FÜR EINE ENTSCHLOSSENE UMWELT POLITIK IN DEUTSCHLAND UND EUROPA - KURZFASSUNG | MAI 2020 - SACHVERSTÄNDIGENRAT FÜR ...
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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............................................................. 3 Pariser Klimaziele erreichen mit dem CO2-Budget .................................................... 4 Kreislaufwirtschaft: Von der Rhetorik zur Praxis ...................................................... 6 Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen ................ 9 Weniger Verkehrslärm für mehr Gesundheit und Lebensqualität ............................... 13 Aktive und umweltfreundliche Stadtmobilität: Wandel ermöglichen .......................... 14 Das Quartier: Raum für mehr Umwelt- und Klimaschutz ........................................... 17 Zukunft der europäischen Umweltpolitik .. . .............................................................. 19 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............................................................. 21
Einleitung Kurzfassung Einleitung Die Appelle der Wissenschaft, die natürlichen Lebens- Mit dem vorliegenden Umweltgutachten greift der SRU grundlagen besser zu schützen und zu bewahren, dro- umweltpolitische Themenfelder auf, in denen zum einen hen zu einem bedrückenden Ritual zu werden. Es man- großer Handlungsbedarf besteht und die zum anderen gelt nicht mehr an Erkenntnissen über die dramatischen vielversprechende Möglichkeiten zum Umsteuern bie- Folgen aktueller und drohender Umweltveränderungen. ten: Klimapolitik, Kreislaufwirtschaft, Gewässerschutz, Auch die Technologien für eine Wende hin zu zukunfts- Lärmschutz, städtische Mobilität und nachhaltige Quar- fähigem Wirtschaften, nachhaltiger Mobilität oder um- tiersentwicklung. Vor dem Hintergrund der deutschen weltverträglicher Energieerzeugung sind vorhanden. Da EU-Ratspräsidentschaft analysiert das Gutachten zudem sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den ökologi- anstehende Weichenstellungen in Europa. schen Herausforderungen aber viel zu zögerlich stellen, wächst die Kluft zwischen dem Erreichten und dem Not- wendigen. Nationale und internationale Studien zeigen, dass Innovationen und Effizienzsteigerungen zwar wich- tig sind, aber nicht mehr ausreichen. Auch unsere Wirt- schafts- und Lebensweisen müssen sich verändern, um ökologische Grenzen einzuhalten. 3
Kurzfassung Pariser Klimaziele erreichen sehr gut begründete 1,5°-Ziel nochmals einem deutlich geringeren globalen CO2-Budget entspricht. Dabei ist die mit dem CO2-Budget jeweilige Größe des Budgets auch von einigen methodi- schen Fragen abhängig, insbesondere der Wahl der Be- Die deutsche Klimapolitik steht vor großen Herausfor- zugsperiode, der Einbeziehung weiterer Faktoren im Erd- derungen. Trotz der erzielten Fortschritte ist sie in drei- system mit Einfluss auf die Temperaturentwicklung und erlei Hinsicht derzeit noch unzureichend: Erstens fehlt von der gewählten Rechenmethode. es an Transparenz darüber, welches Gesamtbudget an Treibhausgasen der deutschen Klimapolitik zugrunde Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das naturwissen- liegt. Zweitens besteht ein Ambitionsdefizit, das heißt schaftlich berechnete globale Budget auf einzelne Län- die nationalen Ziele stellen noch keinen ausreichenden der zu verteilen. Je nachdem, ob Faktoren wie die Wirt- Beitrag zum globalen Klimaschutz dar. Drittens gibt es schaftskraft eines Landes, sein Bevölkerungsanteil oder ein Umsetzungsdefizit, da die Klimaziele wiederholt seine historisch bereits angefallenen Emissionen berück- nicht erreicht wurden. sichtigt werden, ergeben sich unterschiedlich große na- tionale Budgets. Das Klimaabkommen von Paris ist ein Das Pariser Klimaabkommen sieht völkerrechtlich ver- internationales Abkommen, das eine von allen Staaten bindlich vor, dass die Erderwärmung im Vergleich zum akzeptierte Interpretation erfordert, um die globalen vorindustriellen Niveau auf deutlich unter 2 °C limitiert Ziele zu erreichen. Aus internationaler Perspektive über- wird und Anstrengungen unternommen werden, diese zeugt eine Aufteilung rein nach Bevölkerungszahl. Dies auf 1,5 °C zu begrenzen. Nur wenn das gelingt, können bedeutet aber auch, dass das Pro-Kopf-Budget für Staa- elementar gefährdende Auswirkungen für Mensch und ten mit hohen historischen Emissionen eine Obergren- Umwelt, für Ökosysteme, Infrastrukturen und die Wirt- ze darstellt, die möglichst unterschritten werden sollte. schaft eingedämmt oder im besten Fall verhindert wer- Länder mit hoher technologischer und wirtschaftlicher den. Alle Vertragsstaaten des Abkommens haben sich Leistungsfähigkeit wie Deutschland sollten sich zu dar- verpflichtet, ihre nationalen Treibhausgasemissionen im über hinausgehenden Anstrengungen verpflichten. Einklang mit diesem Ziel kontinuierlich abzusenken und spätestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts kli- Legt man den deutschen Anteil an der Weltbevölkerung maneutral zu werden. Mit seiner Ratifizierung hat sich zugrunde und vernachlässigt die historischen Emissio- auch Deutschland völkerrechtlich bindend zu einem dem- nen, beträgt das ab 2020 verbleibende CO2-Budget für entsprechend wirksamen Klimaschutz verpflichtet. Deutschland maximal 6,7 Gigatonnen CO2. Es bezieht sich auf eine maximale Erderwärmung von 1,75 °C mit Um das Klimaabkommen von Paris zu erfüllen, müssen einer 67%igen Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung. die deutschen Klimaschutzziele insbesondere auch im Das deutsche anteilige Budget mit einer 50%igen Wahr- Einklang mit dem globalen Budget für das wichtigste scheinlichkeit, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begren- Treibhausgas CO2 sein. Das Konzept der CO2-Budgetie- zen, beträgt 4,2 Gigatonnen CO2 ab 2020. rung basiert auf klimaphysikalischen Zusammenhängen zwischen klimawirksamen Emissionen und Erderwär- Zwar führt das Bundes-Klimaschutzgesetz erstmals mung: Ein globales Budget beziffert die gesamten an Treibhausgasbudgets bis 2030 für die meisten Sektoren thropogenen CO2-Emissionen, die ab einem gegebenen ein. Dadurch wird ein höheres Maß an Transparenz und Zeitpunkt noch emittiert werden können, damit die da- Ressortverantwortung geschaffen. Die dort geregelten raus resultierende Erderwärmung einen bestimmten Klimaziele sind jedoch nicht wissenschaftlich hergelei- Wert nicht übersteigt. tet und basieren nicht auf einem entsprechenden Trans- formationspfad bis 2050. Damit wird ein Abgleich der Folgendes globale CO2-Budget hat der Weltklimarat er- politischen Vereinbarungen mit den tatsächlich notwen- rechnet: Damit der Temperaturanstieg (mit einer Wahr- digen Emissionsminderungen unmöglich. scheinlichkeit von 67 %) den Wert von 1,75 °C nicht übersteigt und damit deutlich unter 2 °C bleibt, dürfen Der SRU empfiehlt der Bundesregierung vor diesem Hin- weltweit ab dem Jahr 2018 nicht mehr als 800 Gigaton- tergrund, ein deutsches CO2-Budget zu benennen, das nen CO2 ausgestoßen werden. Dieser Wert stellt eine ab- mit dem Pariser Klimaabkommen vereinbar ist. Ein sol- solute Obergrenze dar, da das tatsächlich verfügbare Bud- ches Budget sollte weder die Treibhausgasbudgets des get aufgrund von Unsicherheiten in der Berechnung Bundes-Klimaschutzgesetzes noch die Emissionsreduk- kleiner sein könnte. Hinzu kommt, dass das ebenfalls tionsziele für bestimmte Jahre ersetzen. Anhand eines 4
