Lebensstile - evangelisch-reformierte ...
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magnet Kirchenblatt für die Evangelisch-reformierten Kirchgemeinden beider Appenzell AZB 9100 Herisau a ge! saufl Gros Mai 2020 Nr.5 107.Jahrgang … Das Virus m enschliche r Macht G re n ze n … und die Seite 17 mehr auf Lebensstile
Biblische Betrachtung Jesus und seine Beziehung zu Frauen Frauen spiel- Jesu zweite Ankunft warten (Matt. 24), die Frau, die ten im frühen ihre verlorene Münze sucht (Luk. 15), oder die hartnä- Christentum ckige Witwe als Beispiel für unser eigenes Gebet (Luk. eine tragende 18). Rolle, ein As- pekt, der von Jesus beschrieb Frauen als Töchter Abrahams (Luk. männlichen 13, 16), seine Lehre zur Scheidung behandelte Frauen Weltbildent- als Menschen und nicht als Eigentum (Matt. 5, 32; 19, wicklungen 9), und ihm war wichtig, dass Frauen nicht zu Objek- schon bald ten sexueller Lust reduziert werden (Matt 5, 28). In zugedeckt einer Zeit als Lernen für Frauen suspekt angesehen war, wurde. Bild: nahm sich Jesus immer wieder Zeit, um sie zu unter- Ikonografische richten, und zwar auf Augenhöhe im Dialog. Darstellung, Erzdiozöse Wien Jesus und die Ergänzung von Mann und Frau In all dem unterstrich Jesus etwas, was wir unter nor- Jesus stand mit vielen Menschen in Beziehung, und malen Umständen als eine Gegebenheit verstehen: faszinierte sie immer wieder durch seine Liebe und dass Männer und Frauen anders sind, aber einander Integrität. Selbst wenn er redete und lehrte waren ergänzen. Gott hat Mann und Frau als zwei sich kom- die Menschen mitgerissen, denn er lehrte mit einer plementierende Repräsentanten derselben Mensch- Vollmacht, die mehr überzeugte als die der Theolo- heit geschaffen. In den Augen von Jesu Bibel (unserem gen. Deswegen beschreibt der Hebräerbrief Jesus Alten Testament), und in den Augen seiner Jünger, auch als den Anfänger und Vollender des christlichen Apostel und deren Schüler (unserem Neuen Testa- Glaubens. Deswegen ist er auch unser Massstab. Er ment) reflektieren Männer und Frauen auf verschie- schätzte seine Bibel – was wir heute als das Alte Tes- dene Weisen Gottes Herrlichkeit. In der Hinsicht über- tament kennen – genug, um sie auswendig zu kennen, holt die biblische Sicht der Beziehung zwischen Mann und wandte sie immer wieder auf die Beziehungen, und Frau die sozialen Moden von heute wie auch die in denen er lebte, an. Nostalgie nach den Beziehungsformen einer «guten al- ten Zeit». Sein Umgang mit Frauen war zu seiner Zeit revolutio- So haben Jesu Jünger in den ersten Jahrhunderten när sowohl für die Juden wie auch für die Griechen und die Rollen von Frauen im römischen Reich transfor- Römer in den nächsten Jahrhunderten wie auch für miert und massiv aufgewertet, was auch erklärt, wa- uns heute. Jesus bestätigte oft ihre Würde und machte rum in dieser Zeit in grösserer Zahl Frauen zum Glau- sie zu Mitarbeiterinnen. Frauen spielten in Jesu Dienst ben an Jesus Christus kamen. Unter denen, die sich bei eine wichtige Rolle. Unter anderem «unterstützten Paulus bekehrt haben, hören wir öfter von Frauen als sie Jesus und seine Jünger durch das, was sie hatten» von Männern. Durch Frauen kam der Glauben an Jesus (Luk 8, 3). Er redete frei mit Frauen, und machte beim in alle gesellschaftlichen Schichten hinein. Die christ- Heilen keinen Unterschied zwischen Männern und liche Gemeinschaft gab Frauen bessere Perspektiven, Frauen. als sie sonst gehabt hätten. So haben Jesu Jünger die Es waren auch Frauen die Jesus nach seiner Aufer- gute Nachricht vom alttestamentlichen Zeugnis immer stehung als erstes sahen. Die so wichtige Nachricht der weiterverbreitet, dass Männer und Frauen, auch wenn Auferstehung wurde als erstes den Jüngerinnen anver- sie anders sind, den gleichen Wert haben und sich traut, was eigentlich erstaunlich ist, weil Frauen da- komplementieren. Christen merkten schnell, dass das mals nicht berechtigt waren, vor Gericht Zeugnis zu Alte Testament als Jesu Bibel für sie genauso wichtig geben. war, wie es das für ihren Herrn war. So wurden die In seiner Arbeit nahm Jesus immer an, dass Frauen Worte aus Genesis 1 eine zeitlos gute Nachricht darü- einen grossen Wert und eine wichtige Aufgabe haben, ber, was Gott sich von Anfang an gedacht hat: «Gott welche die Erwartungen der Kultur um sie herum schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Got- sprengte. Seine Mutter Maria ist wohl ein gutes Bei- tes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.» spiel dafür, aber es gibt in seinen Erzählungen und (Gen 1, 27). Gleichnissen viele andere, wie z. B. die Frauen, die auf Mike Lotz, Pfarrer in Appenzell MAGNET Nr.5/2020 2
Editorial Impressum Liebe Leserin, Kirchenblatt für die Evan- gelisch-reformierten Kirch- lieber Leser gemeinden beider Appenzell (erscheint monatlich) Herausgegeben im Auftrag … wir leben in seltsamen Zeiten. Was noch vor gar nicht allzu der Synode der Evangelisch- reformierten Landeskirche langer Zeit völlig selbstverständlich war, ist es seit einigen beider Appenzell Wochen nicht mehr. Im Bücherladen stöbern, Essen gehen, im Redaktionskommission Kafi um die Ecke einen Kaffee trinken. Nix geht mehr. Unser Carlos Ferrer, Grub-Eggersriet (cf); Judith Husistein, Stein (jh); Leben hat sich radikal verändert. In einer für mich vorher nicht Lars Syring, Präsident der Isabelle Kürsteiner, Walzenhau- vorstellbaren Art und Weise. Wir können Ostern nicht mal Redaktionskommission sen (iks); Jonathan Németh, St.Gallen (jn); Annette Spitzen- Gottesdienste feiern. Hat es das jemals gegeben? berg, Reute-Oberegg (as); Während ich diese Zeilen schreibe, ist die Schweiz in der Karin Steffen, Schachen bei Reute (ks); Lars Syring, Präs., vierten Woche des Lockdowns. Wir verbringen als Familie die Bühler (sy) meiste Zeit des Tages in der Wohnung. Gelegentlich auch im Redaktion Heinz Mauch-Züger (hmz) Garten. Die Kinder haben keine Schule. Und meine Frau und Steinbruggen ich können unseren Berufen fast nur im Büro oder im Internet 9063 Stein Tel. 071 278 74 87 nachkommen. Fax 071 278 74 88 Wir haben uns eingerichtet und es läuft rund, mit den übli- magnet@ref-arai.ch chen Reibungen. Die gehören ja auch sonst dazu. Trotzdem ist Magnet-Download www.ref-arai.ch es ein Ausnahmezustand. Und das schlimme: Niemand weiss, Produktion wie lange das noch dauert. Niemand kann die Konsequenzen Appenzeller Druckerei AG, 9100 Herisau abschätzen. Weder für die Gesundheit noch für die Wirtschaft. Adressänderungen melden Existenzen stehen auf dem Spiel. Sie bitte direkt der örtlichen Was wird werden? Wann werden wir wieder zu sowas wie Kirchgemeinde einem normalen Leben zurück kehren? Und was ist eigentlich WEMF Beglaubigte Auflage 13 344 «normal»? Magnet online In diesen Monaten zeigt sich deutlicher als sonst, was für ein www.magnet.jetzt Beziehungsmodel wir leben. Es intensiviert und verstärkt sich. Wer als Single lebt, muss sich jetzt viel aktiver als sonst um seine Sozialkontakte kümmern. Wer als Familie unterwegs ist, wird verstärkt lernen müssen, Rücksicht zu nehmen. Wer zu einer Risikogruppe gehört, muss sich noch mehr schützen als sonst. Das ist ja alles ein grosses soziales Experiment, in dem wir da stecken. Sowas gab es noch nie. Ein Anstieg an häuslicher Gewalt ist schon vermeldet. Ich fürchte auch einen Anstieg der Depression. Und, wer weiss, vielleicht gibt es auch eine neue Welle Corona-Babys irgendwann Anfang nächsten Jahres. Für diesen MAGNET haben wir mit Menschen gesprochen, die in ganz unterschiedlichen Beziehungsformen leben. Da ist ein buntes Potpourri zusammen gekommen. So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Beziehungsformen. Lassen Sie sich überraschen! Gebe Gott, dass wir diese Zeiten heil überstehen. Halten Sie die Ohren steif! Titelbild Jonathan Németh: Zusammenleben sichtbar. 3 MAGNET Nr.5/2020
