FALLSTUDIEN ZUR MORTALITÄT IN DER SARS-COV-2-PANDEMIE
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Fachartikel Kerstin Awiszus & Stefan Weber Fallstudien zur Mortalität in der SARS-CoV-2-Pandemie 1. Einleitung vielmehr Analysen des wenn – dann Case-Szenario kann die Sterblichkeit dar, unter klar spezifizierten Annah- für einzelne Altersgruppen über ein Die SARS-CoV-2-Pandemie ist mit er- men. Die Voraussetzungen beinhal- Jahr bis zu einem multiplikativen Fak- heblichen Konsequenzen in allen Le- ten z. B. den Anteil der Bevölkerung, tor 3 ansteigen; die Periodenlebens- bensbereichen verbunden. Infektio- der innerhalb eines Zeitfensters be- erwartungen sinken auch in diesem nen verursachen Erkrankungen, die troffen ist. Diese Größe ist unbekannt extremen Fall für sämtliche Alters- unterschiedlich schwerwiegend aus- und in einer Gesellschaft teilweise gruppen höchstens um ca. sieben fallen können und in einem Anteil der steuerbar. Verschiedene Szenarien il- Monate, für Personen unter 50 Jahren Fälle zum Tod der betroffenen Perso- lustrieren daher den Horizont des sogar nur in sehr geringfügigem nen führen. Um die Ausbreitung der Möglichen, auf den wir blicken. Maße. Die Pandemie wirkt den Sterb- Pandemie zu bremsen, wurden welt- lichkeitsverbesserungen der letzten weit unterschiedliche politische und Zusammenfassend erhalten wir fol- Jahrzehnte entgegen, jedoch nicht im sonstige Maßnahmen ergriffen. Zent- gende Ergebnisse: Umfang etlicher Dekaden; in quanti- ral ist Social Distancing sowie eine tativer Hinsicht entsprechen für alle Nachverfolgung von Infektionsketten Unter der Annahme, dass die Pande- Altersgruppen und alle Fallstudien die und Quarantäne für infizierte Perso- mie nur ein Jahr andauert, berechnen adjustierten Periodenlebenserwartun- nen. Auch wenn die bisher berichte- wir Sterbezahlen, Mortalitätsraten gen weiterhin historischen Perioden- ten Zahlen nur einen Teil der Fälle er- und Lebenserwartungen für verschie- lebenserwartungen, die nach dem fassen, so geben sie zumindest dene Szenarien und stellen als Ergän- Jahr 2000 beobachtet worden sind. Anhaltspunkte hinsichtlich der zung einen flexiblen und adjustier- Wachstumsrate der Epidemie; es lässt baren MATLAB-Code in 2. Methoden sich inzwischen konstatieren, dass die elektronischer Form zur Verfügung. umgesetzten Maßnahmen verknüpft Alternative Fallstudien können ande- 2.1. Daten mit Verhaltensänderungen der Bevöl- re Zeitfenster und andere Parameter- kerung zur Eindämmung der Pande- konstellationen untersuchen. Grundlage und Referenzgröße für mie geeignet sind. die folgenden Untersuchungen sind Im – für Deutschland bei konsequen- Populations- und Mortalitätsdaten Unsicherheit bleibt zu diesem Zeit- ter Fortführung der ergriffenen Maß- für Deutschland aus dem Jahr 2017 punkt bestehen bei der Frage, wie nahmen nicht realistischen – Worst- (entnommen aus der Human Morta- lange Maßnahmen politisch umge- setzt werden, die Bevölkerung diese mitträgt und – als Folge – mit welcher Abbildung 1: Geschwindigkeit sich die Epidemie Geschätzte Letalitätsraten des Imperial College London [2] mit Anpas- ausbreitet und welcher Anteil der sung kubischer Splines sowie historische Sterberate in Deutschland 2017 Population in verschiedenen Län- dern wann betroffen ist. Auch die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen und ihre Anwendung ist nur grob abschätzbar. Hinsichtlich der Sterblichkeit der Infizierten gibt es erste Schätzungen, die auf Basis der Daten in Zukunft noch aktuali- siert werden müssen. Ziel dieses Artikels ist es, eine zentra- le aktuarielle Rechnungsgröße in den Blick zu nehmen: die Mortalität in einer Population. In Fallstudien soll der Einfluss von COVID-19 auf Ster- befälle, Sterberaten sowie die erwar- tete Restlebensdauer untersucht wer- den. Diese Fallstudien sind keine Vorhersagen der Zukunft; sie stellen 4 Der Aktuar 02.2020