Pariser Klimaziele erreichen mit dem CO2-Budget deutschen CO2-Budgets könnte man jedoch bewerten, Anhand dieses CO2-Budgets wird deutlich: Die bisheri- ob die gesetzten Ziele und geplanten Maßnahmen den gen deutschen Klima- und Sektorziele sind nicht ausrei- zur Einhaltung der Pariser Klimaziele notwendigen Bei- chend, um den notwendigen angemessenen Beitrag für trag leisten. Die Einführung eines CO2-Budgets als die Einhaltung der Pariser Klimaziele zu leisten. Die Grundlage und Steuerungsgröße der nationalen Klima- Emissionsmenge, die sich gemäß der aktuellen Klima- politik würde helfen, solche Zusammenhänge sichtbar schutzziele ergibt, ist nahezu doppelt so groß wie das zu machen, angemessene Ziele zu formulieren sowie Re- vom SRU berechnete Budget. Die deutschen Klima- duktionsfortschritte besser und transparenter bewerten schutzziele sollten im Einklang mit diesem CO2-Budget zu können. konkretisiert und entsprechend verschärft werden. Ein solches deutsches Budget setzt einen engen Rahmen: Für die Einhaltung des CO2-Budgets empfiehlt der SRU Lägen auch künftig in Deutschland die CO2-Emissionen die folgenden Eckpunkte: so hoch wie im Jahr 2019, wäre das maximale Budget be- reits 2029 aufgebraucht. Bei linearer Reduktion müsste ɦɦ Der Ausbau erneuerbarer Energien sollte so zügig Deutschland ab dem Jahre 2038 CO2-neutral wirtschaf- erfolgen, dass ein Ausstieg aus allen fossilen Ener ten, also nicht erst im Jahre 2050. gieträgern in Übereinstimmung mit dem Budget ɦɦAbbildung 1 Empfehlungen zur Einführung, Anwendung und Einhaltung des CO2-Budgets ECKPUNKTE ZUR KLIMAGOVERNANCE : EINHALTUNG DES BUDGETLOGIK C O 2- B U D G E T S UND UMSETZUNG Ausbau erneuerbarer Energien und Umsetzungslücken verhindern, Ausstieg aus fossilen Energieträgern Expertenrat ein Vorschlagsrecht für koordiniert angehen, Klimaschutzszenarien und proaktive heutige Technologie- und Evaluierung der Wirksamkeit von Infrastrukturinvestitionen am Paris- Maßnahmen einräumen Ziel der THG-Neutralität kompatibles ausrichten CO2-Budget zur Ambitionierte europäische Bewertungsgrundlage Klimaziele unterstützen, Am Atomausstieg festhalten, von Klimazielen und THG-Neutralität 2050 und Atomkraft nicht als -maßnahmen machen, Anhebung der 2030-Ziele Klimaschutzalternative zu Transparenz im Sinne des anstreben, deutsche erneuerbaren Energien Klimaabkommens erhöhen, Ratspräsidentschaft für ansehen Ambitionslücke offenlegen Klimaagenda nutzen und sukzessive schließen Zukünftige CCS- Deutsche Klimaziele Nutzung stark anheben, Jahres- Sektorale Treibhausgasreduktionen an begrenzen, nur für emissionsmengen Paris-kompatiblen CO2-Budgets ausrichten unvermeidbare im Klimaschutz- und volkswirtschaftlich optimieren Restemissionen gesetz an- vorsehen Expertenrat für Klimaschutz beauftragen, passen Paris-kompatibles nationales CO2-Budget vorzuschlagen, Expertise für europäische Zieldebatten nutzen C O 2- B U D G E T A L S M E S S G R Ö ß E F Ü R K L I M A S C H U T Z SRU 2020 5
Kurzfassung e rfolgen kann. Dies muss zusätzlich durch Maßnah- könnte eine Vorreiterrolle zurückgewinnen und die men begleitet werden, die den Energieverbrauch ver- technologischen und ökonomischen Möglichkeiten des ringern und die Energieeffizienz erhöhen. Holzbio- Übergangs demonstrieren. Wenn es nicht gelingt, einen masse sollte nur dann energetisch genutzt werden, ambitionierteren Klimaschutz umzusetzen, steigen nicht wenn ihre Nutzung nachweislich eine positive Klima- zuletzt auch die finanziellen Risiken für Steuerzahler und bilanz aufweist und die Produktion der Biomasse Bundeshaushalt: Verfehlt Deutschland seine europäi- nachhaltig erfolgt. Beides ist oft nicht der Fall, da Holz schen Klimaziele, muss das Land zwingend Emissions- ein flächenintensiver und ineffizienter Energieträger berechtigungen von anderen Mitgliedstaaten erwerben. ist, der bei Verbrennung CO2 emittiert. Für die Umsetzung des Bundes-Klimaschutzgesetzes ist ɦɦ Atomenergie ist weiterhin keine Alternative für den aus Sicht des SRU eine wirksame Klimagovernance ent- Klimaschutz. Sie ist unwirtschaftlich, birgt grundsätz- scheidend. Dazu braucht es wissenschaftliche Expertise, liche Risiken für Umwelt und Gesundheit und die End- die im durch das Bundes-Klimaschutzgesetz etablierten lagerung der Abfälle ist ungeklärt. Deutschland soll- Expertenrat für Klimaschutz gebündelt vorliegt. Dieser te am beschlossenen Atomausstieg bis 2022 festhalten. Expertenrat sollte gestärkt und seine Kompetenzen auf- gewertet werden. Bisher ist im Wesentlichen vorgesehen, ɦɦ Verfahren zur direkten Abscheidung bzw. Entnahme dass der Rat die Emissionsdaten und die den Maßnahmen von CO2 aus der Atmosphäre, die rechnerisch zu ei- zugrunde gelegten Annahmen zur Treibhausgasreduktion ner künstlichen Vergrößerung des Budgets führen und prüft. Nach Auffassung des SRU sollte er darüber hinaus daher in wichtigen Szenarien zugrunde gelegt wer- emissionsmindernde Maßnahmen vorschlagen, eigen den, sind derzeit im großen Maßstab technologisch ständig Gutachten verfassen und Dekarbonisierungs unsicher und belasten oftmals die Umwelt. Ihre po- szenarien entwickeln dürfen. In dieser Funktion könnte er tenzielle Anwendung sollte daher auf die Kompensa- dazu beitragen, dass die deutschen Klimaziele konsequent tion von absolut unvermeidbaren Restemissionen be- auf ihre Kompatibilität mit dem Pariser Klimaabkommen grenzt werden. Gleiches gilt für die Abscheidung von geprüft und überarbeitet werden. CO2 bei Industrieprozessen. Auf die CO2-Abschei- dung in fossilen Kraftwerken sollte hingegen zuguns- Die Europäische Kommission hat mit dem European Green ten von erneuerbaren Energien gänzlich verzichtet Deal vor kurzem