FÜR EINE ENTSCHLOSSENE UMWELT POLITIK IN DEUTSCHLAND UND EUROPA - KURZFASSUNG | MAI 2020 - SACHVERSTÄNDIGENRAT FÜR ...

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FÜR EINE ENTSCHLOSSENE UMWELT POLITIK IN DEUTSCHLAND UND EUROPA - KURZFASSUNG | MAI 2020 - SACHVERSTÄNDIGENRAT FÜR ...
Für eine entschlossene
Umwelt­politik in Deutschland
und Europa
Kurzfassung  |   Mai 2020
FÜR EINE ENTSCHLOSSENE UMWELT POLITIK IN DEUTSCHLAND UND EUROPA - KURZFASSUNG | MAI 2020 - SACHVERSTÄNDIGENRAT FÜR ...
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..............................................................   3

Pariser Klimaziele erreichen mit dem CO2-Budget ....................................................                                                                        4

Kreislaufwirtschaft: Von der Rhetorik zur Praxis ......................................................                                                                     6

Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen ................                                                                                      9

Weniger Verkehrslärm für mehr Gesundheit und Lebensqualität ............................... 13

Aktive und umweltfreundliche Stadtmobilität: Wandel ermöglichen .......................... 14

Das Quartier: Raum für mehr Umwelt- und Klimaschutz ........................................... 17

Zukunft der europäischen Umweltpolitik .. . .............................................................. 19

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............................................................. 21
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Einleitung

Kurzfassung

Einleitung

Die Appelle der Wissenschaft, die natürlichen Lebens-     Mit dem vorliegenden Umweltgutachten greift der SRU
grundlagen besser zu schützen und zu bewahren, dro-       umweltpolitische Themenfelder auf, in denen zum einen
hen zu einem bedrückenden Ritual zu werden. Es man-       großer Handlungsbedarf besteht und die zum anderen
gelt nicht mehr an Erkenntnissen über die dramatischen    vielversprechende Möglichkeiten zum Umsteuern bie-
Folgen aktueller und drohender Umweltveränderungen.       ten: Klimapolitik, Kreislaufwirtschaft, Gewässerschutz,
Auch die Technologien für eine Wende hin zu zukunfts-     Lärmschutz, ­städtische Mobilität und nachhaltige Quar-
fähigem Wirtschaften, nachhaltiger Mobilität oder um-     tiersentwicklung. Vor dem Hintergrund der deutschen
weltverträglicher Energieerzeugung sind vorhanden. Da     EU-Ratspräsidentschaft analysiert das Gutachten zudem
sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den ökologi-    anstehende Weichenstellungen in Europa.
schen Herausforderungen aber viel zu zögerlich stellen,
wächst die Kluft zwischen dem Erreichten und dem Not-
wendigen. Nationale und internationale Studien zeigen,
dass Innovationen und Effizienzsteigerungen zwar wich-
tig sind, aber nicht mehr ausreichen. Auch unsere Wirt-
schafts- und Lebensweisen müssen sich verändern, um
ökologische Grenzen einzuhalten.

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Kurzfassung

Pariser Klimaziele erreichen                                  sehr gut begründete 1,5°-Ziel nochmals einem deutlich
                                                              geringeren globalen CO2-Budget entspricht. Dabei ist die
mit dem CO2-Budget                                            jeweilige Größe des Budgets auch von einigen methodi-
                                                              schen Fragen abhängig, insbesondere der Wahl der Be-
Die deutsche Klimapolitik steht vor großen Herausfor-         zugsperiode, der Einbeziehung weiterer Faktoren im Erd-
derungen. Trotz der erzielten Fortschritte ist sie in drei-   system mit Einfluss auf die Temperaturentwicklung und
erlei Hinsicht derzeit noch unzureichend: Erstens fehlt       von der gewählten Rechenmethode.
es an Transparenz darüber, welches Gesamtbudget an
Treibhausgasen der deutschen Klimapolitik zugrunde            Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das naturwissen-
liegt. Zweitens besteht ein Ambitionsdefizit, das heißt       schaftlich berechnete globale Budget auf einzelne Län-
die nationalen Ziele stellen noch keinen ausreichenden        der zu verteilen. Je nachdem, ob Faktoren wie die Wirt-
Beitrag zum globalen Klimaschutz dar. Drittens gibt es        schaftskraft eines Landes, sein Bevölkerungsanteil oder
ein Umsetzungsdefizit, da die Klimaziele wiederholt           seine historisch bereits angefallenen Emissionen berück-
nicht erreicht wurden.                                        sichtigt werden, ergeben sich unterschiedlich große na-
                                                              tionale Budgets. Das Klimaabkommen von Paris ist ein
Das Pariser Klimaabkommen sieht völkerrechtlich ver-          internationales Abkommen, das eine von allen Staaten
bindlich vor, dass die Erderwärmung im Vergleich zum          akzeptierte Interpretation erfordert, um die globalen
vorindustriellen Niveau auf deutlich unter 2 °C limitiert     ­Ziele zu erreichen. Aus internationaler Perspektive über-
wird und Anstrengungen unternommen werden, diese               zeugt eine Aufteilung rein nach Bevölkerungszahl. Dies
auf 1,5 °C zu begrenzen. Nur wenn das gelingt, können          bedeutet aber auch, dass das Pro-Kopf-Budget für Staa-
elementar gefährdende Auswirkungen für Mensch und              ten mit hohen historischen Emissionen eine Obergren-
Umwelt, für Ökosysteme, Infrastrukturen und die Wirt-          ze darstellt, die möglichst unterschritten werden sollte.
schaft eingedämmt oder im besten Fall verhindert wer-          Länder mit hoher technologischer und wirtschaftlicher
den. Alle Vertragsstaaten des Abkommens haben sich             Leistungsfähigkeit wie Deutschland sollten sich zu dar-
verpflichtet, ihre nationalen Treibhausgasemissionen im        über hinausgehenden Anstrengungen verpflichten.
Einklang mit diesem Ziel kontinuierlich abzusenken und
spätestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts kli-     Legt man den deutschen Anteil an der Weltbevölkerung
maneutral zu werden. Mit seiner Ratifizierung hat sich        zugrunde und vernachlässigt die historischen Emissio-
auch Deutschland völkerrechtlich bindend zu einem dem-        nen, beträgt das ab 2020 verbleibende CO2-Budget für
entsprechend wirksamen Klimaschutz verpflichtet.              Deutschland maximal 6,7 Gigatonnen CO2. Es bezieht
                                                              sich auf eine maximale Erderwärmung von 1,75 °C mit
Um das Klimaabkommen von Paris zu erfüllen, müssen            einer 67%igen Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung.
die deutschen Klimaschutzziele insbesondere auch im           Das deutsche anteilige Budget mit einer 50%igen Wahr-
Einklang mit dem globalen Budget für das wichtigste           scheinlichkeit, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begren-
Treibhausgas CO2 sein. Das Konzept der CO2-Budgetie-          zen, beträgt 4,2 Gigatonnen CO2 ab 2020.
rung basiert auf klimaphysikalischen Zusammenhängen
zwischen klimawirksamen Emissionen und Erderwär-              Zwar führt das Bundes-Klimaschutzgesetz erstmals
mung: Ein globales Budget beziffert die gesamten an­          Treibhausgasbudgets bis 2030 für die meisten Sektoren
thropogenen CO2-Emissionen, die ab einem gegebenen            ein. Dadurch wird ein höheres Maß an Transparenz und
Zeitpunkt noch emittiert werden können, damit die da-         Ressortverantwortung geschaffen. Die dort geregelten
raus resultierende Erderwärmung einen bestimmten              Klimaziele sind jedoch nicht wissenschaftlich hergelei-
Wert nicht übersteigt.                                        tet und basieren nicht auf einem entsprechenden Trans-
                                                              formationspfad bis 2050. Damit wird ein Abgleich der
Folgendes globale CO2-Budget hat der Weltklimarat er-         politischen Vereinbarungen mit den tatsächlich notwen-
rechnet: Damit der Temperaturanstieg (mit einer Wahr-         digen Emissionsminderungen unmöglich.
scheinlichkeit von 67 %) den Wert von 1,75 °C nicht
übersteigt und damit deutlich unter 2 °C bleibt, dürfen       Der SRU empfiehlt der Bundesregierung vor diesem Hin-
weltweit ab dem Jahr 2018 nicht mehr als 800 Gigaton-         tergrund, ein deutsches CO2-Budget zu benennen, das
nen CO2 ausgestoßen werden. Dieser Wert stellt eine ab-       mit dem Pariser Klimaabkommen vereinbar ist. Ein sol-
solute Obergrenze dar, da das tatsächlich verfügbare Bud-     ches Budget sollte weder die Treibhausgasbudgets des
get aufgrund von Unsicherheiten in der Berechnung             Bundes-Klimaschutzgesetzes noch die Emissionsreduk-
kleiner sein könnte. Hinzu kommt, dass das ebenfalls          tionsziele für bestimmte Jahre ersetzen. Anhand eines

