ES GIBT EIN LEBEN NACH DER HAFT - report 2022 - Neustart
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report 2022 NEUSTART/Mitter ES GIBT EIN LEBEN NACH DER HAFT NEUSTART: Frau Präsidentin, der gäbe auch die Mittel für eine bes- Sabine Matejka ist Präsiden- Umgang mit der Richterschaft ist sere Personalausstattung. Womit tin der Vereinigung der öster- Gradmesser einer Demokratie. wir allerdings kämpfen, sind die reichischen Richter:innen Was braucht die dritte Staatsge- Pensionsabgänge. Uns fehlen aus- walt, um ihre Rolle gut auszufüllen? reichend ausgebildete ernennungs- und spricht mit NEUSTART fähige Richteramtsanwärter:innen. Pressesprecher Thomas Sabine Matejka: Wir brauchen eine unabhängige, gut ausgebil- Stichwort Ausbildung: Marecek über den Zweck dete Richterschaft und entspre- Richteramtsanwärter:innen absol- von Strafen, die Ausbildung chende Rahmenbedingungen. Die vieren Praktika – zum Beispiel bei besten Richter:innen können ihre NEUSTART. Was bewirkt dieser der Richter:innen und die Aufgaben nicht erfüllen, wenn es Perspektivenwechsel? öffentliche Auseinander- an Ressourcen mangelt. Diese praktischen Ausbildungs- setzung mit Kriminalpolitik. Mangelt es denn an Ressourcen? stationen sind extrem wichtig, weil man den jungen Kolleg:innen einen Wir haben in den letzten Jahren Blick auf die andere Seite ermög- wieder bessere Justizbudgets. Es licht. Als Richter:in sieht man nur
NEUSTART/Mitter ÖSTERREICH report 2022 einen Teil des Bildes: das, was sich im Verhand- wegen. Die Frage, welche Strafe verhängt wird, lungssaal abspielt und was im Akt steht. Vieles ist eine im Einzelfall sehr schwierige Abwägung. kommt aber weder da noch dort zur Sprache. In der politischen Diskussion wird das oft sehr Zu verstehen, was im Hintergrund abläuft, ist pauschal betrachtet. eine wichtige Erfahrung. Für eine differenzierte Auseinandersetzung Aktuell findet eine Debatte über Strafvollzug und steht das Netzwerk Kriminalpolitik. Die Rich- Untersuchungshaft statt. Sitzen in Österreich zu ter:innenvereinigung ist auch Mitglied dieser viele Menschen im Gefängnis? informellen Plattform. Haft ist die ultima ratio. Die Fragen nach der Ja, wir versuchen einen Gegenpol zu anlass- Haftdauer und ob es sinnvoll ist, jemanden in bezogenen Diskussionen zu setzen, indem Haft zu nehmen, sind wir Fachexpertise einbringen – zum Beispiel sehr wichtig. Die in Bereichen, wo gerade Reformen anstehen. „Ein Urteil ist ja nicht immer Antwort entspricht Aktuell widmen wir uns den Themen Korruption, die beste Lösung, oft gibt es nicht immer der Gewaltprävention und Maßnahmenvollzug. Das gesellschaftlichen sind gesamtgesellschaftliche Probleme über die andere Möglichkeiten.“ Erwartung. Weg- Kriminalpolitik hinaus. sperren vermittelt Sicherheit, aber das ist zu kurz gedacht, denn Ein weiteres gesellschaftliches Problem hat uns jede Haft hat einmal ein Ende. Die meisten die, teils heftig geführte, Diskussion um Maßnah- Täter:innen kommen wieder in Freiheit und es men während der COVID-Pandemie verdeutlicht. gibt ein Leben nach der Haft. Dass eine lange Immer öfter prallen unvereinbare Positionen Freiheitsstrafe nicht dazu beiträgt, dass diese aufeinander. Menschen reintegriert und nicht rückfällig wer- den, wird in der öffentlichen Diskussion leider oft Die Gerichte kommen in diesen Konflikten weniger beachtet. erst sehr spät ins Spiel. In Zeiten, in denen es umstrittene Entscheidungen gibt, ist es umso Auch der Zweck strafrechtlicher Sanktionen wird wichtiger, dass Entscheidungen der Gerichte – öffentlich wenig diskutiert ... bis hinauf zum Verfassungsgerichtshof – in einer für Nicht-Jurist:innen verständlichen Sprache Ja, und bei dieser Frage handelt es sich immer erklärt werden. Im Zivilverfahren können wir um eine Abwägung. Auf der einen Seite stehen auch versuchen, den Konflikt zu bereinigen. Ein der Sanktionsgedanke, der Ausgleich für die Tat Urteil ist ja nicht immer die beste Lösung, oft gibt und den Schaden und natürlich die Interessen es auch andere Möglichkeiten. Da können wir des Opfers. Auf der anderen Seite steht das Ziel, Richter:innen einen Beitrag leisten. dass ein:e Täter:in nicht wieder straffällig wird. Das sind die Pole zwischen denen wir uns be- – thomas.marecek@neustart.at – 2
NEUSTART/Mitter www.neustart.at „MIT DER BRECHSTANGE ERREICHT MAN KEINE VERÄNDERUNG“ Die beiden NEUSTART Ge- Pensionsabgängen und der neuen Dienstleis- tung 120 neue Mitarbeiter:innen aufgenommen. schäftsführer Christoph Koss Das hat sämtliche Strukturen von NEUSTART und Alfred Kohlberger über vor große Herausforderungen gestellt. Das war ein Kraftakt der ganzen Organisation, der mit häusliche Gewalt, Sozialarbeit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden war. in Zeiten der Pandemie und die Jetzt sind wir dabei, die Strukturen nachzuzie- Notwendigkeit einer Reform hen, damit wir wieder in ruhigere Fahrwasser kommen. des Maßnahmenvollzugs. Was waren denn die Knackpunkte bei diesem Veränderungsprozess? NEUSTART: Der Report ist unser Medium, in dem wir Bilanz ziehen. 2021 war ein bewegtes Koss: Gut qualifiziertes Personal zu finden – das Jahr. Was hat NEUSTART am meisten bewegt? war ein Knackpunkt, ist uns aber gelungen. Außerdem war es für uns sehr aufregend, diese Christoph Koss: Die COVID-Pandemie und die Chance zu bekommen, an der Bewältigung Gewaltpräventionsberatung. Mitte Juli bekamen eines großen gesellschaftlichen Problems – wir den Zuschlag des Innenministeriums, diese nämlich häuslicher Gewalt – mitzuarbeiten. Das Dienstleistung in fünf Bundesländern durchzu- Thema bewegt jeden Menschen. führen und Anfang September haben wir mit den Beratungen begonnen. Das in so kurzer Zeit auf Kohlberger: NEUSTART leistet damit einen die Beine zu stellen, war eine enorme Heraus- Beitrag für mehr Sicherheit. Dabei haben wir viel forderung. In den ersten sechs Monaten haben Erfahrung – aus der Bewährungshilfe und aus wir 5.000 Personen beraten. Da haben unsere anderen Dienstleistungen. Dieses Bewusstsein, Kolleg:innen Großartiges geleistet. einen gesellschaftlich wichtigen Beitrag zu leis- ten, war Motor dafür, dass wir über uns hin- Alfred Kohlberger: NEUSTART ist noch nie ausgewachsen sind. Das Arbeitsvolumen, das in seiner Geschichte in so kurzer Zeit so stark unsere Kolleg:innen dafür bewältigt haben, war gewachsen. Wir haben im Vorjahr aufgrund von enorm und das wissen wir sehr zu schätzen. 3