vorgeschlagen, die Treibhausgasneutra- werden. lität der EU bis 2050 anzustreben und das Klimaziel für 2030 zu überarbeiten. Sie erkennt damit an, dass die bis- herigen europäischen Programme nicht ehrgeizig genug Deutschland sollte seine Emissionen kurzfristig deutlich sind. 2020 wird für den europäischen Klimaschutz ein senken, um Zeit für aufwendigere Klimaschutzmaßnah- wichtiges Jahr, weil die EU ihre neue Strategie konkre men zu gewinnen und insgesamt das mit dem Pariser Ab- tisieren und mit Leben füllen muss. Die Bundesregierung kommen kompatible CO2-Budget einzuhalten. Rasche sollte sich auf europäischer Ebene für mehr Klimaschutz Reduktionen in den kommenden Jahren bedeuten mehr stark machen. Während der deutschen EU-Ratspräsident- Spielraum im nachfolgenden Jahrzehnt. schaft im 2. Halbjahr 2020 hat sie die Chance, mit dem Pariser Klimaabkommen nachvollziehbar kompatible Klima Ambitionierter Klimaschutz ist eine Chance für Deutsch- ziele und den Budgetgedanken auch auf europäischer land. Er öffnet Wege für eine wirtschaftliche, technolo- Ebene in der Langfriststrategie bis 2050 zu verankern. gische und gesellschaftliche Erneuerung. Als ein führen- des Industrieland mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt, aber auch hohen Emissionen in Vergangenheit und Ge- Kreislaufwirtschaft: genwart, sollte Deutschland einen angemessenen Bei- trag leisten. Die vorgeschlagene Budgetrechnung steckt Von der Rhetorik zur Praxis die Obergrenze eines naturwissenschaftlich, völkerrecht- lich und unter dem Blickwinkel der globalen Verteilungs- Deutschland verbraucht nach wie vor zu viele Rohstoffe gerechtigkeit vertretbaren nationalen Budgets ab. Es gibt und hält diese zu wenig im Wirtschaftskreislauf. Der „ma- zahlreiche Gründe, warum es für Deutschland angemes- terielle Rucksack“, das heißt die Summe aller Rohstoff- sen wäre, sich zu einem noch deutlich ambitionierteren aufwendungen, die zur Herstellung der genutzten Pro- CO2-Budget zu bekennen. Staaten mit geringerer Trans- dukte und Güter benötigt wird, wog im Jahr 2015 pro formationskapazität gewännen Spielraum. Deutschland Kopf 22,6 Tonnen. Damit war er fast doppelt so hoch 6
Kreislaufwirtschaft: Von der Rhetorik zur Praxis ɦɦAbbildung 2 Erweiterung der Abfallhierarchie zu einer Kreislaufwirtschaftshierarchie Verringerung der Stoffströme Produkte kreislaufwirtschaftsfähig gestalten Vermeidung Vorbereitung zur Wiederverwendung Hochwertiges Recycling und Schadstoffausschleusung Hochwertige sonstige Verwertung Beseiti- gung SRU 2020 wie der weltweite Durchschnitt von circa 12 Tonnen. Ein Kreislaufwirtschaft ist auf den ersten Blick für Deutsch- hoher Materialverbrauch hat negative Umweltwirkun- land nichts Neues. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz von gen entlang des gesamten Lebenszyklus der daraus her- 2012 nimmt den Begriff als „Vermeidung und Verwertung gestellten Produkte und Güter zur Folge: Bereits die Roh- von Abfällen“ auf. In der Praxis hat sich eine „kreislauf stoffgewinnung führt zu sozialen, ökologischen und ge- orientierte Abfallwirtschaft“ etabliert mit einem starken sundheitlichen Problemen, da in vielen Förderländern Fokus auf ein ökonomisch ausgerichtetes Recycling sowie anspruchsvolle Umwelt- und Sozialstandards fehlen. Die eine sichere sonstige Verwertung und Beseitigung. Dabei Verarbeitung von Rohstoffen ist für bis zu 30 % der glo- wird insbesondere die letzte Lebensphase eines Produk- balen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Auch die tes berücksichtigt, nicht aber der gesamte Lebenszyklus Nutzung der hergestellten Produkte verbraucht häufig von Produkten und die Verringerung der materiellen Stoff- Energie und kann außerdem zu unerwünschten Stoff ströme. Das ist aber zu kurz gedacht, denn Abfallverwer- einträgen in die Umwelt führen. Nach Gebrauch müssen tung und die nachfolgende Substitution von Primärroh- Produkte als Abfall verwertet oder beseitigt werden. stoffen durch Sekundärrohstoffe tragen nur wenig dazu Dies erzeugt erneut Emissionen, erfordert Energie und bei, die Rohstoffnutzung insgesamt und die dadurch ver- Deponiefläche und unter Umständen weitere Rohstoffe. ursachten Umweltwirkungen zu verringern. Ein „Weiter so“ ist aus Sicht des SRU nicht vertretbar. Das zeigt sich beispielsweise am Stoffstrom Kunststoff: Zukunftsfähig ist nur eine umfassende Kreislaufwirt- Der Einsatz von Kunststoffen steigt in Deutschland kon- schaft, die die Nutzung von Rohstoffen insgesamt ver- tinuierlich. Bei Verpackungen hat er sich zwischen 1991 ringert und Material so lange wie möglich im Wirtschafts- und 2017 fast verdoppelt. Im Jahr 2017 wurden 6,2 Mio. kreislauf hält. Um das zu erreichen, müssen Politik und Tonnen Kunststoffe als Abfälle erfasst. Nur ein kleiner Gesellschaft den großen Potenzialen von Vermeidung Prozentsatz dieser Menge gelangt tatsächlich als Sekun- und den stofflichen Kreisläufen deutlich mehr Aufmerk- därrohstoff wieder zurück in die Fertigung hochwertiger samkeit und Gewicht beimessen. Kunststoffprodukte. 7
Kurzfassung Bestehende Instrumente der Abfall- und Kreislaufwirt- Nachhaltigkeitsstrategie um einen Konsumindikator schaft in Deutschland waren aus Sicht des SRU bislang (RMC) erweitert und nach Rohstoffarten differen- nicht in der Lage, eine echte Kreislaufwirtschaft zu eta- ziert werden. blieren. Qualität und Quantität der Sekundärrohstoffe müssten deutlich gesteigert werden, um Primärrohstof- ɦɦ Primärrohstoffe müssen einen „ehrlichen Preis“ er- fe in spürbarem Ausmaß substituieren zu können. Es feh- halten, der die externen Umweltkosten internalisiert. len zudem klare Anreize zur Abfallvermeidung. Obwohl Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, Abfallvermeidung in der europäischen Abfallhierarchie dass in den rohstofffördernden Ländern Sozial- und das Ziel mit der höchsten Priorität ist, findet sie in Umweltstandards umgesetzt werden, die sich entspre- Deutschland nicht oder nur marginal statt. Zudem wurde chend im Preis widerspiegeln. Ein weiterer Schritt die Herstellerverantwortung bislang nicht so verankert, sind ökonomische Instrumente wie eine CO2-Beprei- dass sie ausreichend zu einer Kreislaufwirtschaft bei- sung oder eine Rohstoffsteuer. trägt. ɦɦ Maßnahmen der Kreislaufwirtschaft sollten stärker Die EU geht in ihrem „Aktionsplan für die Kreislaufwirt- ökologisch und nicht in erster Linie wirtschaftlich aus- schaft“ von 2015 deutlich weiter als die deutsche Gesetz- gerichtet sein. Diese Zielausrichtung sollte program- gebung: Sie fordert eine „stärker kreislauforientierte matisch verankert