Thema Es ist ein Geben und Nehmen Die Familie von Allmen geniesst während der Coro- napandemie das Zusammensein in der Familie umso mehr. (Karin, Ruth, Lea, Ursin, Reto und Nadine, von links, es fehlt die älteste Tochter Julia) «Für meinen Mann Reto und mich war es schnell klar, Die altehrwürdige Maschine steht nun im Volkskunde- dass wir eine Familie mit Kindern gründen wollten», museum und wird von Ruth von Allmen bedient. Wäh- erinnert sich die 48-jährige Ruth von Allmen. Die rend Ruth in Stein tätig ist, geniessen es Vater Reto und mittlerweile siebenköpfige Familie wohnt mit vielen die Kinder, für einmal ohne Mutter gemeinsame Zeit Tieren und einem grossen Garten, idyllisch gelegen, zu verbringen. Seit Kurzem arbeitet Ruth in einem Teil- im Weiler Knollhausen in Reute. pensum auch wieder in ihrem angestammten Beruf als Köchin im Pflegeheim Watt, in unmittelbarer Nähe von «Es ist nicht so, dass wir schon zu Beginn unserer Be- ihrem Zuhause. Diese Tätigkeit im Beruf, den sie ge- ziehung planten, eine grosse Familie zu werden. Wir lernt hat, bedeutet Ruth von Allmen sehr viel. Einer- haben vorzu geschaut, ob wir noch ein weiteres Kind seits schätzt sie die Abwechslung von Familien- und möchten. Und mit Ursin, unserem Nesthäkchen, er- Berufsalltag sehr, andererseits erhofft sie sich später schien uns unsere Familie komplett», sagt Ruth von ein grösseres Pensum, wenn die Kinder älter sind. Allmen heute. Und dabei spielte es für das Paar keine Diese Arbeitsteilung mit ihrem Mann gefällt Ruth von Rolle, ob ihnen nach den vier Mädchen noch ein Junge Allmen sehr. Ihr Ehemann Reto und sie ergänzen sich geschenkt werde oder nicht. dabei ideal. «Jeder hilft jedem. Es ist ein Geben und Für Ruth von Allmen war und ist es wichtig, für die Nehmen und niemand kommt zu kurz», sagt Ruth von Kinder da zu sein. Nicht nur aus finanziellen Überle- Allmen zufrieden. gungen entschied sich das Paar nach der Geburt des Während der Coronapandemie kommen nun er- ersten Kindes, dass die Mutter zuhause bleibt und der schwerende Hindernisse dazu. So können die Kinder Vater (49) auswärts arbeitet. Später machte es sich nicht mehr ihre Mutter im Pflegeheim besuchen, wo Ruth von Allmen auch zu ihrer Aufgabe, für ihre Mut- sie sich an den schulfreien Nachmittagen mit den Be- ter zu sorgen, als diese schwer erkrankte. Diese Zeit wohnern unterhielten, spielten oder etwas mithalfen. möchte sie heute nicht missen: «Es war sehr streng Und Ruth und ihr Ehemann Reto, welcher in der Stif- aber auch schön». Und auch heute geht ihr die Arbeit tung Waldheim, ebenfalls in einer sozialen Institution, im und ums Haus nicht aus. Dafür sorgt der grosse Ge- arbeitet, halten sich aus Rücksicht auf die Bewohner müsegarten mit Treibhaus, die Gänse und Ziegen, so- strikte von anderen Menschen fern. Ein Weitergeben wie die Kinderschar. des Corona-Virus hätte bei beiden Institutionen ver- Mit dem Älterwerden der Kinder hat sie sich vor heerende Auswirkungen. Aber die ganze Familie drei Jahren einer neuen Herausforderung gestellt. Ruth nimmt es gelassen. Irgendwann ist auch diese Krise von Allmen übernahm ein Engagement im Volkskunde- überstanden. Für Ruth von Allmen hat es durchaus museum in Stein. Dort präsentiert sie an zwei Samsta- auch positive Seiten, diese spezielle Erfahrung wäh- gen und einem Sonntag pro Monat die letzte Hand- rend der Krise machen zu dürfen. stickmaschine des Kantons. Die Nachbarin Lina Bi- Karin Steffen schofberger war dabei ihre Lehrmeisterin. Diese hat bis ins hohe Alter von über 90 Jahren in ihrem Sticklo- kal in Steingacht, damit gearbeitet. (Aufgrund der Distanzregeln fand das Interview telefonisch statt) MAGNET Nr.5/2020 4
Thema Siv – ein Wunschkind Ich unterhalte mich per Skype mit den beiden Tänze- selbstverständliche Freiheiten fehlen, wird es umso rinnen Jasmin und Cecilia, die schon seit vielen Jah- mehr bewusst, wie wichtig ein solcher Wert ist. Dann ren ein Paar sind und je nach Arbeit zwischen Vertrauen ins Leben und in sich selbst, so dass sie auch St. Gallen und Deutschland hin- und her pendeln. falsche Entscheidungen treffen darf. Geborgenheit und Beide sagen übereinstimmend, dass sie schon immer sichere Gebundenheit soll sie empfangen, so dass sie wussten, dass sie ein Kind wollten, die Frage sei sich sicher fühlen kann in dieser Welt. Dass sie dies mehr gewesen, wann. ohne Zweifel bereits tut, erlebe ich im Gespräch mit ihr. Die Karriere einer Tänzerin ist nicht sehr lange und Siv ist ein ausgeglichenes, freundliches Kind, das man fällt insgesamt für 18 Monate aus. Auf Vorurteile sich ziemlich dafür interessiert, was da am Bildschirm sind sie im beruflichen Umfeld des Theaters auf keine läuft. Und sie soll einmal eigenständig denken. Ein sehr gestossen. Jasmin erzählt, wie sie einmal in einem Ge- reformierter Glaubenssatz, erinnert er mich doch an schäft von einer älteren Frau angesprochen wurde, die die Plakatkampagne von 2001: «Selber denken – die gehört hatte, dass sie etwas für ihre Frau kauft. Diese Reformierten». liess sich auf ein längeres Gespräch ein und sagte am Ich möchte wissen, wie es ihnen mit Corona geht. Schluss: «Jetzt hat es für mich ein Gesicht bekommen. Cecilia hat das Glück, dass sie ihren Lohn vorerst wei- Ich konnte mir das nie so recht vorstellen, zwei Frauen ter bekommt, aber Jasmin steht mit leeren Händen da und ein Kind, jetzt kann ich es.» Das verdeutlicht, dass und alles Freiberufliche ist stillgelegt. Sie haben dafür manche Vorurteile bestehen, weil man etwas nicht kennt. Beide betonen, dass sie viele männliche Bezugs- personen hätten in ihrem Umfeld. Ich konnte mir das nie vorstellen, Diskriminierung erlebt haben sie auf strukturelle zwei Frauen und ein Kind, Art. Weil die Befruchtung im Ausland stattfinden musste, zahlte die Krankenkasse keine damit im Zu- jetzt kann ich es. sammenhang stehende Untersuchungen. Ihrer Tochter haben sie einen alten nordischen Namen gegeben, Siv sehr viel Zeit füreinander und miteinander und genies- bedeutet Braut. Die Werte, die sie ihr vermitteln möch- sen dies. «Corona führt dich dazu, tiefer in dich selbst ten sind: Freiheit, sie soll machen dürfen, was sie einzutauchen. Wir wünschen uns eigentlich, dass das möchte. Gerade in Zeiten von Corona, in denen viele die Menschen nicht verpassen. Und wir glauben an eine Energie, an eine Kraft und daran, dass wir alle auf unsichtbare Art mitei- nander verbunden sind.» Mich interessiert, ob es etwas gibt, was sie von anderen Familien unter- scheidet. Beide unterstreichen, dass sie ihr Modell nicht als besser erach- ten als andere, aber sie wünschen sich, als gleichwertig angenommen zu werden. Um etwas seien sie aber be- neidet worden, nämlich um die liebe- volle Nähe, die sie sich gegenseitig geben konnten in der Schwanger- schaft und auch jetzt zu dritt. Was kann man einem Kind Besseres wün- schen? Annette Spitzenberg Familie als Entscheidungsgemeinschaft über Biologie hinaus. Bild: as 5 MAGNET Nr.5/2020
