussion über All-       sind kaum bis gar nicht im Lehrplan vor-
Heute bin ich mir sicher, dass ich die    tagsrassismus beunruhigt mich. Er wird       geschrieben und werden schon im Bil-
Rolle aufgrund von Rassismus be-          heruntergespielt und ist salonfähig. Ich     dungssystem ausgeblendet. Wir müssen
kommen habe. Ich war schließlich die      muss mich dafür rechtfertigen, wenn ich      nicht diskutieren, ob es Alltagsrassismus
einzige Schwarze in der siebten Klas-     Menschen darauf anspreche. Immer wie-        gibt. Wir müssen ihn enttarnen und das
se. Damals dachte ich, dass wir alle      der merke ich, dass die Leute sich schnell   in jedem versteckten Winkel. Und dann
gleich sind. Dass ich nicht anders bin.   angegriffen fühlen, weil die deutsche Ge-    sollten wir gucken, was wir ändern kön-
Diese Illusion wurde mir mittlerweile     schichte stark durch Rassismus geprägt       nen, um strukturellen Rassismus abzu-
genommen.                                 ist. Ein Rassist ist nur der, der Rassist    schaffen.

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Ali Can                                      der jeder seine Meinung äußern kann,
26 Jahre, aus Essen                          vor allem Wähler der AfD und Pegida-
                                             Anhänger. Bei der Hotline sprechen sie
Als ich Alltagsrassismus zum ersten Mal      dann mit Menschen, die einen Migra-
erlebt habe, wollte ich bei der obligato-    tionshintergrund haben. Sie bietet den
rischen Notenbesprechung mit meinem          „besorgten Bürgern“ einen geschützten
Lehrer über meine Schulnote sprechen.        Rahmen, um ihre Gedanken mitzutei-
So wie es jeder einmal macht. Ich bekam      len und zu reflektieren. Ich gehe auf
nur zu hören: „Wir sind hier nicht auf ei-   Demos und leite in Essen das „VielRes-
nem türkischen Basar.“ Ich komme zwar        pektZentrum“. Meine eigenen Rassis-
aus der Türkei. Das berechtigt aber nie-     muserfahrungen habe ich außerdem
manden, diese Bemerkung zu äußern.           in zwei Büchern niedergeschrieben. In
                                             einem Kapitel habe ich mich mit der
Solche Hürden, ausgelöst durch mei-          Frage „Woher kommst du?“ auseinan-
ne Herkunft, gab es auch in meinem           dergesetzt. Für mich ist es ein komple-
Lehramt­­s­studium. Hürden, die mich         xes Thema. Die Frage kann einfach Teil
verzweifeln ließen. Während eines            des Kennenlernens sein, aber oft steckt
Prak­­tikums in einer Schule wurde ich       unreflektierter, nicht beabsichtigter All-
rausgeschmissen, weil ich mich gegen         tagsrassismus dahinter. Die Frage ist für
ei­nen rassistischen Lehrer gewehrt hat-     mich in Ordnung, wenn sie nicht sofort
te und für geflüchtete Schüler eingetre-     gestellt wird. Ganz wichtig ist es, dass die
ten war. Der Schule waren damals der         erste Antwort akzeptiert und nicht wei-
Lehrer und das eigene Image wichtiger.       ter nachgefragt wird. Letztlich geht es
Meine Uni wusste nicht, wie sie mit der      immer um den Kontext.
Situation umgehen sollte, und ist nicht
für mich eingetreten.                        Es gibt auch Rückschläge im Kampf
                                             gegen den Alltagsrassismus und Ras-
Durch diesen Vorfall habe ich erst so        sismus: rechtsextreme Anschläge, ob
richtig gemerkt, dass Menschen meine         in Halle oder Hanau. Ich war zwar nie
Existenz ablehnen und dass ein System        direkt betroffen. Aber irgendwie schon
dahinter ist, das es zulässt. Weil ich       mitgemeint. Es zeigt, dass da draußen
schwarze Haare habe und einen auslän-        immer noch Gewalttäter rumlaufen, die
dischen Namen trage. Dinge, die mir mit      Menschenleben auslöschen wollen.
der Geburt gegeben wurden. Solche Er-
fahrungen ändern mit der Zeit das eige-      Ich finde, wir alle sollten lernen, soli-
ne Verhalten und können einschüchtern.       darisch zu sein für die Lebenswelt von
                                             Minderheiten und diskriminierten Men-
Davon habe ich mich nicht unterkriegen       schen und uns gegen den Hass stellen.
lassen und setze mich seitdem für Res-       Jeder sollte seinen Beitrag gegen Rassis-
pekt und Dialog ein. Ich habe die „Hot-      mus leisten. Ob in der Familie, bei Freun-
line für besorgte Bürger“ gegründet, bei     den oder in der Kneipe.

                                                                  9
EINFACH LISA Weil sie nicht weiß ist, wird Lisa angegriffen. Ihr geht es wie vielen Menschen, die täglich Rassismus erfahren - Kurt.digital
Anonym                                      hat mich mit der Zeit so unter Druck      mehr dran. Wenn ich angesprochen
20 Jahre, aus Bochum                        gesetzt, dass ich mich für meine Her-     wurde, hat sie mich angeschrien. Das
                                            kunft geschämt habe. Wo komme             hat mich extrem eingeschüchtert.
Die Protagonistin möchte anonym bleiben,    ich überhaupt her? Ich fühle mich in
da sie sich nicht wohlfühlt, beim Thema     Deutschland zu Hause, bin hier gebo-      Bis heute prägt mich diese Erfahrung.
All­tags­rassismus im Mittelpunkt zu ste-   ren und aufgewachsen. Mit der Heimat      Ich rede immer sehr leise, versuche,
hen. Sie möchte kein Mitleid.               meiner Eltern kann ich nicht viel an-     mich überall anzupassen. Ich will mich
                                            fangen. Dennoch mag ich die dortige       deutsch verhalten, bin pünktlich und
Es fällt das Wort Indien im Klassen-        Kultur. Dafür will ich mich niemals       ordentlich. Ein Mitschüler sagte einmal
raum. Und sofort drehen sich alle zu        schämen müssen.                           zu mir: „Du bist a white girl trapped in
mir um. Ständig diese Blicke. Ich werde                                               a brown body.“
gefragt, ob ich denn auch Kühe anbete.      Nicht nur von Mitschülern habe ich
Ein Mitschüler lässt sich das Wort „pi-     Alltagsrassismus erfahren. Auch durch     In Zukunft will ich mich endlich in
cken“ einfallen. Eine Anspielung auf das    die Lehrer. Als ich mich mit einer Mit-   meiner Haut wohlfühlen, und mich
Pflücken von Baumwolle in Indien.           schülerin gestritten habe, sprach meine   nicht wie zwei verschiedene Menschen
                                            Lehrerin mich auf das Geschehene an.      in meinen beiden Kulturen verhalten.
Dabei bin ich keine Inderin, sondern        Ich durfte mich jedoch gar nicht erst     Damit ich so sein kann, wie ich bin.
Tamilin. Meine Eltern kommen aus            zu dem Thema äußern. In der nächsten      Ohne mir Gedanken darüber zu ma-
Sri Lanka. Das verstand in der Schu-        Klausur gab sie mir eine schlechte Note   chen, wie ich von anderen wahrgenom-
le niemand. Dieser Alltagsrassismus         und nahm mich im Unterricht nicht         men werde.