und mit Instrumenten, die die öko- Wirtschaft, bei der es darum geht, den Wert von Produk- logische Effektivität von Maßnahmen bewerten, ten, Stoffen und Ressourcen so lange wie möglich zu er- flankiert werden. halten und möglichst wenig Abfall zu erzeugen“. Die EU bezieht in ihre Programme ausdrücklich die Produktions- ɦɦ Die Abfallvermeidung muss gestärkt und die Nut- und Konsumphase mit ein. Das ist aus Sicht des SRU der zungsdauer von Produkten verlängert werden. Die richtige Ansatz. Allerdings fehlt auch auf europäischer Bundesregierung sollte sich auf EU-Ebene dafür Ebene bisher eine konsequente Produktpolitik mit ent- einsetzen, dass die Ökodesign-Richtlinie auf weitere sprechenden Instrumenten, die Stoffströme steuern und Produktgruppen ausgeweitet und spezifiziert wird. die Produktgestaltung beeinflussen. Weder auf europä- Anforderungen an Langlebigkeit, Reparierbarkeit ischer noch auf nationaler Ebene ist das Ziel verankert, und Recyclingfähigkeit sollten zügig erarbeitet und insgesamt weniger Rohstoffe zu nutzen. verbindlich werden. Die gegenwärtige Abfallhierarchie muss daher aus ɦɦ Die Herstellerverantwortung für die Entsorgung Sicht des SRU um zwei Stufen erweitert werden: ers- von Elektroschrott, Batterien, Altfahrzeugen und tens die generelle Verringerung der Stoffströme und Verpackungen ist weiterzuentwickeln. Es muss klar zweitens eine kreislaufwirtschaftsfähige Gestaltung geregelt werden, dass die Kosten einer Kreislaufwirt- von Produkten. Die gezielte Verringerung umwelt schaft durch die Produktverantwortlichen getragen relevanter Stoffströme würde die Umweltwirkungen und transparent im Produktpreis ausgewiesen wer- entlang der gesamten Rohstoff- und Produktkette den. Um den Binnenmarkt zu wahren und Kosten- mindern. Eine langlebige, reparaturfreundliche, recyc wahrheit zu erzielen, sollte sich Deutschland auch auf linggerechte und schadstofffreie Gestaltung ist Voraus- EU-Ebene mehr als bisher für die Verankerung der setzung für die Abfallvermeidung und ein hochwer Herstellerverantwortung einsetzen. Auf nationaler tiges Recycling. Ebene sollte die Bundesregierung die Einführung ei- ner Herstellerverantwortung für Möbel und Textilien Damit die Kreislaufwirtschaftspolitik zu einer vorsor prüfen, weil diese in großen Mengen produziert wer- genden Umweltpolitik wird, sind folgende strategische den, oft hohe Schadstoffgehalte aufweisen und zuneh- Handlungsansätze entscheidend: mend kurz genutzt werden. Produkte sollten so weit wie möglich schadstofffrei sein, um eine Kreislauffüh- ɦɦ Der Input an Rohstoffen für Produkte, Infrastruktu- rung der Materialien zu vereinfachen und hochwerti- ren und Dienstleistungen muss verringert werden. ge, unbelastete Sekundärrohstoffe gewinnen zu kön- Der SRU empfiehlt, ein nationales Rohstoffinventar nen. Im Rahmen der zukünftigen EU-Produkt- und zu etablieren, auf dessen Basis priorisiert werden Chemikalienpolitik sollten Positivlisten für Inhalts- kann, welche Stoffströme aus Umweltsicht am stoffe entwickelt werden, die den Herstellern Infor- dringendsten reduziert werden sollen. Außerdem mationen darüber geben, welche Inhaltsstoffe eine sollte der Indikator Gesamtrohstoffproduktivität der hochwertige Verwertung ermöglichen. 8
Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen ɦɦ Recycling muss nicht nur an Quoten und Mengen, schen Programme zum nachhaltigen Konsum, zur sondern auch an seiner Qualität gemessen werden. Abfallvermeidung und zur Ressourceneffizienz aus Die stoffliche Verwertung muss so gestaltet sein, dass reichend erfolgt. sie ökonomisch mit der Primärherstellung eines Roh- stoffs konkurrieren kann. Der SRU schlägt insbeson- Eine umfassende und ambitionierte Umsetzung des dere bei Altfahrzeugen und Elektroaltgeräten die Konzeptes der Kreislaufwirtschaft ist eine große Her- Einführung von transparenten, vorgezogenen Recyc- ausforderung – aber eine, der sich die Politik stellen lingabgaben vor, um ambitionierte Anforderungen an muss. Bereits in den 1990er-Jahren hat die Enquete- Verwertung und Demontage zu realisieren. Um ein Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ hochwertiges Recycling zu erreichen, sollten Recyc- des deutschen Bundestages einen Bericht zu „Perspek- lingquoten um ein Set an weiteren Anforderungen tiven für einen nachhaltigen Umgang mit Stoff- und ergänzt werden. Hierzu zählen beispielsweise Be Materialströmen“ verfasst. Mit dem Rückenwind durch handlungsanforderungen, die Definition von Output- den European Green Deal und dem dort verankerten qualitäten und Monitoringvorgaben. New Circular Economy Action Plan hat Deutschland die Chance, wichtige Weichenstellungen zu initiieren Eine Kreislaufwirtschaft nimmt alle in die Pflicht: Roh- und so die Kreislaufwirtschaft von der Rhetorik in die stofferzeuger, Importeure, Hersteller, Handel, die Ver- Praxis zu bringen. wertungs- und Entsorgungsbranche sowie Konsumen- tinnen und Konsumenten. Mit ihrem Konsum sind insbesondere öffentliche Institutionen von Bund, Län- dern und Kommunen nicht nur ein wichtiger Faktor des Wasserrahmenrichtlinie gesamtwirtschaftlichen Materialumsatzes, sondern sie haben gleichzeitig eine Vorbildfunktion. Die öffentliche für die ökologische Hand sollte Motor für die Transformation hin zu einer Gewässerentwicklung nutzen ökologisch ausgerichteten Kreislaufwirtschaft sein. Die Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes bietet dafür ei- nen Ansatz. Sie sieht derzeit eine Bevorzugungspflicht Intakte Gewässer sind Voraussetzung für funktionie- für ökologisch vorteilhafte Erzeugnisse im Rahmen der rende Ökosysteme, für Artenvielfalt und lebendige öffentlichen Beschaffung vor. Der SRU empfiehlt drin- Landschaften, aber auch für eine nachhaltige Nutzung gend, an dieser Pflicht festzuhalten. Öffentliche Einrich- durch den Menschen. Sie stellen eine Vielzahl von Öko- tungen – allen voran die Einrichtungen des Bundes – systemleistungen bereit (Abb. 3). Oberflächengewäs- sollten außerdem Selbstverpflichtungen eingehen, die ser werden zudem durch das Klimageschehen beein- unter anderem Recyclingprodukte bevorzugen und flusst: Der Klimawandel hat direkten Einfluss auf die Abfälle gezielt vermeiden. Wassertemperatur. Außerdem wirkt er sich über die Zunahme von Extremwetterereignissen wie zum Bei- Kreislaufwirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern spiel Starkregen auch auf die Wasserführung aus. Um- ein unverzichtbares Instrument für Umwelt- und gekehrt können Auswirkungen des Klimawandels durch Ressourcenschutz. Es bedarf dringend einer Reduzie- intakte