Essen und Trinken Volker Pudel & Dagmar Müller - Seminareinheit

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Volker Pudel & Dagmar Müller

      Essen und Trinken
               Seminareinheit
188                                                    Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

Essen und Trinken – Sachtext

1 Einleitung: Aspekte von Essen und Trinken .................................................................... 189

  1.1 Funktionen der Nahrungsaufnahme............................................................................... 190
        1.1.1 Biologische Funktionen ....................................................................................................... 190
        1.1.2 Soziale und psychische Funktionen.................................................................................... 190
  1.2 Nahrungswahl und Eßverhalten ..................................................................................... 191
        1.2.1 Eßbedürfnisse und Nährstoffbedarf .................................................................................... 191
        1.2.2 Eßverhalten als Lernprozeß................................................................................................ 191
        1.2.3 Evolutionspsychologische Aspekte.................................................................................... 193
        1.2.4 Grenzen der kognitiven Einflußnahme................................................................................ 194

2 Grundlagen gesunder Ernährung ..................................................................................... 195

  2.1 Energiebedarf des Menschen ........................................................................................ 196
  2.2 Körpergewicht ................................................................................................................ 198
  2.3 Wichtige Bestandteile der Ernährung............................................................................. 201

3 Ernährungssituation in Deutschland ................................................................................ 205
  3.1 Versorgung mit Nährstoffen ........................................................................................... 205
        3.1.1 Makronährstoffe .................................................................................................................. 205
        3.1.2 Mikronährstoffe.................................................................................................................... 205
        3.1.3 Flüssigkeit ........................................................................................................................... 207
  3.2 Einstellung der Bevölkerung zur Ernährung................................................................... 207
        3.2.1 Ernährungsaufklärung und Eßverhalten ............................................................................. 207
        3.2.2 Eßverhalten - eine individuelle Entscheidung? ................................................................... 209
        3.2.3 Motive für die Lebensmittelauswahl .................................................................................... 209
  3.3 Schlankheitsdiäten ......................................................................................................... 212

4 Figurprobleme - Adipositas - Essstörungen .................................................................... 213
  4.1 Figurprobleme ................................................................................................................ 213
  4.2 Adipositas....................................................................................................................... 214
        4.2.1 Flexible Kontrolle................................................................................................................. 215
        4.2.2 Körperliche Aktivität............................................................................................................. 217
  4.3 Essstörungen ................................................................................................................. 217
        4.3.1 Anorexia nervosa ................................................................................................................ 217
        4.3.2 Bulimia Nervosa .................................................................................................................. 218
        4.3.3 Binge eating ........................................................................................................................ 219

5 Konsequenzen für die Gesundheitsbildung..................................................................... 220

  5.1 Allgemeine Zielsetzungen .............................................................................................. 220
  5.2 Gesundheitsbildung im Rahmen der Rehabilitation ....................................................... 221
Essen und Trinken – Sachtext                                                                                                              189

6 Literatur................................................................................................................................ 222

   6.1 Im Sachtext zitierte Literatur........................................................................................... 223
   6.2 Weiterführende Literatur für die Referent(inn)en............................................................ 223
   6.3 Literaturhinweise für die Teilnehmer(innen) ................................................................... 224

1 Einleitung: Aspekte von Essen                                            notwendig (Deutsche Gesellschaft für Ernährung
  und Trinken                                                              1992). In den Rehabilitationseinrichtungen kommt
                                                                           der allgemeinen Gesundheitsbildung, die auch
Der uralte Menschheitstraum von „einem Land, in                            über die Rehabilitationsmaßnahme hinaus ver-
dem Milch und Honig fließen“ hat sich erfüllt.                             haltensprägend sein soll, eine wesentliche Funk-
Zumindest in den westlichen Industrienationen                              tion zu. Einen wichtigen Teilbereich dieser
gibt es heute Nahrung aller Art im Überfluß, im-                           Gesundheitsbildung umfassen alle Fragen, die
mer preisgünstiger und von guter Qualität, nahe-                           mit einer gesundheitsgerechten Ernährung
zu unabhängig von der Saison und von der Dis-                              zusammenhängen.                 In           den
tanz zur Produktionsstelle. Doch der paradiesi-                            Rehabilitationseinrichtungen     können     dabei
sche Zustand des Schlaraffenlandes entpuppte                               verschiedene Zielgruppen unterschieden werden:
sich schon bald als sozialmedizinischer Alptraum.
1994 wurden die direkten und indirekten Kosten                             • Patient(inn)en in ihrer Rolle als Verbraucher/
für ernährungsabhängige Erkrankungen auf 113                                 „Esser“:
Milliarden Mark1 pro Jahr geschätzt (Bundesmini-                               − Sie sind für die besondere Ernährungssitua-
sterium für Gesundheit 1994). Über 50% der                                       tion (Überfluß) und die Entstehungszusam-
Deutschen empfinden „Figurprobleme“, 50% der                                     menhänge für das individuelle Eßverhalten
Frauen und 25% der Männer haben mindestens                                       zu sensibilisieren sowie
eine Schlankheitsdiät hinter sich. 90% der Bevöl-                            − zu einem gesundheitsgerechten Essen und
kerung kritisieren die Ernährungsinformation als                               Trinken zu motivieren (z.B. „Augenmaß
widersprüchlich und unverständlich (Westenhöfer                                beim Fett“);
& Pudel 1990). Außenseiterdiäten und wissen-                               • Normalgewichtige Rehabilitand(inn)en, die ihr
schaftlich unhaltbare Empfehlungen werden in                                 Gewicht jedoch als zu hoch empfinden und
den Medien publiziert oder besetzen als Ratge-                               deshalb ihr Gewicht reduzieren wollen (siehe
berbücher die Bestsellerlisten. Schadstoffe, Um-                             Vertiefungsangebot „Figurprobleme“);
weltkontaminanten und Zusatzstoffe in der Nah-                             • Übergewichtige Rehabilitand(inn)en, die aus
rung sowie gentechnische Einflüsse werden von                                medizinischer Sicht zur Vermeidung von Fol-
den Verbrauchern als bedrohliche Ernährungsri-                               gekrankheiten oder Besserung bereits beste-
siken angesehen, während die Wissenschaft die                                hender gewichtsabhängiger Risikofaktoren ihr
hauptsächlichen Ernährungsrisiken eher durch                                 Gewicht reduzieren sollten (siehe Vertiefungs-
das Ernährungsverhalten sowie durch mikrobio-                                angebot „Gewichtsabnahme“).
logische und hygienische Bedingungen bei der
Nahrungszubereitung definiert. Seit Mitte der                              Rehabilitand(inn)en, die aufgrund bestimmter Er-
60er Jahre haben Essstörungen wie z.B. die Bu-                             krankungen eine spezielle Diät benötigen (wie
limie (Eß-Brechsucht) epidemisch zugenommen                                z.B. glutenfreie Kost bei Zöliakie, Nierenerkran-
und machten die Errichtung von Spezialkliniken                             kungen, Lebensmittelunverträglichkeiten u.a.m.)
                                                                           sollten neben dem allgemeinen und ggf. vertie-
                                                                           fenden Teil (vgl. hierzu die Vertiefungen „Figur-
1 Da es nicht möglich ist, den konkreten Anteil zu bestimmen,              probleme“ und „Gewichtsabnahme“) eine indivi-
  der bei ernährungsabhängigen Krankheiten tatsächlich auf
  den Faktor Ernährung entfällt, wurden die Gesamtkosten für
                                                                           duelle, indikationsspezifische Schulung durch
  alle Krankheiten, die als ernährungsabhängig gelten, be-                 eine Diätassistentin erhalten. Darüber hinaus ist
  rechnet, auch wenn sie zum Teil durch andere Bedingun-
  gen verursacht oder mitverursacht werden.                                bei ausgeprägten Essstörungen, wie z.B. Anore-
190                                    Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