                                                              10
Sind wir nicht alle
 ein bisschen rassistisch?
        Oft bleibt Alltagsrassismus unerkannt. Doch die wenigsten
    können sich von ihm freisprechen. Der Rassismusforscher Karim
        Fereidooni erklärt, woher Rassismus kommt und warum er
                                     so selten problematisiert wird.

                                                INTERVIEWANABEL SCHRÖTER FOTOPRIVAT

R    assismus und Alltagsrassismus sind
     für Karim Fereidooni immer wieder
Thema. Als Juniorprofessor für die Didak-
                                              Kinder wissen, wer beispielsweise die
                                              Funktion eines Politikers übernehmen
                                              kann und wer nicht. Rassismus hat
                                                                                         die zugeschriebene oder faktische
                                                                                         Herkunft bezieht, von der Person, die
                                                                                         abgewertet wird. Menschen, denen
tik der sozialwissenschaftlichen Bildung an   also nichts zu tun mit Intention, Intel-   das Deutschsein nicht abgesprochen
der Ruhr-Universität in Bochum setzt sich     ligenz, dem Alter, Wohnort oder dem        wird, die erfahren keinen Rassismus,
der 36-Jährige unter anderem mit Rassis-      sozialen Status. Sondern mit Macht-        sondern situative Diskriminierung. Es
muskritik in pädagogischen Institutionen      strukturen.                                gibt keine Macht, die weiße Deutsche
auseinander. Bereits für seine Dissertation                                              vom Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt
forschte er dazu.                             Und wer hat diese Macht in unserer         oder Ähnlichem ausschließt. Weiße
                                              Gesellschaft inne?                         Menschen haben Rassismus und Ras-
Stecken in jedem von uns alltagsras-          Auf der ganzen Welt sind das ganz klar     sen erfunden und sich an die Spitze der
sistische Gedanken?                           die weißen Menschen. Unter anderem         menschlichen Pyramide platziert.
Der Alltagsrassismus ist in uns Men-          durch die vom Rassismus geschaffenen
schen verankert, da wir ihn im Laufe          Rassestrukturen. Auch wenn wir wis-        Warum ist Alltagsrassismus 2020
unserer Sozialisation durch Kinder-           sen, dass es keine Rasse gibt, wurden      immer noch ein großes Problem?
bücher, Erzählungen der Eltern, die           diese Konstrukte gebildet, um Unter-       Rassismus ist in uns verankert, er wird
Nachbarschaft und Schule lernen. Stu-         drückung zu legitimieren, wie in der       nicht problematisiert und oftmals
dien zeigen, dass Rassismus bereits           Zeit der Aufklärung. Das bedeutet,         nicht thematisiert. Das Problem ist,
bei Kindern ab drei Jahren eine Rolle         dass es keinen Rassismus gegen wei-        dass viele im Glauben sind, dass es in
spielt. In diesem Alter erlernen sie zwei     ße Deutsche gibt, denn Weißsein gilt       der Mitte der Gesellschaft keinen Ras-
Dinge: Zum einen, dass Männer mehr            überall auf der Welt als Norm.             sismus gäbe. Es wird suggeriert, dass
Macht haben als Frauen. Zum anderen                                                      er nur etwas mit dem rechten Rand
lernen sie, von äußerlichen Merkmalen         Warum gibt es keinen Rassismus ge-         zu tun hätte und es ihn seit 1945 in
darauf zu schließen, ob jemand Macht          gen Weiße?                                 Deutschland nicht mehr gäbe, denn
hat oder nicht. In Rollenspielen kommt        Rassismus ist eine spezifische Spiel-      dieses Land sei demokratisch. Es gibt
dieses Bild zum Vorschein, indem die          art von Diskriminierung, die sich auf      einen Unterschied zwischen Alltags-

                                                                11
» Der erste Schritt gegen Rassismus vorzugehen, ist anzuerkennen,
dass er überall virulent ist, wo Menschen zusammenkommen. «
Prof. Dr. Karim Fereidooni forscht an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema Rassismus.

rassismus und Staatsrassismus. Letz-        Deutschland und die Bundesrepublik
teren gab es zwischen 1933 und 1945,        muss sich unter anderem ihrem kolo-
mit den Konzentrationslagern und            nialen Erbe stellen. Der erste Schritt
den Nürnberger Rassegesetzen. Diese         gegen Rassismus vorzugehen, ist an-
existieren zum Glück nicht mehr. All-       zuerkennen, dass Rassismus überall
tagsrassismus schon und das muss uns        virulent ist, wo Menschen zusammen-
bewusst werden.                             kommen.

Welche Entwicklungen haben Sie in           Könnte es durch den Tod von George
den vergangenen Jahren beobachtet?          Floyd zu einem Umdenken in der ge-
Zum einen ist die BRD 2020 so rassis-       samten Gesellschaft kommen?
tisch wie noch nie in der Geschichte.       Ein gesellschaftliches Umdenken kann
Als die AfD in den Bundestag eingezo-       nur stattfinden, wenn jede*r einzelne
gen ist, wurde einiges sagbar, was vor      Bür­ger*in sich gegen Rassismus zur
zehn oder fünfzehn Jahren undenkbar         Wehr setzt. Das Engagement gegen
war. Zum Beispiel, dass Politiker*innen     Rassismus muss – genauso wie der
von dem Holocaust-Denkmal als               Einsatz gegen den Klimawandel – als
„Denkmal der Schande“ sprechen.             gesamtgesellschaftliche Aufgabe ver-
Diese Partei hat Rassismus wieder ein       standen werden. Dazu benötigen wir
Stück weit salonfähig gemacht. Gleich-      eine Solidarität von Menschen, die
zeitig ist die BRD so rassismuskritisch     die unterschiedlichsten Erfahrungen
wie noch nie. 2015 gab es eine Solidari-    gemacht haben. Weiße Menschen soll-
tätsbewegung, bei der viele Menschen        ten Rassismus nicht kritisieren, um
unter anderem an den Bahnhöfen ge-          Schwarzen zu helfen, sondern um sich
standen und geflüchteten Menschen           selbst zu helfen. Damit sie Schwarze
applaudiert haben. Ich würde also           Menschen nicht als Gefahr sehen.
von einer Gleichzeitigkeit sprechen.
Alle Gesellschaftsmitglieder müssen         Ist die Frage „Woher kommst du?“
sich tagtäglich gegen Rassismus und         rassistisch?
Antisemitismus einsetzen. Denn der          Wenn Sie die erste Antwort ihres Ge-
Kampf ist nie vorbei.                       genübers akzeptieren, dann ist diese
                                            Frage nicht rassismusrelevant für mich.
Wie bewerten Sie die Solidaritäts-          Aber leider wird Menschen of Color oder
bewegung momentan in Europa,                Schwarzen Menschen das Deutschsein
vor allem in Deutschland?                   abgesprochen, indem nachgebohrt
Es gibt Alltagsrassismus und die da-        wird. In einer Migrationsgesellschaft
mit zusammenhängende Polizeigewalt          kann nicht vom Aussehen von Personen
auch in Deutschland. Schwarze Men-          auf ihre Staatsbürgerschaft geschlossen
schen leben seit über 400 Jahren in         werden. 