NEUSTART/Mitter ÖSTERREICH report 2022 Koss: Uns geht es auch darum, einen Teil der Nachkriegsgeschichte Österreichs ein für alle Mal hinter uns zu lassen. Gewalt war lange Zeit ein Stück Normalität: Gewalt in Kinderheimen und anderen Institutionen, Gewalt in Wirtshäu- sern, auf dem Fußballplatz und bei Volksfesten. Besonders schlimm jedoch ist Gewalt in der Familie, denn wir alle wollen uns zu Hause sicher fühlen. Vor 25 Jahren hat mit der Verab- schiedung des Gewaltschutzgesetzes eine sehr positive Entwicklung begonnen und die Gewalt- Christoph Koss präventionsberatung ist ein weiterer Schritt. Die Gewaltpräventionsberatung setzt beim der Sozialarbeit, die wir leisten, ist der persönli- Täter an ... che Kontakt das Um und Auf. Kohlberger: Sogar noch vor einer möglichen Kohlberger: Mich macht es sehr stolz, dass wir Verurteilung. Denn jemand, der von der Poli- diesen Kontakt im ganzen Jahr 2021 aufrecht- zei ein Betretungs- und Annäherungsverbot erhalten konnten. Dafür brauchte es natürlich ausgesprochen bekommt, ist – noch – nicht Sicherheitsmaßnahmen, die von unseren gerichtlich verurteilt. Er wird jedoch verpflichtet, Mitarbeiter:innen sehr diszipliniert mitgetragen diese Beratung in Anspruch zu nehmen. Die wurden. Sozialarbeiter:innen von NEUSTART haben viel Erfahrung bei der Arbeit mit Menschen, die un- COVID ist ja nicht nur für das Gesundheitssys- sere Unterstützung nicht freiwillig suchen – also tem und für Organisationen eine Riesenheraus- mit Arbeit im Zwangskontext. Wir können daher forderung. Die gesamte Gesellschaft spürt das. sehr gut mit anfänglichen Widerständen umge- Man hat den Eindruck, es prallen unvereinbare hen. Wir unterstützen Gefährder dabei, Alternati- Positionen aufeinander. Kann NEUSTART zu ven zu Gewalt zu finden. Gleichzeitig machen wir einem gelingenden Miteinander beitragen? deutlich, dass Gewalt niemals toleriert werden kann. Koss: Konflikte sind Teil jeder Gesellschaft. Die entscheidende Frage ist, wie gehen wir mit Kon- Koss: Das oberste Ziel in der Beratung ist ein flikten um? Besonders schwierig wird es dann, Stopp der Gewalt und dazu muss man sich auf wenn Grenzen überschritten wurden – wenn es die Gefährder einlassen. Mit der Brechstange zu einer Körperverletzung oder zu einer Sach- erreicht man keine Veränderung. beschädigung gekommen ist. Da können wir helfen, den sozialen Frieden wieder herzustellen, Die zweite große Herausforderung zum Beispiel bei einem Tatausgleich. war die COVID-Pandemie. Kohlberger: Dass das beim Tatausgleich gut Kohlberger: Absolut. Eine neue Dienstleistung gelingt, zeigt eine aktuelle Studie, die wir in in Zeiten einer Pandemie einzuführen: Daran Auftrag gegeben haben. 77 Prozent der Opfer merkt man, dass besondere Zeiten Besonderes sagen, sie sind mit dem Ergebnis des Tataus- möglich machen. gleichs zufrieden. Was war die größte Herausforderung Nun ist aber Tatausgleich nicht nach jedem während der Pandemie? Delikt möglich ... Koss: Zwei Dinge: erstens für größtmög- Kohlberger: Bleiben wir beim Beispiel der lichen gesundheitlichen Schutz unserer Pandemie. Da gibt es Menschen, die mit den Mitarbeiter:innen zu sorgen und zweitens COVID-Maßnahmen, oder generell mit staatlicher gleichzeitig für unsere Klient:innen da zu sein. Autorität, ein Problem haben. Eine Gesellschaft Das ist nämlich gerade in einer unsicheren braucht allerdings Spielregeln, Grenzen und rote Phase besonders wichtig. Wenn Arbeitslosigkeit Linien. Wir dürfen bloß nicht den Fehler machen, droht, wenn man in beengten Wohnverhältnis- den Kontakt zu jenen zu verlieren, die diese sen einen Lockdown verbringen muss, wenn Grenzen überschreiten. Es braucht ein Erklären, man um seine Gesundheit besorgt ist – all das warum es diese Grenzen gibt und man muss sind schwierige Situationen, in denen unsere gemeinsam mit eine:r Straftäter:in Wege suchen, Klient:innen unsere Unterstützung brauchen. In die wieder innerhalb dieser Grenzen führen. Und 4
NEUSTART/Mitter www.neustart.at dabei braucht es oft Unterstützung – sei es in der Bewährungshilfe, bei der Haftentlassenenhil- fe oder durch andere Angebote. Koss: Auch Menschen, die schwere Straftaten Alfred Kohlberger begangenen haben, sind Teil unserer Gesell- schaft. Wenn wir diese Gruppe abwerten und ihr mit Gewalt begegnen, stellt sich die Frage, wo Geld ist, ebenso wie Zeit, eine begrenzte Res- das endet. Gibt es eine andere Gruppe, gegen source. Befürchten Sie Einsparungen im Sozial- die wir auch so vorgehen würden? Wir haben bereich aufgrund der COVID-Maßnahmen? den Anspruch auf ein Leben ohne Gewalt. Und diesen Anspruch erreichen wir nicht durch Aus- Kohlberger: Die Politik wird sich überlegen müs- grenzung. sen, ob sie tatsächlich bei der Resozialisierung sparen kann. Ich finde nicht. Wir merken, dass Gewalt beginnt oft schon mit Worten – das sozial konstruktive Maßnahmen in der aktuellen merkt man gerade im Web. Dort geht es Justizpolitik einen hohen Stellenwert haben. mitunter ruppig zu. Das ist gut so, es ist aber auch mit gewissen Kosten verbunden. Ich sehe das aber stärker als Koss: Auch im Netz gibt es Grenzen. Hass oder Investitionen, die eine sehr hohe Rendite haben. Äußerungen, die den Tatbestand der Verhetzung Es lohnt sich, in Resozialisierung zu investieren erfüllen, überschreiten diese Grenzen. Unsere und es kostet viel, es nicht zu tun – nämlich den Aufgabe ist es dann, deutlich zu machen, warum sozialen Frieden. es diese Grenzen gibt. Mit unserem Angebot „Dialog statt Hass“ unterstützen wir Menschen, Koss: Sparen wird wohl eine Notwendigkeit sich im Web anders zu verhalten. Kritik muss werden. Meine Sorge ist, dass man bei Men- anders formuliert werden, als durch Worte, die schen spart, die ohnehin schon stark unter verletzend oder sogar verhetzend sind. Damit Druck stehen und deren Situation sich dadurch muss eine Auseinandersetzung stattfinden. Die noch verschärft. Wenn Menschen keine Per- Strafe ist eines, die Auseinandersetzung mit spektive haben, drohen sie in die Kriminalität einer solchen Tat ist nochmal etwas anderes. abzurutschen. Digitale Kommunikation birgt das Risiko, dass Dass die Justizpolitik offen für sozial konstruktive Grenzen schnell verletzt werden. Andererseits Maßnahmen ist, ist positiv. Wo hingegen gibt es eröffnet die Digitalisierung viele Chancen. Auch den größten Handlungsbedarf? in der Sozialarbeit? Kohlberger: Beim Maßnahmenvollzug. Wir Kohlberger: Definitiv. Wir können damit haben es mit psychisch kranken Menschen zu unsere Kommunikationswege verbreitern und tun, die aufgrund ihrer Krankheiten Straftaten Hürden abbauen. Ein Beispiel dafür ist die Go begehen. Die Gesundheitsverwaltung in diesem NEUSTART App, mit der wir mit unseren Bereich ist finanziell schlecht ausgestattet. Ein Klient:innen kommunizieren können. Wenn Abschieben der Verantwortung ins Justizsystem Menschen im Zwangskontext betreut werden, kann aber nicht die Lösung sein. Wir haben die hat man es häufig mit Widerstand zu tun. Und menschenrechtliche Verpflichtung, mit Kranken das drückt sich oft im Nicht-Einhalten von Ter- menschenwürdig umzugehen. minen aus. Je mehr Kanäle ich anbieten kann, umso leichter gelingt es, mit diesem Widerstand Koss: Wer im Maßnahmenvollzug ist, muss vom umzugehen. ersten Tag an behandelt werden und darf nur so lange angehalten werden, wie es unbedingt not- Koss: Unsere Arbeit ist ohne Digitalisierung gar wendig ist, um die Sicherheit zu gewährleisten. nicht mehr denkbar. Sie ermöglicht uns, Zeit für das Wesentliche zu haben. Für den persönlichen Kohlberger: Da braucht es eine Reform. Besser Kontakt mit unseren Klien:tinnen. Das ist und heute als morgen. bleibt, bei aller Digitalisierung, das Herzstück unserer Sozialarbeit. – thomas.marecek@neustart.at – 5