xie oder Bulimie, eine spezielle Therapie erfor-      vorgänge. Die biologisch wirksamen Substanzen
derlich.                                              in der Nahrung werden als Nährstoffe bezeich-
                                                      net, die als energieliefernde Makronährstoffe in
Die Gesundheitsbildung zum Thema „Essen und           Form von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß und
Trinken“ stellt ein Angebot der Einrichtung an die    als Mikronährstoffe in Form von Vitaminen, Mine-
Rehabilitand(inn)en dar,                              ralstoffen und sekundären Pflanzenwirkstoffen
• ihr eigenes Eß- und Trinkverhalten zu reflektie-    vorliegen. Unverzichtbar neben der Zufuhr von
  ren,                                                Makro- und Mikronährstoffen sind eine tägliche
• ihre Kompetenzen für ein eigenverantwortli-         Flüssigkeitsaufnahme von zwei Litern und der
  ches Handeln zu erhöhen,                            Verzehr von Ballaststoffen. Alkohol liefert dem
• Möglichkeiten und Alternativen aufzuzeigen,         Organismus ebenfalls verwertbare Energie, wird
  um die individuelle Einstellung zum Essen und       aber nicht als „Nährstoff“ bezeichnet.
  Trinken zu verändern,
• Spaß und Wohlbefinden durch eine gesunde            Neben der Atmung ist die Nahrungsaufnahme
  Ernährungsweise zu erleben und zu erfahren.         der intensivste Umweltkontakt. Im Leben ißt und
                                                      trinkt ein Mensch ca. 70 Tonnen, also etwa das
Im Vordergrund steht die Förderung der Einsicht       Tausendfache seines eigenen Gewichts. Zu Ge-
des/der Rehabilitand(in) in sein/ihr Tun bzw. in      sundheitsstörungen kommt es auf lange Sicht,
den Zusammenhang zwischen der individuellen           wenn die Energiemenge (Folgen: Unter-, Über-
Ernährungsweise und den gesundheitsfördern-           gewicht) oder auch die Dosierung der mehr als
den/-schädigenden Faktoren. Diese Zielsetzung         50 unterschiedlichen Wirksubstanzen (Folgen:
kann jedoch nur überzeugend sein, wenn in der         Leistungsschwäche, Müdigkeit, Abwehrschwä-
Reha-Einrichtung eine entsprechende, bedarfs-         che, Anämie) dem physiologischen Bedarf nicht
gerechte Kost nach den Empfehlungen der Deut-         angepaßt sind. Die notwendigen Mengen an
schen Gesellschaft für Ernährung angeboten wird       Nährstoffen für die Bedarfsdeckung des Men-
und für die Rehabilitand(inn)en Möglichkeiten         schen werden in Kapitel 2.3 dargestellt.
eröffnet werden, Erfahrungen und Erkenntnisse
bereits während der Rehabilitation praktisch um-      1.1.2 Soziale und psychische Funktionen
zusetzen (z.B. Zusammenstellung von Frühstück
und Abendessen am Buffet).                            Die Begriffe Essen und Trinken umfassen, im
                                                      Gegensatz zur Nahrungsaufnahme, auch sozia-
                                                      le und psychologische Aspekte, die mit dem Er-
1.1 Funktionen der Nahrungs-                          nährungsverhalten verknüpft sind. Zweifellos ist
    aufnahme                                          das subjektiv als angenehm empfundene Ge-
                                                      schmackserlebnis ein bestimmendes Motiv zur
1.1.1 Biologische Funktionen                          Speisenauswahl. Das Bedürfnis, angenehme Ge-
                                                      schmackserlebnisse zu wiederholen, trägt zur
Die Nahrungsaufnahme hat beim Menschen wie
                                                      Sicherung der Nahrungsaufnahme bei. Zahllose
bei allen anderen Lebewesen primär drei wichtige
                                                      soziale Situationen sind eng mit dem gemeinsa-
biologische Funktionen:
                                                      men Essen und Trinken verbunden. Sie können
• Energie für Wärmeproduktion und Muskelar-           sich mitunter im Sinne einer funktionellen Auto-
  beit bereitzustellen,                               nomie verselbständigen und – wie bei einem
• Inhaltsstoffe zum Ersatz von Körpersubstanz         großen Festmahl – die Nahrungsaufnahme weit
  zu liefern und                                      über die biologische Notwendigkeit hinaus stimu-
• spezielle Wirkstoffe, die zum Ablauf biochemi-      lieren. Die biologische Regulation der Nahrungs-
  scher Prozesse notwendig sind, zur Verfügung        aufnahme macht sich im Bewußtsein des Men-
  zu stellen.                                         schen durch Empfindungen wie Appetit, Hunger
                                                      und Sättigung bemerkbar. Diese Körpersignale
Die Nahrung ist somit eine sehr wichtige energe-      steuern zu einem großen Teil den quantitativen
tische und stoffliche Grundlage für alle Lebens-      Aspekt des menschlichen Eßverhaltens, wenn
Essen und Trinken – Sachtext                                                                        191

gleich der Mensch in der Lage ist, sein Eßverhal-   an Lebensmitteln ist das jahrhundertelang trai-
ten auch relativ unabhängig von diesen Signalen     nierte Suchverhalten eher nachteilig.
zu bestimmen (Pudel & Westenhöfer 1991).

Studien konnten belegen, daß die Nahrungszu-
                                                               Bedarf des Organismus
sammensetzung durchaus Rückwirkungen auf
                                                              ernährungsphysiologische
das psychische Befinden hat. So kommt es nach
                                                                     Parameter
kohlenhydratreicher Nahrung zu einer eher aus-
geglichenen Befindlichkeit, während proteinreiche
                                                                           ↑ ↓
Kost das Aktivitätsniveau anhebt. Nahrungsre-
striktionen in Form energiereduzierter Diäten
                                                              Bedürfnisse des Menschen
können zu Verhaltensstörungen führen, die sich
                                                              Motive zur Speisenauswahl
in Heiß- und Süßhungerattacken, Störungen der
Befindlichkeit und der Sexualität sowie Ein-
schränkungen der Leistungsfähigkeit nieder-
schlagen (Keys et al. 1950). Das Forschungsge-      Der Mensch wird gezwungen, sein Eßverhalten
biet zum Thema „Ernährung und Verhalten“ ist        als permanentes Entscheidungsverhalten für
sehr umfangreich. Weiterer Forschungsbedarf         oder gegen Lebensmittel zu trainieren. Dem Eß-
besteht insbesondere zur Wechselwirkung von         verhalten des modernen Menschen geht zu-
Nahrungsinhaltsstoffen und deren Auswirkung         nächst also eine Entscheidung voraus, und es
auf psychische Funktionen.                          stellt sich die Frage, von welchen Bedingungen
                                                    diese Entscheidungen abhängen (Pudel &
                                                    Westenhöfer 1991). Dieser „Konflikt im Schlaraf-
1.2 Nahrungswahl und Eßverhalten                    fenland“ läßt sich in einem Satz beschreiben:

1.2.1 Eßbedürfnisse und Nährstoff-
      bedarf
                                                                „Der Mensch ißt anders,
Während die biologische Steuerung der Nah-                    als er sich ernähren sollte“.
rungsaufnahme auf die Bedarfsdeckung abzielt,
unterliegt die psychologische Steuerung des Eß-
verhaltens einer Fülle unterschiedlichster Eßbe-    Das Eßverhalten des Menschen wird offensicht-
dürfnisse. So kann es unter den Überflußbedin-      lich durch mehr und auch andere Bedingungen
gungen der westlichen Industrienationen zu ei-      und Einflüsse gesteuert als allein durch die Ener-
nem Konflikt zwischen dem Bedarf des Orga-          gie- und Nährstoffanforderungen des Organis-
nismus und den Bedürfnissen des essenden            mus. Die Entscheidungskriterien, die das Eß-
Menschen kommen.                                    verhalten beeinflussen, sind nur mehr oder weni-
                                                    ger an den ernährungsphysiologischen Notwen-
In Zeiten knapper Versorgungslage, die seit jeher
                                                    digkeiten orientiert, weitere Einflußgrößen sind
die Menschheit begleiteten, war das Ernährungs-
                                                    psychologischer, emotionaler oder sozialer Art
verhalten im Grunde immer ein Suchverhalten.
                                                    (vgl. dazu Kap. 3.2.2 und 3.2.3).
Die Menschen mußten täglich die mindestens
gerade ausreichende Energiemenge in ihrer Nah-
                                                    1.2.2 Eßverhalten als Lernprozeß
rung finden, um überleben zu können. Die Ver-
haltensstrategien waren ebenfalls diesem Ziel       Wenn das Eßverhalten von Menschen in einem
untergeordnet. „Essen, was auf den Tisch            interkulturellen Vergleich betrachtet wird, dann
kommt“ oder „Teller leer essen“ sind nur zwei       zeigt sich eine überraschend große Verschieden-
Beispiele für eine Mangelorientierung des Eß-       artigkeit. Was in einer Kultur als Nahrung akzep-
verhaltens, die unter diesen Bedingungen ebenso     tiert wird, erregt in einer anderen Kultur nur Ekel.
zweckvoll waren wie eine intensive Vorratshal-      Ethnologen berichten, daß z.B. in über 100
tung. Bei der gegenwärtig vorherrschenden Fülle
192                                     Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