Wasserkörper und ihre Auen gemildert oder rung des Rohstoffbedarfs. Sowohl auf europäischer als gebremst werden. auch auf nationaler Ebene sollte das Ziel, die gesell- schaftlichen Stoffströme zu verringern, in politischen Seen, Bäche und Flüsse in Europa dienen dem Menschen Strategien und Programmen verankert werden. Die seit Jahrhunderten als Transportwege, zur Trinkwasser- Bundesregierung sollte konkrete, quantitative Ziele für und Energiegewinnung sowie zur Erholung. Als Folge spezifische Rohstoffe entwickeln. Sie könnte diese sind die Oberflächengewässer in der EU großflächig über- beispielsweise im Deutschen Ressourceneffizienz nutzt. Stoffeinträge und Eingriffe des Menschen in die programm (ProgRess) oder im Nationalen Programm Struktur haben Flüsse, Auen und Seen beeinträchtigt und für Nachhaltigen Konsum verankern. Aus Sicht des SRU geschädigt. Die Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr ist es zudem notwendig festzulegen, welche Stoff 2000 verpflichtet daher die Mitgliedstaaten, bis spätes- ströme prioritär gelenkt werden sollten und welche tens 2027 alle europäischen Gewässer in einen definier- Ansatzpunkte über den Lebenszyklus den besten öko- ten „guten Zustand“ zu versetzen. Dieser gute Zustand logischen Effekt bringen. Dies ist bisher weder im EU- umfasst zum einen chemische Qualitätsnormen, wie die Kreislaufwirtschaftspaket noch im Rahmen der deut- Belastung des Wassers durch bestimmte Schadstoffe, 9
Kurzfassung ɦɦAbbildung 3 Ökosystemleistungen von Flüssen und Auen Regulation • Habitatbereitstellung • Klima • Retention von Stoffen (C, N, P) • Sediment und Entwässerung Versorgung Kultur • Transportweg • Landschafts- • Trinkwasser bild • Nahrungs- • Natur- und mittel Kulturerbe • Energie • Bildung und • Kühlung Wissenschaft • Bewässerung • Freizeit und und Rohstoffe Erholung Basis Basis • Morphologie • Wasserhaushalt SRU 2020; Datenquelle: PODSCHUN et al. 2018 zum anderen ökologische Parameter, wie die Durchgän- Gewässer sind übermäßig mit Nährstoffen, Pestiziden gigkeit der Flüsse oder ihre Ufer- und Gewässerbettstruk- und anderen Schadstoffen aus Landwirtschaft, Gewerbe, tur. Beide Aspekte sind für das Leben von Pflanzen und aber auch aus Verkehr und Siedlungen belastet. Tieren essenziell. Zudem gibt es nur wenige Flüsse ohne hydromorpholo- Deutschland ist allerdings weit davon entfernt, die Zie- gische Modifikationen, das heißt ohne Veränderungen le der Wasserrahmenrichtlinie zu erreichen: Im Jahr 2015 an Struktur und Wasserhaushalt. Die meisten Fließge- – mit Abschluss des ersten Bewirtschaftungszyklus – wässer wurden in der Vergangenheit durch den Menschen waren 92 % der bewerteten Oberflächenwasserkörper in verändert: Sie wurden vertieft, begradigt, eingedeicht, keinem „guten ökologischen Zustand“. Das bedeutet, von Überschwemmungsflächen abgeschnitten oder in dass nur wenige Flüsse und Seen naturnahe Bedingun- ihrer Durchgängigkeit für Fische und andere Lebewesen gen für Pflanzen und Tiere bieten und über eine aus gestört. Gerade diese hydromorphologischen Eingriffe reichend gute Wasserqualität verfügen. Kein einziger bedürfen aus Sicht des SRU einer deutlich höheren Oberflächenwasserkörper in Deutschland ist derzeit in Aufmerksamkeit und stehen daher im Vordergrund des einem „guten chemischen Zustand“. Viele untersuchte Umweltgutachtenkapitels. 10
Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen Es zeichnet sich nicht ab, dass innerhalb der (bereits ver- Ist ein Flächenerwerb auf privatrechtlicher Basis nicht längerten) Frist bis 2027 eine Trendwende des Zustands möglich, kommen Flurbereinigungsmaßnahmen in Be- der Gewässer gelingt. Zum einen liegt das daran, dass tracht. Gewässerentwicklungspläne enthalten die erfor- für die Zielerreichung der Wasserrahmenrichtlinie in derlichen Maßnahmen für Schutz und Renaturierung und Deutschland vor allem auf Freiwilligkeit und Koopera begründen deren Notwendigkeit. Sinnvoll wäre ein zwei- tion gesetzt wird. Gewässerschutz und Gewässerentwick- stufiges System: Auf regionaler Ebene wird die überge- lung mangelt es daher an der notwendigen Verbindlich- ordnete Planung erstellt, auf Gemeindeebene erfolgt die keit. Zum anderen fehlt ein starker politischer Wille, dem Konkretisierung der Maßnahmen und die notwendige Thema das notwendige Gewicht zu verleihen. Beteiligung und Kommunikation – wobei auch eine Kom- munikation über Erfolge im Gewässerschutz vor Ort ein Der SRU sieht vor allem drei Hürden bei der Anwendung wichtiger Aspekt ist. der Wasserrahmenrichtlinie: Zur ökologischen Entwicklung der Gewässer muss zudem ɦɦ Mangelnde Flächenverfügbarkeit: Damit Gewässer das Wasserhaushaltsgesetz weiterentwickelt werden. sich erholen und renaturiert werden können, benöti- Dazu ist es insbesondere erforderlich, dass die Bundes- gen sie Raum. Dieser muss im Zugriff oder im Besitz länder den Raum, den die Gewässer für ihre naturnahe der Behörden und Maßnahmenträger sein, was oft Entwicklung benötigen, als Gewässerentwicklungs nicht der Fall ist. flächen bestimmen. Innerhalb dieser Flächen sollten sie Schwerpunktflächen benennen können, auf denen sie ɦɦ Unzureichende finanzielle und personelle Ausstat- beispielsweise Bewirtschaftungsverbote bzw. Einschrän- tung: Die ökologische Gewässerentwicklung ist oft kungen verhängen können. Der SRU empfiehlt dem Bund unterfinanziert. Zudem fehlt Fachpersonal für die Um- zudem, das Vorkaufsrecht der Länder um Grundstücke, setzung der Wasserrahmenrichtlinie insbesondere bei auf denen Gewässerentwicklungsflächen liegen, zu er- kleinen Verbänden und Kommunen. weitern. Außerdem sollten Unterhaltungsträger grund- sätzlich zu Maßnahmen des naturnahen Gewässer ɦɦ Unzureichende Akzeptanz für Maßnahmen: Vielen ausbaus verpflichtet werden – verbunden mit der Pflicht Akteuren und Betroffenen sind die Ziele der Wasser- für die Bundesländer, sie hierfür bei der Ausstattung rahmenrichtlinie und die große Bedeutung von Ge- mit Ressourcen (Finanzmittel und Personal) zu unter wässerschutz für Umwelt und Klima nicht oder nicht stützen. ausreichend bekannt. Da Gewässernutzende oft un- terschiedliche Interessen verfolgen, führt dies zu Wi- Damit der Gewässerschutz an Durchsetzungskraft ge- derständen und Verzögerungen bei der Umsetzung. winnt, schlägt der SRU eine gemeinsame Initiative von Bund und Ländern vor. Diese könnte Kommunen und Gewässerschutz und Gewässerrenaturierung sind Verbände, Gewässernutzende sowie die Öffentlichkeit komplexe Aufgaben – umso mehr, als es in der Wasser- für die Bedeutung des Gewässerschutzes sensibilisieren. rahmenrichtlinie