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Pariser Klimaziele erreichen mit dem CO2-Budget

deutschen CO2-Budgets könnte man jedoch bewerten,        Anhand dieses CO2-Budgets wird deutlich: Die bisheri-
ob die gesetzten Ziele und geplanten Maßnahmen den       gen deutschen Klima- und Sektorziele sind nicht ausrei-
zur Einhaltung der Pariser Klimaziele notwendigen Bei-   chend, um den notwendigen angemessenen Beitrag für
trag leisten. Die Einführung eines CO2-Budgets als       die Einhaltung der Pariser Klimaziele zu leisten. Die
Grundlage und Steuerungsgröße der nationalen Klima-      Emissionsmenge, die sich gemäß der aktuellen Klima-
politik würde helfen, solche Zusammenhänge sichtbar      schutzziele ergibt, ist nahezu doppelt so groß wie das
zu machen, angemessene Ziele zu formulieren sowie Re-    vom SRU berechnete Budget. Die deutschen Klima-
duktionsfortschritte besser und transparenter bewerten   schutzziele sollten im Einklang mit diesem CO2-Budget
zu können.                                               konkretisiert und entsprechend verschärft werden.

Ein solches deutsches Budget setzt einen engen Rahmen:   Für die Einhaltung des CO2-Budgets empfiehlt der SRU
Lägen auch künftig in Deutschland die CO2-Emissionen     die folgenden Eckpunkte:
so hoch wie im Jahr 2019, wäre das maximale Budget be-
reits 2029 aufgebraucht. Bei linearer Reduktion müsste   ɦɦ Der Ausbau erneuerbarer Energien sollte so zügig
Deutschland ab dem Jahre 2038 CO2-neutral wirtschaf-        ­erfolgen, dass ein Ausstieg aus allen fossilen Ener­
ten, also nicht erst im Jahre 2050.                          gieträgern in Übereinstimmung mit dem Budget

ɦɦAbbildung 1

Empfehlungen zur Einführung, Anwendung und Einhaltung des CO2-Budgets

          ECKPUNKTE ZUR                                                KLIMAGOVERNANCE :
          EINHALTUNG DES                                                  BUDGETLOGIK
            C O 2- B U D G E T S                                        UND UMSETZUNG
   Ausbau erneuerbarer Energien und                                         Umsetzungslücken verhindern,
   Ausstieg aus fossilen Energieträgern                                  Expertenrat ein Vorschlagsrecht für
   koordiniert angehen,                                                  Klimaschutzszenarien und proaktive
   heutige Technologie- und                                                 Evaluierung der Wirksamkeit von
   Infrastrukturinvestitionen am                    Paris-                           Maßnahmen einräumen
   Ziel der THG-Neutralität                      kompatibles
   ausrichten                                  CO2-Budget zur                    Ambitionierte europäische
                                            Bewertungsgrundlage                    Klimaziele unterstützen,
   Am Atomausstieg festhalten,               von Klimazielen und                  THG-Neutralität 2050 und
   Atomkraft nicht als                      -maßnahmen machen,                     Anhebung der 2030-Ziele
   Klimaschutzalternative zu               Transparenz im Sinne des                     anstreben, deutsche
   erneuerbaren Energien                  Klimaabkommens erhöhen,                    Ratspräsidentschaft für
   ansehen                                Ambitionslücke offenlegen                     Klimaagenda nutzen
                                            und sukzessive schließen
   Zukünftige CCS-                                                                       Deutsche Klimaziele
   Nutzung stark                                                                            anheben, Jahres-
                                   Sektorale Treibhausgasreduktionen an
   begrenzen, nur für                                                                      emissionsmengen
                                 Paris-kompatiblen CO2-Budgets ausrichten
   unvermeidbare                                                                             im Klimaschutz-
                                      und volkswirtschaftlich optimieren
   Restemissionen                                                                                  gesetz an-
   vorsehen                       Expertenrat für Klimaschutz beauftragen,                            passen
                          Paris-kompatibles nationales CO2-Budget vorzuschlagen,
                                 Expertise für europäische Zieldebatten nutzen

             C O 2- B U D G E T A L S M E S S G R Ö ß E F Ü R K L I M A S C H U T Z
                                                                                                         SRU 2020

                                                                                                                5
Kurzfassung

    e­ rfolgen kann. Dies muss zusätzlich durch Maßnah-           könnte eine Vorreiterrolle zurückgewinnen und die
     men begleitet werden, die den Energieverbrauch ver-          ­technologischen und ökonomischen Möglichkeiten des
     ringern und die Energieeffizienz erhöhen. Holzbio-            Übergangs demonstrieren. Wenn es nicht gelingt, einen
     masse sollte nur dann energetisch genutzt werden,             ambitionierteren Klimaschutz umzusetzen, steigen nicht
     wenn ihre Nutzung nachweislich eine positive Klima-           zuletzt auch die finanziellen Risiken für Steuerzahler und
     bilanz aufweist und die Produktion der Biomasse               Bundeshaushalt: Verfehlt Deutschland seine europäi-
     nachhaltig erfolgt. Beides ist oft nicht der Fall, da Holz    schen Klimaziele, muss das Land zwingend Emissions-
     ein flächenintensiver und ineffizienter Energieträger         berechtigungen von anderen Mitgliedstaaten erwerben.
     ist, der bei Verbrennung CO2 emittiert.
                                                                  Für die Umsetzung des Bundes-Klimaschutzgesetzes ist
ɦɦ Atomenergie ist weiterhin keine Alternative für den            aus Sicht des SRU eine wirksame Klimagovernance ent-
   Klimaschutz. Sie ist unwirtschaftlich, birgt grundsätz-        scheidend. Dazu braucht es wissenschaftliche Expertise,
   liche Risiken für Umwelt und Gesundheit und die End-           die im durch das Bundes-Klimaschutzgesetz etablierten
   lagerung der Abfälle ist ungeklärt. Deutschland soll-          Expertenrat für Klimaschutz gebündelt vorliegt. Dieser
   te am beschlossenen Atomausstieg bis 2022 festhalten.          ­Expertenrat sollte gestärkt und seine Kompetenzen auf-
                                                                   gewertet werden. Bisher ist im Wesentlichen vorge­sehen,
ɦɦ Verfahren zur direkten Abscheidung bzw. Entnahme                dass der Rat die Emissionsdaten und die den Maßnahmen
   von CO2 aus der Atmosphäre, die rechnerisch zu ei-              zugrunde gelegten Annahmen zur Treibhausgas­reduktion
   ner künstlichen Vergrößerung des Budgets führen und             prüft. Nach Auffassung des SRU sollte er ­darüber hinaus
   daher in wichtigen Szenarien zugrunde gelegt wer-               emissionsmindernde Maßnahmen vorschlagen, eigen­
   den, sind derzeit im großen Maßstab technologisch               ständig Gutachten verfassen und De­karboni­sierungs­
   unsicher und belasten oftmals die Umwelt. Ihre po-              szenarien entwickeln dürfen. In dieser Funktion könnte er
   tenzielle Anwendung sollte daher auf die Kompensa-              dazu beitragen, dass die deutschen Klimaziele konsequent
   tion von absolut unvermeidbaren Restemissionen be-              auf ihre Kompatibilität mit dem Pariser Klimaabkommen
   grenzt werden. Gleiches gilt für die Abscheidung von            geprüft und überarbeitet ­werden.
   CO2 bei Industrieprozessen. Auf die CO2-Abschei-
   dung in fossilen Kraftwerken sollte hingegen zuguns-           Die Europäische Kommission hat mit dem European Green
   ten von erneuerbaren Energien gänzlich verzichtet              Deal vor kurzem vorgeschlagen, die Treibhausgasneutra-
   werden.                                                        lität der EU bis 2050 anzustreben und das Klimaziel für
                                                                  2030 zu überarbeiten. Sie erkennt damit an, dass die bis-
                                                                  herigen europäischen Programme nicht ehrgeizig genug
Deutschland sollte seine Emissionen kurzfristig deutlich          sind. 2020 wird für den europäischen Klimaschutz ein
senken, um Zeit für aufwendigere Klimaschutzmaßnah-               wichtiges Jahr, weil die EU ihre neue Strategie konkre­
men zu gewinnen und insgesamt das mit dem Pariser Ab-             tisieren und mit Leben füllen muss. Die Bundes­regierung
kommen kompatible CO2-Budget einzuhalten. Rasche                  sollte sich auf europäischer Ebene für mehr Klimaschutz
Reduktionen in den kommenden Jahren bedeuten mehr                 stark machen. Während der deutschen EU-Ratspräsident-
Spielraum im nachfolgenden Jahrzehnt.                             schaft im 2. Halbjahr 2020 hat sie die Chance, mit dem
                                                                  ­Pariser Klimaabkommen nachvollziehbar kompatible Klima­
Ambitionierter Klimaschutz ist eine Chance für Deutsch-            ziele und den Budgetgedanken auch auf europäischer
land. Er öffnet Wege für eine wirtschaftliche, technolo-           ­Ebene in der Langfriststrategie bis 2050 zu verankern.
gische und gesellschaftliche Erneuerung. Als ein führen-
des Industrieland mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt,
aber auch hohen Emissionen in Vergangenheit und Ge-               Kreislaufwirtschaft:
genwart, sollte Deutschland einen angemessenen Bei-
trag leisten. Die vorgeschlagene Budgetrechnung steckt            Von der Rhetorik zur Praxis
die Obergrenze eines naturwissenschaftlich, völkerrecht-
lich und unter dem Blickwinkel der globalen Verteilungs-          Deutschland verbraucht nach wie vor zu viele Rohstoffe
gerechtigkeit vertretbaren nationalen Budgets ab. Es gibt         und hält diese zu wenig im Wirtschaftskreislauf. Der „ma-
zahlreiche Gründe, warum es für Deutschland angemes-              terielle Rucksack“, das heißt die Summe aller Rohstoff-
sen wäre, sich zu einem noch deutlich ambitionierteren            aufwendungen, die zur Herstellung der genutzten Pro-
CO2-Budget zu bekennen. Staaten mit geringerer Trans-             dukte und Güter benötigt wird, wog im Jahr 2015 pro
formationskapazität gewännen Spielraum. Deutschland               Kopf 22,6 Tonnen. Damit war er fast doppelt so hoch