menschlichen Gesellschaften dieser Welt Ratten         Lernen durch Erfahrungsbildung, das dazu führt,
verzehrt werden. Das in Europa als angenehm            bekannte Speisen immer wieder zu verlangen,
empfundene Glas kühle Kuhmilch widert die              steht die spezifisch-sensorische Sättigung
Menschen in China an. Manche lieben einen              entgegen. Darunter wird die Tendenz verstanden,
Krabbencocktail, andere bevorzugen einen Insek-        bekannte Speisen nach ihrem Verzehr langfris-
tencocktail (Harris 1995).                             tig noch intensiver zu mögen, sie aber kurzfris-
                                                       tig zunächst zu meiden (Logue 1995). Ein Prin-
Bereits diese kurze Beschreibung macht deutlich,       zip, das jeder Erwachsene mit seinem Leibgericht
daß nicht von angeborenen Geschmackspräfe-             berücksichtigt, in dem er es knapp hält, um es
renzen auszugehen ist, mit denen ein neugebo-          weiterhin zu mögen. Diese sensorische Sättigung
rener Mensch ausgestattet ist. Studien belegen         braucht eine gewisse Zeit, um sich zu entwickeln.
eindeutig, daß Babies die unterschiedlichen Ge-
schmacksqualitäten nach süß, sauer, bitter und
salzig klar differenzieren können, wobei kulturu-        Aus der Praxis
nabhängig nur die süße Geschmacksrichtung als            Ein Kind möchte (natürlich!) Spaghetti, weil es drei
angenehm empfunden wird. Das erst im Soziali-            Tage schon Spaghetti bekommen hat. Am vierten
                                                         Tag verweigert die Mutter diesen Wunsch, weil sie
sationsprozeß stattfindende Training auf den
                                                         (vernünftig!) meint, ihr Kind müsse, um gesund zu
„kulturellen      Geschmack“        profiliert  die      bleiben, auch andere Speisen essen. Sie greift so-
Geschmackspräferenzen eines Individuums, so              zusagen der spezifisch-sensorischen Sättigung vor
daß die Geschmacksvorlieben und -abneigungen             und verhilft (ohne es zu ahnen!) den Spaghetti
                                                         durch Verknappung zu einer stabilen Ge-
eines erwachsenen Menschen als Ergebnis eines
                                                         schmackspräferenz bei ihrem Kind (Pudel 1995).
sozio-kulturellen Lernprozesses anzusehen sind.
Dieses Training ist vergleichbar mit dem Prozeß,
die Muttersprache zu erlernen. Die grundsätzli-
che Kompetenz des Spracherwerbs ist dem Men-           Noch nach Wochen haben Kinder, denen im Kin-
schen gegeben, doch in welcher Sprache er lernt,       dergarten jeweils geschmacklich gleichartig aro-
sich zu artikulieren, das allein hängt vom Standort    matisierte Tofu-Speisen angeboten wurden, bei
seiner Wiege ab (Pudel 1993).                          einem Buffet mit sehr unterschiedlichen Ge-
                                                       schmacksrichtungen spontan ihr gewohntes A-
Inzwischen liegen viele Studien vor, die diesen        roma gewählt („mere exposure effect“). Auch die
Lernprozeß für das Eßverhalten näher untersucht        berühmte Studie von Clara Davis (1928) mit drei
haben (Logue 1995). Eine zentrale Bedeutung            Neugeborenen, die sich nach dem Abstillen über
kommt dabei den Aussagen der Ethnologen zu.            ein Jahr lang ihre Nahrung aus einer bereitge-
Sie können belegen, daß Menschen nicht etwa            stellten Auswahl an Speisen selbst aussuchen
eine Speise auswählen, weil sie diese mögen,           mußten, belegt diese Prinzipien. Die Babies blie-
auch wenn sich im subjektiven Bewußtsein des           ben tagelang bei einem Lebensmittel, um dann
Menschen diese Aussage als zutreffend darstellt.       plötzlich ein anderes Lebensmittel zu bevorzu-
Die psychologisch korrekte Formulierung indes          gen. Im Monatsdurchschnitt wählten sie aber eine
muß lauten:                                            ausgewogene Kost.

                                                       Essen lernen Kinder vornehmlich am Modell, d.h.
                                                       sie imitieren die Eßvorlieben von Mutter und/oder
        Menschen mögen eine Speise,                    Vater. Sie lernen auch, den „sozialen Wert“ der
             weil sie sie essen.                       Speisen zu begreifen, wie Videoexperimente
                                                       belegen. Die Filmhelden in diesen Videos aßen
                                                       bestimmte Speisen, die den zuschauenden Kin-
Mit dem Begriff „mere exposure effect“ bezeich-        dern später in einer Buffetauswahl geboten wur-
nen amerikanische Forscher eine Art „erfah-            den. Sie suchten sich bevorzugt solche Speisen
rungsbedingtes Gewohnheitstraining“, durch das         aus, die von den „Siegern“, nicht aber von den
sich Geschmackspräferenzen bilden. Diesem              „Verlierern“ bevorzugt gewählt wurden.
Essen und Trinken – Sachtext                                                                                  193

         Tabelle 1: Zuordnung von Funktionen zu bestimmten Lebensmitteln (nach: DGE 1988)

            Gruppe 1                   Gruppe 2                 Gruppe 3               Gruppe 4

            wenig dickmachend;         nicht dickmachend;       wenig dickmachend;     sehr dickmachend;
            macht stark;               macht sehr stark;        macht stark;           macht nicht stark;
            gesund;                    sehr gesund;             gesund;                nicht gesund;
            nicht beliebt              beliebt                  beliebt                sehr beliebt

            Vollkornbrot               Kakao                    Nußnougatcreme         Pudding
            Nudelsuppe                 Vollmilch                Currywurst             Bonbons
            Kartoffeln                 Möhren                   Fischstäbchen          Hamburger
            Graubrot                   Erbsen                   Hähnchen               Cola
            Wurst                      Banane                   Spaghetti              Schokoriegel
            Tomate                     Ei                       Brötchen               Konfitüre
            Käse                       Salat                                           Salzgebäck
            Kotelett                   Orange                                          Schokolade
                                       Birne
                                       Apfel

Eine repräsentative Untersuchung in 2.900 deut-                  wäre, die Eltern essen selbst Gemüse oder Voll-
schen Familien mit Kindern zeigte, daß über alle                 kornbrot, anstatt darüber zu reden.
Altersgruppen hinweg eine fast völlig überein-
stimmende Zuordnung von bestimmten Eigen-                        Lernen am Modell, erfahrungsbedingte Gewohn-
schaften zu Lebensmitteln vorgenommen wird                       heiten und sensorische Sättigung gelten als die
(Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1988, sie-                  wesentlichen Bedingungen, die den Trai-
he Tabelle 2). Eine Clusteranalyse2 führt die Le-                ningsprozeß der Lebensmittelvorlieben prägen.
bensmittel zusammen, die nach den Angaben der                    Hinzu kommen „individuelle Lerngeschichten“,
Kinder übereinstimmende Attributierungen besit-                  die das persönliche Präferenzprofil beeinflussen
zen. Diese Studie läßt aber auch erkennen, daß                   können, wenn z.B. der Verzehr einer bestimmten
die gelernten, kognitiven Funktionszuweisungen                   Speise mit einer emotional positiven Situation
(z.B. „macht dick“) wenig Verhaltenswirkung zei-                 verkoppelt wurde (Geschmack als Erinnerung)
gen („sehr beliebt“).                                            oder wenn sich nach Verzehr einer Speise Übel-
                                                                 keit einstellt („Sauce Bèarnaise Syndrom“) und
Es sollte daran gedacht werden, daß der oft re-                  zur - mitunter lebenslangen - Geschmacksabnei-
striktive Umgang mit Süßigkeiten, Colagetränken,                 gung führt.
Hamburgern und anderen Produkten, die sich bei
Eltern keines „gesunden“ Images erfreuen, gera-                  1.2.3 Evolutionspsychologische
dezu die kindlichen Präferenzen stabilisiert, über                     Aspekte
die Eltern klagen und denen sie dann machtlos
gegenüberstehen. Die vermeintlich „gesunden“                     In jüngster Zeit werden diese Überlegungen
Lebensmittel werden verbal gefördert und mit                     durch evolutionspsychologische Aspekte ergänzt,
abstrakten Vorteilen („ist gesund“, „braucht der                 die auch eine mögliche genetische Disposition für
Körper“) ausgestattet, die ein Kind nicht nacher-                eine mehr kollektive Präferenzneigung in die
leben kann. Einfacher und vor allem wirksamer                    Diskussion gebracht haben. Die genetisch dispo-
                                                                 nierte Süßpräferenz der Neugeborenen war dafür
                                                                 bereits ein Beispiel (Rozin 1987). Genetiker, wie
2
    Eine Clusteranalyse ist ein Rechenverfahren, bei dem alle    Bouchard & Perusse (1988), die die Grundlagen
    Objekte (z.B. Nahrungsmittel) mit ähnlichen Eigenschaften    der Adipositas erforschen, sprechen der Vorliebe
    zu einer Gruppe zusammengefaßt werden. Das wichtige
    dabei ist, die Gruppen so zu bilden, daß sich die Objekte    übergewichtiger Menschen für fetthaltige Nah-
    einer bestimmten Gruppe wenig, die Gruppen aber unter-       rung eine möglicherweise genetische Grundlage
    einander deutlich unterscheiden.
194                                      Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