ÖSTERREICH © Andy Wenzel report 2022 Alma Zadić Justizministerin „Die Ergebnisse der Studie zeigen klar: Opfer einer Straftat schätzen den Tatausgleich sehr. Er hilft ihnen dabei, einfach sowohl Wiedergutmachung als auch TATAUSGLEICH: Schadenersatz zu erlangen. Außerdem ermöglicht dieser ein intensives Eingehen auf ihre Bedürfnisse. Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei den RESONANZ BEI Mitarbeiter:innen von NEUSTART für ihre so wichtige Arbeit in diesem Bereich bedanken.“ OPFERN POSITIV Im Auftrag von NEUSTART führ- der Tatausgleich erneut als gutes Angebot für Opfer. Durchgehend überdurchschnittlich hoch te das Institut für Konfliktfor- war die Zufriedenheit von Opfern aus dem Be- schung Wien (IKF) eine Studie reich Gewalt in Paarbeziehungen. Nur im Bereich zum Tatausgleich durch. Die Nachbarschaftskonflikte lag die Zufriedenheit von Opfern unter dem Durchschnitt. Ergebnisse sind erfreulich. Die Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2001 konnten bestätigt, teilweise sogar übertroffen Bereits 2001 erhob die Universität Innsbruck die werden. Besonders was die Kompetenz und Zufriedenheit von Opfern mit dem Tatausgleich. Zuwendung der Mitarbeiter:innen von Es wurde deutlich, dass Opfer vom Tataus- NEUSTART betraf, lagen die Werte über gleich profitieren und mit diesem Angebot sehr denen aus der Vorgängerstudie. zufrieden sind. 20 Jahre später beauftragte NEUSTART das IKF, sich erneut dieser Frage Diese Ergebnisse sind eine Bestätigung unserer zu widmen. Opfer im Tatausgleich wurden von Arbeit, wir werden die Studie aber auch zum Herbst 2019 bis Frühjahr 2021 gebeten, an einer Anlass nehmen, um in den Bereichen mit weniger anonymen Studie teilzunehmen. 911 Personen hohen Zustimmungswerten Ansatzpunkte für stimmten zu und bekamen sechs Monate später Verbesserungen zu identifizieren. einen Link zugesandt, mit dem sie an der Online- Befragung teilnehmen konnten. Die Rücklaufquo- – bernd.glaeser@neustart.at – te betrug knapp 40 Prozent. „Insgesamt war ich mit dem Tatausgleich zu- frieden“ – dieser Aussage stimmten 54 Prozent Insgesamt war ich mit dem Tatausgleich vollkommen und 23 Prozent eher zu. Diese zufrieden: Zustimmungsrate von 77 Prozent entspricht den Ergebnissen der Studie aus 2001. stimme gar nicht zu: 5 % stimme eher nicht zu: 4 % 79 Prozent stimmten zu, dass der Vorfall durch keine Angabe: 1 % den Tatausgleich bereinigt wurde und ebenfalls 79 Prozent stimmten zu, dass sie mit der Verein- barung im Tatausgleich zufrieden sind. Mitarbeiter:innen besonders gut beurteilt 94 Prozent der Opfer beurteilten die NEUSTART neutral: 13 % Mitarbeiter:innen als freundlich, 93 Prozent erleb- stimme ten sie als respektvoll, 90 Prozent als engagiert, vollkommen zu: 91 Prozent als verlässlich und 90 Prozent als 54 % stimme kompetent. eher zu: 23 % Bereits gute Ergebnisse von 2001 konnten teilweise übertroffen werden Mit einer Zustimmung zu allen Fragen zur Zufrie- denheit von mindestens 70 Prozent erwies sich 6
© NEUSTART/feel image - Matern www.neustart.at OBERSTES ZIEL IST EIN ENDE DER GEWALT Seit 1. September 2021 ist Bei drohender Gefahr wird eine Fallkonferenz angeregt NEUSTART in fünf Bundes- Ganz oben auf der Agenda der Berater:innen ländern auch Beratungsstelle steht das Erkennen möglicher akuter Gefähr- dungssituationen. Drohen solche, kann bei der für Gewaltprävention im Sinne Sicherheitsbehörde eine sicherheitspolizeiliche des Gewaltschutzgesetzes und Fallkonferenz angeregt werden. Gemeinsam mit Kooperationspartner:innen wie den Gewalt- damit Anlaufstelle für alle, die schutzzentren, der Kinder- und Jugendhilfe und nach einem polizeilichen Betre- der Polizei wird dann eine Risikoeinschätzung tungs- und Annäherungsverbot vorgenommen und ein koordiniertes Risikoma- nagement initiiert. verpflichtend eine Gewaltprä- ventionsberatung im Umfang Alleine dieser kurze Einblick in die jüngste Leistung von NEUSTART zeigt, wie vielseitig, an- von sechs Stunden absolvieren spruchsvoll und verantwortungsvoll die Aufgaben müssen. der Kolleg:innen sind. Mit unglaublichem Enga- gement und einem reichen Erfahrungsschatz jeder und jedes einzelnen konnte Gewaltpräven- Beim ersten Kontakt geht es zunächst um eine tionsberatung gleich von Beginn an umgesetzt Unterstützung in akut krisenhaften Situationen – werden – mit einem gemeinsamen Ziel: Gewalt etwa darum, eine leistbare Unterkunft zu finden. zu stoppen. Der eng begrenzte Umfang der Leistung macht es allerdings unvermeidbar, dass zentrale The- – dina.nachbaur@neustart.at – men schon früh angesprochen werden müssen: Welche Konsequenzen haben Gewaltausbrü- che? Einerseits für die Person, die gewaltbereit ist, und andererseits für das Gegenüber, das © BMI-Karl Schober eingeschüchtert, bedrängt und in seinen Rechten und Freiheiten eingeschränkt wird? Was machen diese Situationen mit Kindern, die diese Szenen und eine solche Atmosphäre in ihrem Zuhause miterleben müssen? Gefragt und gefordert ist da- bei die Fähigkeit des Gefährders, sich in andere hineinzuversetzen und Empathie zu spüren. Geschehnisse und Dynamiken aus einer anderen Perspektive zu sehen und vor allem nachzuemp- Gerhard Karner finden, trägt wesentlich zu der Veränderungsbe- Innenminister reitschaft bei. Die Voraussetzung dafür ist, län- gerfristige Angebote in Anspruch zu nehmen und „Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz damit nachhaltig die eigene Gewaltbereitschaft und den Beratungsstellen für Gewaltprävention ist ein interna- abzulegen. Sechs Stunden sind dabei ein richtig tional anerkanntes Vorzeigemodell mit dem Ziel, den Opfern guter Anfang, aber oft noch nicht ausreichend. umfassenden und nachhaltigen Schutz zu ermöglichen.“ 7