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Kreislaufwirtschaft: Von der Rhetorik zur Praxis

ɦɦAbbildung 2

Erweiterung der Abfallhierarchie zu einer Kreislaufwirtschaftshierarchie

                                           Verringerung der Stoffströme

                                   Produkte kreislaufwirtschaftsfähig gestalten

                                                    Vermeidung

                                                Vorbereitung zur
                                                Wiederverwendung
                                           Hochwertiges Recycling und
                                            Schadstoffausschleusung

                                                    Hochwertige
                                                      sonstige
                                                    Verwertung
                                                       Beseiti-
                                                        gung

                                                                                                               SRU 2020

wie der weltweite Durchschnitt von circa 12 Tonnen. Ein      Kreislaufwirtschaft ist auf den ersten Blick für Deutsch-
­hoher Materialverbrauch hat negative Umweltwirkun-          land nichts Neues. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz von
 gen entlang des gesamten Lebenszyklus der daraus her-       2012 nimmt den Begriff als „Vermeidung und Verwertung
 gestellten Produkte und Güter zur Folge: Bereits die Roh-   von Abfällen“ auf. In der Praxis hat sich eine „kreislauf­
 stoffgewinnung führt zu sozialen, ökologischen und ge-      orientierte Abfallwirtschaft“ etabliert mit einem starken
 sundheitlichen Problemen, da in vielen Förderländern        Fokus auf ein ökonomisch ausgerichtetes Recycling sowie
 anspruchsvolle Umwelt- und Sozialstandards fehlen. Die      eine sichere sonstige Verwertung und Beseitigung. Dabei
 Verarbeitung von Rohstoffen ist für bis zu 30 % der glo-    wird insbesondere die letzte Lebensphase eines Produk-
 balen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Auch die       tes berücksichtigt, nicht aber der gesamte Lebenszyklus
 Nutzung der hergestellten Produkte verbraucht häufig        von Produkten und die Verringerung der materiellen Stoff-
 Energie und kann außerdem zu unerwünschten Stoff­           ströme. Das ist aber zu kurz gedacht, denn Abfallverwer-
 einträgen in die Umwelt führen. Nach Gebrauch müssen        tung und die nachfolgende Substitution von Primärroh-
 Produkte als Abfall verwertet oder beseitigt werden.        stoffen durch Sekundärrohstoffe tragen nur wenig dazu
 Dies erzeugt erneut Emissionen, erfordert Energie und       bei, die Rohstoffnutzung insgesamt und die dadurch ver-
 Deponiefläche und unter Umständen weitere Rohstoffe.        ursachten Umweltwirkungen zu ­verringern.

Ein „Weiter so“ ist aus Sicht des SRU nicht vertretbar.      Das zeigt sich beispielsweise am Stoffstrom Kunststoff:
Zukunftsfähig ist nur eine umfassende Kreislaufwirt-         Der Einsatz von Kunststoffen steigt in Deutschland kon-
schaft, die die Nutzung von Rohstoffen insgesamt ver-        tinuierlich. Bei Verpackungen hat er sich zwischen 1991
ringert und Material so lange wie möglich im Wirtschafts-    und 2017 fast verdoppelt. Im Jahr 2017 wurden 6,2 Mio.
kreislauf hält. Um das zu erreichen, müssen Politik und      Tonnen Kunststoffe als Abfälle erfasst. Nur ein kleiner
Gesellschaft den großen Potenzialen von Vermeidung           Prozentsatz dieser Menge gelangt tatsächlich als Sekun-
und den stofflichen Kreisläufen deutlich mehr Aufmerk-       därrohstoff wieder zurück in die Fertigung hochwertiger
samkeit und Gewicht beimessen.                               Kunststoffprodukte.

                                                                                                                       7
Kurzfassung

Bestehende Instrumente der Abfall- und Kreislaufwirt-          ­Nachhaltigkeitsstrategie um einen Konsumindikator
schaft in Deutschland waren aus Sicht des SRU bislang          (RMC) erweitert und nach Rohstoffarten differen-
nicht in der Lage, eine echte Kreislaufwirtschaft zu eta-      ziert werden.
blieren. Qualität und Quantität der Sekundärrohstoffe
müssten deutlich gesteigert werden, um Primärrohstof-       ɦɦ Primärrohstoffe müssen einen „ehrlichen Preis“ er-
fe in spürbarem Ausmaß substituieren zu können. Es feh-        halten, der die externen Umweltkosten internalisiert.
len zudem klare Anreize zur Abfallvermeidung. Obwohl           Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen,
Abfallvermeidung in der europäischen Abfallhierarchie          dass in den rohstofffördernden Ländern Sozial- und
das Ziel mit der höchsten Priorität ist, findet sie in         Umweltstandards umgesetzt werden, die sich entspre-
Deutschland nicht oder nur marginal statt. Zudem ­wurde        chend im Preis widerspiegeln. Ein weiterer Schritt
die Herstellerverantwortung bislang nicht so ver­ankert,       sind ökonomische Instrumente wie eine CO2-Beprei-
dass sie ausreichend zu einer Kreislaufwirtschaft bei-         sung oder eine Rohstoffsteuer.
trägt.
                                                            ɦɦ Maßnahmen der Kreislaufwirtschaft sollten stärker
Die EU geht in ihrem „Aktionsplan für die Kreislaufwirt-       ökologisch und nicht in erster Linie wirtschaftlich aus-
schaft“ von 2015 deutlich weiter als die deutsche Gesetz-      gerichtet sein. Diese Zielausrichtung sollte program-
gebung: Sie fordert eine „stärker kreislauforientierte         matisch verankert und mit Instrumenten, die die öko-
Wirtschaft, bei der es darum geht, den Wert von Produk-        logische Effektivität von Maßnahmen bewerten,
ten, Stoffen und Ressourcen so lange wie möglich zu er-        flankiert werden.
halten und möglichst wenig Abfall zu erzeugen“. Die EU
bezieht in ihre Programme ausdrücklich die Produktions-     ɦɦ Die Abfallvermeidung muss gestärkt und die Nut-
und Konsumphase mit ein. Das ist aus Sicht des SRU der          zungsdauer von Produkten verlängert werden. Die
richtige Ansatz. Allerdings fehlt auch auf europäischer         Bundesregierung sollte sich auf EU-Ebene dafür
Ebene bisher eine konsequente Produktpolitik mit ent-           ­einsetzen, dass die Ökodesign-Richtlinie auf weitere
sprechenden Instrumenten, die Stoffströme steuern und            Produktgruppen ausgeweitet und spezifiziert wird.
die Produktgestaltung beeinflussen. Weder auf europä-            Anforderungen an Langlebigkeit, Reparierbarkeit
ischer noch auf nationaler Ebene ist das Ziel verankert,         und Recyclingfähigkeit sollten zügig erarbeitet und
insgesamt weniger Rohstoffe zu nutzen.                         ­verbindlich werden.