um die Verbesserung länder- und Gleichzeitig könnte sie die Ausbildung in einschlägigen grenzüberschreitender Flusseinzugsgebiete geht. Der Berufen fördern und das Bewusstsein dafür schärfen, die Planungs- und Abstimmungsbedarf von Behörden, Ver- erforderlichen Stellen einzurichten und langfristig zu bänden und einzelnen Akteuren ist daher enorm. In der sichern. Eine solche Bund-Länder-Initiative sollte stra- Vergangenheit konnte zwar punktuell die Hydromorpho- tegisch an den „Nationalen Wasserdialog“ anknüpfen, logie von Gewässern oder Gewässerabschnitten verbes- der im Zuge der UN-Wasserdekade (2018–2028) ins sert werden. Aus den oben genannten Gründen gelang Leben gerufen wurde. es jedoch nicht, die Erfordernisse einer ökologischen Ge- wässerentwicklung flächendeckend zu berücksichtigen Ohne ausreichende finanzielle Mittel ist eine ökologi- und die Gewässer in Deutschland systematisch zu re sche Entwicklung der Gewässer nicht möglich. Es gäbe naturieren. durchaus Ansatzpunkte, die Finanzierung zu verbessern. Der Bund ist gefordert, Gelder und Fachpersonal für den Der SRU hält es für dringend erforderlich, dass mehr Flä- ökologischen Ausbau der Bundeswasserstraßen entspre- chen für eine ökologische Gewässerentwicklung verfüg- chend den Zielen der Wasserrahmenrichtlinie bereitzu- bar gemacht werden. Wesentliches Instrument dafür ist stellen. Förderinstrumente können so angepasst werden, eine Fachplanung, die den Flächenbedarf und Wege zur dass sie die Ziele der Richtlinie besser berücksichtigen. Flächensicherung konkret und nachvollziehbar benennt. Über die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und 11
Kurzfassung üstenschutz“ sollte beispielsweise eine Finanzierung K Weniger Verkehrslärm für mehr des Flächenerwerbs ermöglicht werden. Außerdem emp- fiehlt der SRU Bund und Ländern, mittelfristig eine neue Gesundheit und Lebensqualität1 Gemeinschaftsaufgabe „Natur-, Gewässer- und Hoch- wasserschutz“ auf den Weg zu bringen. Bundesländer Störender Umgebungslärm gehört für viele Menschen in sollten nicht zuletzt zu einer besseren Nutzung natio Deutschland zum Alltag. Laut einer repräsentativen Be- naler und europäischer Finanzierungsinstrumente bei- fragung aus dem Jahr 2016 fühlten sich 80 % der Men- tragen. Beispielsweise können sie das Wasserentnahme- schen in Deutschland durch Verkehrs-, Gewerbe- und entgelt für einen ökologischen Gewässerausbau besser Nachbarschaftslärm belästigt. Vor allem der Verkehrslärm nutzbar machen. ist ein erhebliches Gesundheitsrisiko: Jeder zehnte Mensch in Deutschland ist durch den Straßenverkehr Unstrittig ist, dass naturnahe Gewässer von grundlegen- von einem Lärmpegel betroffen, der nach Einschätzung der Bedeutung für Mensch, Natur und eine nachhaltige der Weltgesundheitsorganisation (WHO) krank machen Entwicklung sind. Sie sind unverzichtbar für die An kann. Chronischer Lärm begünstigt unter anderem das passung an den Klimawandel und den Schutz der Bio Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Steigt der diversität. Insbesondere der Klimawandel wird in den Dauerschallpegel von Straßenverkehrslärm um 10 dB(A), kommenden Jahren eine immer größere Rolle spielen. nimmt das relative Risiko einer koronaren Herzerkran- Gewässerschutz ist eine Generationenaufgabe und es kung um 8 % zu. Kinder sind in besonderem Maße schutz- dauert zum Teil Jahre oder gar Jahrzehnte, bis Maß bedürftig, weil die Gesundheit und Entwicklung in die- nahmen umgesetzt sind und ihre positiven Wirkungen ser sensiblen Lebensphase durch Lärmimmissionen entfalten. Die Wasserrahmenrichtlinie, so komplex sie negativ beeinflusst werden kann. auch ist, richtet den Blick auf die länderübergreifende Bedeutung intakter Gewässer und verknüpft den Ge Zudem sind sozial benachteiligte Menschen diesen Risi- wässerschutz mit anderen Zielen des Naturschutzes und ken oft stärker ausgesetzt, da sie häufiger in Gebieten den Interessen des Allgemeinwohls. Diese Tatsache wohnen, die durch einen hohen Verkehrslärm geprägt muss besser kommuniziert und als Chance genutzt sind. Doch selbst bei räumlich gleicher Verteilung von werden. Umgebungslärm kann es aufgrund unterschiedlicher Vulnerabilitäten der jeweiligen Bevölkerungsgruppen zu Gewässerschutz braucht wegen seiner herausragenden sozial ungleichen Gesundheitswirkungen kommen. Bedeutung mehr Aufmerksamkeit nicht nur in der Um- weltpolitik, sondern auch in anderen Politikbereichen. Der Schutz vor Lärm muss daher in Deutschland dringend Beispielsweise sollte die Gemeinsame Agrarpolitik der verbessert werden. Die europäische Umgebungslärmricht- EU deutlich stärker den Schutz der Gewässer und eine linie ist das zentrale politische Instrument, welches Vor- ökologische Gewässerentwicklung adressieren. gaben zum Management von Umgebungslärm macht. Um- setzung und Vollzug dieser Richtlinie haben in Deutschland Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es nicht gelingen, alle bislang aber noch zu wenig bewirkt. Die Richtlinie schreibt Gewässer in Deutschland bis 2027 in einen guten Zu- vor, wie die Lärmkartierung in den Mitgliedstaaten zu er- stand zu versetzen. Dennoch müssen im verbleibenden folgen hat und macht Vorgaben zur Aufstellung der Lärm Zeitraum alle Anstrengungen unternommen werden, dem aktionspläne. Außerdem müssen in Ballungsräumen r uhige Ziel möglichst nahe zu kommen. Auch nach 2027 sollte Gebiete ausgewiesen werden. Die Darstellung der Lärm- die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie mit hohem belastung durch die vorgeschriebene Lärmkartierung ist Ambitionsniveau fortgeführt werden. Werden Maßnah- ein wichtiger Beitrag zum Lärmschutz. Es werden aller- men gut geplant und die betroffenen Akteure frühzeitig dings im Wesentlichen Großflughäfen, Hauptverkehrs eingebunden, können Nutzungskonflikte vermieden und straßen sowie Haupteisenbahnstrecken kartiert und da- die Akzeptanz gesteigert werden. Ein ökologisch und che- mit nicht alle Betroffenen erfasst. misch guter Zustand der Binnengewässer einschließlich der Auen ist unbestritten eine Herausforderung für alle, Für die Lärmkartierung und die Lärmaktionsplanung sind zugleich aber der einzige Weg, diese als Lebensadern der vor allem die Kommunen zuständig. Diese können viel Landschaft und Hotspots der Biodiversität zu reaktivie- für eine Senkung der Lärmbelastung tun, für etliche Maß- ren und zu erhalten. 1 Zu diesem Kapitel vertritt Prof. Dr.-Ing. Messari-Becker eine abweichende Auffassung, s. Anhang der Langfassung. 12