Thema Kind gratis abzugeben Mütter und Kinder als günstige Gelegenheiten Leihmütter aus Indien – bis 2015 in Indien auch für Europäer eine gesuchte Möglichkeit. Heute nur noch für Einheimische möglich – doch der Schwarzmarkt ist gross. Bild: hmz Kind gratis abzugeben. So betitelte eine Schweizer Vormundschaftsbehörde in den 60er-Jahren ein In- serat, um der Gemeinde Kosten zu sparen. Kind gra- tis abzugeben und das mit Rückgaberecht! Ein sehr unglücklicher Start, Leihmütter! Heute beginnt beim Wort Leihmütter oft der Mutter und Kind traumatisierte, die grosse Diskussion. Diese Möglichkeit des Kinder- kriegens stösst einem Teil der Menschen sauer auf. An- kein Vertrauen aufkommen liess. dere verabscheuen solches Tun geradezu, auch oder gerade im kirchlichen Umfeld. Doch Leihmütter, wenn auch aus anderen Motiven, gab es schon zu Urgross- mutters Zeiten. Immer wieder hatten mir alte Leute Kind kam in die Institution Antoniohaus des seraphini- davon erzählt. Sie waren grosse Familien und «über- schen Liebeswerks in Solothurn. Eine Fremdplatzie- zählige» Mäuler, die gefüttert werden mussten, wur- rung wurde durch die Vormundschaftsbehörde voran- den oft an kinderlose Verwandte verschenkt. getrieben. Kinder an Verwandte verschenkt Kosten für Gemeinde sparen Leihmütter infolge finanziellem Druck! Weil die Fami- Es galt Kosten zu sparen. Die Unterkunft im Wohnheim lie mit der aktuellen Kinderzahl schon hungerte! Dann kostete. In Inserat in jener Zeit titelte: «Kind gratis ab- telefonierte ich mit meiner Kollegin, wollte ihre Ge- zugeben». Die Institution übergab damals die Kinder schichte hören. Sie war gratis abgegeben worden! Da- auf Probe mit der Option, sie sofort zurückzugeben, mals moralisch unbedenklich und von den Kirchen wenn sie nicht «recht täten». «Wie bei einem Hund», unterstützt. Ihre Geschichte hat mich tief berührt und empört sich meine Kollegin noch heute. Ihrer Mutter ich will sie hier in Kurzform erzählen. wurde das Besuchsrecht verweigert, dafür legte ihr die Es geschah vor 60 Jahren in der Westschweiz. Eine Vormundschaftsbehörde dringendst nahe, in eine Ad- Ehe zerbrach während der Schwangerschaft. Der Mann option einzuwilligen. Das tat sie nie. Sie unterschrieb reichte die Scheidung gleich nach der Geburt des Mäd- nicht. Aus den Akten geht hervor, dass dieses Verhal- chens ein. Er wollte wieder heiraten und er zahlte nie ten vom Amt aus als sehr undankbar angesehen wor- Unterhalt, keinen roten Rappen. Es folgte für die allein- den ist. Das Mädchen wurde unter Mithilfe von kirch- erziehende, geschiedene Mutter wie auch für das Kind lichen Institutionen in die Ostschweiz vermittelt und eine Odyssee: Fürsorgerische Zwangsmassnahme, das die neue Mutter in den Hauptbahnhof Zürich zur Über- MAGNET Nr.5/2020 6
Thema Du bisch nüt, häsch nüt, wirsch nüt ond mosch froh si, dass mer di ufgnoh händ. Der Keller wurde zum zweiten Zuhause, immer wieder auch mit «Schittliknüle;; dem knien auf harten, spitzi- gen Buchenscheitern. Die Narben an den Knien erin- nern auch heute noch daran. Erst nach dem Tod des Vaters und durch puren Zufall erfuhr das Mädchen, nun bereits verheiratet und Mutter von zwei Kindern, dass ihre leibliche Mutter immer noch in der Westschweiz lebte. Bis zu ihrem Tod gab es die Möglichkeit von we- nigen Gesprächen. Meine Kollegin wollte nun ihre Ver- gangenheit kennenlernen und forschte. So erfuhr sie auch, dass der Adoptiv-Vater für das Mädchen bis zu deren Hochzeit an das vermittelnde Hilfswerk gespen- Verdingkinder – det hatte. Eine Leihmutter wäre bezahlt worden. Hier weggegeben weil aber erhielt die vermittelnde Institution das Geld, die «vorig», weg- leibliche Mutter ging leer aus. Von Behörden und Kir- genommen weil che geduldet. Ein normales Vorgehen. moralisch nicht vertretbar. Starker Wille half Bild: hmz Mehr als ein halbes Jahrhundert später entschuldigte sich der St. Galler Regierungsrat Martin Klöti an einem Gedenkanlass für das Unrecht und Leid, das Betroffe- nen von fürsorgerischen Massnahmen angetan worden war. Meine Kollegin war ebenfalls dabei, ebenso als der Gedenkbrunnen im Gründenmoos enthüllt wurde. Sie nahm auch die psychologische Beratung der Opferhilfe gabe zitiert, weil eine Schwestern gerade via Zürich in in Anspruch. Die Therapeutin erklärte ihr, dass nur den Urlaub fuhr. Da kam es gelegen, dort das kleine wenige mit einer solchen Geschichte es geschafft hät- Mädchen schnellstens abzugeben. ten, ein normales Leben zu führen. Die meisten hätten «den Rank» nicht gefunden und seien Opfer von Aus- Übergabe traumatisierte nützungen geworden. Hier erinnert sie sich zurück, als Die lieblose Abfertigung klappte nicht. Das Kind riss ihr immer wieder eingetrichtert worden ist: «Du bisch sich von der Schwester los, rannte weg. Die Polizei nüt, häsch nüt, wirsch nüt ond mosch froh si, dass mer musste kommen. Die Rede war sogar von Kindsentfüh- di ufgnoh händ.» Zum Glück hatte meine Kollegin ih- rung. Dann löste sich alles auf, die Reise ging in die ren eigenen Kopf, einen starken Willen und die Ent- Ostschweiz. Ein sehr unglücklicher Start, der Mutter schlossenheit, das Leben zu meistern. Um sich unab- und Kind traumatisierte, kein Vertrauen aufkommen hängig zu machen, suchte sie nach der Schule eine liess. Ein Gefühl, dass sich durch die ganze Kind- und Lehrstelle, die etwas entfernt zum Dorf lag und wo sie Jugendzeit durchzog. Die Mutter verlangte Dankbar- ein Zimmer zur Verfügung hatte. So baute sie sich suk- keit, das Mädchen wusste nicht wofür. Sie war ja am zessive ihr eigenes, unabhängiges Leben auf. falschen Ort bei der falschen Familie. Der Vater Isabelle Kürsteiner wünschte eine perfekte Familie mit untadeligem Kir- chenbesuch am Sonntag. Beide Begehren konnte das Kind nicht erfüllen. «Wir sind nie ein Herz und eine Seele gewesen», erinnert sich die Frau heute. So gab es zuhause unter Ausschluss der Öffentlichkeit Strafen. 7 MAGNET Nr.5/2020