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⁄⁄ SAGMALPROF

Warum sind Bierflaschen
meistens aus dunklem Glas?
PROTOKOLLPHILIP ALTROCK FOTOASTRID FAHLENKAMP ILLUSTRATIONNANNA ZIMMERMANN

D    ass wir Bier fast immer aus grünen oder braunen Fla-
     schen trinken, ist keine reine Frage der Ästhetik. Das
dunkle Glas schützt das Getränk vor Lichteinfall, damit wir
                                                              Corona. Das passiert nicht, weil die Hersteller den schlechten
                                                              Geschmack des Getränks in Kauf nehmen. Diese Firmen stel-
                                                              len ihr Bier anders her. Einige von ihnen produzieren es zum
den Geschmack des Biers auch im Sommer im Freien genie-       Beispiel mit so wenig Hopfen, dass die Veränderung des Ge-
ßen können.                                                                                  schmacks durch den Lichteinfall
                                                                                                für den Menschen nicht mehr
Problematisch für das Bier sind blau-                                                           wahrnehmbar ist. Andere
es Licht und UVA-Strahlen, die vor                                                             Hersteller benutzen Hopfen-
allem im Tageslicht vorkommen. Sie                                                             extrakte, in denen das Humu-
schaden einem wichtigen Stoff im                                                              lon, das den Geruch auslösen
Bier, dem Humulon. Das ist ein Be-                                                           kann, durch andere Stoffe mit
standteil des Hopfens, der nach dem                                                          vergleichbarem Geschmack er-
Gärungsprozess den bitteren und                                                             setzt wird.
herben Geschmack ausmacht. Der
Lichteinfall ist dafür verantwortlich,                                                       Es gibt eine deutsche Firma, die
dass Bier seinen Geschmack verän-                                                           ihr Bier in durchsichtigen Flaschen
dert. Es riecht verdorben, wenn es                                                          anbietet, obwohl sie Hopfen zur
zu lange in der Sonne steht. Experten                                                   Produktion verwendet: Gemeint ist
bezeichnen das auch als Light-Struck-                         Becks Gold. Die Brauerei löst das Problem mit den Lichtstrah-
Effekt oder Light-Struck-Geschmack, also                      len, indem sie Vanadiumpentoxid in ihrem Glas verwendet. Das
„vom Licht getroffen“.                                                 ist ein Stoff zum Lichtschutz. Der schützt das Bier vor
                                                                           den Strahlen, ähnlich wie Sonnenschutzmittel in ei-
Dunkles Glas kann diesen Effekt ver-                                           ner Sonnencreme.
langsamen. Würden wir ein Bier
in einer braunen Flasche und ein                                                Bei den herkömmlichen, dunklen Flaschen
Bier in einer hellen Flasche ne-                                                 gilt: Braune Glasflaschen sind ein wenig
beneinander in die Sonne stellen,                                                besser geeignet als grüne, um Bier aufzu-
bekämen zwar beide nach einer                                                    bewahren. Braune Flaschen lassen näm-
gewissen Zeit diesen Light-                                                       lich noch weniger Lichtstrahlen durch. Bei
Struck-Geschmack. In der hellen                                                    grünen Flaschen kann es deshalb eher
Flasche würde das aber deutlich                                                    vorkommen, dass Bier einen leicht ver-
früher passieren. Sie kann das                                                    dorbenen und unangenehmeren Geruch
Bier nicht so gut vor dem Licht                                                  hat. Außerdem erklärt es, warum sich viele
schützen. Das braune Glas wirkt                                                 leidenschaftliche Biertrinker darüber unter-
hingegen wie ein Lichtfilter, hält                                              halten, dass Bier aus grünen Flaschen ko-
allerdings auch nicht alle Lichtstrah-                                           misch riecht.
len auf.
                                                                                                        Prof. Dr. Hajo Haase
Trotzdem gibt                                                                                               ist Professor für
es viele Bier-                                                                                                 Lebensmittel-
marken, die in                                                                                                    chemie und
durchsichtigen                                                                                                   Toxikologie
Flaschen ver-                                                                                                          an der
kauft wer-                                                                                                      Technischen
den, zum                                                                                                          Universität
Beispiel                                                                                                              Berlin.
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UND PLÖTZLICH
IST ALLES ANDERS
Tims Chancen, Profibasketballer zu werden, standen gut – bis er aufgrund einer Verletzung
für Wochen im Rollstuhl saß. Wie sich Tim zurück in seinen Alltag kämpfte und der Unfall
seine Prioritäten änderte, erzählt er hier.

TEXTMONA WESTHOLT FOTOMAGNUS TERHORST

D        er Moment, der das Leben von
         Tim Gilberti verändert, dauert
         nur wenige Sekunden. Ein
Zweikampf während eines Basketball-
spiels, wie er ihn schon hunderte Male
                                          Wenn Tim darüber spricht, wie sich von
                                          einem auf den anderen Moment sein
                                          Leben veränderte, wird er ernst und ru-
                                          hig. Sechs Jahre sind seit dem Unfall
                                          vergangen und ihm ist anzumerken, wie
                                                                                      Um seinen Traum zu verwirklichen,
                                                                                      brachte Tim Opfer: drei Mal täglich Trai-
                                                                                      ning, wenig Zeit für seine Freund*innen
                                                                                      und auch die Schule war für ihn zweit-
                                                                                      rangig. Weil er durch den Unterricht das
geführt hat. Der Ellenbogen eines Geg-    traurig ihn dieser Schicksalsschlag         Morgentraining verpasste, musste er am
ners trifft ihn an der Halswirbelsäule.   macht. Während er erzählt, sieht er im-     Nachmittag ein zusätzliches Krafttrai-
Tim verliert den Halt, kippt um, bleibt   mer wieder auf den Boden – aber spricht     ning absolvieren. Zeit für Hausaufgaben
regungslos am Boden liegen.               dann mit einem Lächeln weiter.              blieb wenig. Sein Eifer zahlte sich aus. In
                                                                                      seinem Team galt Tim als großes Talent.
Diese Sekunden, sagt Tim heute, hat er    RÜCKSCHLAG KURZ                             Ein Ex-Mitspieler der Metropol Baskets
nicht richtig wahrgenommen. Sie fühl-     VOR DEM PROFIZIEL                           Ruhr, wo Tim vor seinem Unfall spielte,
ten sich an wie in Trance. Die Schieds-                                               erzählt von seiner überdurchschnittli-
richter unterbrachen das Spiel. Der       Tim ist kein Basketballer wie jeder an-     chen Schnelligkeit. Tim habe einen guten
Teamarzt rief nach einer kurzen Unter-    dere. Die Zeichen in seiner Karriere        Wurf und ein sehr gutes Spielverständ­
suchung die Rettungskräfte, die Tim in    standen überaus gut. Mit sechs Jahren       nis gehabt. Zum richtigen Zeitpunkt
die Notaufnahme brachten. Er erinnert     stand Tim bereits auf dem Basketball-       übernahm er mit dem nötigen Ego die
sich noch, dass er im Krankenhaus da-     platz und verbesserte sich mit jedem        Verantwortung auf dem Spielfeld.
von ausging, in wenigen Wochen wieder     Training. Als er mit 14 Jahren in der Ju-
spielen zu können. Es kam anders.         gendbundesliga spielte, wurde ihm be-       Wer dem 23-Jährigen mit den breiten
Ärzt*innen entdeckten eine Wasserbla-     wusst, dass er sich seinen Traum vom        Schul­­tern und dunklen Haaren heute
se in seinem Halswirbelkanal, ein Kno-    Profibasketball erfüllen könnte. Mit        beim Basketballspielen zusieht, ahnt
chenmarködem. Dieses behinderte und       1,93 Meter hat der heute 23-Jährige         sein Können. Tim rollt den Basketball
zerstörte Teile seines Nervenstrangs.     nicht nur eine gute Körpergröße. Den        auf seinem Finger, dribbelt ihn hin und
Weder Arme noch Beine konnte Tim          nötigen Ehrgeiz und das nötige Talent,      her und zielt auf den Korb, wie er es
spüren. Der bis dato aufstrebende Bas-    um Karriere zu machen, besaß er auch,       schon vor dem Unfall gemacht hat. Nur,
ketballer: Von nun an saß er für Wochen   sagen sowohl ein früherer Mitspieler als    dass das heute alles keineswegs selbst-
in einem Rollstuhl.                       auch sein heutiger Trainer.                 verständlich ist.