zu. Ethnologen, wie Marvin Harris (1995), halten        1.2.4 Grenzen der kognitiven Einfluß-
ebenfalls die Milchpräferenz der Europäer für ein             nahme
Ergebnis der evolutionären Anpassung. Danach
wäre die mit Hinweis auf die Knochengesundheit          Das menschliche Eßverhalten unterliegt also bio-
der Asiaten formulierte Empfehlung an deutsche          psycho-sozialen Determinanten, und es ist heute
Verbraucher, keine Milch zu trinken und keine           kaum möglich, den Einfluß dieser unterschiedli-
Milchprodukte zu verzehren, eine nicht verant-          chen Faktoren und Bedingungen zu quantifizie-
wortbare Information, die zu gesundheitlichen           ren. Unbestritten ist jedoch, daß trotz aller denk-
Beeinträchtigungen führen kann. Zunächst bleibt         baren Einflüsse von evolutionsbiologischen Dis-
jedoch abzuwarten, in welchem Ausmaß das                positionen den Umweltfaktoren eine entschei-
menschliche Eßverhalten tatsächlich durch kol-          dende Funktion zukommt. Letztendlich bestimmt
lektiv-genetische Dispositionen eingeengt ist,          die Wechselwirkung zwischen Erbanlagen und
wenngleich erste Befunde eindrucksvoll demonst-         Umwelt über das konkrete Eßverhalten eines
rieren, daß auch an eine solche Möglichkeit ge-         Menschen. So gab es bei verknappter Nahrung in
dacht werden muß.                                       der Nachkriegszeit kein Übergewichtsproblem,
                                                        trotz gleicher Erbanlagen, und heute bleiben
Es wird spekuliert, ob sich in den Prinzipien des       manche Menschen, auch wenn sie viel essen,
„mere exposure effect“ und der spezifisch-              normalgewichtig.
sensorischen Sättigung nicht auch evolutionsbio-
logische Mechanismen ausdrücken: Die Ten-
                                                                       Kognitive Prozesse:
denz, bekannte Speisen zu präferieren, nutzt den
                                                                       Information, Wissen,
Geschmackseindruck auch als Sicherheitssignal,
da er mit der Erfahrung verknüpft wurde, daß                                Einstellung
diese Speise bekömmlich war. So sieht Rozin
(1987) in der angeborenen Süßpräferenz einen
„Sicherheitsgeschmack der Evolution“, da es auf                        Eßverhalten
der Welt nichts für den Menschen riskant Eßba-
res gäbe, das süß schmecke. Die spezifisch-             Abb. 1: Traditionelles Modell zur Steuerung des
sensorische Sättigung dagegen bewirkt, daß die                  Eßverhaltens
Ernährung abwechslungsreicher und damit auch
nährstoffreicher gestaltet wird.                        Doch diese Überlegungen müssen zu einer Er-
                                                        weiterung des traditionellen Modells führen, in
                                                        dem die Steuerung des Eßverhaltens eindeutig
 Lust auf Milch, genetisch disponiert?                  nur den kognitiven Prozessen zugeordnet war
 Menschen in Mitteleuropa verfügten vor 10.000          (Abb. 1). Der große subjektive Freiheitsgrad, den
 Jahren über die ersten melkbaren Kühe. Wer - mit       Menschen in ihrem Eßverhalten erleben, stellt
 dem Enzym Laktase ausgestattet - die Kuhmilch
 vertragen konnte, erschloß sich eine wichtige Kal-
                                                        sich bei genauerer Betrachtung als zumindest
 ziumquelle, um seine Knochenfestigkeit zu erhö-        eingeschränkt heraus (Abb. 2). Damit wird in
 hen. Dieser Überlebensvorteil kann - so die Gene-      gewisser Weise auch verständlich, warum es nur
 tiker - in ca. 5000 Jahren dazu führen, daß nahezu     schwer gelingt, durch kognitive Ansprache auf
 die gesamte Population den Milchzucker verträgt.
 Asiaten dagegen standen durch die erhöhte Son-         das Eßverhalten eines Menschen einzuwirken.
 neneinstrahlung und die damit verbundene Syn-          Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen:
 these von Vitamin D, welches das Kalzium aus
 Blattgemüse bioverfügbar macht, nicht unter der        • Wenn Menschen unter identischen Bedingun-
 „evolutionären Notwendigkeit“, das Enzym Laktase
 zu entwickeln, um die Laktose in der Kuhmilch ver-
                                                          gen einer experimentellen Überernährung
 tragen zu können (Harris 1995).                          sehr unterschiedlich an Gewicht zunehmen,
                                                          sind daran biologische Mechanismen beteiligt,
                                                          die über das Eßverhalten hinausreichen (Bou-
                                                          chard et al. 1990).
Essen und Trinken – Sachtext                                                                                195

              Biologische                                                     Kognitive Prozesse:
          Mechanismen, geneti-                                                Information, Wissen,
            sche Disposition                                                       Einstellung

                                          Eßverhalten

             Lernprozesse,                                                         Emotionale
            Konditionierung,                                                      Dispositionen
         Reiz-Reaktions-Bildung                                                 z.B. Streß-Essen

                   Abb. 2: Faktoren, die auf das Eßverhalten des Menschen einwirken

• Wenn Versuchspersonen die durch Süßstoff            2 Grundlagen gesunder Ernährung
  eingesparten Kalorien unbemerkt bei der näch-
  sten Mahlzeit wieder kompensieren, so ist dies      Die Grundlagen einer „gesunden Ernährung“3
  auch kein Ergebnis kognitiver Einstellungen         können heute als weitgehend erforscht gelten.
  (Rogers & Blundell 1989; Westenhöfer et al.         Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1991)
  1993).                                              veröffentlicht regelmäßig in überarbeiteten Aufla-
• Der durchschnittliche Fettverzehr liegt in der      gen die „Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr“,
  Bundesrepublik bei 40% der zugeführten Nah-         die – übrigens in guter Übereinstimmung mit den
  rungsenergie. In diesem Resultat spiegeln sich      Empfehlungen der Ernährungsgesellschaften
  eher kollektive Präferenzen oder der Fettgehalt     anderer Nationen – darlegen, in welchem Um-
  des Lebensmittelsortiments wieder als indivi-       fang und in welchem Verhältnis Makro- und Mik-
  duelle Entscheidungen (Pudel & Ellrott 1995).       ronährstoffe mit der Nahrung aufgenommen wer-
• Süßhunger nach eiweißreichen Mahlzeiten ist         den sollten. Die Grundelemente einer bedarfsge-
  zutreffender als ein biologisch regulierter „Koh-   rechten Ernährung, die häufig auch als eine
  lenhydrat-Hunger“ zu verstehen und nicht so         „vollwertige Ernährung“ bezeichnet wird, sind
  sehr als psychische Trostfunktion durch essen       damit seit Jahren bekannt. Ebenso werden für
  (Wurtman & Wurtman 1984)                            spezielle Zielgruppen, wie Kinder, Jugendliche,
• Die Schwierigkeiten, eine kalorienreduzierte        Schwangere und ältere Menschen, Empfehlun-
  Mischkost einzuhalten, liegt weniger in einer       gen gegeben, die auf die besondere Situation
  unterstellten Willensschwäche, sondern eher in      dieser Personen abgestellt sind. Die Ernäh-
  den jahrelang etablierten Reiz-Reaktions-           rungsmedizin stellt Diätrichtlinien für bestimmte
  verkettungen im gewohnten Eßverhalten. Ver-         Erkrankungen auf, die als Vorbeugung oder The-
  gleichsweise einfach können dagegen völlig          rapie wirken.
  einseitige Kostformen („Eier-Diät“) realisiert
  werden, weil diese vom üblichen Eßverhalten         Darüber hinaus bemüht sich die Ernährungswis-
  sehr stark abweichen. Je mehr ein neues Ess-
  verhalten von den gewohnten Mustern ab-
                                                      3 Unter „gesunder Ernährung“ wird eine Ernährung verstan-
  weicht, umso leichter fällt es, weil man nicht        den, die optimal zur Gesundheit des Menschen beiträgt. Im
  permanent gegen die alten Reiz-Reaktionsver-          eigentlichen Wortsinn kann eine Ernährung oder auch ein
                                                        einzelnes Lebensmittel natürlich nicht „gesund“ sein. Das
  kopplungen gegensteuern muss (Pudel 1993).            Adjektiv „gesund“ bezeichnet eine Eigenschaft, die einem
                                                        Menschen zukommt.
196                                            Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