© NEUSTART/feel image - Matern ÖSTERREICH report 2022 DAS SOZIALE NETZ ALS RESSOURCE Seit 2012 werden Sozialnetz- richt oder eine Justizanstalt angeboten: ... Untersuchungshaftkonferenzen konferenzen bei NEUSTART ... Entlassungskonferenzen angeboten. Nach zwei Jahren Erstere werden vor der ersten Haftverhand- der Erprobung wurden die ge- lung einberufen, das Gericht ordnet gleichzeitig setzlichen Rahmenbedingun- Bewährungshilfe an. Ziel ist die Erstellung eines Maßnahmenplanes, der der Entscheidungs- gen für Jugendliche und junge findung des:der Richter:in dient. Dieser Maß- Erwachsene geschaffen. Seit nahmenplan muss konkrete Vorschläge zum 2022 besteht auch die gesetz- Aufenthalt, zur Tagesstruktur, zur Frequenz der Bewährungshilfe, für den Fall einer Entlassung liche Grundlage bei Erwachse- aus der U-Haft, und zu einer Schadenswieder- nen „Entlassungskonferenzen“ gutmachung enthalten. durchzuführen. Entlassungskonferenzen können vor einer Haftentlassung als Integrations- und Unterstüt- zungsmaßnahme eingesetzt werden. Ziel ist es, Ein zentraler Punkt von Sozialnetzkonferenzen Bedingungen für die Zeit nach der Haft zu schaf- ist die Annahme, dass Klient:innen mit Unter- fen, die das Risiko einer neuerlichen Straffälligkeit stützung ihres sozialen Umfelds selbst über eine verringern. Auch hier dient ein Maßnahmenplan ausreichende Entscheidungs- und Problemlö- dem Gericht als Entscheidungsgrundlage. Drei sungskompetenz verfügen. Das soziale Netz ist Monate nach Haftentlassung wird in einer Folge- dabei eine wichtige Ressource. konferenz überprüft, ob die Maßnahmen wirken oder ob es einer Adaptierung bedarf. Zwei Arten von Sozialnetz-Konferenzen werden bei NEUSTART über Zuweisung durch das Ge- – juergen.kaiser@neustart.at – FALLBEISPIEL An Filips Sozialnetzkonferenz Nach der Arbeit besucht er die Dem 19-jährigen Filip wurde nahmen seine Eltern, sein Schule. Jeden Dienstag und vorgeworfen, ein Smartphone bester Freund Stefan, der Donnerstag um 16 Uhr trifft er geraubt zu haben. NEUSTART zukünftige Arbeitgeber und der seinen Bewährungshelfer. wurde mit der Durchführung Bewährungshelfer teil. Folgen- Freizeit: Während der Wo- einer Untersuchungshaftkonfe- der Plan wurde entwickelt: che bleibt wenig Freizeit. Am renz beauftragt. Wochenende möchte Filip mit Wohnen: Filip wird nach seiner seinem Bruder trainieren und Filip wuchs mit zwei Brüdern Entlassung bei seinen Eltern seinen Freund treffen. Den bei den Eltern auf, die beide wohnen. Das Zusammenleben Alkoholkonsum möchte er berufstätig sind. Seine Brüder hat aus Sicht der Familie gut einschränken. Sollte ihn etwas sind unauffällig. Filip ist oft un- funktioniert. beschäftigen, kann er mit Ste- terwegs, trinkt viel und hat die Arbeit/Schule: Nach der U-Haft fan jederzeit reden. Schule abgebrochen. Aufgrund kann er als Hilfsarbeiter begin- seiner gewinnenden Art findet nen. Filip besucht die Abend- Der Bewährungshelfer über- er immer wieder Jobs. Er hat schule und sein Freund wird ihn mittelt nach der Konferenz den begonnen, eine Abendschule beim Lernen unterstützen. Bericht inklusive Plan an das zu besuchen. In Haft kann Filip Tagesstruktur: Filip wird wo- Gericht. Filip wird nach der bereits eine Jobzusage für den chentags um 6 Uhr aufstehen, ersten Haftverhandlung aus der Fall einer Entlassung vorweisen. um 7 Uhr beginnt die Arbeit. Untersuchungshaft entlassen. 8
© NEUSTART www.neustart.at MIT „GO NEUSTART“ IN DIE DIGITALE ZUKUNFT Seit November 2021 ist die App ein vertrauliches, digitales Tagebuch, das nur für die Klient:innen selbst zugänglich ist. Dort „Go NEUSTART“ verfügbar und können Gefühle und Gedanken notiert und im stellt einen großen und wich- Nachhinein eingesehen werden. Das Tagebuch ist optisch ein wenig verspielter als der Rest der tigen Schritt in die digitale Zu- App gestaltet. kunft von NEUSTART dar. Bereits bei der Entwicklung der App war klar, dass es sich um ein zusätzliches, ergän- Kommunikation hat sich in den letzten Jah- zendes Angebot an die Klient:innen und die ren stark verändert, Smartphones und mobile Sozialarbeiter:innen handelt. Der persönliche Applikationen haben an Bedeutung gewonnen. Kontakt sollte keinesfalls ersetzt oder reduziert Auch die Klient:innen von NEUSTART nutzen werden. Um Betreuungstermine inhaltlich noch Apps und kommunizieren mit ihrem Umfeld über besser gestalten zu können, wurden auch Messaging Dienste. fachliche Elemente in die App integriert. Die Um die Kommu- Sozialarbeiter:innen können den Klient:innen „Die Praxis zeigt: Eine App nikation und den etwa Fragen zur Straftat in der App anzeigen bietet heute oft den ent- Datenaustausch lassen. Ihre Antworten darauf können als Basis mit den Klient:innen für das nächste Betreuungsgespräch herange- scheidenden Mehrwert.“ zogen werden. zu erleichtern, hat NEUSTART die App „Go NEUSTART“ entwickelt. Im Rahmen Erste Rückmeldungen von Nutzer:innen der App dieses Projekts wurde gleichzeitig die beste- bestätigen ihren Mehrwert. Es gelingt besser, hende Dokumentationssoftware für unsere Termine einzuhalten, der Kontakt zu NEUSTART Sozialarbeiter:innen erweitert. kann auch ohne Guthaben am Smartphone statt- finden und die Betreuungsziele werden stärker Durch eine Schnittstelle von „Go NEUSTART“ im Blick behalten. Sozialarbeiter:innen begrüßen zur Dokumentationssoftware der Sozialarbeiter:- die Vereinfachung von administrativen Aufgaben. innen können Termine und Dokumente zwischen den Klient:innen und Sozialarbeiter:innen ausge- – miriam.zillner@neustart.at – tauscht werden. Die Praxis zeigt, dass vor allem die Terminerinnerung über die App einen großen Mehrwert für die Betreuung bietet. Rechtzeitig vor einem Termin werden die Klient:innen auto- matisch daran erinnert. „Go NEUSTART“ ermöglicht den direkten Austausch von Dokumenten zwischen Sozialarbeiter:innen und Klient:innen – so wird ver-mieden, dass wichtige Dokumente, wie Schreiben von Behörden, verloren gehen. Es gibt noch weitere Funktionen, wie zum Beispiel 9
© NEUSTART/feel image - Matern ÖSTERREICH report 2022 FALLKONFERENZEN: GEMEINSAM GEFAHREN ERKENNEN UND ENTSCHÄRFEN Seit 2020 gibt es das Instrument risikofälle aus dem Bereich häuslicher Gewalt. Diese Form von Fallkonferenzen betrifft in erster der Sicherheitspolizeilichen Fall- Linie die NEUSTART Leistungsbereiche Gewalt- konferenzen, um den Austausch präventionsberatung und Bewährungshilfe. verschiedener Institutionen zu Fallkonferenzen nun auch im Rahmen verbessern. Mittlerweile sind des „Anti-Terror-Pakets“ weitere Formen der Fallkonfe- Am 1.12.2021 wurden diese Fallkonferenzen um die „Fallkonferenz Staatsschutz“ und am renzen hinzugekommen. 1.1.2022 zusätzlich um zwei Formen gerichtli- cher Fallkonferenzen erweitert. Diese neuen Ty- pen von Fallkonferenzen sind Teil des sogenann- ten „Anti-Terror-Pakets“ und haben die Gruppe Fallanalysen spektakulärer Fälle haben immer radikalisierter Personen im Fokus. wieder das Ergebnis gebracht, dass ein besserer Austausch von risikorelevanten Informationen Fallkonferenzen Staatsschutz dienen der Ver- zwischen den beteiligten Institutionen sinnvoll hinderung verfassungsgefährdender Angriffe gewesen wäre. Im besten Fall hätte eine solche und können von der Direktion Staatsschutz Zusammenarbeit sogar zur Verhinderung schwe- und Nachrichtendienst (DSN) oder von den für rer Straftaten beitragen können. Staatsschutz zuständigen Einheiten der Landes- polizeidirektionen einberufen werden. Verfas- Seit Anfang 2020 gibt es Sicherheitspolizeiliche sungsgefährdende Angriffe sind Bedrohungen Fallkonferenzen in Hochrisikofällen. Diese Fall- durch bestimmte Deliktsbegehungen, wie etwa konferenzen werden von der Sicherheitsbehörde der Begehung von Terrordelikten, staatsfeind- einberufen und bringen alle beteiligten Institutio- lichen Delikten oder der Wiederbetätigung nen an einen Tisch. Dabei werden Schutzmaß- nach dem Verbotsgesetz. Die Anregung nahmen für gefährdete Personen abgestimmt. einer Fallkonferenz Staatsschutz kann auch Besprochen wurden bisher in erster Linie Hoch- von psychosozial betreuenden Organisationen 10