                                                             15
Tim im Gespräch mit Kurt-Autorin Mona Westholt

Eineinhalb Jahre hatte Tim mit den phy-       Unbedingt wollte er gesund werden,          kam er nicht mehr richtig mit, musste
sischen Folgen seiner Verletzung zu           schnell wieder spielen. Doch genau die-     ein Schuljahr wiederholen. „Von jetzt
kämpfen. Er musste etliche Therapie ma-       ser Druck hemmte seine Genesung.            auf gleich ging alles kaputt“, sagt Tim.
chen, um die Feinmotorik in seinen Ar-        Heute weiß er, dass in seinem Kopf eine     Die Belastungen waren für ihn kaum
men zurückzuerlangen. Darunter Ergo-,         Blockade entstanden war. Die Ärzt*in­       noch auszuhalten. Und seine Enttäu-
Mal- und Musiktherapien. Das sei „das         nen sprachen von einer psychogenen          schung über den verpassten Aufstieg in
Krasseste überhaupt“ gewesen. Ein Vi-         Lähmung, die ihn daran hinderte, lau-       die Profiliga wuchs täglich. Nur eine
deo, das er auf Facebook geteilt hat, zeigt   fen zu können. Und nicht nur das: Aus       Woche nach seinem Unfall hätte Tim
seine Fortschritte: Sein Körper hängt         der Frustration heraus stritt er sich im-   sich nämlich seinen Traum erfüllen
schlaff in einem großen Gürtel. Seine         mer öfter mit seinen Eltern.                können: den Wechsel zur ersten Mann-
Beine sind von Oberschenkel bis Waden                                                     schaft der ETB Wohnbau Baskets Essen.
in Bandagen umwickelt. Auch seine             DIE BELASTUNG WAR KAUM                      Dann hätte er sich offiziell Profibasket-
Schuhe hängen in Schlaufen, die an robo-      NOCH AUSZUHALTEN                            baller nennen dürfen. Mit dem Verein
terartigen Metallbeinen festgemacht                                                       stellte er sogar einen Fünfjahresplan
sind. Sie helfen ihm dabei, Schritte auf      Selbst das Verhältnis zu seinen Ärzt*in­    auf, mit dem Ziel, in den hohen Ligen
dem langsamen Laufband zu machen.             nen habe darunter gelitten, sagt er. Tim    Europas zu spielen. Der Wechsel schei-
Mit den Metallbeinen hebt und senkt er        fiel es zunehmend schwer, ihnen zu ver-     terte, wie so vieles in dieser Zeit. Das
seine Glieder wie ferngesteuert.              trauen. Oft habe er länger für Fort-        Management des Zweitligisten wolle
                                              schritte gebraucht, als die Ärzt*innen      keine verletzten Spieler unter Vertrag
Tim sagt, dass er damals schnell Fort-        prognostizierten. Durch die Medika-         nehmen, erfuhr Tim, als feststand, dass
schritte machte. Er sagt aber auch, dass      mente, die er nehmen musste, nahm           er mehrere Monate ausfallen würde.
ihm diese nicht schnell genug kamen.          Tim stark an Gewicht zu. In der Schule      Dies konnte und wollte er zunächst

                                                                 16
» Ich war komplett am Boden zerstört. Ich hatte keine Lust
                        mehr. Keiner glaubt an dich. Alle verlassen dich. «
                                                             Tim Gilberti über die harte Zeit während und nach seiner Verletzung

nicht wahrhaben. „Ich war komplett am       Aber Tim will sich erst einmal auf die      Wenn ich aber merke, ich komme mit
Boden zerstört.“                            Uni konzentrieren. Der Unfall hat seine     der Uni nicht hinterher, würde ich einen
                                            Prioritäten verschoben. Früher kam ein      Schritt zurückgehen.“
Als Tim die Folgen seines Unfalls be-       Abitur für ihn nicht infrage. Das brau-
wusst wurden, wurde er depressiv. Trotz     che man als Profibasketballer nicht, hat    Ganz aufgegeben hat Tim seinen Traum
psychologischer Hilfe verschlimmerte        er damals immer gesagt. Nach seiner         vom Profidasein nicht. Zuerst will er sein
sich die Depression. Zweimal versuchte      Verletzung entschied er sich um. Er ab-     Studium abschließen. Wenn er aber
er, sich das Leben zu nehmen. „Ich hatte    solvierte erst das Abitur, fing dann ein    dann zur richtigen Zeit am richtigen Ort
keine Lust mehr. Keiner glaubt an dich.     Studium in Geowissenschaften an der         vor den richtigen Leuten eine gute Leis-
Alle verlassen dich“, erzählt er.           Ruhr-Universität Bochum an. Basket-         tung erbringt, kann er noch einen Schritt
                                            ball ist heute nicht mehr das Allerwich-    zum Profibasketball gehen. „Mein Traum
NEUES TEAM,                                 tigste für ihn. „Ich will so lange und in   ist es immer noch, wenigstens einmal im
ANDERE PRIORITÄTEN                          so hohen Ligen spielen, wie möglich.        Bundesligatrikot zu spielen.“

Es brauchte Zeit, bis die Zuversicht zu-
rückkam. Etwa eineinhalb Jahre. Mit-
hilfe von Psycholog*innen gelang es
Tim, die Depression hinter sich zu las-
sen. Er probierte sich bei verschiedenen
Vereinen aus, die ihn als Basketballer
wieder aufbauen wollten. Doch die ers-
ten Trainingsversuche waren frustrie-
rend. „Ich konnte den Ball nicht mehr
richtig in meiner Hand fühlen.“ Er habe
nicht mehr richtig werfen können.
Nichts habe so funktioniert, wie er es
wollte. „Mein Kopf wollte, aber meine
Motorik konnte nicht.“

Mittlerweile kann seine Motorik wieder
so, wie sein Kopf es will. Tim hat seinen
Weg zurück zum Basketball gefunden.
Bei seinem Dortmunder Verein SV Der-
ne 49 fühlt er sich wohl. Er spielt im
besseren Amateurbereich in der zweiten
Regionalliga der Herren und hat das
Vertrauen von Trainer und Mitspielern.
Er hat sich in der vergangenen Saison
sportlich weiterentwickelt, gute Ent-
scheidungen getroffen und mehr Ver-
antwortung übernommen, erzählt sein
Trainer – und sieht in Tim sogar das
Potenzial, in höheren Ligen zu spielen.