Die gegenwärtige Abfallhierarchie muss daher aus            ɦɦ Die Herstellerverantwortung für die Entsorgung
Sicht des SRU um zwei Stufen erweitert werden: ers-            von Elektroschrott, Batterien, Altfahrzeugen und
tens die generelle Verringerung der Stoffströme und            ­Ver­packungen ist weiterzuentwickeln. Es muss klar
zweitens eine kreislaufwirtschaftsfähige Gestaltung             geregelt werden, dass die Kosten einer Kreislaufwirt-
von Pro­dukten. Die gezielte Verringerung umwelt­               schaft durch die Produktverantwortlichen getragen
relevanter Stoffströme würde die Umweltwirkungen                und transparent im Produktpreis ausgewiesen wer-
entlang der g­esamten Rohstoff- und Produktkette                den. Um den Binnenmarkt zu wahren und Kosten-
­mindern. Eine langlebige, reparaturfreundliche, recyc­         wahrheit zu erzielen, sollte sich Deutschland auch auf
 linggerechte und schadstofffreie Gestaltung ist Voraus-        EU-Ebene mehr als bisher für die Verankerung der
 setzung für die ­Abfallvermeidung und ein hochwer­             Herstellerverantwortung einsetzen. Auf nationaler
 tiges Recycling.                                               Ebene sollte die Bundesregierung die Einführung ei-
                                                                ner Herstellerverantwortung für Möbel und Textilien
Damit die Kreislaufwirtschaftspolitik zu einer vorsor­          prüfen, weil diese in großen Mengen produziert wer-
genden Umweltpolitik wird, sind folgende strategische           den, oft hohe Schadstoffgehalte aufweisen und zuneh-
Handlungsansätze entscheidend:                                  mend kurz genutzt werden. Produkte sollten so weit
                                                                wie möglich schadstofffrei sein, um eine Kreislauffüh-
ɦɦ Der Input an Rohstoffen für Produkte, Infrastruktu-          rung der ­Materialien zu vereinfachen und hochwerti-
   ren und Dienstleistungen muss verringert werden.             ge, unbelastete Sekundärrohstoffe gewinnen zu kön-
   Der SRU empfiehlt, ein nationales Rohstoffinventar           nen. Im Rahmen der zukünftigen EU-Produkt- und
   zu etablieren, auf dessen Basis priorisiert werden           Chemikalienpolitik sollten Positivlisten für Inhalts-
   kann, welche Stoffströme aus Umweltsicht am                  stoffe entwickelt werden, die den Herstellern Infor-
   ­dringendsten reduziert werden sollen. Außerdem              mationen darüber geben, welche Inhaltsstoffe eine
    ­sollte der Indikator Gesamtrohstoffproduktivität der       hochwertige Verwertung ermöglichen.

8
Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen

ɦɦ Recycling muss nicht nur an Quoten und Mengen,            schen Programme zum nachhaltigen Konsum, zur
   sondern auch an seiner Qualität gemessen werden.          Abfallvermeidung und zur Ressourcen­effizienz aus­
   Die stoffliche Verwertung muss so gestaltet sein, dass    reichend erfolgt.
   sie ökonomisch mit der Primärherstellung eines Roh-
   stoffs konkurrieren kann. Der SRU schlägt insbeson-       Eine umfassende und ambitionierte Umsetzung des
   dere bei Altfahrzeugen und Elektroaltgeräten die          Konzeptes der Kreislaufwirtschaft ist eine große Her-
   ­Einführung von transparenten, vorgezogenen Recyc-        ausforderung – aber eine, der sich die Politik stellen
    lingabgaben vor, um ambitionierte Anforderungen an       muss. Bereits in den 1990er-Jahren hat die Enquete-
    Verwertung und Demontage zu realisieren. Um ein          Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“
    hochwertiges Recycling zu erreichen, sollten Recyc-      des deutschen Bundestages einen Bericht zu „Perspek-
    lingquoten um ein Set an weiteren Anforderungen          tiven für einen nachhaltigen Umgang mit Stoff- und
    ­ergänzt werden. Hierzu zählen beispielsweise Be­        Materialströmen“ verfasst. Mit dem Rückenwind durch
     handlungsanforderungen, die Definition von Output-      den European Green Deal und dem dort verankerten
     qualitäten und Monitoringvorgaben.                      New Circular Economy Action Plan hat Deutschland
                                                             die Chance, wichtige Weichenstellungen zu initiieren
  Eine Kreislaufwirtschaft nimmt alle in die Pflicht: Roh-   und so die Kreislaufwirtschaft von der Rhetorik in die
stofferzeuger, Importeure, Hersteller, Handel, die Ver-      Praxis zu bringen.
wertungs- und Entsorgungsbranche sowie Konsumen-
tinnen und Konsumenten. Mit ihrem Konsum sind
insbesondere öffentliche Institutionen von Bund, Län-
dern und Kommunen nicht nur ein wichtiger Faktor des         Wasserrahmenrichtlinie
gesamtwirtschaftlichen Materialumsatzes, sondern sie
haben gleichzeitig eine Vorbildfunktion. Die öffentliche     für die ökologische
Hand sollte Motor für die Transformation hin zu einer        Gewässerentwicklung nutzen
ökologisch ausgerichteten Kreislaufwirtschaft sein. Die
Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes bietet dafür ei-
nen Ansatz. Sie sieht derzeit eine Bevorzugungspflicht        Intakte Gewässer sind Voraussetzung für funktionie-
für ökologisch vorteilhafte Erzeugnisse im Rahmen der         rende Ökosysteme, für Artenvielfalt und lebendige
öffentlichen Beschaffung vor. Der SRU empfiehlt drin-         Landschaften, aber auch für eine nachhaltige Nutzung
gend, an dieser Pflicht festzuhalten. Öffentliche Einrich-    durch den Menschen. Sie stellen eine Vielzahl von Öko-
tungen – allen voran die Einrichtungen des Bundes –           systemleistungen bereit (Abb. 3). Oberflächengewäs-
­sollten außerdem Selbstverpflichtungen eingehen, die         ser werden zudem durch das Klimageschehen beein-
 unter anderem Recyclingprodukte bevorzugen und               flusst: Der Klimawandel hat direkten Einfluss auf die
 ­Abfälle gezielt vermeiden.                                  Wassertemperatur. Außerdem wirkt er sich über die
                                                              Zunahme von Extremwetterereignissen wie zum Bei-
Kreislaufwirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern             spiel Starkregen auch auf die Wasserführung aus. Um-
ein unverzichtbares Instrument für Umwelt- und                gekehrt können ­Auswirkungen des Klimawandels durch
­Ressourcenschutz. Es bedarf dringend einer Reduzie-          intakte Wasserkörper und ihre Auen gemildert oder
 rung des Rohstoffbedarfs. Sowohl auf europäischer als       ­gebremst werden.
 auch auf nationaler Ebene sollte das Ziel, die gesell-
 schaftlichen Stoffströme zu verringern, in politischen      Seen, Bäche und Flüsse in Europa dienen dem Menschen
 Strategien und Programmen verankert werden. Die             seit Jahrhunderten als Transportwege, zur Trinkwasser-
 Bundesregierung sollte konkrete, quantitative Ziele für     und Energiegewinnung sowie zur Erholung. Als Folge
 spezifische Rohstoffe entwickeln. Sie könnte diese          sind die Oberflächengewässer in der EU großflächig über-
 beispielsweise im Deutschen Ressourceneffizienz­
 ­                                                           nutzt. Stoffeinträge und Eingriffe des Menschen in die
 programm (ProgRess) oder im Nationalen Programm             Struktur haben Flüsse, Auen und Seen beeinträchtigt und
 für Nachhaltigen Konsum verankern. Aus Sicht des SRU        geschädigt. Die Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr
 ist es zudem notwendig festzulegen, welche Stoff­           2000 verpflichtet daher die Mitgliedstaaten, bis spätes-
 ströme prioritär gelenkt werden sollten und welche          tens 2027 alle europäischen Gewässer in einen definier-
 ­Ansatzpunkte über den Lebenszyklus den besten öko-         ten „guten Zustand“ zu versetzen. Dieser gute Zustand
  logischen Effekt bringen. Dies ist bisher weder im EU-     umfasst zum einen chemische Qualitätsnormen, wie die
  Kreislaufwirtschaftspaket noch im Rahmen der deut-         Belastung des Wassers durch bestimmte Schadstoffe,