Weniger Verkehrslärm für mehr Gesundheit und Lebensqualität ɦɦAbbildung 4 Potenzielle gesundheitliche Auswirkungen von Lärm Physiologische und Risikofaktoren für Herz- Herz-Kreislauf- biologische Kreislauf- und Erkrankungen Stressreaktionen Stoffwechselkrankheiten • Bluthochdruck • Veränderungen im • ↑ Blutdruck • Arterienverkalkung vegetativen • ↑ Blutfette • Koronare Nervensystem • ↑ Blutzucker Herzerkrankung • Veränderungen im • ↑ Blutgerinnungs- Hormonsystem faktoren Schallimmissionen Stoffwechsel- Bewertung • Akustische erkrankungen Eigenschaften • Typ-2-Diabetes • Kontext • Individuelle Eigenschaften Störungen von • Schlaf Schlafstörungen • Aktivitäten • Konzentration • Kommunikation Psychologische Mentale Gesundheit Stressreaktionen und Wohlbefinden Subjektive und intersubjektive gesundheitliche Auswirkungen Belästigung Kognitive Physische und psychische Leistungsfähigkeit gesundheitliche Auswirkungen SRU 2020 nahmen fehlt ihnen aber die Zuständigkeit. Nur etwa ein öhere Lärmpegel verwendet, die auch weit oberhalb h Drittel der Gemeinden, die eine Lärmkartierung durch- der aktuellen WHO-Leitlinienwerte liegen. Fachleute geführt haben, hat bisher Aktionspläne zur Lärmminde- empfehlen, zum Schutz der menschlichen Gesundheit rung aufgestellt. Auch werden von den Kommunen bis- 65 dB(A) am Tag und 55 dB(A) in der Nacht als Ober- her zu wenig ruhige Gebiete festgelegt und in Richtung grenze für die zulässige Lärmbelastung heranzuziehen. mehr Lärmschutz entwickelt. Der SRU hält es für not- Der SRU schlägt vor, dass diese Grenzwerte für beste- wendig, Umsetzung und Vollzug der Umgebungslärm- hende Straßen und Schienenwege in Wohngebieten richtlinie in Deutschland zu verbessern. Ein wesentli- bundesweit gesetzlich festgeschrieben werden. Lang- cher Schritt dafür wäre die Einführung einer Verordnung fristig sollten sie auf 55 dB(A) tags bzw. 45 dB(A) mit bundesweit einheitlichen Auslösewerten, ab denen nachts abgesenkt werden. Kommunen verpflichtet sind, Lärmaktionspläne aufzu- stellen. Diese Auslösewerte sollten bei 65 dB(A) tags Oft fehlen den Kommunen ausreichende Finanzmittel bzw. 55 dB(A) nachts liegen. In der Verordnung sollte zur Minderung des Straßenverkehrslärms. Lärmschutz auch geregelt werden, dass Ballungsräume ruhige Gebie- gelingt jedoch nur auf Basis einer sicheren und planbaren te in ausreichender Zahl und verteilt über den gesamten Finanzierung. Eine sinnvolle Unterstützung der Kom- Ballungsraum ausweisen. Außerdem sollte die Verbind- munen wäre ein Bundesfinanzierungsprogramm, auf das lichkeit kommunaler Lärmaktionspläne im Bundesrecht sich Bund und Länder bislang aber nicht verständigen verankert werden, sodass diese eine Außenwirkung ge- konnten. Aus Sicht des SRU stehen Bund und Länder genüber anderen Fachplanungen erhalten. gemeinsam in der Verantwortung, Kommunen bei der Finanzierung von Lärmschutz an Straßen in kommunaler Verbindliche Vorsorgewerte für den Lärmschutz gibt Baulast zu unterstützen. Das könnte beispielsweise durch es in Deutschland nur für den Neubau und die wesent- eine Neuauflage eines gemeinsamen langfristigen liche Veränderung von Straßen und Schienenwegen. Investitionsprogramms und eine bessere Integration Für bestehende Straßen und Schienenwege werden von Lärmschutz in die Städtebauförderung geschehen. 13
Kurzfassung Schutz vor Verkehrslärm muss auch an der Quelle anset- dend, um die Akzeptanz in der Bevölkerung für Lärm- zen. Maßnahmen, die direkt die Fahrzeuggeräusche redu- minderungsmaßnahmen und die Bereitschaft in der zieren, haben den großen Vorteil, dass die Lärmminderung Politik zur Finanzierung entsprechender Maßnahmen flächendeckend erfolgt und somit alle Menschen davon zu erhöhen. Es sollte daher ein interministerieller Aus- profitieren. Die aktuell geltenden Geräuschgrenzwerte schuss „Verkehrslärm und Gesundheit“ eingerichtet sowohl für Straßen- und Schienenfahrzeuge als auch für werden, der darauf hinwirkt, ein ressortübergreifen- Flugzeuge schöpfen aber das technische Potenzial zur des Verständnis zur Bedeutung von Verkehrslärm für Lärmminderung nicht aus. Es ist daher erforderlich, dass den Gesundheitsschutz zu entwickeln. sich die Bundesregierung für ambitionierte Geräuschgrenz- werte bei Fahrzeugen einsetzt, für Straßen- und Schienen- ɦɦ Lärm ist ungleich verteilt: Vor allem sozial Benachtei- fahrzeuge auf EU-Ebene und für Flugzeuge auf interna ligte sind überdurchschnittlich häufig von starkem tionaler Ebene. Für Güterzüge, die meist nachts unterwegs Verkehrslärm betroffen. Damit sind sie höheren sind, sollte das lärmabhängige Trassenpreissystem so wei- lärmbedingten Gesundheitsgefahren ausgesetzt als terentwickelt werden, dass es einen ökonomischen Anreiz einkommensstarke Haushalte. Weder in der Lärm setzt, möglichst leise Züge zu verwenden. Auch im Luft- minderungs- noch in der Luftreinhalteplanung finden verkehr sind weitere Maßnahmen zur Lärmminderung umweltbezogene Ungleichheiten ausreichend Be geboten. So sollten bei der Festlegung von Flugrouten und rücksichtigung. Daher empfiehlt der SRU, den Ansatz im bundesweiten Luftverkehrskonzept Lärmschutz Umweltgerechtigkeit sowohl in die Lärmaktions gesichtspunkte stärker beachtet werden. Zudem schließt planung aufzunehmen als auch als ein Querschnitts- sich der SRU der Empfehlung des Umweltbundesamtes an, ziel in kommunale Leitbilder einzuführen. in der Zukunft ein Nachtflugverbot an stadtnah gelegenen Flughäfen festzulegen. Lärmbelastung ist kein isoliertes Umweltproblem. Die WHO empfiehlt, dass die Konzepte zur Bekämpfung von Um den Lärm durch Straßenverkehr in Ballungsräumen Umgebungslärm und zur Bekämpfung anderer Umwelt- zu verringern, muss Autoverkehr vermieden, verlang- risiken koordiniert werden. Aus Sicht des SRU sollten samt und auf leisere Verkehrsmittel verlagert werden. künftig die Bundesländer Regelungen schaffen, die zur Das könnte durch eine Regelhöchstgeschwindigkeit in Aufstellung von integrierten Verkehrsentwicklungs geschlossenen Ortschaften von nur noch 30 km/h, ein plänen in Städten ab 50.000 Einwohnerinnen und Ein- gezieltes Parkraummanagement in den Städten und eine wohnern verpflichten. Der große Vorteil ist: Integrierte streckenabhängige Pkw-Maut erreicht werden. Wer ohne Verkehrsentwicklungspläne verzahnen Belange von Auto mobil sein will, braucht eine attraktive Alternative. Stadtentwicklung mit Lärmvorsorge, Umwelt- und Kommunen und Regionen müssen daher den Umwelt- Klimaschutz. Sie mindern dadurch nicht nur den All verbund aus ÖPNV sowie Fuß- und Radverkehr stärken, tagslärm, sondern auch die Luftbelastung, fördern Grün- ausbauen und modernisieren. Dazu gehört auch, dass die räume und die