www.neustart.at lich spezialpräventiver Erfordernisse zu haben und erforderliche Maßnahmen gut zu koordi- nieren. Bereits für die Entscheidung über eine bedingte Entlassung soll das Vollzugsgericht ein möglichst vollständiges Bild über Maßnahmen haben, die eine Annahme rechtfertigen kön- nen, dass „der Verurteilte durch die bedingte Entlassung nicht weniger, als durch die weitere Verbüßung der Strafe von der Begehung straf- barer Handlungen abgehalten wird“ (§ 46 Abs. 1 StGB). Mit einer bedingten Entlassung kann das Vollzugsgericht auch gerichtliche Aufsicht anord- nen, während der in zumindest einer weiteren Fallkonferenz die Überprüfung und Koordination bereits angeordneter Maßnahmen (insbesonde- kommen – die Einberufung ist den Staatsschutz- re Weisungen) sowie ein Austausch bezüglich behörden vorbehalten. möglicher Ausweitungen oder auch Einschrän- kungen der Maßnahmen stattfinden soll. Diese Form der Fallkonferenz verfolgt das Ziel, Maßnahmen zur Verhinderung verfassungsge- Interdisziplinäre Abstimmung als Chance fährdender Angriffe mit Behörden und Einrich- NEUSTART begrüßt die gesetzlichen Möglich- tungen, die in der Deradikalisierung, Extremis- keiten von Fallkonferenzen als erfolgverspre- musprävention und sozialen Integration tätig chendes Präventionsinstrument. Es ist eine sind, zu erarbeiten. Die Teilnehmer:innen müssen Neuerung, dass zwischen unterschiedlichen die ausgetauschten Informationen vertraulich Professionen, wie einerseits Sicherheitsbe- behandeln. hörden und Justiz und andererseits betreuenden Einrichtungen, ein Austausch über Hochrisikofäl- Gerichtliche Fallkonferenzen werden von Gerich- le möglich ist. Behörden dürfen nun Informatio- ten einberufen. Diese Fallkonferenzen sind in den nen an betreuende Einrichtungen weitergeben, folgenden beiden Einsatzbereichen anzuwenden: die diese zwar vertraulich behandeln müssen, 1. zuerst vor jeder Entscheidung über eine aber auch für ihre Risikoeinschätzung verwerten bedingte Entlassung aus der Strafhaft wegen können. Die bisherigen Erfahrungen mit Fallkon- bestimmter Delikte (insbesondere terro- ferenzen haben gezeigt, dass dieses Instrument ristische, staatsfeindliche oder nach dem gut genutzt wird und eine gute Grundlage für die Verbotsgesetz) und danach, Entwicklung wirkungsvoller Schutzmaßnahmen 2. wenn im Rahmen einer solchen bedingten für potenzielle Opfer leisten kann. Entlassung gerichtliche Aufsicht ange- ordnet wird. NEUSTART ist sich der Sensibilität eines sol- chen Austauschs, unter dem Gesichtspunkt des Gerichtliche Aufsicht (§ 52b StGB) ist ebenfalls durch Verschwiegenheitspflichten geschützten ein neues Instrument, das die Vollzugsgerichte Vertrauensverhältnisses zu eigenen Klient:innen, seit 1.1.2022 dann anzuwenden haben, wenn bewusst. Es kommt dabei auf eine Abwägung eine intensivere Überwachung nach der be- zwischen Geheimhaltungsinteressen, die für das dingten Entlassung wegen bestimmter Delikte Vertrauensverhältnis erforderlich sind, und einer (insbesondere terroristische, staatsfeindliche zur Vermeidung weiterer Delinquenz notwendi- oder nach dem Verbotsgesetz) spezialpräventiv gen Informationsweitergabe an. Gemeinsam sol- erforderlich ist. Während einer gerichtlichen Auf- len die richtigen Maßnahmen entwickelt werden: sicht muss das Vollzugsgericht zumindest eine Unterstützung zur Vermeidung von Straftaten, Fallkonferenz abhalten. wo es möglich ist, aber auch Kontrolle und re- pressive Maßnahmen, wo dies notwendig ist. Die gerichtlichen Fallkonferenzen zielen darauf ab, in besonders heiklen Deliktsbereichen mög- – bernd.glaeser@neustart.at – lichst breite Entscheidungsgrundlagen hinsicht- – georg.mikusch@neustart.at – 11
ÖSTERREICH report 2022 2021 EWÄHRUNG B SH ... ILFE 15.585 Klient:innen 38.053 KLIENT:INNEN Entlassungskonferenzen: 34 Personen Untersuchungshaft-Konferenzen: 177 Personen WALTPRÄV NISCH ÜB GE KT RO EN ER ... ... ELE WACHTER 1.279 TIONSBERA 2.877 Erhebungen Klient:innen abgeschlossen TU HA NG USARREST Von September bis Dezember: Fußfesselvergabe an: 2.877 Klient:innen 1.173 Klient:innen AFTENTLASS TAUSGLEIC H TA H EN ... ... 10.904 ENHILFE 3.586 Beschuldigte Klient:innen und Opfer Entlassungsvorbereitung: 4.715 Personen ausschließlich Opfer 1.533 Insass:innen 1.993 Personen in der Rolle als Opfer und Beschuldigte WIR SIND NEUSTART 2021 waren 681 Mitarbeiter:innen hauptamtlich bei NEUSTART beschäftigt. In der Bewährungshilfe arbeiteten 955 Personen ehrenamtlich. Das Durchschnittsalter liegt bei 46 Jahren. Mit rund 62 Prozent sind Frauen sowohl haupt- als auch ehrenamtlich in der Mehrheit. 12
www.neustart.at EMEINNÜTZ EIT ERE HIL F G I W GE EN 11.466 ... ... 6.084 LEISTUNG Besuche Personen 502 EN Klient:innen 2.933 Personen als diversionelle Maßnahme 241 Klient:innen in Wohneinrichtungen 2.927 Personen anstelle einer Ersatzfreiheitsstrafe von NEUSTART betreut. 224 Personen als Alternative zum Strafvollzug 11.466 Besuche im SAFTLADEN in Salzburg für Finanzvergehen vom Bundesministerium (Kommunikationszentrum) für Finanzen zugewiesen 261 Klient:innen in den Werkstätten Vermögensdelikte: 46,91 % in Wien und Linz Delikte gegen Leib und Leben: 16,88 % Verurteilungen nach dem Finanzstrafgesetz: 3,59 % RÄVENTION NLINE BERA P O TU ... ... NG 5.965 1.000 Stunden Anfragen 2.809 Stunden in der Schulsozialarbeit 1.000 Anfragen unter 3.156 Stunden mit Gruppen oder einzelnen www.neustart.at Klient:innen in der Suchtprävention ILFE FÜR O P ROZESSBEG H P LE FE ... ... ITUN 4.892 R 177 Personen im G Opfer Opferbereich 4.715 im Tatausgleich und 177 Personen bei der Prozessbegleitung Von 1957 bis 2021 hat NEUSTART rund 655.000 Menschen betreut. 13