senschaft weiterhin um die Klärung aktueller und                (Oxidation) dieser Makronährstoffe wird zudem
häufig auch kontrovers diskutierter Hypothesen,                 Wärme frei, die für eine Stabilisierung der Körper-
die aber zumeist über die normale Wirkung der                   temperatur bei 37°C verwendet wird. Da der Fak-
Ernährung hinausgehen, z.B. hochdosierte Vita-                  tor „Wärme“ im Energiehaushalt des Körpers die
mine, die nicht mehr ernährungsphysiologisch,                   entscheidende Rolle spielt, ist es üblich, die dem
sondern bereits pharmakologisch wirken. Dazu                    Körper zugeführte Nahrungsenergie (Brennwert),
zählt u.a. ein möglicher Zellschutz (Krebsprophy-               aber auch den Energieverbrauch des Organis-
laxe) durch antioxidativ wirkende Substanzen                    mus, in Wärmeeinheiten anzugeben. Die bekann-
(Vitamin C, E, Betakarotin, Selen), deren wirksa-               teste Einheit ist die Kilokalorie5, abgekürzt kcal.
me Dosierung möglicherweise in Größenberei-                     In der Umgangssprache hält sich nach wie vor
chen liegt, die mit der Nahrung nicht aufzuneh-                 hartnäckig der einfache Begriff „Kalorie“, z.B. eine
men sind. Auch die Frage der sekundären Pflan-                  1.000-Kalorien-Diät, obschon hier von einer
zenwirkstoffe4 und ihre mögliche Schutzwirkung                  1.000-Kilokalorien-Diät gesprochen werden müß-
für die Entstehung von Krankheiten (z.B. Arterio-               te. Offiziell, z.B. im amtlichen Verkehr, ist die
sklerose) ist Gegenstand aktueller Forschungs-                  frühere Bezeichnung Kilokalorie nicht mehr
bemühungen. Festzuhalten bleibt jedoch, daß ein                 zulässig, obwohl sie in der Ernährungsberatung
nachhaltiger Erfolg für die Gesundheit der deut-                oder der Umgangssprache weiterhin verwendet
schen Bevölkerung erreicht werden könnte, wenn                  wird. Die offizielle Einheit ist inzwischen Kilo-
die bereits gesicherten Basiserkenntnisse der                   joule, abgekürzt kJ. Der Umrechnungsfaktor ist
Ernährungswissenschaft/-medizin im Eßverhalten                  konstant und beträgt 4,2, so daß 1 kcal = 4,2 kJ
realisiert werden könnten (vgl. dazu auch Kap. 3).              entspricht. Die bekannte 1.000-Kilokalorien-Diät
                                                                wäre nach offizieller Bezeichnung somit eine
                                                                4.200-Kilojoule-Diät. Für die Praxis überwiegen
2.1 Energiebedarf des Menschen
                                                                die Vorteile, bei der Bezeichnung „Kalorie“ zu
Ein Leben ohne den ständigen Verbrauch von                      bleiben. Sie hat einen hohen Verständlichkeits-
Energie ist nicht möglich. Der Organismus benö-                 grad – wenngleich sie fachlich inkorrekt verwen-
tigt Energie, um mechanische, osmotische und                    det wird.
chemische Funktionen ablaufen zu lassen. Die
                                                                Die Energie in der Nahrung wird tatsächlich durch
Muskelarbeit, der Muskeltonus, Herzschlag und
                                                                Verbrennung in sogenannten „Kalorimeterbom-
Atmungstätigkeit sind Beispiele für die mechani-
                                                                ben“ gemessen. Die Makronährstoffe liefern nach
sche Arbeit. Chemische Arbeit wird geleistet,
                                                                solchen Messungen, die noch nach ihrer physio-
wenn z.B. in einer Biosynthese einfache Inhalts-
                                                                logischen Verfügbarkeit etwas korrigiert werden,
stoffe der Nahrung zu chemisch komplizierteren
                                                                folgende Energie pro Gramm:
Stoffen umgebaut werden (z.B. Aufspaltung von
Nahrungseiweiß zum Aufbau von körpereigenem
Eiweiß; Zitronensäurezyklus). Osmotische Arbeit
                                                                  Fett                                9,3 kcal ≅ 39 kJ
schließlich bezeichnet die Aufgabe des Organis-
                                                                  Kohlenhydrate                       4,1 kcal ≅ 17 kJ
mus, den Stofftransport durch Darmwand und
                                                                  Eiweiß                              4,1 kcal ≅ 17 kJ
Zellmembranen gegen ein Konzentrationsgefälle
                                                                  Alkohol                             7,1 kcal ≅ 30 kJ
durchzuführen (Menden 1990).

Die Energie für diese Aufgaben gewinnt der Kör-
                                                                Nach diesen Zahlen, die allgemein bei der Be-
per aus der Nahrung, insbesondere aus den Koh-
                                                                rechnung des Energiegehaltes von Speiseplänen
lenhydraten und Fetten. Bei der Verbrennung
                                                                verwendet werden, wird grundsätzlich von einer
                                                                vergleichbaren Wirkung der „Kalorien“ ausge-
                                                                gangen, unabhängig davon, ob sie als Kohlen-
4 Unter sekundären Pflanzenwirkstoffen werden Substanzen
  verstanden, die weder den Vitaminen noch den Mineralstof-
  fen zuzurechnen sind, wie etwa Phytoöstrogene, Flavonoi-
  de, etc. Auch das „Französische Paradoxon“ (geringere In-
  farktquote bei Rotweintrinkern um Bordeaux) wird mit spe-     5 Physikalisch ist eine Kilokalorie durch jene Energie defi-
                                                                                                             o
  ziellen Inhaltsstoffen des Rotweins in Verbindung gebracht.     niert, die nötig ist, ein Liter Wasser um 1 C zu erwärmen.
Essen und Trinken – Sachtext                                                                         197