                                                                                                                    9
Kurzfassung

ɦɦAbbildung 3

Ökosystemleistungen von Flüssen und Auen

                                                     Regulation
                                            • Habitatbereitstellung
                                            • Klima
                                            • Retention von Stoffen (C, N, P)
                                            • Sediment und Entwässerung

                Versorgung                                                                   Kultur
              • Transportweg                                                             • Landschafts-
              • Trinkwasser                                                                bild
              • Nahrungs-                                                                • Natur- und
                mittel                                                                     Kulturerbe
              • Energie                                                                  • Bildung und
              • Kühlung                                                                    Wissenschaft
              • Bewässerung                                                              • Freizeit und
                und Rohstoffe                                                              Erholung

                                                       Basis

                                                        Basis
                                                   • Morphologie
                                                   • Wasserhaushalt

                                                                           SRU 2020; Datenquelle: PODSCHUN et al. 2018

zum anderen ökologische Parameter, wie die Durchgän-        Ge­wässer sind übermäßig mit Nährstoffen, Pestiziden
gigkeit der Flüsse oder ihre Ufer- und Gewässerbettstruk-   und anderen Schadstoffen aus Landwirtschaft, Gewerbe,
tur. Beide Aspekte sind für das Leben von Pflanzen und      aber auch aus Verkehr und Siedlungen belastet.
Tieren essenziell.
                                                             Zudem gibt es nur wenige Flüsse ohne hydromorpholo-
Deutschland ist allerdings weit davon entfernt, die Zie-    gische Modifikationen, das heißt ohne Veränderungen
le der Wasserrahmenrichtlinie zu erreichen: Im Jahr 2015    an Struktur und Wasserhaushalt. Die meisten Fließge-
– mit Abschluss des ersten Bewirtschaftungszyklus –         wässer wurden in der Vergangenheit durch den Menschen
­waren 92 % der bewerteten Oberflächenwasserkörper in       verändert: Sie wurden vertieft, begradigt, eingedeicht,
 keinem „guten ökologischen Zustand“. Das bedeutet,         von Überschwemmungsflächen abgeschnitten oder in
 dass nur wenige Flüsse und Seen naturnahe Bedingun-        ihrer Durchgängigkeit für Fische und andere Lebewesen
 gen für Pflanzen und Tiere bieten und über eine aus­       gestört. Gerade diese hydromorphologischen Eingriffe
 reichend gute Wasserqualität verfügen. Kein einziger       bedürfen aus Sicht des SRU einer deutlich höheren
 Oberflächenwasserkörper in Deutschland ist derzeit in      ­Aufmerksamkeit und stehen daher im Vordergrund des
 einem „guten chemischen Zustand“. Viele untersuchte         Umweltgutachtenkapitels.

10
Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen

Es zeichnet sich nicht ab, dass innerhalb der (bereits ver-   Ist ein Flächenerwerb auf privatrechtlicher Basis nicht
längerten) Frist bis 2027 eine Trendwende des Zustands        möglich, kommen Flurbereinigungsmaßnahmen in Be-
der Gewässer gelingt. Zum einen liegt das daran, dass         tracht. Gewässerentwicklungspläne enthalten die erfor-
für die Zielerreichung der Wasserrahmenrichtlinie in          derlichen Maßnahmen für Schutz und Renaturierung und
Deutschland vor allem auf Freiwilligkeit und Koopera­         begründen deren Notwendigkeit. Sinnvoll wäre ein zwei-
tion gesetzt wird. Gewässerschutz und Gewässerentwick-        stufiges System: Auf regionaler Ebene wird die überge-
lung mangelt es daher an der notwendigen Verbindlich-         ordnete Planung erstellt, auf Gemeindeebene erfolgt die
keit. Zum anderen fehlt ein starker politischer Wille, dem    Konkretisierung der Maßnahmen und die notwendige
Thema das notwendige Gewicht zu verleihen.                    Beteiligung und Kommunikation – wobei auch eine Kom-
                                                              munikation über Erfolge im Gewässerschutz vor Ort ein
Der SRU sieht vor allem drei Hürden bei der Anwendung         wichtiger Aspekt ist.
der Wasserrahmenrichtlinie:
                                                              Zur ökologischen Entwicklung der Gewässer muss ­zudem
ɦɦ Mangelnde Flächenverfügbarkeit: Damit Gewässer             das Wasserhaushaltsgesetz weiterentwickelt werden.
   sich erholen und renaturiert werden können, benöti-        Dazu ist es insbesondere erforderlich, dass die Bundes-
   gen sie Raum. Dieser muss im Zugriff oder im Besitz        länder den Raum, den die Gewässer für ihre naturnahe
   der Behörden und Maßnahmenträger sein, was oft             Entwicklung benötigen, als Gewässerentwicklungs­
   nicht der Fall ist.                                        flächen bestimmen. Innerhalb dieser Flächen sollten sie
                                                              Schwerpunktflächen benennen können, auf denen sie
ɦɦ Unzureichende finanzielle und personelle Ausstat-          beispielsweise Bewirtschaftungsverbote bzw. Einschrän-
   tung: Die ökologische Gewässerentwicklung ist oft          kungen verhängen können. Der SRU empfiehlt dem Bund
   unterfinanziert. Zudem fehlt Fachpersonal für die Um-      zudem, das Vorkaufsrecht der Länder um Grundstücke,
   setzung der Wasserrahmenrichtlinie insbesondere bei        auf denen Gewässerentwicklungsflächen liegen, zu er-
   kleinen Verbänden und Kommunen.                            weitern. Außerdem sollten Unterhaltungsträger grund-
                                                              sätzlich zu Maßnahmen des naturnahen Gewässer­
ɦɦ Unzureichende Akzeptanz für Maßnahmen: Vielen              ausbaus verpflichtet werden – verbunden mit der Pflicht
   Akteuren und Betroffenen sind die Ziele der Wasser-        für die Bundesländer, sie hierfür bei der Ausstattung
   rahmenrichtlinie und die große Bedeutung von Ge-           mit Ressourcen (Finanzmittel und Personal) zu unter­
   wässerschutz für Umwelt und Klima nicht oder nicht         stützen.
   ausreichend bekannt. Da Gewässernutzende oft un-
   terschiedliche Interessen verfolgen, führt dies zu Wi-     Damit der Gewässerschutz an Durchsetzungskraft ge-
   derständen und Verzögerungen bei der Umsetzung.            winnt, schlägt der SRU eine gemeinsame Initiative von
                                                              Bund und Ländern vor. Diese könnte Kommunen und
Gewässerschutz und Gewässerrenaturierung sind                 Verbände, Gewässernutzende sowie die Öffentlichkeit
­komplexe Aufgaben – umso mehr, als es in der Wasser-         für die Bedeutung des Gewässerschutzes sensibilisieren.
 rahmenrichtlinie um die Verbesserung länder- und             Gleichzeitig könnte sie die Ausbildung in einschlägigen
 ­grenzüberschreitender Flusseinzugsgebiete geht. Der         Berufen fördern und das Bewusstsein dafür schärfen, die
  Planungs- und Abstimmungsbedarf von Behörden, Ver-          erforderlichen Stellen einzurichten und langfristig zu
  bänden und einzelnen Akteuren ist daher enorm. In der       ­sichern. Eine solche Bund-Länder-Initiative sollte stra-
  Vergangenheit konnte zwar punktuell die Hydromorpho-         tegisch an den „Nationalen Wasserdialog“ anknüpfen,
  logie von Gewässern oder Gewässerabschnitten verbes-         der im Zuge der UN-Wasserdekade (2018–2028) ins
  sert werden. Aus den oben genannten Gründen gelang           ­Leben gerufen wurde.
  es jedoch nicht, die Erfordernisse einer ökologischen Ge-
  wässerentwicklung flächendeckend zu berücksichtigen         Ohne ausreichende finanzielle Mittel ist eine ökologi-
  und die Gewässer in Deutschland systematisch zu re­         sche Entwicklung der Gewässer nicht möglich. Es gäbe
  naturieren.                                                 durchaus Ansatzpunkte, die Finanzierung zu verbessern.
                                                              Der Bund ist gefordert, Gelder und Fachpersonal für den
Der SRU hält es für dringend erforderlich, dass mehr Flä-     ökologischen Ausbau der Bundeswasserstraßen entspre-
chen für eine ökologische Gewässerentwicklung verfüg-         chend den Zielen der Wasserrahmenrichtlinie bereitzu-
bar gemacht werden. Wesentliches Instrument dafür ist         stellen. Förderinstrumente können so angepasst werden,
eine Fachplanung, die den Flächenbedarf und Wege zur          dass sie die Ziele der Richtlinie besser berücksichtigen.
Flächensicherung konkret und nachvollziehbar benennt.         Über die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und