                                                               17
Genesung
                                            ist Kopfsache
                                            Im Sport ist nicht nur der Erfolg Kopfsache. Sportler*innen können
                                            auch ihre Verletzungen mental beeinflussen, sagt Jens Kleinert,
                                            Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie an der Deut-
                                            schen Sporthochschule Köln.
                                            INTERVIEWMONA WESTHOLT FOTOPRESSE/DSHS KÖLN

J  unge Nachwuchstalente arbeiten
   mitunter ihr ganzes Leben darauf
hin, Profisportler*innen zu werden.
                                            älterer Sportler. In beiden Bereichen
                                            können problematische psychische Fol-
                                            gen auftreten. Die Probleme sind aber
                                                                                          anderes sagt als der Trainer und dieser
                                                                                          etwas anderes sagt als der Vater. Sport-
                                                                                          ler brauchen eine aufgehobene, positive
Eine Verletzung kann diesen Lebens­         anders gelagert. Bei jungen Athleten          und konsistente soziale Umgebung.
traum durchkreuzen. Was m     ­ acht ­das   hängt oft der Traum der Karriere von der
mit den Betroffenen?                        Verletzung ab. Sie müssen sich noch im        Kann eine Verletzung die Leistung
Sport ist gerade für junge Athleten mit     Profisport bewähren. Dagegen ist der          der Sportler*innen nachhaltig belas­
vielen Idealen und Wünschen verbun-         Sport für ältere Athleten wesentlich exis-    ten – angenommen, sie sind wieder
den. Eine Verletzung, die so schwer sein    tenzabhängiger, da sie häufig auch finan-     vollkommen körperlich genesen?
könnte, dass bestimmte Träume in Ge-        ziell auf den Sport angewiesen sind.          Es kommt immer wieder vor, dass Ath-
fahr sind, kann bei ihnen zu krisenhaften                                                 leten, die sich in bestimmten Situatio-
Veränderungen führen. Man unterschei-       Können verletzte Sportler*innen ihre          nen verletzt haben, sehr zurückhaltend
det zwischen kleineren oder mittleren       Genesung mental beeinflussen?                 oder ängstlich sind. Eine Verletzung
Verletzungen und solchen, die zum Kar-      Körperliche und psychische Heilungs-          kann also die Leistung nachhaltig min-
riereabbruch führen könnten. Bei letzte-    prozesse hängen stark voneinander ab.         dern. Ein unangemessenes, unsicheres
ren brauchen die Sportler häufig sport-     Das, was exzellente von sehr guten            Verhalten kann sogar dazu führen, dass
psychologische Hilfe. Sie könnten sogar     Sportlern unterscheidet, ist der Kopf.        sportmotorische oder technische Fehler
Symptome bekommen, die sie psycho-          Wenn verletzte Sportler eine positive         gemacht werden, die wiederum zu Fol-
therapeutisch behandeln lassen müssen.      Einstellung haben und sich selbst in der      geverletzungen führen.
                                            Heilung vertrauen, spiegelt sich das po-
Welche Symptome sind das?                   sitiv im körperlichen Heilungsprozess         Wo können Sportler*innen, die we­
Zunächst sind das vor allem Niederge-       wider. Die Athleten, die mit solchen Si-      gen einer Verletzung ihren Profi-Traum
schlagenheit und Lustlosigkeit. Dies be-    tuationen optimal zurechtkommen,              aufgeben mussten, Hilfe finden?
zieht sich nicht nur auf das Training. Es   sind die, die am Ende Karriere machen.        Es gibt ganz unterschiedliche Institutio-
kann auch zu schlechteren Leistungen                                                      nen, die den Sportlern helfen können.
in der Schule oder im Studium kom-          Welche Rolle spielen dabei die Mann­          Kaderathleten können über die Olym-
men. Das ganze System fährt herunter        ­schaft und das persönliche Umfeld?           piastützpunkte psychologische Betreu-
und eine emotionale Leere entsteht. Die      Das soziale Umfeld ist einer der wich-       ung finden. Speziell für junge Athleten
Sportler haben weniger Energie und           tigsten Faktoren für die psychische Situ-    gibt es die „MentalTalent“ Initiative in
sind nicht mehr so aktiv wie früher.         ation der Athleten. Das können der           NRW. Das ist ein Netz von Sportpsycho-
                                             Trainer, die Familie oder Freunde sein,      logen, die besonders junge Sportler und
Kann eine Verletzung bei Nach-               die ihnen zusprechen oder durch Tipps        Sportlerinnen betreuen. Die Initiative
wuchssportler*innen andere psychi­           und Hilfestellungen unterstützen.            „MentalGestärkt“ vermittelt bei psychi-
sche Folgen haben als bei gestande ­         Wich­­tig ist, dass Sporttreibende sich in   schen Problemen, also etwa bei Verdacht
nen Profisportler*innen?                     dem sozialen Umfeld aufgehoben und           auf Depressionen, therapeutische Hilfe.
Die Situation von jungen Profisportlern,     geborgen fühlen. Es wäre schlimm,            Karriereberatungen können Sportlern
die am Anfang ihrer Karriere stehen, un-     wenn sich verschiedene Instanzen wi-         helfen, indem sie Alternativen zur sport-
terscheidet sich kaum von der Situation      dersprechen. Wenn also der Arzt etwas        lichen Karriere aufzeigen.

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⁄ ⁄ KURTSMITTEILUNG

Werbung ohne Wurst!
In jedem Heft schreiben wir eine Mail – dieses Mal an die Bundesministerin für Ernährung und
Landwirtschaft Julia Klöckner. Werbung für billiges Fleisch ist omnipräsent. Unsere Autorin fordert
ein Verbot von Billigfleisch-Werbung, um die Gesundheit der Verbraucher*innen zu schützen.
TEXTLAURA WUNDERLICH

                                     Neue Nachricht: Werbeverbot für Billigfleisch

             Laura Wunderlich

             Julia Klöckner

             Werbeverbot für Billigfleisch

   Sehr geehrte Frau Klöckner,

   jede*r Deutsche isst im Durchschnitt 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr. So berichtet es die Bundesanstalt für Landwirtschaft
   und Ernährung. Das ist viel zu viel. Nur 30 Kilogramm empfiehlt der Verein „Deutsche Gesellschaft für Ernährung“.
   Die Folgen des zu hohen Fleischkonsums sind ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Diabetes und
   Krebskrankheiten. Dass wir so viel Fleisch essen, wird vor allem durch eins ermöglicht: niedrige Preise. Jede Woche
   landen in den Briefkästen der Verbraucher*innen bunte Blättchen, die mit dem nächsten Schnäppchen werben. Liebe Frau
   Klöckner, Sie müssen dafür sorgen, dass dieser Wahnsinn endet: Schaffen Sie ein Werbeverbot für Billigfleisch. Es kann
   nicht sein, dass ein Kilogramm Schweinehack für drei Euro zur Verlockung wird.