Entwicklung von ruhigen Gebieten. Mehr Ausweisung von Busspuren und Fahrradstraßen verein- Gesundheit und mehr Lebensqualität für alle – das sind facht wird. nicht zuletzt starke Argumente, um die Akzeptanz für die notwendige Verkehrswende zu steigern. Zwei bedeutsame Aspekte haben in der Debatte um Lärm- schutz bisher zu wenig Beachtung gefunden: ɦɦ Lärm macht krank: Beim Verkehrslärm ist häufig nur Aktive und umweltfreundliche von Belästigungen die Rede. Dass chronischer Lärm Stadtmobilität: darüber hinaus durch weitere gesundheitsrelevante Auswirkungen zur Krankheitslast beiträgt und so zu Wandel ermöglichen2 hohen Folgekosten führt, wird immer noch zu wenig beachtet. Das Umweltbundesamt hat berechnet, dass Wie sollen wir uns künftig in der Stadt fortbewegen? allein der Straßenverkehrslärm in Deutschland im Jahr Attraktive Städte sind vor allem solche, in denen die 2016 insgesamt 1,68 Mrd. Euro Krankheitskosten ver- Menschen gerne zu Fuß gehen und Rad fahren, die ursacht hat. Die negativen gesundheitlichen Auswir- kurze Wege haben und über eine gute Versorgung mit kungen von Lärm und die damit verbundenen hohen krankheitsbedingten Kosten werden bisher noch nicht 2 Zu diesem Kapitel vertritt Prof. Dr.-Ing. Messari-Becker eine ausreichend kommuniziert. Dies ist aber entschei- abweichende Auffassung, s. Anhang der Langfassung. 14
Aktive und umweltfreundliche Stadtmobilität: Wandel ermöglichen ö ffentlichem Nahverkehr verfügen. Wenn private Pkw den Mobilität ist Bewegung. Im Stadtverkehr der Zukunft Stadtverkehr weniger dominieren und weniger Parkraum sollten daher Fuß- und Radverkehr eine wichtige Rolle beanspruchen, sind auch kompakte Siedlungsstrukturen spielen. Wer zu Fuß geht oder Rad fährt, fördert seine mit einer hohen Grünraumversorgung vereinbar. Ziel Gesundheit sowie kognitive Fähigkeiten und beugt Er- ist ein Wandel des Alltagsverkehrs, der die Mobilität krankungen vor. Der Weltgesundheitsorganisation zu- Einzelner auf nachhaltige Weise sicherstellt. Er soll den folge bewegen sich hierzulande 42 % der Erwachsenen Belangen von Umwelt- und Klimaschutz gerecht werden, zu wenig. Damit gehört Deutschland zu den Ländern in Alternativen zum Auto bieten, sicher und barrierefrei sein Europa, in denen der Bewegungsmangel am größten ist. und grundsätzlich allen Menschen unabhängig vom Alter Fuß- und Radverkehr beleben außerdem den öffentlichen und sozialen Status zugutekommen. Eine solche städti- Raum, fördern die lokale Wirtschaft und ermöglichen sche Mobilitätswende, verstanden als nachhaltige Verän- Begegnung sowie Kommunikation. Der Nationale Rad- derung des Mobilitätsverhaltens, leistet damit einen ent- verkehrsplan sollte deshalb ambitioniert fortgeschrieben scheidenden Beitrag zur Verkehrswende insgesamt. und eine Nationale Fußverkehrsstrategie verabschiedet werden. Der Stadtverkehr wird aber seit Jahrzehnten vom Auto dominiert. Die Folgen sind Lärm, Luftverschmutzung, Große Aufmerksamkeit erfahren derzeit neuartige Mo- ein wachsender Flächen- und Energieverbrauch, aber bilitätsangebote der Shared Mobility, vom stationslosen auch hohe Gesundheits- und Umweltkosten. Carsharing bis zum E-Scooterverleih. Die Umweltaus- wirkungen dieser Angebote sind jedoch differenziert zu Gerade in den Städten kann die Alltagsmobilität so trans- bewerten und fallen insbesondere dann negativ aus, wenn formiert werden, dass die Lebensqualität der Menschen sie den Umweltverbund ersetzen. Ziel sollte es aus öko- im Mittelpunkt steht. Kurze Wege, gut ausgebaute Rad- logischer Sicht daher sein, dass die Sharing-Angebote und Fußwegestrecken, kurz getaktete Bahnen und Elek- den ÖPNV in Erschließungslücken ergänzen und die in- trobusse ermöglichen eine neue Art von Verkehr, der um- termodale Fortbewegung in der Stadt jenseits des Autos weltschonend, zügig, gesund und stressarm ist. Ein erleichtern. Dazu bedarf es einer stärkeren räumlichen attraktiver Stadtverkehr im Umweltverbund aus ÖPNV Steuerung der Angebote. sowie Fuß- und Radverkehr käme der Mehrheit der Be- völkerung zugute. Denn in Groß- und Mittelstädten, also Eine Mobilitätswende erfordert eine Kopplung von Maß- in Städten mit mindestens 15.000 Einwohnerinnen und nahmen, die die Rahmenbedingungen für den Umwelt- Einwohnern, leben knapp 80 % der Menschen in Deutsch- verbund verbessern (Pull-Instrumente), mit solchen, land. In den Städten ist ein Trend zu weniger motori die den motorisierten Individualverkehr in den Städten siertem Individualverkehr erkennbar, auch wenn dieser reduzieren (Push-Instrumente). Neben Ausbau und Wandel nur langsam vorangeht. Das zeigt sich nicht nur Stärkung des Umweltverbundes sind auch Maßnahmen an den vielen Volksentscheiden zum Thema Fahrrad, son- unerlässlich, die eine individuelle Pkw-Nutzung un dern auch daran, dass jüngere Menschen in Großstädten attraktiver machen. Weniger Autoverkehr in den Städten eher den Umweltverbund nutzen und später einen Füh- führt zu mehr Lebensqualität für alle und ist zudem un- rerschein erwerben. Für viele stellt das Auto nicht mehr erlässlich, um die Klima- und Umweltziele im Verkehrs- so stark ein Prestigeobjekt dar. sektor zu erreichen. Das Rückgrat für die Alltagsmobilität der Zukunft bildet Ein entscheidender Hebel dafür ist die Änderung des der ÖPNV. Er ist ein Baustein der Daseinsvorsorge. Er Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrs soll es ermöglichen, bezahlbar und mit überschaubarem ordnung. Diese bevorzugen derzeit stark das Auto. Die Aufwand die Wege des täglichen Lebens zurückzulegen Verkehrsbehörden können bislang den Autoverkehr nur – das gilt ohne Abstriche auch für Ältere, Kinder und aus verkehrlichen Gründen beschränken. Weder die Ein- Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Dafür muss führung einer Parkraumbepreisung noch die Einrichtung der ÖPNV erheblich ausgebaut und verbessert werden. von Fahrradstraßen können zurzeit darauf gestützt Seine Kapazität muss deutlich erhöht und durchgehen- werden, dass zum Beispiel Umwelt- und Klimaschutz de Wegeketten ermöglicht werden. Bundesmittel sollten gefördert werden sollen. Daher sollte der Zweck der zukünftig nicht nur für Neuinvestitionen, sondern auch gesetzlichen Bestimmungen ergänzt werden: Als Ziel von für Erhaltung und Betrieb verwendet werden können. Maßnahmen müssen auch Klima-, Umwelt- und Gesund- Der Vorrang des ÖPNV sollte als Grundsatz im Straßen- heitsschutz sowie die städtebauliche Gestaltung ein verkehrsgesetz festgeschrieben werden. geführt werden. Den Kommunen müssen außerdem 15
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