hydrate oder Fett, Protein oder Alkohol aufge-         durch Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand,
nommen werden. Daß an diesem Sachverhalt               usw. beeinflußt werden kann. Eine Erhöhung der
inzwischen Zweifel aufgekommen sind, wird in           Muskelmasse steigert den Grundumsatz, ein
Kap. 2.2 näher beleuchtet (Prentice 1995). Die         Abbau von Muskeln reduziert ihn (Wirkung bei
Energiebilanz beschreibt auf der einen Seite die       Diäten!). Zwei vergleichbar schwere Menschen
Zufuhr, auf der anderen Seite den Verbrauch an         können demnach, wenn sie unterschiedliche
Energie. Wenn sich Energiezufuhr und Energie-          Verteilungen von Fett- und Muskelmasse haben,
verbrauch im Gleichgewicht befinden, besteht           einen unterschiedlich hohen Grundumsatz haben
eine ausgeglichene Energiebilanz, die sich u.a. in     (Swinburn & Ravussin 1993).
einem stabilen Körpergewicht niederschlägt. All-
gemein gilt, daß bei negativer Energiebilanz           Der Grundumsatz macht den größten Teil des
(Verbrauch übersteigt Zufuhr) das Gewicht sinkt        Gesamtenergieverbrauchs aus. Je nach Inten-
und bei positiver Energiebilanz ansteigt. Doch zu      sität der körperlichen Bewegung (Arbeitsbela-
diesem wichtigen Punkt liegen neue Erkenntnisse        stung) kommen etwa 40% bis 80% des Grund-
vor, die die grundsätzliche Gültigkeit der Bezie-      umsatzes als Arbeitsumsatz hinzu. Schließlich
hung zwischen Energiebilanz und Körpergewicht          wird unmittelbar an die Nahrungsaufnahme noch
genauer differenzieren (vgl. dazu Kap. 2.2).           Energie benötigt, um Verdauung und Aufnahme
                                                       der Nährstoffe zu gewährleisten. Dieser nah-
Der lebende Organismus verbraucht auch Ener-           rungsinduzierte Energieverbrauch kann zusätz-
gie, wenn er sich in absoluter Ruhe, z.B. im           lich noch einmal zwischen 10% und 20% des
Schlaf, befindet. Dieser Energieverbrauch wird         Grundumsatzes ausmachen, so daß sich schließ-
als Grundumsatz, präzise als Ruhe-Nüchtern-            lich für den Gesamtenergieverbrauch (=100%)
Umsatz, bezeichnet. Er beträgt bei Erwachsenen         die Addition von Nüchternruheumsatz (ca. 60%)
ungefähr 1 kcal pro kg Körpergewicht und Stun-         plus Arbeitsumsatz (ca. 30%) plus nahrungsindu-
de, liegt also bei einem 70 kg schweren Men-           zierter Energieverbrauch (ca. 10%) ergibt (Men-
schen etwa im Bereich von 1.700 kcal. Nach             den 1990). Grundumsatz und nahrungsinduzier-
neueren Messungen wurde festgestellt, daß der          ter Energieverbrauch sind wenig beeinflußbar
Grundumsatz nicht so sehr vom Gewicht, son-            und als konstitutionelle Größen biologisch vorge-
dern ausschlaggebend von der Muskelmasse               geben bzw. reguliert. Den größten Spielraum in
(nicht aber von der Fettmasse) abhängt und auch        der Gesamtenergiebilanz bestimmt der Mensch
                                                       selbst im Bereich des Arbeitsumsatzes, aber
                                                       natürlich auch auf der Seite der Energieaufnah-
 Extreme Absenkung des Grundumsatzes?                  me. Die Verbrauchsdaten bei den verschiedenen
 Sowohl in der fachlichen wie auch öffentlichen Dis-   körperlichen Aktivitäten erscheinen zunächst
 kussion der letzten Jahre wurde eine drastische       relativ gering. Wenn sportliche Betätigung aber
 Absenkung des Grundumsatzes als Anpassungs-
                                                       zu einer Vermehrung der Muskelmasse führt,
 reaktion des Organismus auf eine Reduktionsdiät
 für eine verlangsamte Gewichtsabnahme verant-         kann über diesen indirekten Weg auch der
 wortlich gemacht. Messungen des Grundumsatzes         Grundumsatz dauerhaft gesteigert werden. Aller-
 können jedoch diese Vermutung nicht bestätigen.       dings wurden Begrenzungen erkannt, die die
 Es kommt zwar zu einer Reduzierung in Abhängig-
 keit vom Abbau der fettfreien Körpermasse (Mus-
                                                       absolute Gültigkeit des Prinzips der Energiebi-
 keln), doch diese Reduzierung des Grundumsat-         lanz berühren.
 zes beträgt durchschnittlich ca. 200 kcal/Tag. In
 Einzelfällen wurden auch höhere Werte gemessen,       Eine jüngst veröffentlichte Studie von Leibel, Ro-
 doch eine Absenkung des Grundumsatzes auf we-
                                                       senbaum & Hirsch (1995) stellt fest, daß sowohl
 niger als 1200 kcal ist höchst unwahrscheinlich. In
 der Hungerstudie von Keys et al. (1950) wurde ei-     eine energetische Unter- wie auch Überernäh-
 ne Einschränkung des Grundumsatzes um 40%             rung bis auf 10% unter bzw. über das gewohnte
 nach 6 monatiger Diät mit 50% der gewohnten E-        Körpergewicht zu Ausgleichsmechanismen bis zu
 nergie festgestellt. Da in diesem Experiment ge-
 sunde, junge Männer beteiligt waren, unterschreitet
                                                       15% des Energieverbrauchs sowohl bei normal-
 auch dieser extreme Wert von 40% noch nicht den       als auch bei übergewichtigen Menschen führt.
 absoluten Wert von 1.200 kcal/Tag.                    Besondere Aufmerksamkeit verdient die Feststel-
198                                         Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

                                                            Weitergehende Analysen wiesen sogar nach,
  Leptin – der Sättigungsfaktor?
  Mäuse, die aufgrund eines genetischen Defektes
                                                            daß es zudem noch auf die Fettverteilung an-
  von dieser Substanz zu wenig produzierten, nah-           kommt. Es wird ein gynoider Fettverteilungstypus
  men extrem an Gewicht zu, verringerten aber ihr           mit einem geringeren Risiko von einem androiden
  Übergewicht, nachdem ihnen Leptin von gesunden            Typus mit einem höheren Risiko unterschieden.
  Mäusen eingespritzt wurde (Zangh et al. 1994; Pel-
  leymounter et al. 1995). Erste Überprüfungen die-         Der gynoide Typus mit einer betonten Fettan-
  ser Befunde beim Menschen zeigten allerdings              sammlung an Oberschenkeln und Hüften (um-
  enttäuschende Ergebnisse, da bei adipösen Men-            gangssprachlich auch als „Birnentyp“ beschrie-
  schen offenbar kein Leptin-Mangel vorliegt. Hier
                                                            ben) betrifft zumeist übergewichtige Frauen, wäh-
  müssen weitere Forschungsarbeiten der nächsten
  Jahre abgewartet werden (Ellrott & Pudel 1996).           rend der androide Typus („Apfeltyp“) mit einer
                                                            Fettakkumulation am Bauch zumeist bei überge-
                                                            wichtigen Männern beobachtet wird.
lung, daß die Ausgleichsmechanismen im Ener-
gieumsatz weniger Veränderungen des Ruheum-                 Bestimmung der Fettverteilung (Taille zu Hüfte
satzes, sondern vor allem die „Non-Resting-                 Verhältnis – Waiste to hip ratio: WHR):
Metabolic-Rate" (Arbeitsumsatz) betrafen, die in            Ist der Quotient aus Taillen- und Hüftumfang größer
                                                            0.85 (Frauen) bzw. 1.0 (Männer) besteht eine androide
üblichen Studien mit der indirekten Kalorimetrie6
                                                            Fettverteilung mit erhöhtem Risiko (Deutsche Gesell-
nicht zu entdecken waren. Durch diese Studie                schaft für Adipositasforschung 1995). Liegt der Quo-
wird erneut darauf hingewiesen, daß mögliche                tient unter diesen Grenzwerten, dann spricht man von
Unterschiede im Energieverbrauch von Mensch                 einer gynoiden Fettverteilung.
zu Mensch im Arbeitsumsatz und in der individu-
ell unterschiedlichen Thermogenese zu suchen
                                                            Die genaue Bestimmung des Fettanteils ist auf-
sind. Der Arbeitsumsatz ist allerdings mit den
                                                            wendig, so daß für die Praxis nach wie vor be-
heute zur Verfügung stehenden Methoden nur
                                                            stimmte Formeln herangezogen werden, die aus
sehr schwer und nicht hinreichend genau zu
                                                            Körpergröße und Gewicht den Grad der Überge-
messen.
                                                            wichtigkeit schätzen lassen. Neuerdings setzt
                                                            sich zwar die Body-Impedanz-Analyse (BIA) et-
2.2 Körpergewicht                                           was durch, die über eine Widerstandsmessung
                                                            eine Abschätzung der Körperzusammensetzung
Das Körpergewicht eines Menschen ist ein leicht             nach Fettmasse, Wasser und fettfreier Körper-
meßbares und beurteilbares Kriterium, obschon               masse erlaubt. Aber auch diese Messung liefert,
es im Grunde nicht primär um das Gewicht als                insbesondere bei sehr schlanken und sehr über-
Kriterium für den Ernährungszustand und das
Gesundheitsrisiko geht, sondern um die Relation
                                                            Tabelle 2: Grenzwerte der Deutschen Ge
der Fettmasse zur fettfreien Körpermasse. Epi-
                                                                       sellschaft für Adipositasforschung
demiologische Studien beweisen, daß eine über-                         (1995)
proportionale Fettansammlung (bei Männern
mehr als 20%, Frauen mehr als 30% vom Ge-                     Body-Mass-Index                Bewertung
samtgewicht) ein Risikofaktor ist, der Hypertonie                  (BMI)
oder Stoffwechselerkrankungen, wie Diabetes,
                                                                    unter 20          Untergewicht
Hyperlipidämien und Hyperurikämie, fördern
kann. Zudem ist durch die ständige Belastung                       20 bis 25          Normalgewicht
auch mit Erkrankungen des Bewegungsappara-
                                                                   25 bis 30          Adipositas I
tes zu rechnen (Ellrott & Pudel 1996).
                                                                                      mäßiges Übergewicht