   Ein Verbot von Werbung für Billigfleisch ist vergleichbar mit dem Werbeverbot für Tabak. Bei Zigaretten hilft diese
   Maßnahme. Um etwa sieben Prozent geht der Tabakkonsum zurück, wenn man ihn nicht mehr bewirbt, sagt die
   Weltgesundheitsorganisation. In der Praxis zeigen sich noch stärkere Auswirkungen. Der Tabakkonsum sank in Finnland
   nach dem Werbeverbot um 37 Prozent, so das gemeinnützige Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung. Um
   die Gesundheit der Verbraucher*innen zu schützen, sind Werbeverbote also sinnvoll. Und da die deutsche Politik
   Tabakwerbung einschränkt, ist es nur konsequent, beim Fleisch weiterzumachen.

   Ein Werbeverbot könnte zudem ein Umdenken in der Lebensmittelbranche anstoßen: Der öffentliche Preiskampf wäre
   unterbunden. Wenn der Einzelhandel nicht mehr mit dem Preis werben kann, muss er andere Verkaufsargumente finden
   – etwa das Tierwohl. Die Discounter und Supermärkte hätten dann einen Anreiz, den Halter*innen klare Vorgaben zu
   machen, wie die Tiere leben müssen. Infolgedessen könnte das Werbeverbot dazu führen, dass sich gute und gesunde
   Tierhaltung mehr lohnt.

   Das Werbeverbot von Billigfleisch wäre damit ein guter Schritt, um endlich Veränderungen in der Fleischindustrie zu
   erreichen. Fangen Sie an.

   Mit freundlichen Grüßen
   Laura Wunderlich

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IM SCHREBERGARTEN
SEINE LAUBE
Perfekter Rasen, symmetrisch angeordnete Gemüsebeete und penibel herausgeputzte
Gartenzwerge. Schrebergärten sind das Symbol deutscher Spießigkeit. Dieses Bild verändert sich.
Ein Besuch bei Jonas, 24 Jahre alt und begeisterter Kleingärtner.

TEXTSASCHA MATTHIAS ERDELHOFF FOTOSIMON JOST

                                               20
21
Seit Januar hat Jonas (rechts) einen Kleingarten gepachtet. Freund Fabian steht ihm immer zur Seite.

                                                       22
W            er zu Jonas Adrian möch-
             te, braucht ein gutes Ge-
             dächtnis und einen genau-
en Orientierungssinn. Zwischen den
Hecken, Lauben und Gemüsebeeten
                                            und den Rasen mit einer Nagelschere
                                            perfekt auf 3,5 Zentimeter zu stutzen?
                                            Tatsächlich ist Jonas mit seinen 24 Jah-
                                            ren einer der Jüngsten in seinem Gar-
                                            tenverein.
                                                                                        Flagge hängt. Bis es hier so aussah, war
                                                                                        viel Arbeit notwendig: „Der Garten sah
                                                                                        vorher aus wie hingerichtet“, sagt Jonas.
                                                                                        „Das waren hier teilweise richtige
                                                                                        Müllberge. Das musste ich erstmal
kann man sich leicht verlaufen. Die                                                     wieder alles auf Vordermann bringen.“
Strecke führt über einen kleinen Kies-      Doch Studien zeigen: Das Kleingarten-       Unterstützung bekommt Jonas von
weg, vorbei an Ästen von Obstbäumen,        wesen verändert sich. Da die Pächter*in­    seinem Freund Fabian, der als gelernter
die aus einigen Gärten auf den schma-       nen von Kleingärten immer älter wer-        Elektriker besonders in handwerklichen
len Pfad ragen. Wer es geschafft hat, der   den, kommt es hier nach und nach zu         Dingen helfen kann. Jonas selbst macht
entdeckt Jonas schließlich in einem der     einem Generationenwechsel. Derzeit          eine Ausbildung zum Heilerziehung­     s-
vielen Gewächshäuser hinter einer klei-     liegt das Durchschnittsalter der Men-       pfleger und bietet Massagen an. Wenn
nen Hecke – in seinem eigenen grünen        schen, die einen Kleingarten gepachtet      er nicht arbeitet, nutzt er jede freie
Reich. Der 24-Jährige hat sich seinen       haben, bei 56 Jahren. 2013 waren            Minute für die Gartenarbeit.
Traum vom Schrebergarten erfüllt. Seit      Kleingärtner*innen in Deutschland
Januar gehören ihm 400 Quadratmeter         durch­schnittlich noch etwa 60 Jahre alt.   IM GRÜNEN FREI
Grün, mitten in einer riesigen Kleingar-    Besonders in den großen westdeut-           UND UNABHÄNGIG
tenkolonie in Soest nahe Dortmund.          schen Städten übersteigt die Nachfrage
                                            nach Kleingärten mittlerweile das An-       Jonas geht es nicht nur ums Gärtnern.
Viel Fläche, die viel Arbeit bedeutet:      gebot. Hier sind es vor allem junge Fa-     Für ihn bedeutet der eigene Garten
„Umgraben, anpflanzen, düngen, gie-         milien, die dazu beitragen, dass das        auch Freiheit und Unabhängigkeit. „Für
ßen, reparieren – es steht immer jede       Durchschnittsalter in den Vereinen          mich stand fest: Entweder ziehe ich zu
Menge an“, erzählt Jonas. Lässig geklei-    sinkt. Das ergab eine Studie des Bun-       Hause aus oder ich kaufe mir ein eige-
det mit T-Shirt, Sporthose und Turn-        desinstituts für Bau-, Stadt- und Raum-     nes Grundstück“, erzählt er. Jonas hat
schuhen macht er sich an die Arbeit. Die    forschung 2019. In Deutschland gibt es      Schweißtropfen auf der Stirn. Einen
Mittagssonne scheint von außen durch        insgesamt etwa 1,1 Millionen Klein­­­       Stein nach dem anderen platziert er auf
die Scheiben seines kleinen Gewächs-        gärten. Dass diese bei Jüngeren zuneh-      dem schmalen Kiesfundament in sei-
hauses. Mit einer Schaufel gräbt Jonas      mend beliebt werden, lässt sich zum         nem Gewächshaus. Am Ende soll hier
ein Loch in die Erde. Behutsam setzt er     Beispiel mit einem neuen Zeitgeist in       ein kleiner Weg entstehen. Im Gewächs-
eine junge Bananenpflanze hinein. Ein       der Bevölkerung erklären: Obst und Ge-      haus ist es noch heißer und stickiger als
bisschen Dünger und Wasser dazu und         müse aus dem eigenen Garten, biolo-         draußen bei seinen Beeten oder der
schon ist sein Garten wieder etwas grü-     gisch und ohne Chemie oder Schäd-           breiten Rasenfläche. Jonas sagt: „Der
ner geworden. „Das war schon immer          lingsbekämpfung – gerade bei den            Garten ist riesengroß und ich kann
ein Kindheitstraum von mir“, sagt er.       jungen Menschen aus der Stadt kommt         mich hier komplett entfalten. Ich kann
„So wie andere Spaß an Fußball haben        dies zunehmend in Mode.                     sogar hier übernachten.“ Hin und wie-
oder daran, am Auto zu schrauben, habe                                                  der feiert er vor seiner Laube kleine
ich Spaß am Gärtnern.“ Zu Hause bei         Selbst angepflanztes Obst und Gemüse:       Gartenpartys mit Freund*innen.
seiner Mutter in Soest hat Jonas nur ei-    Das war auch für Jonas ein Grund,
nen kleinen Ziergarten.                     warum er den Kleingarten gepachtet          „Gerade die Jüngeren sehen den eige-
                                            hat. Obstbäume, Sträucher mit Beeren,       nen Garten auch als Freizeitgarten“, er-
EINE NEUE GENERATION                        Kürbisse, Wassermelonen und jede            klärt Frank Vormberge. Er ist Vorstand
EROBERT DEN KLEINGARTEN                     Menge Kräuter wachsen hier. In einem        des Gartenvereins „Am alten Flughafen“
                                            Gewächshaus pflanzt er zudem Zitronen       in Dortmund. Sein Verein erlebe eben-
Kleingärtner*innen: Sind das nicht          und Tomaten an. Sogar eine kleine, blau     falls einen Generationenwechsel der
Rentner*innen, die ihren Tag damit ver-     gestrichene Laube gibt es auf seinem        Pächter*innen: „Die Älteren gehen so
bringen, den Gartenzwerg zu polieren        Grundstück, in deren Fenster die Pride-     langsam, weil sie einsehen, dass sie die