                                                                                                                    11
Kurzfassung

­ üstenschutz“ sollte beispielsweise eine Finanzierung
K                                                            Weniger Verkehrslärm für mehr
des Flächenerwerbs ermöglicht werden. Außerdem emp-
fiehlt der SRU Bund und Ländern, mittelfristig eine neue     Gesundheit und Lebensqualität1
Gemeinschaftsaufgabe „Natur-, Gewässer- und Hoch-
wasserschutz“ auf den Weg zu bringen. Bundesländer           Störender Umgebungslärm gehört für viele Menschen in
sollten nicht zuletzt zu einer besseren Nutzung natio­       Deutschland zum Alltag. Laut einer repräsentativen Be-
naler und europäischer Finanzierungsinstrumente bei-         fragung aus dem Jahr 2016 fühlten sich 80 % der Men-
tragen. Beispielsweise können sie das Wasserentnahme-        schen in Deutschland durch Verkehrs-, Gewerbe- und
entgelt für einen ökologischen Gewässerausbau besser         Nachbarschaftslärm belästigt. Vor allem der Verkehrslärm
nutzbar machen.                                              ist ein erhebliches Gesundheitsrisiko: Jeder zehnte
                                                             Mensch in Deutschland ist durch den Straßenverkehr
 Unstrittig ist, dass naturnahe Gewässer von grundlegen-     von einem Lärmpegel betroffen, der nach Einschätzung
 der Bedeutung für Mensch, Natur und eine nachhaltige        der Weltgesundheitsorganisation (WHO) krank machen
 Entwicklung sind. Sie sind unverzichtbar für die An­        kann. Chronischer Lärm begünstigt unter anderem das
 passung an den Klimawandel und den Schutz der Bio­          Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Steigt der
 diversität. Insbesondere der Klimawandel wird in den        Dauerschallpegel von Straßenverkehrslärm um 10 dB(A),
 kommenden Jahren eine immer größere Rolle spielen.          nimmt das relative Risiko einer koronaren Herzerkran-
 Gewässerschutz ist eine Generationenaufgabe und es          kung um 8 % zu. Kinder sind in besonderem Maße schutz-
 dauert zum Teil Jahre oder gar Jahrzehnte, bis Maß­         bedürftig, weil die Gesundheit und Entwicklung in die-
 nahmen umgesetzt sind und ihre positiven Wirkungen          ser sensiblen Lebensphase durch Lärmimmissionen
 entfalten. Die Wasserrahmenrichtlinie, so komplex sie       negativ beeinflusst werden kann.
 auch ist, richtet den Blick auf die länderübergreifende
 Bedeutung intakter Gewässer und verknüpft den Ge­           Zudem sind sozial benachteiligte Menschen diesen Risi-
 wässerschutz mit anderen Zielen des Naturschutzes und       ken oft stärker ausgesetzt, da sie häufiger in Gebieten
 den Interessen des Allgemeinwohls. Diese Tatsache           wohnen, die durch einen hohen Verkehrslärm geprägt
 muss ­besser kommuniziert und als Chance genutzt            sind. Doch selbst bei räumlich gleicher Verteilung von
­werden.                                                     Umgebungslärm kann es aufgrund unterschiedlicher
                                                             ­Vulnerabilitäten der jeweiligen Bevölkerungsgruppen zu
Gewässerschutz braucht wegen seiner herausragenden            sozial ungleichen Gesundheitswirkungen kommen.
Bedeutung mehr Aufmerksamkeit nicht nur in der Um-
weltpolitik, sondern auch in anderen Politikbereichen.       Der Schutz vor Lärm muss daher in Deutschland dringend
Beispielsweise sollte die Gemeinsame Agrarpolitik der        verbessert werden. Die europäische Umgebungslärmricht-
EU deutlich stärker den Schutz der Gewässer und eine         linie ist das zentrale politische Instrument, welches Vor-
ökologische Gewässerentwicklung adressieren.                 gaben zum Management von Umgebungslärm macht. Um-
                                                             setzung und Vollzug dieser Richtlinie haben in Deutschland
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es nicht gelingen, alle   bislang aber noch zu wenig bewirkt. Die Richtlinie schreibt
Gewässer in Deutschland bis 2027 in einen guten Zu-          vor, wie die Lärmkartierung in den Mitgliedstaaten zu er-
stand zu versetzen. Dennoch müssen im verbleibenden          folgen hat und macht Vorgaben zur Aufstellung der Lärm­
Zeitraum alle Anstrengungen unternommen werden, dem          aktionspläne. Außerdem müssen in Ballungsräumen r­ uhige
Ziel möglichst nahe zu kommen. Auch nach 2027 sollte         Gebiete ausgewiesen werden. Die Darstellung der Lärm-
die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie mit hohem           belastung durch die vorgeschriebene Lärmkartierung ist
Ambitionsniveau fortgeführt werden. Werden Maßnah-           ein wichtiger Beitrag zum Lärmschutz. Es werden aller-
men gut geplant und die betroffenen Akteure frühzeitig       dings im Wesentlichen Großflughäfen, Hauptverkehrs­
eingebunden, können Nutzungskonflikte vermieden und          straßen sowie Haupteisenbahnstrecken kartiert und da-
die Akzeptanz gesteigert werden. Ein ökologisch und che-     mit nicht alle Betroffenen erfasst.
misch guter Zustand der Binnengewässer einschließlich
der Auen ist unbestritten eine Herausforderung für alle,     Für die Lärmkartierung und die Lärmaktionsplanung sind
zugleich aber der einzige Weg, diese als Lebensadern der     vor allem die Kommunen zuständig. Diese können viel
Landschaft und Hotspots der Biodiversität zu reaktivie-      für eine Senkung der Lärmbelastung tun, für etliche Maß-
ren und zu erhalten.
                                                             1 Zu diesem Kapitel vertritt Prof. Dr.-Ing. Messari-Becker eine
                                                             abweichende Auffassung, s. Anhang der Langfassung.