                                                                    über 30           Adipositas II
                                                                                      Übergewicht
6 Bei der indirekten Kalorimetrie werden die Atemgase be-
  stimmt. Über den Sauerstoffverbrauch und die Kohlendi-            über 40           Adipositas III
  oxidabgabe kann (indirekt) auf den Energieumsatz ge-                                massives Übergewicht
  schlossen werden.
Essen und Trinken – Sachtext                                                                              199

gewichtigen Personen, mitunter erhebliche Feh-
                                                       Mastversuch mit eineiigen Zwilligen
ler. Der früher gebräuchliche BROCA-Index ist
durch Einführung des Body-Mass-Index (Körper-          Bouchard et al. (1990) haben 12 eineiige Zwil-
Massen-Index) in der internationalen Forschung         linge über 100 Tage (ausgenommen am Sonn-
                                                       tag) mit jeweils 1000 kcal/Tag zusätzlich zur
abgelöst worden. Der BROCA-Index ist nach der          gewohnten Ernährung „gemästet“. Nach dem
folgenden Formel definiert:                            Prinzip der Energiebilanz kumulierte in den 86
              Körpergewicht in kg                      Tagen Überernährung ein Überschuß von
                                                       86.000 kcal, die - bei einem unterstellten
              Normalgewicht in kg                      Brennwert von 7.000 kcal pro Kilo Fettgewebe -
                                                       zu einer Gewichtszunahme von ca. 12 kg bei
Das Normalgewicht in kg wird berechnet:                jedem Studienteilnehmer hätte führen müssen.
                                                       Tatsächlich jedoch waren Gewichtszunahmen
            Körpergröße in cm - 100                    zwischen 4,3 kg und 13,5 kg zu verzeichnen.
                                                       Die erbidentischen Zwillinge hatten zudem eine
Bei einem BROCA-Index > 1.2 (entspricht einem          sehr ähnliche Gewichtszunahme. Jeder Punkt in
Übergewicht von mehr als 20%) wurde die                der Abbildung steht für ein Zwillingspärchen. Er
                                                       zeigt die Gewichtszunahme der Zwillinge: senk-
Schwelle zum Übergewicht angesetzt. Da dieser
                                                       recht nach unten kann man die von Zwilling B
Index bei sehr kleinen oder sehr großen Men-           ablesen, waagerecht nach links die von Zwilling
schen zu Fehleinschätzungen führt, wird heute          A. Je näher die Punkte an der Diagonalen lie-
auch in Deutschland der Body-Mass-Index (BMI)          gen, umso ähnlicher ist die Gewichtszunahme
                                                       der erbgleichen Zwillinge.
bevorzugt, der auch bei extremen Körpergrößen
zu einer zutreffenderen Einstufung führt.              Dieses Experiment belegt, daß es „gute“ und
                                                       „schlechte Futterverwerter“ gibt, und daß dabei
                                                       Erbanlagen eine wichtige Rolle spielen. Beide
Der Body-Mass-Index wird wie folgt berechnet:          Aspekte waren von übergewichtigen Menschen
              Körpergewicht in kg                      immer wieder betont, von der Wissenschaft aber
                                                       bislang nicht akzeptiert worden.
              (Körpergröße in m)2

Ab BMI > 30 besteht eine klare Indikation zur
Gewichtsabnahme (siehe Tabelle 2). Bei mäßi-
gem Übergewicht (25 < BMI < 30) wird eine Ge-
wichtsabnahme empfohlen, wenn gewichtsab-
hängige Risikofaktoren bestehen oder ein ausge-
prägter androider Fettverteilungstypus (WHR >
0.85 bzw. > 1.0) vorliegt. Unterschiede im Kör-
pergewicht beruhen im Wesentlichen auf Ge-
wichtsunterschieden in der Fettmasse. Bis in
jüngste Zeit wurde die Auffassung vertreten, daß
es sich bei der Körperfettmasse um eine unregu-
lierte Größe handelt, die nahezu beliebig – in
Abhängigkeit der Energiebilanz – variieren kön-
ne. Neueste Ergebnisse der Genforschung legen
                                                       Abb. 1: Mastversuch mit 12 eineiigen Zwillingspaaren
allerdings die Annahme nahe, daß möglicherwei-                 über 100 Tage (nach: Bouchard et al. 1990)
se im Fettgewebe Eiweißverbindungen (z.B. Lep-
tin) produziert werden, die im Gehirn als „Sätti-
gungsfaktor“ wirken (Ellrott & Pudel 1996). Heute   erwachsene Personen, die jeweils als zwei- oder
wird nicht mehr bezweifelt, daß der Gewichtsre-     eineiige Zwillinge von frühester Zeit an getrennt
gulation auch eine genetische Komponente            oder zusammen aufgewachsen waren. Das Re-
zugrundeliegt. Studien belegen, daß erhebliche      sultat war eindeutig: Eineiige Zwillinge waren sich
Unterschiede hinsichtlich einer Gewichtsverände-    in ihrem Gewicht, auch wenn sie getrennt auf-
rung von Mensch zu Mensch bestehen, die zu          wuchsen, viel ähnlicher als zweieiige Zwillinge,
einem gewissen Grad genetisch bestimmt sind.        selbst wenn diese gemeinsam in einer Familie
Stunkard et al. (1990) untersuchten über 500
200                                      Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

groß geworden sind.
                                                                  Relativer Fettverzehr und Body-Mass-Index

Trotz aller Eindeutigkeit, daß eine genetische             BMI
Grundlage für die Regulation des Körpergewichts
                                                             29
vorhanden ist, bleibt als Tatsache bestehen, daß
der „Umweltfaktor“ Ernährung das aktuelle Ge-              28,5
wicht entscheidend beeinflußt. Bereits ein Ver-
                                                             28
gleich der Übergewichtshäufigkeit in den Nach-
kriegsjahren mit heute belegt, daß selbst bei glei-        27,5

cher genetischer Ausstattung das Überge-
                                                             27
wichtspotiential in einer Bevölkerung in Abhän-                    < 40%     < 43%     < 46%     >= 46%

gigkeit des Nahrungsangebotes erheblich variie-
ren kann.
                                                           Relativer Kohlenhydratverzehr u. Body-Mass-Index
Wandeln sich Kohlenhydrate im Körper zu
Fett?                                                     BMI

                                                            29
Untersuchungen am Menschen zur Frage der de-
novo-Lipogenese aus Kohlenhydraten (Umwand-                28,5

lung von Kohlenhydraten in Fett) haben gezeigt,             28
daß bei der verminderten Enzymausstattung des
Menschen dieser Weg für Kohlenhydrate unter                27,5

üblichen Verzehrsbedingungen nicht beschritten              27
                                                                  < 37%     < 40%     < 45%    >= 45%