Thema Lebensgestaltung – Formen, Rollen, Anschauungen Stammbäume klären Beziehungen und Rollen. Bild: lvz.de Es gibt den Familienbaum und es gibt den Familien- mehr und mehr polygamisch und polyandrisch gewor- wald. Je nachdem, wie viele Familien ein Mensch den, wenn nicht gleichzeitig, dann in Serie. Wir genies- gründet. Je nachdem, wie viele Kinder mit den ver- sen die Freiheiten unserer Gesellschaft und lösen uns schiedenen Partnern auf die Welt kommen. Je nach- von den Normen der Vergangenheit. dem, wie viele Kinder sie mitbringen und wie viele Eine der Tendenzen, so Emmanuel Todd, ein franzö- Kinder sie pflegen oder adoptieren. Die bürgerliche sischer Historiker und Soziologe, ist, wo Frauen gebil- Familie, ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts, ein det werden, bekommen sie weniger Kinder, Gleichbe- Mann, eine Frau und eigene Kinder war Norm. Zuge- rechtigung folgt, wenn auch langsam. Auch in der geben, nur da wo die Mittelklasse von christlich-pie- Schweiz, wo das Durchschnittsalter steigt, in dem tistischen oder säkular-aufgeklärten Werten geprägt Menschen zum ersten Mal Eltern werden. Dies geht ist. Anderswo gelten kulturelle und ökonomische Va- Hand in Hand mit schwindender Kindermorbidität und rianten. besserer allgemeinen Gesundheit. Seit den Umbrüchen der 1980er-Jahren gewinnen Die bürgerliche Familie hat ihren Bestand bis in unsere Treue- und Familienformen gleichgeschlechtlicher Zeit, hat aber ihre Vorherrschaft in den letzten 40 Jah- Partner an Akzeptanz. Wo allgemeine Menschenrechte ren verloren. Dies hat verschiedene Gründe. War das gelten (nicht nur für wohlhabende Männer), bestimmt Leben bis ins 19. Jahrhundert noch relativ kurz, hatte die Augenhöhe was legal wird. Solange niemand unter- ein Durchschnittsmensch gerade noch Zeit für eine Fa- drückt, solange niemand ausgebeutet oder ausgegrenzt miliengründung. Das heisst, solange er oder sie sich an wird, ist es potenziell gesellschaftlich konform. die Moral des vom Patriarchats geformten Bürgertums So verschob sich das Wesen der Familie in Gesell- hielt. schaft und in den Gesetzen. Das Konstante ist nicht Bei 40 000 Eheschliessungen pro Jahr in der Schweiz mehr die Form der Familie, sondern die Treue, die sich 2017–2019 sind vier fünftel Erstehen. Zur selben Zeit die Menschen innerhalb des Rahmens der Legalität lassen sich 16 500 Paare scheiden, etwa die Hälfte schwören. Eine «natürliche Ordnung» gibt es nicht nach 15 Ehejahren oder mehr. Eingetragene Partner- mehr, dafür aber den Vertrag gleichberechtigter, freier schaften scheinen stabiler zu sein, zu jährlich 700 Menschen. kommen etwa 175 Auflösungen. Vielleicht hat dies et- Unsere Freiheiten, Rechte und unser Wohlstand ha- was mit dem reifen Durchschnittalter der Partner zu ben an den Rollen und dem Wesen unserer Idee von tun, die durchschnittlich über 42 Jahre alt sind. Familien geknabbert. So kommen wir zur Patchwork Unterschiedliche Familienformen haben sich etab- Familie und den Rollen die wir langsam aber beständig liert. Seit den Umbrüchen der 1969er-Jahre sind wir auf uns nehmen. MAGNET Nr.5/2020 8
Thema Im 19 Jahrhundert: Der Mann wird zum Ernährer Bild: planet-wissen.de dafür war die viel ältere Realität der männlichen Vor- herrschaft, die letztlich auf nichts anderem beruhte als der physischen Überlegenheit des Mannes über die Frau. Die Frau Die Industrialisierung und mit ihr verbunden die Le- bensgestaltung über den Lohn brachte die Frau in eine unmittelbare Abhängigkeit vom Mann als Ernährer. Mann und Frau und Familie – Die Rollenzuweisung als Hausfrau und Mutter konstru- ierte ein sinnvolles Setting, das kirchlich-moralisch so eine Skizze interpretiert wurde, dass das scheinbar schon vorher so gewesen sein soll. Eine natürliche, gottgewollte Unsere bürgerliche Kleinfamilie ist eine Erscheinungs- Ordnung. Da die Frau schon vor der Moderne Kinder form der Moderne und in keiner Weise die «Urform» auf die Welt brachte, schien da eine gewisse Logik of- der Gesellschaft. Die Organisationsform der Familie fensichtlich. hat im Laufe der Zeit viele Veränderungen erlebt und Schon sehr früh gab es jedoch Frauen, die sich mit die Diskussion, wie sich das Zusammenleben über die der sich etablierenden Ordnung nicht anfreunden Jahrtausende der sogenannten Urzeit vollzog, ist bis wollten und die sich abzeichnende Wirklichkeit mit heute nicht erloschen. Sigmund Freud hat sich intensiv zunehmend heldenhaften Männern und bescheidenen mit den Elementen dieser nicht mehr rekonstruierba- und gehorsamen Frauen nicht teilten. Die Frauenbe- ren Phase beschäftigt und in seinem Werk «Totem und wegungen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Tabu» einige mögliche Aspekte zur Diskussion gestellt. für die Rechte der Frau stark machten, erreichten im Für ihn war deutlich, dass es zu einschneidenden Er- Laufe des 20. Jahrhunderts die rechtliche und politi- eignissen gekommen sein musste, welche sich im «kul- sche Gleichstellung. Wirtschaftlich gibt es im Bereich turellen Gedächtnis» eingelagert haben. Lohn nach wie vor Unterschiede. Gegenwärtig erleben wir gesellschaftlich eine Phase des Wandels in der praktischen Funktion der Ge- Und jetzt schlechter. Es ist eine gute Zeit, sich Gedanken darüber Gegenwärtig erleben wir eine sogenannte «Verweibli- zu machen, was früher anders war und wohin es gehen chung» der Gesellschaft. Der Gebrauch des Wortes könnte. «Verweiblichung» deutet immer noch auf eine Minder- einstufung dessen hin, was mit der Frau in Verbindung Der Mann gebracht wird. Zu beobachten ist, dass sich Männer Das Aufkommen der Industrialisierung und den damit mehr für Kindererziehung engagieren, in Einzelfällen verbundenen Veränderungen von Lebensgewohnhei- als Hausmänner im Gefüge der Familie tätig sind. Häu- ten führte zur Kleinfamilie, wie sie seit den sechziger figer ist jedoch die Aufteilung der Partner in ihrem be- Jahren des vergangenen Jahrhunderts bestimmend ruflichen Engagement, wo beide Teile mit Teilpensen wurde. Waren im Laufe des 19. Jahrhunderts noch alle für den Erwerb zuständig sind. Der gesellschaftliche Familienmitglieder als Arbeitnehmer/-innen einge- bunden (inkl. Kinderarbeit), verschob sich das im Laufe der Zeit durch das Engagement von Arbeitnehmerorga- nisationen mehr und mehr in Richtung Arbeitnehmer Es ist eine gute Zeit, sich Gedanken Mann. Frauen und Kinder schieden aus dem Arbeitsle- ben aus. Die Frau wurde zur Hausfrau und Kinder gin- darüber zu machen, was früher gen zur Schule. Dieser hier nur skizzierte Prozess ge- anders war und wohin schah nicht überall gleichzeitig und erreichte in der Schweiz auf politischer Ebene recht spät die Stufe der es gehen könnte. gleichen Rechte beider Geschlechter. Der Mann als Ernährer, als Oberhaupt der Familie, war eine Folge der Entwicklung der Arbeitswelt. Basis 9 MAGNET Nr.5/2020