© NEUSTART/Hechenberger ÖSTERREICH report 2022 EHRENSACHE BEWÄHRUNGS- HILFE Österreich ist ein Land der sind weiblich. Anderen helfen zu wollen und einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten – das Freiwilligen. Kaum bekannt sind die Hauptmotive für freiwilliges Engagement. ist, dass sich bundesweit rund Diese Einstellung würdigt auch die Justizministe- rin. „Ehrenamtliche Tätigkeit in der Bewährungs- 1.000 Menschen als ehrenamt- hilfe und in der Opferbetreuung ist Teil des solida- liche Bewährungshelfer:innen rischen Zusammenhalts und der demokratischen Grundhaltung in der Gesellschaft“, sagte Alma engagieren. Zadić anlässlich des Welttags des Ehrenamts. Anerkennung und Wertschätzung verdienen sich Zufälle gibt es immer. Für Margit Jelenko gibt es Ehrenamtliche mit ihrem Engagement. Fragt man Zufälle, über die sie sich besonders freut. Näm- jedoch Margit Jelenkos ehrenamtliche Kollegin lich dann, wenn die ehrenamtliche Bewährungs- Lucy Stüber, was ihr die meiste Freude an der helferin ehemaligen Klient:innen auf der Straße Arbeit macht, sagt sie ohne lange nachzudenken: begegnet und merkt, dass es ihnen gut geht. „Der persönliche Kontakt mit den Klientinnen und „Ich sehe, da sind Dinge gelungen“, sagt Margit. Klienten und die Zusammenarbeit.“ Ganz ähnlich „Die Wohnung des Klienten oder der Klientin ist auch die Antwort von Fatih Öztürk, ebenfalls noch da, der Job ist noch da, die Kinder sind gut ehrenamtlicher Bewährungshelfer und im Brot- versorgt. Es gibt viele schöne Momente. Deshalb beruf Jurist. „Das friedliche Miteinander und die bin ich auch ehrenamtlich tätig.“ vertrauensvolle Beziehung sind mir ein Anliegen“, sagt er. Margit Jelenko ist in guter Gesellschaft. 3,4 Millio- nen Menschen in Österreich engagieren sich frei- Deliktverarbeitung und willig – bei Blaulichtorganisationen, in Kultur- und Unterstützung im Alltag Sportvereinen oder bei sozialen Organisationen. Zivilgesellschaftliches Engagement hat für Wenig bekannt ist, dass es auch in der justiz- NEUSTART einen hohen Stellenwert und eine nahen Sozialarbeit ehrenamtliches Engagement besondere Tradition. Bereits im Jahr 1957 haben gibt. Rund 1.000 Frauen und Männer in ganz engagierte Bürger:innen aus der Zivilgesellschaft Österreich arbeiten ehrenamtlich in der Bewäh- straffällig gewordene Jugendliche betreut. Sie rungshilfe bei NEUSTART. 60 Prozent von ihnen haben damit den Grundstein des heutigen 14
www.neustart.at von links: Fatih Öztürk, Margit Jelenko, Lucy Stüber Vereins gelegt. Knapp jede:r dritte Klient:in in der engagiert sie sich bereits bei NEUSTART. Damit Bewährungshilfe wird heute von Ehrenamtlichen gehört sie zu den erfahrensten Ehrenamtlichen betreut. Die Arbeit mit straffällig gewordenen der Organisation. Sie weiß, dass es bei ihrer Menschen ist sehr vielfältig. Es findet eine aus- Arbeit jede Menge Herausforderungen gibt. „Ich führliche Auseinandersetzung mit dem Delikt statt halte das Bild, das von straffälligen Menschen in und es geht um ganz konkrete Unterstützung der der Gesellschaft vorherrscht, für problematisch“, Klient:innen – zum Beispiel bei der Suche nach sagt sie. „Die Arbeitssuche – vor allem die erste einer Wohnung oder bei Bewerbungen. Integration in den Arbeitsmarkt – ist mit Vorstra- fen ganz schwierig. Meine Klientinnen und Klien- Viele Ehrenamtliche – wie Margit Jelen- ten dabei zu unterstützen, ist herausfordernd.“ ko oder Lucy Stüber – sind ausgebildete Sozialarbeiter:innen. Rund ein Drittel der Eh- Solche Hürden sind es wert übersprungen zu renamtlichen hat allerdings einen ganz anderen werden. Alfred Kohlberger betont die Bedeu- beruflichen Hintergrund. Sie arbeiten im Manage- tung der Bewährungshilfe. „Resozialisierung und ment, als Lehrer:innen, Techniker:innen oder – Wiedereingliederung hilft nicht nur den straffällig wie Fatih – als Jurist:innen. Von dieser Vielfalt an gewordenen Personen selbst“, sagt der Perspektiven profitierten die Klient:innen. NEUSTART Geschäftsführer. „Sie trägt auch zum Schutz der gesamten Gesellschaft bei. Die Ehrenamtlichen betreuen bis zu fünf Perso- Deshalb schätze ich auch die Tätigkeit unserer nen. Angeleitet werden sie dabei von erfahrenen Ehrenamtlichen so. Sie sind mit Herzblut und hauptamtlichen Kolleg:innen. „Damit wir die hohe Leidenschaft dabei.“ Qualität unserer Arbeit gewährleisten können, gibt es eine intensive Einschulungsphase“, sagt Dieses Eindrucks kann man sich nicht erwehren, Alfred Kohlberger, Geschäftsführer von wenn man mit Lucy, Margit und Fatih über ihr NEUSTART. Diese Einschulung ist modular Engagement spricht. „Ich denke, der Name der aufgebaut und umfasst fachliche Themen, wie Organisation, bei der ich mich engagiere, sagt die Deliktverarbeitung oder Methoden der Ge- schon alles“, meint Lucy Stüber. „Wenn jemand sprächsführung. eine zweite Chance oder einen neuen Start be- nötigt, dann bin ich gerne behilflich.“ Die Einschulungsphase von Margit Jelenko liegt schon lange zurück. Seit mehr als 27 Jahren – thomas.marecek@neustart.at – 15
WIEN report 2022 © NEUSTART/feel image - Matern ERFOLGSMODELL TATAUSGLEICH Seit 1985 hat NEUSTART Er- Kleinstadt nach Niederösterreich, um die „Ehre“ wiederherzustellen. Die Situation eskalierte. Die fahrung mit Tatausgleichsfäl- herbeigerufene Polizei fand eine unübersichtliche len, an denen mehr als 300.000 Situation vor. Menschen, ob als Beschuldigte Als der Sachverhalt geklärt war, hat die Staats- oder Opfer, beteiligt waren. anwaltschaft Wien NEUSTART mit dem Tataus- gleich beauftragt. Uns wurden zehn Jugendliche Trotz allgemein sinkender Zah- als Beschuldigte und ein Opfer zugewiesen. len in der Diversion konnte der Das Opfer gab sein Einverständnis für einen Tatausgleich bei Jugendlichen Tatausgleich, wollte aber die Beschuldigten nicht treffen. und jungen Erwachsenen in Wien gesteigert werden. Ein Die Wende zum Guten Zu den Terminen bei NEUSTART Wien kamen Fallbeispiel. zehn Jugendliche. Mit ihnen führten wir Work- shops zur Verantwortungsübernahme und nachhaltigen Bereinigung durch. Das Ergebnis Der Tatausgleich (TA) ist ein Erfolgsmodell für war eine intensive Auseinandersetzung und die den Täter-Opfer-Ausgleich und eine wichtige Entschuldigung gegenüber dem Opfer. Alternative zu einem Strafverfahren. Obwohl Begleitforschungen Zusätzlich gab jeder Beschuldigte eine Erklärung dem Modell TA ein an die Staatsanwaltschaft ab, warum von einem „Gerade bei Jugendlichen sehr gutes Zeugnis Strafverfahren abgesehen werden kann und wa- hat sich der Tatausgleich ausstellen, sanken rum nicht mit neuerlicher Straffälligkeit gerechnet seit einigen Jahren werden muss. Diese schriftlichen Erklärungen oft bewährt.“ die Zuweisungs- haben wir gemeinsam mit unserem Abschluss- zahlen in Wien; bericht an die Staatsanwaltschaft übermittelt. insbesondere bei Jugendlichen. Deshalb hat sich Danach wurde das Verfahren eingestellt. NEUSTART um verbesserte Lösungen bemüht. Unser Ziel ist es, mit den Beteiligten in einen dif- Der Fall zeigt auf, wie nachhaltig und wie kreativ ferenzierteren Austausch zu kommen, was den auf individuelle Situationen im TA eingegangen Vorfall, die Umstände und die Handlungsalter- werden kann. Entgegen allgemein sinkender nativen betrifft. Was der Tatausgleich kann, zeigt Zahlen in der Diversion konnte der Tatausgleich ein Fallbeispiel unserer Kolleginnen Karin Leitner bei Jugendlichen in Wien – trotz Pandemie – ge- und Judith Stummer-Kolonovits. steigert werden. Diese Entwicklung stimmt uns positiv. Denn je intensiver wir uns mit abwei- Gegen die Polarisierung chendem Verhalten im Jugendalter auseinander- Ausgangspunkt war eine Beleidigung eines setzen, desto sicherer wird unsere Gesellschaft. Burschen über Soziale Medien, die mit einer „Klarstellung“ beendet werden sollte. Eine Gruppe von 20 Jugendlichen fuhr daher in eine – nikolaus.tsekas@neustart.at – 16