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Arbeit nicht mehr schaffen, oder leider    wirtschaften: „Aus eigener Erfahrung       einer großen Kreissäge weiter Steinplat-
versterben. Diejenigen, die bei uns ei-    kann ich sagen: Wenn man Gärtner hat,      ten für den Weg im Gewächshaus zu-
nen neuen Garten bekommen, sind            die alleinstehend sind und vielleicht      recht. Dank ihm hat es mit dem Garten
meistens so um die 30 bis 45 Jahre alt.“   noch arbeiten müssen, dann ist das sehr    schließlich doch geklappt. Fabian er-
Auch einige Studierende haben im Ver-      schwierig.“                                zählt: „Jonas kam aus dem Vereinsheim
ein einen Garten gepachtet. Konflikte                                                 raus und sagte zu mir: ‚Wir müssen jetzt
zwischen den Generationen beobachtet       Für Jonas war es nicht einfach, über-      zusammenbleiben. Ich habe dem Ver-
Frank Vormberge nicht: „Bei uns im         haupt einen eigenen Garten zu bekom-       einsleiter gesagt, du bist mein Freund
Verein müssen sich die Jungen und die      men. Er kniet auf dem Boden, vor ihm       und du machst das jetzt hier mit mir.‘“
Alten an die Regeln halten“, erklärt er.   zwei Reihen Knoblauchpflanzen und          Fast jedes Wochenende verbringt Jonas
                                           mindestens doppelt so viel Unkraut.        in seinem Garten. Wenn es die Arbeits-
KÄMPFEN FÜR                                „Ich wurde nicht mit offenen Armen         zeiten zulassen, ist er auch unter der
DEN EIGENEN GARTEN                         empfangen“, sagt er. „Da ich nicht ver-    Woche hier. Das Gärtnern habe er sich
                                           heiratet und noch ziemlich jung bin, hat   selbst beigebracht, erzählt er. „Und
Vormberge sagt, der Verein sei froh,       der Vereinsleiter gesagt, dass ich mit     wenn ich mal nicht weiter weiß, dann
dass auch Jüngere eintreten, weil sie      meinem Alter hier nicht angenommen         schaue ich im Internet nach, beispiels-
mit anpacken können: „In so einem          werde.“ Schließlich habe es viel Überre-   weise wie man Zwiebeln anpflanzt.“
Garten fallen natürlich diverse Arbeiten   dungskunst gekostet, bis der Vereinslei-
an. Da ist es schön, ein paar Leistungs-   ter endlich nachgegeben habe. Routi-       MEHR ALS GRILLEN
träger dabei zu haben. Das sind eben       niert zupft Jonas mit den Fingerspitzen    UND PARTY MACHEN
meistens die Jüngeren, weil die mehr       Unkraut und alles, was sonst nicht ins
Kraft haben.“ Dennoch sei ein eigener      Beet gehört, aus der trockenen Erde. So    Spaß am Anpflanzen und Ernten ist
Kleingarten nicht für jeden etwas.         lange, bis der Knoblauch wieder genug      wichtig, wenn man Kleingärtner*in wer-
Kleingärtner*innen sollten Zeit haben,     Raum zum Wachsen hat. Währenddes-          den will. Denn nur zum Grillen und Fei-
regelmäßig den eigenen Garten zu be-       sen schneidet sein Freund Fabian mit       ern seien die Gärten nicht gedacht, er-

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klärt Frank Gerber vom Stadtverband       setzungen er­füllen, um in den Garten-     müse angebaut werden muss, wie groß
Dortmunder Gartenvereine: „Im Bun-        verein aufgenommen zu werden. „Wenn        die Laube sein darf und welche Pflanzen
deskleingartengesetz ist genau defi-      der Verein den Eindruck hat, der           erlaubt sind. Ganz so streng wie früher
niert, wozu ein Kleingarten da ist: ei-   Mensch möchte wirklich nur grillen und     sei es aber heute oft nicht mehr, meint
nerseits zum Anbau von Obst und           Party machen und hat gar kein Interesse    der Dortmunder Vereinsvorstand Frank
Gemüse und andererseits zur Erho-         daran, hier Gemüse anzubauen, dann         Vormberge: „Bis vor wenigen Jahren
lung.“ Wenn jemand den Fokus nur auf      würde er vielleicht gar nicht aufgenom-    war es noch so, dass die Vorstände ganz
die Erholung lege, könne das zu Kon-      men werden“, sagt Gerber. Häufig gibt      genau geguckt haben, ob das wirklich
flikten führen. Kleingärten seien auch    es deshalb ein Aufnahmegespräch mit        alles akkurat ist und die Richtlinien ein-
deshalb so günstig, weil sie der Eigen-   dem Vorstand. Außerdem müssen Mit-         gehalten werden. Und es waren wenige
versorgung dienen sollen.                 glieder eines Gartenvereins an Gemein-     Jüngere, die das dann überhaupt noch
                                          schaftsstunden teilnehmen. Die Ver-        wollten, einfach weil die keine Lust hat-
Tatsächlich sind Kleingärten im Ver-      einsmitglieder kümmern sich dabei          ten, die ganze Zeit nur Gemüse anzu-
gleich zu einer Mietwohnung für wenig     gemeinsam um die Pflege der gesamten       bauen.“
Geld zu haben. Mit etwa 400 Euro pro      Gartenanlage.
Jahr sollten Interessierte laut Gerber                                               Dennoch gibt es Vormberge zufolge
für den eigenen Kleingarten rechnen.      WEG VOM                                    auch heute noch Vereine, die ganz ge-
Wasser, Strom und Versicherung inklu-     GARTENZWERG-IMAGE                          nau hinschauen: „Da laufen die wirklich
sive. Jonas zahlt für die Pacht seines                                               noch kleinkariert mit Maßbändern
Gartens und eine Versicherung 160         Viele Vorschriften und alles ist bis ins   durch die Gegend, messen alles aus und
Euro im Jahr. Dazu kommen weitere         kleinste Detail festgelegt: Kein Mensch    zählen, wie viele Kohlköpfe man
Kosten für die Gartenpflege. Gerber zu-   scheint das mehr zu lieben als             braucht.“ Er selbst achte zwar auch dar-
folge sollten Kleingärtner*innen etwa     Kleingärtner*innen. So schreibt das        auf, dass die Gärten nicht verkommen
zwei- bis dreimal in der Woche Zeit für   Bundeskleingartengesetz vor, auf wie       und Regeln eingehalten werden, aber es
ihren Garten einplanen und die Voraus-    viel Fläche des Gartens Obst und Ge-       zähle vor allem das Gesamtbild. Das

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Klein­
     gartenwesen öffne sich immer
mehr, wodurch es einen Wandel gebe
weg vom „Gartenzwerg-Image“ hin zum
modernen Kleingartenwesen, heißt es
dazu in der Studie des Bundesinstituts
für Bau-, Stadt- und Raumforschung.