12
Weniger Verkehrslärm für mehr Gesundheit und Lebensqualität

ɦɦAbbildung 4

Potenzielle gesundheitliche Auswirkungen von Lärm

                                                   Physiologische und            Risikofaktoren für Herz-         Herz-Kreislauf-
                                                       biologische                     Kreislauf- und             Erkrankungen
                                                    Stressreaktionen             Stoffwechselkrankheiten    •   Bluthochdruck
                                               •   Veränderungen im          •     ↑ Blutdruck              •   Arterienverkalkung
                                                   vegetativen               •     ↑ Blutfette              •   Koronare
                                                   Nervensystem              •     ↑ Blutzucker                 Herzerkrankung
                                               •   Veränderungen im          •     ↑ Blutgerinnungs-
                                                   Hormonsystem                    faktoren
 Schallimmissionen
                                                                                                                  Stoffwechsel-
                                 Bewertung
                           •   Akustische                                                                         erkrankungen
                               Eigenschaften                                                                •   Typ-2-Diabetes
                           •   Kontext
                           •   Individuelle
                               Eigenschaften         Störungen von
                                               •   Schlaf                                                        Schlafstörungen
                                               •   Aktivitäten
                                               •   Konzentration
                                               •   Kommunikation

                                                                                     Psychologische             Mentale Gesundheit
                                                                                    Stressreaktionen            und Wohlbefinden

     Subjektive und intersubjektive
     gesundheitliche Auswirkungen                     Belästigung
                                                                                                                     Kognitive
     Physische und psychische                                                                                   Leistungsfähigkeit
     gesundheitliche Auswirkungen

                                                                                                                               SRU 2020

nahmen fehlt ihnen aber die Zuständigkeit. Nur etwa ein              ­ öhere Lärmpegel verwendet, die auch weit oberhalb
                                                                     h
Drittel der Gemeinden, die eine Lärmkartierung durch-                der aktuellen WHO-Leitlinienwerte liegen. Fachleute
geführt haben, hat bisher Aktionspläne zur Lärmminde-                empfehlen, zum Schutz der menschlichen Gesundheit
rung aufgestellt. Auch werden von den Kommunen bis-                  65 dB(A) am Tag und 55 dB(A) in der Nacht als Ober-
her zu wenig ruhige Gebiete festgelegt und in Richtung               grenze für die zulässige Lärmbelastung heranzuziehen.
mehr Lärmschutz entwickelt. Der SRU hält es für not-                 Der SRU schlägt vor, dass diese Grenzwerte für beste-
wendig, Umsetzung und Vollzug der Umgebungslärm-                     hende Straßen und Schienenwege in Wohngebieten
richtlinie in Deutschland zu verbessern. Ein wesentli-               bundesweit gesetzlich festgeschrieben werden. Lang-
cher Schritt dafür wäre die Einführung einer Verordnung              fristig sollten sie auf 55 dB(A) tags bzw. 45 dB(A)
mit bundesweit einheitlichen Auslösewerten, ab denen                 nachts abgesenkt werden.
Kommunen verpflichtet sind, Lärmaktionspläne aufzu-
stellen. Diese Auslösewerte sollten bei 65 dB(A) tags                Oft fehlen den Kommunen ausreichende Finanzmittel
bzw. 55 dB(A) nachts liegen. In der Verordnung sollte                zur Minderung des Straßenverkehrslärms. Lärmschutz
auch geregelt werden, dass Ballungsräume ruhige Gebie-               gelingt jedoch nur auf Basis einer sicheren und plan­baren
te in ausreichender Zahl und verteilt über den gesamten              Finanzierung. Eine sinnvolle Unterstützung der Kom-
Ballungsraum ausweisen. Außerdem sollte die Verbind-                 munen wäre ein Bundesfinanzierungsprogramm, auf das
lichkeit kommunaler Lärmaktionspläne im Bundesrecht                  sich Bund und Länder bislang aber nicht verständigen
verankert werden, sodass diese eine Außenwirkung ge-                 konnten. Aus Sicht des SRU stehen Bund und Länder
genüber anderen Fachplanungen erhalten.                              ­gemeinsam in der Verantwortung, Kommunen bei der
                                                                      Finanzierung von Lärmschutz an Straßen in kommu­naler
Verbindliche Vorsorgewerte für den Lärmschutz gibt                    Baulast zu unterstützen. Das könnte beispielsweise durch
es in Deutschland nur für den Neubau und die wesent-                  eine Neuauflage eines gemeinsamen langfristigen
liche Veränderung von Straßen und Schienenwegen.                      ­In­vestitionsprogramms und eine bessere Integration
Für bestehende Straßen und Schienenwege werden                         von Lärmschutz in die Städtebauförderung geschehen.

                                                                                                                                     13
Kurzfassung

Schutz vor Verkehrslärm muss auch an der Quelle anset-           dend, um die Akzeptanz in der Bevölkerung für Lärm-
zen. Maßnahmen, die direkt die Fahrzeuggeräusche redu-           minderungsmaßnahmen und die Bereitschaft in der
zieren, haben den großen Vorteil, dass die Lärmminderung         Politik zur Finanzierung entsprechender Maßnahmen
flächendeckend erfolgt und somit alle Menschen davon             zu erhöhen. Es sollte daher ein interministerieller Aus-
profitieren. Die aktuell geltenden Geräuschgrenzwerte            schuss „Verkehrslärm und Gesundheit“ eingerichtet
­sowohl für Straßen- und Schienenfahrzeuge als auch für          werden, der darauf hinwirkt, ein ressortübergreifen-
 Flugzeuge schöpfen aber das technische Potenzial zur            des Verständnis zur Bedeutung von Verkehrslärm für
 Lärmminderung nicht aus. Es ist daher erfor­derlich, dass       den Gesundheitsschutz zu entwickeln.
 sich die Bundesregierung für ambitionierte Geräuschgrenz-
 werte bei Fahrzeugen einsetzt, für Straßen- und Schienen-    ɦɦ Lärm ist ungleich verteilt: Vor allem sozial Benachtei-
 fahrzeuge auf EU-Ebene und für Flugzeuge auf interna­           ligte sind überdurchschnittlich häufig von starkem
 tionaler Ebene. Für Güterzüge, die meist nachts unterwegs       Verkehrslärm betroffen. Damit sind sie höheren
 sind, sollte das lärmabhängige Trassenpreissystem so wei-       ­lärmbedingten Gesundheitsgefahren ausgesetzt als
 terentwickelt werden, dass es einen ökonomischen Anreiz          einkommensstarke Haushalte. Weder in der Lärm­
 setzt, möglichst leise Züge zu verwenden. Auch im Luft-          minderungs- noch in der Luftreinhalteplanung finden
 verkehr sind weitere Maßnahmen zur Lärmminderung                 umweltbezogene Ungleichheiten ausreichend Be­
 ­geboten. So sollten bei der Festlegung von Flugrouten und       rücksichtigung. Daher empfiehlt der SRU, den Ansatz
  im bundesweiten ­Luftverkehrskonzept Lärmschutz­                Umweltgerechtigkeit sowohl in die Lärmaktions­
  gesichtspunkte stärker ­beachtet werden. Zudem schließt         planung aufzunehmen als auch als ein Querschnitts-
  sich der SRU der ­Empfehlung des Umweltbundesamtes an,          ziel in kommunale Leitbilder einzuführen.
  in der Zukunft ein Nachtflugverbot an stadtnah gelegenen
  Flughäfen festzulegen.                                       Lärmbelastung ist kein isoliertes Umweltproblem. Die
                                                              WHO empfiehlt, dass die Konzepte zur Bekämpfung von
Um den Lärm durch Straßenverkehr in Ballungsräumen            Umgebungslärm und zur Bekämpfung anderer Umwelt-
zu verringern, muss Autoverkehr vermieden, verlang-           risiken koordiniert werden. Aus Sicht des SRU sollten
samt und auf leisere Verkehrsmittel verlagert werden.         künftig die Bundesländer Regelungen schaffen, die zur
Das könnte durch eine Regelhöchstgeschwindigkeit in           Aufstellung von integrierten Verkehrsentwicklungs­
geschlossenen Ortschaften von nur noch 30 km/h, ein           plänen in Städten ab 50.000 Einwohnerinnen und Ein-
gezieltes Parkraummanagement in den Städten und eine          wohnern verpflichten. Der große Vorteil ist: Integrierte
streckenabhängige Pkw-Maut erreicht werden. Wer ohne          Verkehrsentwicklungspläne verzahnen Belange von
Auto mobil sein will, braucht eine attraktive Alternative.    Stadtentwicklung mit Lärmvorsorge, Umwelt- und
Kommunen und Regionen müssen daher den Umwelt-                ­Klimaschutz. Sie mindern dadurch nicht nur den All­
verbund aus ÖPNV sowie Fuß- und Radverkehr stärken,            tagslärm, sondern auch die Luftbelastung, fördern Grün-
ausbauen und modernisieren. Dazu gehört auch, dass die         räume und die Entwicklung von ruhigen Gebieten. Mehr
Ausweisung von Busspuren und Fahrradstraßen verein-            Gesundheit und mehr Lebensqualität für alle – das sind
facht wird.                                                    nicht zuletzt starke Argumente, um die Akzeptanz für
                                                               die notwendige Verkehrswende zu steigern.
Zwei bedeutsame Aspekte haben in der Debatte um Lärm-
schutz bisher zu wenig Beachtung gefunden:

ɦɦ Lärm macht krank: Beim Verkehrslärm ist häufig nur         Aktive und umweltfreundliche
   von Belästigungen die Rede. Dass chronischer Lärm          Stadtmobilität:
   darüber hinaus durch weitere gesundheitsrelevante
   Auswirkungen zur Krankheitslast beiträgt und so zu         Wandel ermöglichen2
   hohen Folgekosten führt, wird immer noch zu wenig
   beachtet. Das Umweltbundesamt hat berechnet, dass          Wie sollen wir uns künftig in der Stadt fortbewegen?
   allein der Straßenverkehrslärm in Deutschland im Jahr      ­Attraktive Städte sind vor allem solche, in denen die
   2016 insgesamt 1,68 Mrd. Euro Krankheitskosten ver-         ­Menschen gerne zu Fuß gehen und Rad fahren, die
   ursacht hat. Die negativen gesundheitlichen Auswir-          ­kurze Wege haben und über eine gute Versorgung mit
   kungen von Lärm und die damit verbundenen hohen
   krankheitsbedingten Kosten werden bisher noch nicht        2 Zu diesem Kapitel vertritt Prof. Dr.-Ing. Messari-Becker eine
   ausreichend kommuniziert. Dies ist aber entschei-          abweichende Auffassung, s. Anhang der Langfassung.

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Aktive und umweltfreundliche Stadtmobilität: Wandel ermöglichen

ö­ ffentlichem Nahverkehr verfügen. Wenn private Pkw den       Mobilität ist Bewegung. Im Stadtverkehr der Zukunft
 Stadtverkehr weniger dominieren und weniger Parkraum          sollten daher Fuß- und Radverkehr eine wichtige Rolle
 beanspruchen, sind auch kompakte Siedlungsstrukturen          spielen. Wer zu Fuß geht oder Rad fährt, fördert seine
 mit einer hohen Grünraumversorgung vereinbar. Ziel            Gesundheit sowie kognitive Fähigkeiten und beugt Er-
 ist ein Wandel des Alltagsverkehrs, der die Mobilität         krankungen vor. Der Weltgesundheitsorganisation zu-
 ­Einzelner auf nachhaltige Weise sicherstellt. Er soll den    folge bewegen sich hierzulande 42 % der Erwachsenen
  Belangen von Umwelt- und Klimaschutz gerecht werden,         zu wenig. Damit gehört Deutschland zu den Ländern in
  Alternativen zum Auto bieten, sicher und barrierefrei sein   Europa, in denen der Bewegungsmangel am größten ist.
  und grundsätzlich allen Menschen unabhängig vom Alter        Fuß- und Radverkehr beleben außerdem den öffentlichen
  und sozialen Status zugutekommen. Eine solche städti-        Raum, fördern die lokale Wirtschaft und ermöglichen
  sche Mobilitätswende, verstanden als nachhaltige Verän-      Begegnung sowie Kommunikation. Der Nationale Rad-
  derung des Mobilitätsverhaltens, leistet damit einen ent-    verkehrsplan sollte deshalb ambitioniert fortgeschrieben
  scheidenden Beitrag zur Verkehrswende ins­gesamt.            und eine Nationale Fußverkehrsstrategie verabschiedet
                                                               werden.
Der Stadtverkehr wird aber seit Jahrzehnten vom Auto
dominiert. Die Folgen sind Lärm, Luftverschmutzung,            Große Aufmerksamkeit erfahren derzeit neuartige Mo-
ein wachsender Flächen- und Energieverbrauch, aber             bilitätsangebote der Shared Mobility, vom stationslosen
auch hohe Gesundheits- und Umweltkosten.                       Carsharing bis zum E-Scooterverleih. Die Umweltaus-
                                                               wirkungen dieser Angebote sind jedoch differenziert zu
Gerade in den Städten kann die Alltagsmobilität so trans-      bewerten und fallen insbesondere dann negativ aus, wenn
formiert werden, dass die Lebensqualität der Menschen          sie den Umweltverbund ersetzen. Ziel sollte es aus öko-
im Mittelpunkt steht. Kurze Wege, gut ausgebaute Rad-          logischer Sicht daher sein, dass die Sharing-Angebote
und Fußwegestrecken, kurz getaktete Bahnen und Elek-           den ÖPNV in Erschließungslücken ergänzen und die in-
trobusse ermöglichen eine neue Art von Verkehr, der um-        termodale Fortbewegung in der Stadt jenseits des Autos
weltschonend, zügig, gesund und stressarm ist. Ein             erleichtern. Dazu bedarf es einer stärkeren räumlichen
attraktiver Stadtverkehr im Umweltverbund aus ÖPNV             Steuerung der Angebote.
sowie Fuß- und Radverkehr käme der Mehrheit der Be-
völkerung zugute. Denn in Groß- und Mittelstädten, also        Eine Mobilitätswende erfordert eine Kopplung von Maß-
in Städten mit mindestens 15.000 Einwohnerinnen und            nahmen, die die Rahmenbedingungen für den Umwelt-
Einwohnern, leben knapp 80 % der Menschen in Deutsch-          verbund verbessern (Pull-Instrumente), mit solchen,
land. In den Städten ist ein Trend zu weniger motori­          die den motorisierten Individualverkehr in den Städten
siertem Individualverkehr erkennbar, auch wenn dieser          reduzieren (Push-Instrumente). Neben Ausbau und
Wandel nur langsam vorangeht. Das zeigt sich nicht nur         ­Stärkung des Umweltverbundes sind auch Maßnahmen
an den vielen Volksentscheiden zum Thema Fahrrad, son-          unerlässlich, die eine individuelle Pkw-Nutzung un­
dern auch daran, dass jüngere Menschen in Großstädten           attraktiver machen. Weniger Autoverkehr in den ­Städten
eher den Umweltverbund nutzen und später einen Füh-             führt zu mehr Lebensqualität für alle und ist zudem un-
rerschein erwerben. Für viele stellt das Auto nicht mehr        erlässlich, um die Klima- und Umweltziele im Verkehrs-
so stark ein Prestigeobjekt dar.                                sektor zu erreichen.

Das Rückgrat für die Alltagsmobilität der Zukunft bildet       Ein entscheidender Hebel dafür ist die Änderung des
der ÖPNV. Er ist ein Baustein der Daseinsvorsorge. Er          Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrs­
soll es ermöglichen, bezahlbar und mit überschaubarem          ordnung. Diese bevorzugen derzeit stark das Auto. Die
Aufwand die Wege des täglichen Lebens zurückzulegen            Verkehrsbehörden können bislang den Autoverkehr nur
– das gilt ohne Abstriche auch für Ältere, Kinder und          aus verkehrlichen Gründen beschränken. Weder die Ein-
Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Dafür muss             führung einer Parkraumbepreisung noch die Einrichtung
der ÖPNV erheblich ausgebaut und verbessert werden.            von Fahrradstraßen können zurzeit darauf gestützt
Seine Kapazität muss deutlich erhöht und durchgehen-           ­werden, dass zum Beispiel Umwelt- und Klimaschutz
de Wegeketten ermöglicht werden. Bundesmittel sollten           ­gefördert werden sollen. Daher sollte der Zweck der
zukünftig nicht nur für Neuinvestitionen, sondern auch           ­gesetzlichen Bestimmungen ergänzt werden: Als Ziel von
für Erhaltung und Betrieb verwendet werden können.                Maßnahmen müssen auch Klima-, Umwelt- und Gesund-
Der Vorrang des ÖPNV sollte als Grundsatz im Straßen-             heitsschutz sowie die städtebauliche Gestaltung ein­
verkehrsgesetz festgeschrieben werden.                            geführt werden. Den Kommunen müssen außerdem

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