                                                        Abb. 3:   Body-Mass-Index in Abhängigkeit vom relativen
  Exkurs in die Theorie                                           Fett- und Kohlenhydratverzehr bei 200.000 Perso-
  Kontrovers wird weiter diskutiert, ob die Annahme               nen nach einem 7-Tage-Ernährungsprotokoll (Pudel
  eines sogenannten „Set-Points“ zutreffen kann. Die              & Westenhöfer 1992)
  Set-Point-Theorie (Keesey & Powley 1986) geht
  davon aus, daß ein bestimmtes „vorprogram-
  miertes“ Gewicht existiert, daß durch einen Regel-
  kreis stabilisiert wird (Feed-Back-System wie z.B.    wird. Erst nach Auffüllung aller Kohlenhydratspei-
  die Regulation der Körpertemperatur auf den Set-
  Point von 37°C). Diese Annahme ist in gewisser        cher und bei extrem hoher Kohlenhydratzufuhr
  Weise pessimistisch, da danach ein Mensch stän-       von mehr als 500 g/d, die aber nur mit konzent-
  dig gegen seinen Set-Point ankämpfen müßte. In-       rierten Kohlenhydraten überhaupt möglich ist,
  zwischen vertreten andere Wissenschaftler die
                                                        beginnt die Lipogenese (Wandlung von Kohlen-
  mehr optimistische Ansicht, daß sich das Gewicht
  in einem bestimmten Gleichgewicht einpendelt,         hydraten in Fett), die zudem mit ca. 25% Ener-
  was davon abhängig ist, wieviel Fett mit der Nah-     gieverlust durch die Konvertierung von Kohlen-
  rung aufgenommen wird. Flatt (1995) kann zeigen,      hydraten in Fett sehr unökonomisch ist. Für die
  daß bei Gewichtskonstanz das Verhältnis von Koh-
                                                        Vermehrung von Körperfett ist beim Menschen
  lenhydraten und Fett in der Nahrung (Food Quo-
  tient, FQ) dem Verhältnis von Kohlenhydrat- und       also das Nahrungsfett die entscheidende Quelle,
  Fettdepots (Respiratorischer Quotient, RQ) des        zumal auch eine verstärkte Fettaufnahme nicht
  Körpers entspricht. Die Körperzusammensetzung         zu einer vermehrten Fettoxidation führt, wie dies
  ist danach eine Folge der Zusammensetzung der
  Nahrung. Nach diesen Vorstellungen ist eine Ge-       bei Kohlenhydraten, Protein und Alkohol der Fall
  wichtszunahme nach pauschaler Energiebe-              ist (Acheson et al. 1988; Ellrott et al. 1995).
  schränkung zu erwarten, wenn anschließend
  Mischkost in der Nährstoffrelation wie vor der Ge-    Astrup (1994) kommt zu der Feststellung, daß die
  wichtsabnahme aufgenommen wird. Nach den Un-
                                                        Manifestation der Adipositas notwendig an zwei
  tersuchungen von Flatt würde eine dauerhafte Ge-
  wichtsreduktion durch eine verminderte Fett- und      Voraussetzungen gebunden sei: (1) genetische
  gesteigerte Kohlenhydrataufnahme zu erreichen         Disposition und (2) erhöhter Fettkonsum. So be-
  sein.                                                 legen auch verschiedene Studien an größeren
Essen und Trinken – Sachtext                                                                                             201

Stichproben, daß der BMI nicht mit der Energie-                    rung mitverursachte - „ernährungsphysiologische
aufnahme, sondern mit der relativen Fettauf-                       Bewertung“ einzelner Lebensmittel etabliert, in
nahme korreliert ist (Pudel & Westenhöfer 1992;                    dem diese als „gesund“ bzw. „ungesund“ be-
Bolton-Smith & Woodward 1994; vgl. Abb. 3). 7                      zeichnet werden. Diese kategoriale Einteilung
                                                                   einzelner Lebensmittel entbehrt aber jeder fachli-
Konsequenterweise ergibt sich zur relativen Koh-                   chen Grundlage, da die Qualität der Ernährung
lenhydrataufnahme eine umgekehrt proportionale                     nicht anhand der Inhaltsstoffe eines einzelnen
Beziehung. Zudem wurde festgestellt, daß es                        Lebensmittels beurteilt werden kann. Außer Mut-
insbesondere der Zuckerkonsum ist, der zu die-                     termilch, und diese auch nur für Babies, ist kein
ser signifikanten Beziehung zwischen Überge-                       Lebensmittel in dem Sinne „vollwertig“, daß es
wichtsgrad und Kohlenhydrataufnahme führt:                         die gesamte Palette an essentiellen Inhaltsstoffen
Normalgewichtige konsumierten in dieser Studie                     liefern könnte. Der Begriff „Vollwertlebensmittel“
mehr Zucker als Übergewichtige (Bolton-Smith &                     ist daher in gewisser Weise irreführend und för-
Woodward 1994). Dieser Befund darf aber nicht                      dert die unzweckmäßige Beurteilung einzelner
ursächlich gedeutet werden, denn Übergewichti-                     Lebensmittel hinsichtlich ihres gesundheitlichen
ge sind nicht deshalb übergewichtig, weil sie                      Wertes.
weniger Zucker verzehren. Die Autoren dieser
Studie vermuten, daß Menschen, die wenig Fett
essen und darum normalgewichtig bleiben, einen                     Auf die Kombination kommt es an!
                                                                   Vollkornbrot mit Ballaststoffen, aber kaum Kalzium,
Teil ihrer Kohlenhydrataufnahme auch über kon-                     Milch mit relativ viel Fett, aber einem hohem Gehalt an
zentrierte Kohlenhydrate (Zucker) decken, da                       Kalzium sowie Salami, die Eisen enthält, aber keine
ansonsten das Nahrungsvolumen zu groß wird.                        Ballaststoffe, sind für sich isoliert betrachtet Lebensmit-
                                                                   tel, die deutliche Nährstofflücken aufweisen. In der
                                                                   Kombination allerdings ergänzen sich die Nährstoffpro-
Fazit: Statt Energiebilanz besser Nährstoffbi-                     file, so daß tendenziell bereits eine Ausgewogenenheit
lanz beachten                                                      erzielt wird.

Nach diesen Befunden scheint es notwendig, das
klassische Konzept der Energiebilanz zugunsten                     Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE)
einer Betrachtung der Nährstoffbilanz zu revi-                     betont immer wieder, daß die Bedarfsdeckung
dieren. Die verschiedenen Energiequellen, insbe-                   durch die Inhaltsstoffe der Nahrung im Verlauf
sondere Kohlenhydrate und Fett, haben hinsicht-                    einer Woche beurteilt werden sollte (1991). Dar-
lich der Gewichtsregulation eine unterschiedliche                  aus läßt sich auch das Prinzip begründen, daß es
Wirkung, wobei primär der Energiequelle Fett die                   möglich ist, jedes Lebensmittel zu verzehren.
ungünstigen Konsequenzen für eine Gewichtszu-                      Allein Dosierung und Kombination von Le-
nahme zugerechnet werden müssen (Horton et                         bensmitteln bestimmen darüber, ob eine optimale
al. 1995; Prentice 1995; Swinburn & Ravussin                       Bedarfsdeckung erreicht wird. Im Einzelfall ist es
1993).                                                             allerdings problematisch zu überprüfen, ob der
                                                                   Nährstoffbedarf wirklich gedeckt ist, da der indi-
                                                                   viduelle Bedarf kaum zuverlässig zu ermitteln ist.
2.3 Wichtige Bestandteile der
    Ernährung                                                      Die DGE hat daher Empfehlungen für die Nähr-
                                                                   stoffzufuhr herausgegeben, die jedoch häufig mit
In der Umgangssprache hat sich seit Jahrzehnten
                                                                   Angaben zum Nährstoffbedarf verwechselt wer-
eine - sicher auch durch die Ernährungsaufklä-
                                                                   den. Der wirkliche Bedarf an einzelnen Nährstof-
                                                                   fen ist wissenschaftlich nicht sicher einzugren-
                                                                   zen. Aus klinischen Beobachtungen, Tierexperi-
7 Ob eine erhöhte Aufnahme konzentrierter Kohlenhydrate in         menten und Entzugsstudien wird der wahrschein-
  Form zuckerhaltiger Getränke auch die Entwicklung einer
  Adipositas tatsächlich begünstigt, ist noch unklar. Die kriti-
                                                                   liche Bedarf beim Menschen geschätzt. Die dar-
  sche Dosis von 500 g Kohlenhydraten (Beginn der Lipoge-          auf basierenden Empfehlungen setzen dann die
  nese) ist jedoch z.B. mit zuckerhaltigen Limonaden bei ex-
  tremem Konsum (4 bis 5 Liter/Tag) zu erreichen. Hier kön-        mittlere Dosierung, vermehrt um einen Sicher-
  nen durchaus Süßstoffe sinnvoll sein.
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