WENN DER RASEN
NICHT KURZ GENUG IST

Der obligatorische Gartenzwerg steht
bislang nicht in Jonas' Garten. Und
auch der Rasen ist nicht überall sauber
gemäht. Insgesamt seien in seinem Gar-
tenverein alle sehr locker, erzählt Jonas.
Während des Gesprächs schaut sein
deutlich älterer Nachbar ab und zu inte-
ressiert über den Gartenzaun. Die bei-
den tauschen sich aus. Man kennt sich.
Erst vor Kurzem hat Jonas ihm seine
alten Fenster aus dem Gewächshaus ge-
schenkt. Doch es gebe auch Pächter*in­
nen, die gelegentlich meinen, die Gär-
ten der anderen genauer prüfen zu
müssen: „Ich habe schon mal von Gärt-
nern gehört, dass ich meinen Rasen
kurzzuhalten habe. Ich habe auch schon
gehört, dass das Dach meiner Garten-
laube falsch wäre oder meine Wasser-
tonne zu schief stehen würde“, sagt Jo-
nas. „Aber die Sprüche gehen da rein, da
raus.“ Er habe den Garten schließlich
gepachtet, damit er ihn selbst gestalten
könne und nicht andere.

Mittlerweile scheint die Abendsonne
durch die Blätter der Bäume und die
Scheiben von Jonas' Gewächshaus. Den
ganzen Tag hat er mit Freund Fabian im
Garten verbracht und Pflanzen in die
Erde gesetzt. Der Weg im Gewächshaus
ist nun auch gepflastert. Die Motivation
für die harte Arbeit käme von ganz al-
lein, erzählt Jonas. Es gebe aber auch
Tage, an denen er einfach nur auf der
Wiese in seinem Garten sitze und die
Sonne genieße. Es seien außerdem noch
viele weitere Projekte geplant: „Ich wür-
de gerne noch einen kleinen Pavillon
mit Theke bauen. Aber das hat Zeit“, er-
zählt er lachend. 

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⁄⁄ KURTSARBEIT

Die Corona-Detektivin
Unzählige Daten fallen derzeit im Dortmunder Gesundheitsamt durch das Coronavirus an.
Studentin Katharina Verch hilft als Containment-Scout dabei, alle digital zu erfassen
und sorgt so dafür, dass der Überblick nicht verloren geht.
TEXTMIGUEL KALUZA FOTOLUCAS ENGELHARDT

K   annst du das lesen?“, fragt Katharina Verch ihre
    Kolleg*innen immer dann, wenn sie die Handschrift auf ei-
nem Anamnese-Bogen nicht entziffern kann. Auf diesen Bögen
stehen die Kontaktdaten von Menschen, die möglicherweise
mit Corona infiziert sind. Katharina arbeitet in einer Behörde,
dem Gesundheitsamt Dortmund. Doch mitunter gleicht ihr
Job dem einer Detektivin – um die Handschriften zu entziffern.
„Manchmal lesen wir komplett verschiedene Wörter aus den
Bögen heraus, dann helfen wir uns gegenseitig“, sagt Katharina.

Dabei hat sie mit Kriminologie sonst nichts zu tun: Die                zahl der getesteten Personen haben“, sagt sie. Als die Stadt
27-Jährige studiert Sport- und Gesundheitstechnik an der               bereits Genesene für Blutplasma-Spenden anfragen wollte,
Hochschule in Hamm. Als Containment-Scout ist es nun ihre              waren die aufgearbeiteten Daten besonders wertvoll, erzählt
Aufgabe, Daten von Corona-Tests in Excel-Tabellen festzuhal-           Katharina.
ten. „Mir ist es wichtig, in dieser besonderen Situation einen
Beitrag für die Gesellschaft zu leisten“, sagt Katharina über          Fünf Kolleg*innen arbeiten mit ihr im Dortmunder Gesund-
ihren Job. Ihr Onkel hatte ihr zu Beginn der Coronakrise eine          heitsamt als Containment-Scouts. Dass es sich dabei nicht um
Stellenausschreibung des Bundesverwaltungsamtes gezeigt.               einen Job handelt, den die Studentin entspannt nebenbei ma-
Nach kurzer Bewerbungsphase wurde sie Ende April dem Ge-               chen kann, habe schon die Vorbereitung gezeigt. „Uns wurde
sundheitsamt Dortmund zugeteilt – zweiter Stock, Abteilung             ein großer Ordner mit Schulungsmaterial bereitgestellt, damit
Infektionsschutz. Für ihre Vollzeit-Arbeit bekomme sie im              wir optimal für unseren Job vorbereitet sind“, sagt Katharina.
Vergleich zu anderen Studierendenjobs ein gutes Gehalt, fin-
det Katharina. Was sie genau verdient, will sie nicht verraten.        Eigentlich empfiehlt das Bundesverwaltungsamt den Studie-
                                                                       renden, ein Urlaubssemester für den Job einzulegen. Kathari-
Mit Mundschutz sitzt sie nun fünfmal in der Woche vor ihrem            na befindet sich bereits in den letzten Zügen ihres Studiums.
Monitor. Die Anamnese-Bögen, von denen etwa 60 jeden Tag               Sie ist überzeugt, dass sie es auch ohne hinkriegt: „Durch die
auf ihrem Schreibtisch landen, kommen von den Dortmunder               momentane Situation ist es ein glücklicher Zufall, dass die
Corona-Teststationen. Dort tragen die Getesteten ihre Daten            Veranstaltungen dieses Semester komplett online ablaufen
wie Anschrift, Telefonnummer, E-Mail, Aufenthalt in Risiko-            und ich diese nach Feierabend und am Wochenende nach-
gebieten oder Symptome ein. Katharinas Aufgabe ist es, diese           arbeiten kann.“ Katharina gibt aber zu, dass „es manchmal
Angaben in Excel-Tabellen zu digitalisieren – nachdem sie es           schon stressig ist“, wenn beispielsweise Klausuren anstehen.
geschafft hat, die Handschrift zu entziffern.                          Bis Ende Oktober wird sie noch im Gesundheitsamt in Dort-
                                                                       mund arbeiten.
Hinzu kommen die Testergebnisse aus dem Labor. Die muss
Katharina ebenfalls digital erfassen und den Kontaktdaten              „Durch die gesammelten Erfahrungen im Gesundheitsamt
in der Excel-Tabelle zuordnen. „Unsere Arbeit ist wichtig,             entwickelt man ein ganz anderes Bewusstsein für die Wichtig-
damit wir einen genauen Überblick über die Daten und An-               keit der Maßnahmen“, findet sie.

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