Thema Fertig mit verstecken – Beziehung offen leben. Bild: Rone Ferreira, Pexels in Gang gekommen, der definitiv einen neuen Blick auf das Menschsein und die Lebensgestaltung verlangt. Scheinbar «Göttliche Ordnungen» wanken nun schon einige Jahre und es wird Zeit, dass sie fallen. Die Folgen davon sind weder totales Chaos, Hölle noch das Para- dies. Diese wird es in den einzelnen Lebensvollzügen nach wie vor geben. Die Folgen der jetzigen Verände- rungen sind der Gewinn an Menschen, die aktiv am Zusammenleben mitgestalten und mit ihrem Scheitern und Gewinnen ihren Teil dazu beitragen, dass wir Menschen gemeinsame Lösungen finden für die Prob- leme, die es hier und heute gibt, weil es uns gibt. Die Patchwork Familie Die seit Mitte des 20. Jahrhunderts als «normal» akzep- tierte Polyandrie und Polygamie hat die Stieffamilie Prozess, wo es, wie in vormodernen Zeiten, üblich ist, zwar nicht hervorgebracht (es gab sie schon immer dass beide Elternteile einer Beschäftigung nachgehen, wegen durch Krieg und Unfällen verwitwete Men- wird gegenwärtig durch den Mangel an Fachkräften schen), wohl aber verändert. Schon das Wort Stieffami- beschleunigt. Frauen sind aufgrund dieser Entwicklung lie ist mit negativem Gedankengut beladen. Die Stief- ein Potential, das integriert werden soll. Strukturen mutter, die die Stiefkinder quält, die eigenen bevor- wie Kindertagesstätten sollen dieses Engagement er- mundet. Echo der Traumata, eine neue Familie grün- möglichen. In alten, subsistenten Zeiten, waren dafür den zu müssen, des Überlebens willen? Erinnerung an die «Alten» zuständig, so wie wir es aus dem bäuerli- das Zusammengeschmissensein in einer Zeit wo das chen Bereich bis in unsere Zeit hinein kennen. Leben kurz, voller Schmerzen und brutal war? Eine neue Familie gründen, oder auflösen ist in der Mann und Frau und Kirche Seelsorge eine bekannte Druckstelle, die die Beteilig- Die Form des Zusammenlebens wird bestimmt von den ten stresst und an ihre Grenzen bringen kann. Wenn Lebensumständen und den damit verbundenen Ideolo- wir die klassischen Gefahrenzonen des menschlichen gien. Religionen spielten in diesem Prozess eine sehr Lebens (Armut, Gewalt, Scheidung, Tod) in Statistiken dominante und sehr konservative Rolle. Mit der Tren- über Familien in der Schweiz beachten, ergibt sich un- nung von Kirche und Staat wurden Entwicklungen ter anderem dieses Bild: möglich, welche die fixen, «gottgegebenen» Vorstel- lungen aufbrachen. Für viele konservative «Gläubige» – Hohe Scheidungsrate, steigende Zahl Scheidungs- ist diese Entwicklung nach wie vor sehr fragwürdig. kinder, erhöhte Gefahr an die Armutsgrenze zu stos- Dies vor allem, seit in diesen Prozess auch Menschen sen. einbezogen sind, die den gängigen Vorstellungen von – 27% Einelternfamilien und 24% Mehrkinderfami- männlich und weiblich nicht entsprechen. Wir erleben lien leben unter der Armutsgrenze. Davon beziehen das gegenwärtig in der Frage der «Ehe für alle», wo mehr als die Hälfte der Einelternfamilien Sozialhilfe. Vorstellungen darüber, was richtig ist und was nicht, Dies ist ein Genderproblem, da nur 5% Väter das mit neuer Vehemenz diskutiert werden. Sorgerecht zugesprochen wird. – Missbrauch und Gewalt ist ebenfalls ein Genderpro- Wie weiter blem. Bei etwa 3000 Fällen im Jahre 2007 waren Mit dem offensichtlichen Einbezug der Lebensgestal- 86% Frauen und Mädchen Opfer. Wo Gewalt gegen tung von Schwulen, Lesben und transsexuellen Men- Knaben abnimmt wenn sie älter werden, gilt bei schen in das Recht unserer Gesellschaft ist ein Prozess Mädchen das Gegenteil. MAGNET Nr.5/2020 10
Thema «Patchworkfamilie – Beziehung als stetige Herausfor- derung und Chance lernen. Bild: hmz dies schematisch darstellen, zurück bis in die Urgross- familien, haben wir ein Wurzelsystem von Verbindlich- keiten und Rollen und Miteinander welches zu lustigen Mit der Trennung von Kirche und Familientreffen, Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen führen kann, aber nicht unbedingt muss. Die Verhält- Staat wurden Entwicklungen möglich, nisse zwischen den geschiedenen Ex-Partnern bleiben welche die fixen, ‹gottgegebenen› bestehen, wenn auch in veränderter Form, soweit sie auch Eltern und Erzieher ihrer Kinder (und Stiefkin- Vorstellungen aufbrachen. der) bleiben. In der Seelsorge ist es daher sehr hilfreich, mit ei- nem Stammbaum anzufangen, der einige Generatio- nen zurück geht, um Familienmuster sichtbar zu ma- – In den Jahren 2004–2007 wurden 54% aller Morde chen. Auf Fragen, wo lernen wir unsere Gewohnhei- und Totschläge innerhalb der Familie begangen. ten, Umgangsformen, wo fangen die ungesunden Ab- 70% der Opfer waren Frauen, 88% der tatverdächti- hängigkeiten und Stressbehandlungsstrategien (Krank- gen Männer. Kinder unter 15 Jahren überwiegend heit, Alkohol, Drogen, Schläge …) an, wo wiederholen durch die Gewalt von Eltern. Besonders gefährdet sie sich, ist in Wahrheit und Klarheit der erste Schritt sind Frauen im Alter zwischen 20–40 Jahren durch hin zur Genesung. Scheidung oder Trennung. Umgekehrt, da wo (Patchwork) Familien die Vielfalt – Bei Partnerschaften alternder Menschen, wird die als Reichtum erleben, lehren sie die Generationen mit Frage nach dem Erbe den Partnern überlassen und komplizierten Verhältnissen auf kreative Weise umzu- nicht durch zeitgemässe Gesetze geregelt. Die Ge- gehen. Unsere Freiheiten, Wohlstand und Rechte ha- fahr der Altersarmut der Hinterbliebenen ist gege- ben an den Rollen und dem Wesen unserer herkömm- ben. lichen Idee von Familien geknabbert. Nur der Mangel an der Kreativität der Liebe und Fürsorge macht dies Leider haben wir keine öffentliche Statistiken, wie sich zu Problemen, die wir scheinbar bis heute oft nicht die oben genannten Probleme in der Schweiz in Patch- überwinden. work Familien präsentieren. Wir können nur von eini- Carlos Ferrer und Heinz Mauch-Züger gen US-amerikanischen Studien extrapolieren, die der Patchwork Familie eine höhere Gefährdung durch fa- miliäre Gewalt einräumen als anderen. Das normale Miteinander innerhalb Patchworkfami- lien, abgesehen von den oben genannten Stresspunk- ten wird deutlich wenn wir einen Stammbaum zeich- Wir haben keine öffentliche nen: Statistiken, wie sich die Probleme Eine geschiedene Frau bringt ein Kind in die zweite Ehe mit. Sie bekommt ein zweites, das erste ihres Man- in der Schweiz in Patchwork- nes. Nach deren Scheidung bringt sie zwei Kinder mit in ihre dritte Ehe oder Partnerschaft. Er bringt sechs Familien präsentieren. Kinder mit in seine dritte Ehe. Der zweite Mann oder Partner der geschiedenen Frau heiratet zum zweiten Mal, bringt zwei Kinder mit, seine Frau bringt zwei und zusammen bekommen sie noch eins. Wenn wir 11 MAGNET Nr.5/2020
Thema Plötzlich alleinerziehend «Ob beim Kauf der SBB-Juniorkarten oder der Bu- Gespräche geführt. Ich wusste meist, wie er in ver- chung von Ferienunterkünften für meine vier Kinder schiedenen Situationen reagiert hätte, das hat mir ge- und mich – immer wieder werde ich nach Personalien holfen.» oder Unterschriften des Vaters gefragt. Manchmal Doch auf alles andere konnte sie sich nicht vorberei- sage ich einfach: Das geht nicht. Nicht immer mag ich ten. Die fehlende Liebe von P., das langwierige Proze- erklären, dass mein Mann P. gestorben ist.» dere, um eine Beistandschaft für die Kinder zu verhin- dern, Elternabende ohne Partner, Kindergeburtstage Das jüngste Kind war noch nicht zwei Jahre alt, das äl- ohne Papa, Ferien mit vier Kindern. Dazu die vielen teste in der zweiten Klasse, als der Mann von R. für organisatorischen Herausforderungen um die Kinder einen harmlosen Eingriff ins Spital musste. Dabei betreut zu wissen, wenn sie arbeitet, Sitzungen oder wurde eine Krebserkrankung entdeckt. Nach einer be- Arzttermine hat. Ohne Unterstützung ihrer Familie, lastenden Zeit mit Operationen und Chemotherapien des Freundeskreises