NIEDERÖSTERREICH UND BURGENLAND report 2021 www.neustart.at HÄUSLICHE GEWALT: NEUSTART ANGEBOTE ERGÄNZEN EINANDER OPTIMAL Die Einführung der verpflich- mit dem Tatausgleich und die Rückfallquote nach erfolgtem Tatausgleich beträgt nur rund 13 tenden Gewaltpräventionsbe- Prozent. ratung nach einem Betretungs- Gewaltpräventionsberatung überbrückt und Annäherungsverbot ist ein kritische Wartezeit auf Bewährungshilfe Meilenstein im Gewaltschutz. Bei einer gerichtlichen Verurteilung steht die Bewährungshilfe mit ihrer jahrzehntelangen Expertise im Bereich häusliche Gewalt zur Ver- fügung. Eine Herausforderung war bisher, dass Die Gewaltpräventionsberatung stellt aber nur ei- zwischen Tat und Zuweisung Monate liegen und nen Teilaspekt dar. Warum? Gewalt, und hier vor somit eine rasche Reaktion auf das Delikt nicht allem häusliche Gewalt, entsteht nicht von heute möglich war. Durch die unmittelbare Nutzung auf morgen und ist in den meisten Fällen auch des „window of opportunity“ durch die Gewalt- nicht durch eine kurze Intervention nachhaltig zu präventionsberatung (Meldung durch Gefährder bearbeiten. Es ist daher essentiell, dass mehrere binnen fünf Tagen, Beginn Beratung binnen 14 fachliche Angebote zur Verfügung stehen, um je Tagen ab Meldung) kann eine wichtige Vorarbeit nach Sachlage einen guten Zugang zur Anti- geleistet werden, die den Einstieg in die Bewäh- Gewaltarbeit zu ermöglichen. rungshilfe erleichtert und nicht den genannten Zeitraum für einen Zugang verstreichen lässt. Türöffner Gewaltpräventionsberatung Zusätzlich steht in der Bewährungshilfe noch er- Personen, die sich in den meisten Fällen nicht gänzend das Anti-Gewalt-Training zur besonders freiwillig beraten lassen würden, kommen in intensiven Auseinandersetzung zur Verfügung. diesem Setting oft erstmals mit Sozialarbeit in Kontakt. Hier können ihnen Vorurteile gegen Wie geht es weiter, wenn kein Beratungssituationen genommen und bereits in strafrechtlicher Hintergrund vorliegt? diesen sechs Stunden damit begonnen werden, In Fällen, wo wir selbst keine anschließenden an einer Veränderungsmotivation zu arbeiten. Dienstleistungen anbieten können, gibt es freiwil- Weitere NEUSTART Angebote können nahtlos lige Männerberatungen, die wir nach der Gewalt- anschließen. präventionsberatung ausdrücklich empfehlen. Raus aus der Gewaltspirale Insgesamt ist es wichtig festzuhalten, dass bei Die bisherige praktische Erfahrung zeigt, dass einem komplexen Gebiet, wie häuslicher Gewalt, es bereits während der Gewaltpräventionsbe- keine Fokussierung auf ein Einzel-Angebot ratung zu einer Zuweisung in den Tatausgleich stattfinden darf. Es geht um einen gesamtheit- kommen kann. Dies stellt in Fällen, wo diese lichen Zugang in der Täter:innenarbeit, um das Diversionsform indiziert ist, eine sehr gute Risiko eines Rückfalles bestmöglich zu reduzie- Übergangsmöglichkeit dar. Die Beschuldigten ren. Die Arbeit der Gewaltschutzeinrichtungen können gleich intern darauf vorbereitet und wei- (Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser, ...) leistet tervermittelt werden und ein Austausch unter der auf Opferschutzseite mit enormem Engagement Kolleg:innenschaft findet statt. Beim Tatausgleich ebenfalls einen wichtigen Beitrag. In Kombinati- nimmt das Opfer, nach Zustimmung und unter on und in Zusammenarbeit streben wir gemein- möglicher Begleitung durch eine Opferschutz- sam die Wende zum Guten an. einrichtung, an der Mediation teil. Wie zuletzt die Studie „Opferzufriedenheit im Tatausgleich“ gezeigt hat, sind 77 Prozent der Opfer zufrieden – alexander.grohs@neustart.at – 17
STEIERMARK report 2022 © NEUSTART/Fotogenia DYNAMIKEN IM GEWALTSYSTEM DURCHBRECHEN von links: Susanne Pekler, Michaela Gosch Michaela Gosch, Geschäfts- Welche Ziele und Aufgaben hat der Dachverband? führerin der Frauenhäuser Der Dachverband hat das Ziel, im Verbund von Steiermark und Vorsitzende Opferschutz- und Täterarbeitsorganisationen die Opferschutzorientierte Täterarbeit weiterzuent- des Dachverbands Opfer- wickeln. Mitglied können Organisationen dann schutzorientierte Täterarbeit, werden, wenn sie bereits Praxisprojekte in dem Bereich umsetzen oder konkrete zukünftige über die Zusammenarbeit von Projekte planen. Wesentlich dabei ist, dass es Opferschutz und Täterarbeit. eine ernstgemeinte Kooperationsabsicht geben muss. Wir wollen das im engen Austausch mit bestehenden europäischen Netzwerken tun und auch die Erfahrungen unserer Nachbarländer miteinbeziehen. NEUSTART: Frau Gosch, was war Ihre Motivation den Dachverband zu gründen? In den steirischen Frauenhäusern gibt es ein Gewaltpräventionstraining für die Bewohnerin- Michaela Gosch: Den offensichtlichsten nen, für das Sie NEUSTART beauftragen. Grund kann man aus den Frauenhaus-internen Wie sind Ihre Erfahrungen damit? Statistiken ableiten: Rund ein Drittel der Klient- innen kehrt zum Gefährder zurück. Ein Teil Wir haben damit eine Lücke im Präventions- davon kommt wieder, manche mehrmals. Ein system geschlossen. Ziel unserer Arbeit als weiterer Aspekt ist der Kinderschutz, denn Opferschutzeinrichtung ist es, gewaltfreie Räume wenn es gemeinsame Kinder gibt, bleibt das zu schaffen und um das zu erreichen, versu- Familiensystem in den meisten Fällen aufrecht – chen wir alle Aspekte von Gewaltdynamiken zu auch dann, wenn es zu einer Trennung kommt. berücksichtigen. Es geht darum, den betroffenen Selten kommt es sogar vor, dass wir zeitversetzt Frauen Hintergrundwissen über Gewaltformen Klientinnen betreuen, die den gleichen Gefährder und Gewaltdynamiken bzw. Täterdynamiken zu angeben. Alle diese Aspekte zeigen, dass Täter- vermitteln. So können sie Warnzeichen wahrneh- arbeit ein wesentlicher Teil des Opferschutzes men und früher aussteigen. Es geht auch darum, ist. Wenn parallel zu der Arbeit mit den Opfern eigene gewaltvolle Verhaltensweisen zu erken- niemand mit den Gefährdern arbeitet, wird es nen und zu durchbrechen. Wir wissen aus Wis- schwer, die Dynamiken, die in diesem Gewalt- senschaft und Praxis, dass Gewalterfahrung, vor system vorherrschen, zu durchbrechen. Wir allem wenn sie lange andauert, auch in der Form arbeiten in der Steiermark seit mehreren Jahren Spuren hinterlassen kann, dass man gewalttäti- im Projekt „Gewaltprävention im Familiensetting“ ges Verhalten inkorporiert und dass sich Gewalt sehr eng mit Täterarbeitseinrichtungen und dem auf diese Weise auch sozial „vererben“ kann. Kinderschutz zusammen und haben aus diesem Kinder, die in einem Gewaltsystem aufwachsen, Projekt gelernt, dass das vernetzte Arbeiten im haben ein sehr viel höheres Risiko später selbst gesamten System einen umfassenden Blick auf in einer gewalttätigen Beziehung zu landen. Auf das Gewaltsystem ermöglicht. Dadurch gelingt Opfer- und auf Täterseite. Um diese Dynamik zu es leichter, zielgerichtete Interventionen zu durchbrechen, müssen wir auch dort ansetzen. setzen. Im Hochrisikobereich sind es die Sicher- Das Angebot wird von den Klientinnen sehr gut heitspolizeilichen Fallkonferenzen die zeigen, angenommen und das Feedback ist durchge- dass das vernetzte Arbeiten mit allen relevanten hend positiv. Organisationen und Institutionen ein wesentlicher Faktor für den Opferschutz ist. – susanne.pekler@neustart.at – 18