und guter Nachbarn würde es mit schlimmen Nebenwirkungen wurde klar, dass die nicht gehen. Sie sind auch da, wenn R. hin und wieder Krankheit nicht geheilt werden konnte. Darauf ent- etwas Zeit für sich braucht. schied sich der Familienvater, nur noch die absolut nö- tigen medizinischen Behandlungen in Anspruch zu «Es gibt immer wieder Zeiten, in denen der Papa nehmen. Während der damals 42-jährige schrittweise fehlt» loslassen musste, lastete immer mehr Verantwortung Inzwischen sind bald sechs Jahre seit dem Tod von P. auf seiner Frau. Mit grosser Offenheit und Liebe berei- vergangen. Im Laufe der Zeit hat sich eine gewisse Nor- tete sich die Familie auf den Abschied vor. Gleichzeitig malität eingespielt. Aus den älteren Kindern wurde bewahrten die Eltern ihren Kindern einen Alltag, in Jugendliche mit all ihren pubertären Phasen und Ablö- welchem neben der Traurigkeit auch Lachen, Musik sungsprozessen, denen sich die vierfache Mutter allein und Fröhlichkeit Platz hatten. P. konnte daheimbleiben stellen muss. Die Kinder sind durch die Familiensitua- – mitten in seiner Familie – gepflegt von seiner Frau tion selbständig und reif geworden, übernehmen Ver- und umgeben von Kindern, Tieren und Lebendigkeit. antwortung und zeigen Empathie gegenüber anderen. Am 37. Geburtstag der jungen Mutter ist er gestorben. Doch immer wieder gibt es Zeiten, in denen sie den Vater schmerzlich vermissen oder R. von tiefer Trauer «Und plötzlich war ich alleinerziehend, ohne dass erfasst wird. ich etwas dagegen hätte tun können» Das Bild Nach fast drei Jahren zwischen Angst und Hoffnung, «Ich musste die Liebe neu definieren» stammt von P. Hilflosigkeit, Überlastung und Trauer musste das Leben Was R. sich lange nicht vorstellen konnte, ist vor eini- Hinter diesen ohne Mann und Papa weitergehen. Die Kinder sollten ger Zeit eingetreten. Es gibt wieder einen Mann in ih- Fenstern verbrachte er eine möglichst normale Kindheit haben. rem Leben. Für die Kinder ist es eine Herausforderung, seine letzten «In der ersten Zeit schien es mir, als würde P. mich dass zusätzlich zu ihrer seit dem Tod des Papas fünfköp- Tage. bei Entscheidungen bezüglich der Kinder unterstützen. figen Familie nun manchmal noch drei Buben mit ih- Bild: zVg. Wir hatten während der Zeit seiner Krankheit so viele rem Vater anwesend sind. Zeitweise eines von sieben Kindern zu sein und den eigenen Platz darin zu finden, fällt ihnen nicht immer leicht. Ein Vorteil ist, dass der Partner ihrer Mama ein Freund ihres Vaters gewesen war und zusammen mit seinen Buben schon immer zum Freundeskreis der Familie gehört hatte. Er teilt mit den Kindern viele Erinnerungen und unterstützt sie, übernimmt jedoch keine Vaterrolle. Mittlerweile entwickelte sich eine liebevolle Beziehung voller Wert- schätzung und Geborgenheit, die auch für die Kinder bereichernd ist. «Ich habe nicht geglaubt, dass es möglich ist für P. noch so viel Liebe zu empfinden und mich trotzdem in einen neuen Mann verlieben zu können. Es war nicht leicht. Nach allem was hinter mir liegt, musste ich die Liebe für mich neu definieren. Das ist manchmal schwierig und gleichzeitig wunderschön.» Judith Husistein MAGNET Nr.5/2020 12
Thema Als Single in der Gemeinschaft Und überhaupt: Wie lebt es sich in einer Communität? In Psalm 133 heisst es: «Siehe, wie fein und lieblich ist›s, wenn Brüder (und Schwestern) einträchtig beieinander wohnen!» Offensichtlich ist das nicht selbstverständlich. Wie ist das bei euch? Wie geht ihr mit den Spannungen des Zusammenlebens um? Das lässt sich ja nicht ver- meiden. Das Leben in Gemeinschaft ist sicher nicht die ein- fachste Lebensform. Es gibt viele Sachen zu regeln, wenn man gemeinsam unterwegs ist. Es sind Dinge des Alltages, aber auch Fragen der Entwicklung der Ge- meinschaft. Zusammen das Leben zu gestalten braucht recht viel Zeit. Das hatte ich am Anfang unterschätzt. Das Zusammenleben muss gepflegt werden und regel- mässige gemeinsame Zeiten sind wichtig. Es braucht Gespräche, Austausch und Absprachen. Dabei geht es nicht nur um die Arbeitsbereiche. Wichtig ist auch, dass wir geistlich zusammen unterwegs sind und dafür uns auch Zeit nehmen. Urs Trösch – Urs, Du lebst in einer reformierten Kommunität. War Single mit das für Dich schon immer eine Option? Ihr teilt Geld und Leben miteinander. Wie habt ihr es Gemeinschaft. Die Form des gemeinschaftlichen Lebens habe ich mit der Liebe? Bild: sy während einer Auszeit vor 15 Jahren kennen gelernt. Teilen ist quasi der Leitfaden in unserer Gemein- Diese Zeit habe ich in der Communität Don Camillo schaft. Wir planen gemeinsam unsere Einnahmen und verbracht. Das Leben in dieser Kommunität hat mich Ausgaben. Jede und jeder ist aufgefordert, sich daran zu damals angesprochen und nicht mehr losgelassen. beteiligen. Wir teilen aber auch Zeit miteinander. Dies Als wir uns kennen gelernt haben, hast du als «Ex- in unserem Glaubensleben, den täglichen Begegnun- terner» im Stadtkloster in Berlin gearbeitet und das gen und den regelmässig stattfindenden Treffen der Projekt mit aufgebaut. Inzwischen bist Du Mitglied bei Gesamtgemeinschaft. Unsere Arbeit mit den Gäste- den Don Camillos. Was hat Dich bewogen, der Ge- und Tagungshäusern bestreiten wir ebenfalls gemein- meinschaft beizutreten? sam. Bei all dem erleben wir auch sehr unterschied- 2007 begann ich meine Arbeit bei Don Camillo im liche Wahrnehmungen. Den einen fällt das Teilen der Stadtkloster zuerst als Mitarbeiter. Bereits in dieser Finanzen einfach, den andern schwerer. Das gleiche Zeit konnte ich viel vom gemeinsamen Leben miterle- gilt auch bei den übrigen Bereichen. Um dies abzufe- ben. Mit der Zeit wuchs dann bei mir der Wunsch, dern ist es uns wichtig, darüber im Austausch zu blei- auch in eine Verbindlichkeit gegenüber der Gemein- ben. schaft einzutreten und ihr beizutreten. Welche Rolle spielt der Glaube bei eurem Zusammenle- Was macht die Communität Don Camillo aus? ben? Die Communität Con Camillo ist sehr vielseitig. Es Der Glaube an Christus ist für uns der zentrale gibt verschiedene Standort. Das Stadtkloster Segen in Punkt. Das ist es, was uns schlussendlich zusammen- Berlin ist einer davon. In der Gemeinschaft leben Fa- hält. Wir versuchen dem auch viel Raum zu geben. Im milien, Eherpaare und Single. Wir kommen aus ver- regelmässigen gemeinsamen Gebet, den Gottesdiens- schiedenen Umfeldern, Orten und Altersklassen. Diese ten, Kleingruppen und Einkehrtagen. Vielseitigkeit in einer Gemeinschaft zusammen zu Interview: Lars Syring bringen ist spannend, aber auch herausfordernd. Wie lebt es sich da als Single bei Don Camillo? Familien und Singles haben andere Bedürfnisse und Urs Trösch ist 53 Jahre alt. Aufgewachsen im Berner Oberland. sind mit anderen Schwerpunkten im Leben unterwegs. Er arbeitete bis 2007 in Reisezentren der BLS. Seit 2007 lebt und Das sind Unterschiede die es zu besprechen und gegen- arbeitet er in Berlin im Stadtkloster Segen, das zur Schweizer seitig zu akzeptieren gibt. Bei vielen Sachen können Communität Don Camillo gehört. wir uns aber auch gut ergänzen. Für Interessierte: www.stadtklostersegen.de 13 MAGNET Nr.5/2020
Erinnerung Bonhoeffer und ich «Von guten Mächten wunderbar geborgen» – dieses Den Verlobten blieb nichts anderes Gedicht war meine erste Begegnung mit Dietrich übrig, als sich fortan Briefe zu schrei- Bonhoeffer. Unser Pfarrer erzählte uns im Konfirma- ben. Dieser Briefwechsel zeugt von tionsunterricht von ihm. Er sei ein Pfarrer gewesen, einer langsamen Annäherung, grosser der sich im Widerstand gegen Hitler engagiert hat Liebe, immer wieder enttäuschter und dafür hingerichtet wurde. Ich war beeindruckt. Hoffnung auf seine baldige Freilassung, und mehr und mehr auch von Span- Es war nicht nur die schöne und – zugegeben – leicht nungen. Die junge Maria fühlte sich gefühlsduselige Melodie mit der Siegfried Fietz das Ge- von dem klaren und wohl auch etwas dicht vertont hatte, die mich in Geborgenheit wog. Mir dominanten Mann eingeengt. Bon- imponierte auch das Vertrauen, das ich in diesem Ge- hoeffer schmachtete in der Zelle: dicht entdeckt habe. «Und reichst du uns den schwe- «Eben läutet es zum Schlafengehen … ren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den Gedanken habe ich heute nicht mehr höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zit- viel, aber das Herz ist voll grosser tern aus Deiner guten und geliebten Hand.» Das war Liebe, das ist auch ohne viele Gedan- schon was. Da wollte ich auch hinkommen. Das war ken immer da und immer bei Dir. Leb’ radikal. Wer so dichten kann, dem kann nichts mehr wohl, meine liebste Maria. Sei weiter passieren, dachte ich. Dieses Gedicht, 1944 als Weih- fröhlich, geduldig und tapfer und ver- nachtsgruss! für seine Verlobte Maria von Wedemeyer giss mich nicht, wie ich Dich nicht und die Familie geschrieben, begleitet mich bis heute. vergesse, vom Morgen bis zum Abend Ich versuche es mit meinem Leben nachzubuchstabie- und in der Nacht, wenn ich aufwa- ren. che.» Der politische Aktivist Der Pazifist Auf der anderen Seite beeindruckte mich der politische Später dann, als ich mich mit dem Aktivist. Bonhoeffer war kein Schön-Wetter-Christ. Er Kriegsdienst auseinandergesetzt habe, scheute sich nicht, dahin zu gehen, wo es weh tat. begegnete mir Bonhoeffer als Pazifist. Schon im April 1933, keine drei Monate nach der Auf der Fanö-Konferenz hat er 1934 gefordert, dass die Dietrich Machtergreifung Hitlers, forderte er seine Kirche auf, Kirche Christi «ihren Söhnen im Namen Christi die Bonhoeffer. Er wurde am wenn der Staat versagt, «nicht nur die Opfer unter dem Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg ver- 9. April 1945 Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Spei- bietet und den Frieden ausruft über die rasende Welt». von den Nazis chen zu fallen». Damit begann seine Arbeit im Wider- Dazu liefert er eine interessante Begründung, die sich hingerichtet. stand, zunächst im kirchlichen Bereich. Nachdem der nicht nur auf die Bergpredigt (Mt 5–7) bezieht, son- Bilder: sy Arier-Paragraph in der Kirche eingeführt worden war, dern auch auf Paulus’ Bild vom Leib Christi. Wenn ein gründeten einige Berliner Pfarrer, unter ihnen Martin Christ im Krieg die Waffe auf einen anderen Christen Niemöller und Bonhoeffer zunächst den Pfarrernot- aus einem anderen Land richtet, dann richtet er die bund, einen Vorläufer der Bekennenden Kirche. Bon- Waffe letztlich auf Christus selbst. Auch der fremde hoeffer organisierte für die Bekennende Kirche die il- Christ gehört zu seinem Leib. Bonhoeffer fragt stattdes- legale Pfarrerausbildung. sen: Wer wüsste, «was es für die Welt bedeuten könnte, Es dauerte dann noch sieben Jahre, bis sich Bonhoef- wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand – be- fer entschloss, aktiv auch im politischen Widerstand zu tend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der arbeiten. Er gehörte zu einer Verschwörergruppe rund allein guten Wehr und Waffen den Angreifer emp- um General Wilhelm Canaris, der die Abwehr, den mi- finge»? Die Antwort steht noch immer aus. litärischen Geheimdienst der Wehrmacht, leitete. Soeben ist ein Brief Bonhoeffers entdeckt worden, den Der Verliebte er 1934 Mahatma Gandhi geschrieben hatte. Bonhoef- Als ich mich dann zum ersten Mal richtig verliebt hatte, fer wollte Gandhi besuchen und von ihm nicht nur die fielen mir Bonhoeffers Brautbriefe in die Finger. Bon- Methoden des gewaltlosen Widerstands lernen, son- hoeffer hatte sich im Januar 1943 mit der 18-jährigen dern auch eintauchen in seine gelebte Spiritualität. Maria von Wedemeyer, der Schwester eines ehemali- Bonhoeffer rang mit dem «Wirklichwerden des Glau- gen Konfirmanden, verlobt. Bonhoeffer selbst war da- bens» und hoffte im Osten neue Impulse für die tote mals 36 Jahre alt. Die Verlobten hatten nur wenig Zeit Kirche im Westen zu finden. Obwohl Gandhi Bonhoef- miteinander. Im April wurde Bonhoeffer verhaftet. fer einlud, kam es dann doch nicht zu dieser Reise. MAGNET Nr.5/2020 14
Erinnerung wissen wir auch, daß diese billige Gnade in höchstem Maße unbarmherzig gegen uns gewesen ist? Ist der Preis, den wir heute mit dem Zusammenbruch der or- ganisierten Kirchen zu zahlen haben, etwas anderes als eine notwendige Folge der zu billig erworbenen Gnade? Man gab die Verkündigung und die Sakramente billig, man taufte, man konfirmierte, man absolvierte ein gan- zes Volk, ungefragt und bedingungslos, man gab das Heiligtum aus menschlicher Liebe den Spöttern und Ungläubigen, man spendete Gnadenströme ohne Ende, aber der Ruf in die strenge Nachfolge Christi wurde seltener gehört. Wo blieben die Erkenntnisse der alten Kirche, die im Taufkatechumenat so sorgsam über die Grenze zwischen Kirche und Welt, über der teuren Gnade wachte?» Bonhoeffer und sein Freund Bethge; letzterer wurde Ende April 1945 freigelas- Jahre später blickt er selbstkritisch auf diese Zeit zu- sen. Er begann mit der Veröffentlichung der Schriften Bonhoeffers. rück und meint, er habe das Vorletzte zum Letzten ge- macht. Eine Methode (wie hier die Praxis der Bergpre- Der existenzielle Bergprediger digt) sei immer nur der Weg vom Vorletzten zum Letz- Während meines Studiums beein- ten. Wegbereitung hingegen ist der Weg vom Letzten druckte mich, wie nahe Bonhoeffers zum Vorletzten, von Christus auf den Menschen zu. Denken dem von Albert Camus ist. «Christliches Leben ist der Anbruch des Letzten in mir, Während Camus versuchte, eine Le- das Leben Jesu Christi in mir.» Das Vorletzte sei kein bensphilosophie ohne die Arbeitshy- Selbstzweck! pothese Gott auf die Beine zu stellen, dachte Bonhoeffer über ein religions- Der Gefangene loses Christentum in voller Diesseitig- Im Vikariat habe ich dann zum ersten Mal wirklich keit nach. «Einen Gott, den es gibt, «Widerstand und Ergebung» gelesen. Dieses wunder- gibt es nicht», ist einer von Bonhoef- bare Buch beinhaltet den Briefwechsel, den Bonhoeffer fers Spitzensätzen. Stattdessen kann nach seiner Verhaftung aus der Zelle herausgeführt hat. ein Mensch nur dann Christ sein, Neben den Briefen an die Familie ist dort vor allem der Maria von wenn «Gott ihm nicht als Du gegenübertritt, sondern geschmuggelte