SALZBURG report 2021 www.neustart.at STELL DIR VOR, DU BIST SCHULSOZIALARBEITER:IN UND DIE SCHULE IST GESCHLOSSEN ... Ursula Brandauer berichtet „Passt schon, danke“ bis „Mir geht es schlecht“. Aber richtig gute Gespräche waren kaum mög- über ihre Erfahrungen als lich. Wichtig war zu vermitteln, wir sind nach wie Schulsozialarbeiterin in vor da. Nach dem ersten Lockdown haben wir angefangen, alle Möglichkeiten, die wir finden Zeiten der Pandemie. konnten, auszuschöpfen. Die Lehrer:innen haben uns informiert, wenn der Kontakt ab- gebrochen ist oder sie das Gefühl hatten, es Mein fünfzehnjähriger Sohn hat mich einmal ge- braucht da oder dort Unterstützung. Wir sind fragt, warum die Schüler:innen zu mir kommen. wieder an die Schulen gefahren, haben einzelne Er würde nie freiwillig zum Schulpsychologen Schüler:innen eingeladen, sind mit ihnen spazie- gehen. Ich glaube das Geheimnis ist, dass wir ren gegangen oder haben uns getroffen. einfach da sind, Zeit haben und zuhören. Auch die Salzburger Schulbehörde hat reagiert Es gibt kein Anmeldeformular, es bedarf keiner und eine „fliegende Schulsozialarbeit“ installiert, Zustimmung von Lehrer:innen oder Eltern, wir um auch in Schulen, an denen es noch keine sind einfach da und unsere Tür ist offen. Schulsozialarbeit gab, Hilfe anzubieten. Wir haben uns auf den Weg gemacht – vom Lungau Und dann kommt eine Pandemie ... bis in den Oberpinzgau –, um dort Unterstützung Wer hätte sich je vorstellen können, dass Schu- anzubieten, wo Direktor:innen konkreten Bedarf len geschlossen werden? Nicht nur für einen Tag sahen. Der vom Land Salzburg geplante Ausbau oder eine Woche, sondern richtig lange und im- der Schulsozialarbeit fand vorwiegend an diesen mer wieder. Von einem Tag auf den anderen ist Schulen statt. nicht mehr möglich, was unsere Schulsozialar- beit ausmacht: das persönliche Gespräch. Und Es fällt schwer, über die vergangenen beiden das in einer Situation, in der uns die Jugendli- Jahre Schulsozialarbeit ein einheitliches Bild zu chen besonders brauchen. In einer Krisenzeit, zeichnen. Es hat so viele verschiedene Phasen in der niemand sagen kann, wie es weitergeht, gegeben. Da war die Hoffnung auf ein neues in der es Sorge um die eigene Gesundheit und Schuljahr ohne Einschränkungen, das leider finanzielle Existenz gibt. nicht gekommen ist. Da waren die letzten Mona- te, in denen von Tag zu Tag so viel Unsicherheit In dieser Situation kam uns die jahrelange gute auf dem Stundenplan gestanden ist. Zusammenarbeit mit den Schulleitungen und Lehrer:innen zugute. Sehr unkompliziert konnten All das hat uns herausgefordert und das tut es wir die Plattformen der Schule nützen, um noch immer. Ich bin stolz darauf, dass wir uns Kontakt aufzunehmen, nachzufragen wie es geht den Herausforderungen gestellt haben und ich und unsere Hilfe anzubieten. mit gutem Gewissen sagen kann: Wir haben unsere Schüler:innen nicht alleine gelassen. Die Botschaft war ausgesendet und die Rück- meldungen waren sehr unterschiedlich. Von – ursula.brandauer@neustart.at – 19
OBERÖSTERREICH report 2022 © NEUSTART VOM PILOT- PROJEKT ZU BEST PRACTICE hinten von links: Gerlinde Bumberger, Eva Schuh, Maria Deischinger vorne von links: Leiter der Abteilung 3 (Sicherheit und Verkehr) BH Freistadt Bernhard Klein (i.V. von Andrea Außerweger), Gerlinde Stitz, Josef Landerl Damit sich Behörden und Ein- Sicherheitssprecherin Dr. Andrea Außerweger, der Leiterin des Gewaltschutzzentrums Mag. richtungen besser abstimmen Eva Schuh, der Gewaltpräventionsbeamtin des können und damit sicherheits- Landeskriminalamts BezInsp. Maria Deischinger und dem Leiter von NEUSTART Oberösterreich polizeichliche Fallkonferenzen Josef Landerl. in Oberösterreich standardi- Ziel dieses Teams ist die Abstimmung von Be- siert ablaufen, wurde das Team hörden und Einrichtungen, die mit einem konkre- S-FK gegründet. ten Fall oder einer konkreten Person beschäftigt sind, um eine einheitliche Vollziehung in Ober- österreich zu gewährleisten und die Einberufung Seit 1.1.2020 sieht das Gewaltschutzgesetz die und Durchführung der sicherheitspolizeilichen Einberufung von Sicherheitspolizeilichen Fallkon- Fallkonferenzen zu standardisieren. In den Teams ferenzen (S-FK) durch die Sicherheitsbehörde als werden Erfahrungen ausgetauscht, aktuelle Pro- vorbeugenden Schutz in „High-Risk-Fällen“ vor. blemfälle und bei Bedarf auch bereits durchge- Grundlage dazu ist führte Fallkonferenzen besprochen und Überle- § 22 Abs. 2 SPG: gungen angestellt, welche Teilnehmer:innen im „Das S-FK Team trifft sich „Die Sicherheits- vorliegenden Fall noch vorteilhaft wären. So kön- unmittelbar bei akuten behörden haben nen neben den Sicherheitsbehörden auch noch Anlassfällen.“ gefährlichen An- andere Behörden, Frauenhäuser, Schulen bis hin griffen auf Leben, zu Wohnungsgenossenschaften eingebunden Gesundheit, Freiheit, werden. Gelangt das Team zu der Einschätzung, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt vorzubeu- dass eine Sicherheitspolizeiliche Fallkonferenz gen, sofern solche Angriffe wahrscheinlich sind.“ angebracht wäre, gibt es eine Empfehlung mit Für die Durchführung einer S-FK ist ein nach den Gründen für die Notwendigkeit an die § 38a SPG ausgesprochenes Betretungs- örtlich zuständige Sicherheitsbehörde und bietet und Annäherungsverbot nicht zwingend. Unterstützung bei der Durchführung an. In Linz werden die Sicherheitspolizeilichen Fallkonferen- Am 1. Juli 2021, also kurz vor Beginn der zen von der SVA 3, in Wels und Steyr von den Beratungsstelle für Gewaltprävention, wurde in Polizeikommissariaten durchgeführt. der Landespolizeidirektion Oberösterreich das vom Leiter des Rechtsbüros Prof. Dr. Rudolf Da sich das Projekt bereits etabliert hat, kann es Keplinger entwickelte Pilotprojekt „S-FK Team“ durchaus als „Best Practice“ bezeichnet werden. vorgestellt. Das S-FK Team besteht aus der Aus diesem Grund wurde bereits Interesse aus Schwerpunktjuristin der Landespolizeidirektion anderen Bundesländern an dem oberösterreichi- Mag. Gerlinde Bumberger, der Referatsleiterin schen Projekt gezeigt. SVA 3 der Landespolizeidirektion Mag. Gerlin- de Stitz, der Bezirkshauptfrau von Freistadt als – josef.landerl@neustart.at – 20
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