Briefwechsel mit seinem Freund Eber- Wedemeyer, als Ich in ihn eingeht». Erst in dieser Beziehung, in der hard Bethge interessant. In der Zelle, so scheint es, die 18 Jahre Gleichgestaltung, ereignet sich Gott. Beide, Camus bricht für Bonhoeffer noch einmal eine neue Phase des jüngere Verlobte von und Bonhoeffer, sträuben sich gegen abstraktes verob- theologischen Nachdenkens an. Wie ein Mönch in sei- Bonhoeffer. jektivierendes Reden. Was sie interessiert, ist die ver- ner Zelle nähert er sich Gott noch einmal anders. antwortliche Tat des konkreten Menschen in der kon- «Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns kreten Situation. Bonhoeffer: «Eine Erkenntnis kann gerade gibt.» Es geht darum, mit Gott Schritt zu halten nicht getrennt werden von der Existenz, in der sie ge- und ihm nicht immer schon einige Schritte voraus zu wonnen ist.» eilen, allerdings auch nicht hinter ihm zurück zu blei- In diesem Zusammenhang begegnete mir Bonhoef- ben. Bonhoeffer ringt in den intensiven Briefen, die fers Unterscheidung zwischen billiger und teurer immer wieder durch Bombenalarme unterbrochen Gnade. «In dieser Kirche findet die Welt billige Bede- werden, um eine neue Sprache (siehe Kästchen). Wie ckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von de- kann das, was heute wichtig ist, so gesagt werden, dass nen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. Billige es der mündig gewordene Mensch versteht? Wo liegt Gnade heisst Rechtfertigung der Sünde und nicht des die Grenze zwischen dem notwendigen Widerstand Sünders.» Bonhoeffer wollte den ganzen Menschen, gegen das ‹Schicksal› und der ebenso notwendigen Er- der sich Gott unterstellt. Keine kleinen Trostpflaster gebung? Er folgert: «Die Grenzen sind also prinzipiell für die Seele, sondern die Umkehr des ganzen Men- nicht zu bestimmen; aber es muss beides da sein und schen. «Teuer ist sie [die Gnade], weil sie in die Nach- beides mit Entschlossenheit ergriffen werden.» folge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu So formuliert er ein Glaubensbekenntnis: «Ich Christi ruft; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er erst schenkt.» Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen las- Mit dieser Grundunterscheidung beginnt Bonhoef- sen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel fer seine radikale Auslegung der Bergpredigt Jesu. Da- Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber bei kommt er auch zu kräftiger Kirchenkritik: «Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns 15 MAGNET Nr.5/2020
Erinnerung Bonhoeffers auch noch einmal das letzte Kapitel seiner «Nachfolge» Haftzelle Nr. 92 in der mit anderen Augen. Dort beschreibt Bonhoeffer die Justizvoll- Einwohnung Christi im Herzen eines Menschen: «Wer zugsanstalt Christus schaut, der wird in sein Bild hineingezogen, Tegel seiner Gestalt gleichgemacht, ja er wird zum Spiegel in Berlin. des göttlichen Bildes. Schon auf dieser Erde wird sich in uns die Herrlichkeit Jesu Christi widerspiegeln.» Diese Umgestaltung ist die Einwohnung, in der Chris- tus im Leben seiner NachfolgerInnen weiterlebt. «Der Menschgewordene, der Gekreuzigte, der Verklärte ist in mich eingegangen und lebt mein Leben.» Vor 75 Jahren, am 9. April 1945, wurde Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg hinge- richtet. Er wurde 39 Jahre alt. Payne Best, einer seiner Mitgefangenen, überlieferte seine letzten Worte: «Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.» Lars Syring Das Warten auf eine neue Sprache Dietrich Bonhoeffer schreibt schon 1944: «Was mich unabläs- sig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch, wer selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwun- den Menschen durch Worte – seien es theologische oder den sein.» fromme Worte – sagen konnte, ist vorüber … Wir gehen einer Viele seiner Gedanken aus dieser Zeit bleiben Frag- völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können ein- mente. Fragmente, die Generationen nach ihm immer fach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein … noch äusserst anregend sind. Wie sprechen … wir ‹weltlich› von ‹Gott›, wie sind wir ‹reli- gionslos-weltlich› Christen?» Der Mystiker Als aus meiner Frau und mir ein kleine Familie wurde, Im Brief an sein Patenkind formuliert er: «Du wirst heute zum interessierten mich Bonhoeffers Erfahrungen aus den Christen getauft. Alle die alten großen Worte der christlichen Predigerseminaren. Dort hat er eine evangelische Form Verkündigung werden über Dir ausgesprochen und der Taufbe- des gemeinschaftlichen, kommunitären Lebens aufge- fehl Jesu Christi wird an Dir vollzogen, ohne daß Du etwas da- baut. In dem Buch «Gemeinsames Leben» legt er Re- von begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die chenschaft ab. Mich faszinierte die Möglichkeit eines Anfänge des Verstehens zurückgeworfen.» Was die grossen verbindlichen christlichen Lebens in der Gemeinschaft. Worte der Tradition meinen, «was Leben in Christus und Nach- Zeit und Geld miteinander teilen, den Glauben vertie- folge Christi heißt, das alles ist so schwer und so fern, daß wir fen, Tagzeitengebete feiern. Vieles, was ich von Bon- es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten hoeffers Erfahrungen mit dem Bruderhaus gelernt Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Um- habe, trägt mich nun durch die Corona-Zeit. Die Tag- wälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können … zeitengebete strukturieren jetzt auch unseren Tag. Wir Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und ver- feiern Kirche zu Hause. Versammeln uns um unseren stummen … Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen Esstisch, singen Lieder und beten die Psalmen. Und – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen be- immer wieder begegnet uns dort auch Bonhoeffers mo- rufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die derner Psalm: Von guten Mächten wunderbar gebor- Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Spra- gen. che sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlö- Im Rahmen meiner Ausbildung zum Spiritual an der send, wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie Uni Zürich habe ich dann – wie kann es anders sein – entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden, die meine Abschlussarbeit über Dietrich Bonhoeffer ge- Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, schrieben. Nach dem erneuten Lesen seiner Bücher die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen sei- verdichtete sich bei mir der Eindruck, dass Bonhoeffer, nes Reiches verkündigt … Bis dahin wird die Sache der Chris- auch wenn er selbst das abgestritten hätte, tiefe mysti- ten eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen sche Erfahrungen gemacht haben muss. Sowohl in sei- geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit ner Zeit in Amerika Anfang der 30er-Jahre. Als auch warten.» später in seiner Gefängniszelle. Und so las ich dann MAGNET Nr.5/2020 16
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