Fachartikel lity Database [1]). COVID-19-Erkran- innerhalb des betrachteten Zeit- Szenarien к=1, к=0,5 und к=0,1. kungen erhöhen die reguläre Sterb- fensters infiziert wird. Drittens führt Die vorgestellte Methodik kann je- lichkeit. Letalitätsraten (d. h. die Pandemie zu Übersterblichkeit doch flexibel bei anderen Fallstudien Sterblichkeitsraten erkrankter Perso- – jedoch wäre ein Teil der im be- angewendet werden. Insbesondere nen) für verschiedene Altersgruppen troffenen Zeitfenster mit COVID-19 ist in der Realität auch ein Wert klei- wurden von Wissenschaftlern des verstorbenen Personen auch ohne ner als к=0,1 denkbar bei substanti- Imperial College in London geschätzt Pandemie aufgrund anderer Ursa- ellem Social Distancing. Bei wö- [2]. Zur Berechnung der Letalitätsra- chen verstorben. chentlich 50 Neuinfektionen auf te für jedes einzelne Alter wurden 100.000 Einwohner, dem Wert der diese Schätzungen durch die Anpas- Die folgenden zwei Parameter cha- sogenannten Obergrenze für beson- sung kubischer Splines erweitert, sie- rakterisieren verschiedene fiktive dere Maßnahmen in Deutschland, he Abbildung 1. Eine zentrale An- Entwicklungen: und β=1, ergäbe sich nur ca. ein nahme unserer Untersuchungen ist, Viertel dieses Wertes. Größere Werte dass Sterberaten nur in einem einzi- • Szenarioparameter к von к könnten hingegen Regionen gen Jahr durch COVID-19 erhöht auf der Welt erfassen, in denen die werden und danach wieder auf die Der Szenarioparameter erfasst Unsi- Pandemie nur wenig abgebremst reguläre Mortalität absinken. Der cherheit hinsichtlich der bisher er- wird. von uns zur Verfügung gestellte MAT- mittelten Letalität sowie hinsichtlich LAB-Code kann aber auch flexibel des innerhalb des Zeitfensters infi- • Overlap an andere Zeitfenster angepasst wer- zierten Anteils der Bevölkerung. den. Hierzu sei β ein Multiplikator der in Dieser Parameter beschreibt den An- Abbildung 1 geschätzten Werte zur teil der COVID-19-Todesfälle, die 2.2. Parameter Berechnung einer korrekten Letalität; bereits in der regulären Todesfallzahl der Parameter α gibt den Anteil der enthalten sind. Die Größe (1-Over- Drei wesentliche Quellen der Un- infizierten Personen in der Gesamt- lap) erfasst somit den Grad der Über- sicherheit von Mortalitätsgrößen population an. Der Szenarioparame- sterblichkeit, der im Zuge der Epide- berücksichtigen wir in den Fallstu- ter к bezeichnet das Produkt mie verursacht wird. Liegt z. B. ein dien explizit mittels zweier Para- к=αβ. 100%iger Overlap vor, so ist die Ge- meter, die variiert werden: dem samtzahl der Todesfälle durch CO- Szenarioparameter к und dem Ein größerer Szenarioparameter VID-19 nicht erhöht – Übersterblich- Overlap-Parameter. Die drei disku- кkann sowohl aus einem größeren keit liegt nicht vor. Ist der Overlap tierten Quellen der Unsicherheit Anteil von Infektionen als auch aus 0 %, dann sind alle COVID-19-To- sind folgende: Erstens überschätzen einer höheren Letalität resultieren. desfälle zusätzlich zu zählen. Ent- die Letalitätsraten, die in der An- Zu jedem festen Wert des Parameters sprechend beschreibt ein x%iger fangsphase einer Epidemie ermittelt к korrespondieren unendlich viele Overlap eine Situation, in der x % worden sind, oft die wirklichen Ra- Kombinationen von α und β. Die der COVID-19-Todesfälle bereits in ten. Zweitens ist der genaue Bevöl- Fallstudien, die in diesem Artikel dis- den regulären Todesfällen enthalten kerungsanteil nicht bekannt, der kutiert werden, betrachten die drei sind. Abbildung 2: Zusätzliche Sterbefälle durch COVID-19 in der Gesamtbevölkerung für drei Szenarioparameter к sowie aufge- schlüsselt nach Altersgruppen für den Szenarioparameter к=0,5 Der Aktuar 02.2020 5
Fachartikel Abbildung 3: Sterberaten unter COVID-19 sowie der COVID-19-Faktor der Sterberaten für den Szenarioparameter к=1 2.3. Methodik Periodensterbetafeln des Statisti- к=0,1 ergibt sich noch ein Fünftel schen Bundesamts ([3], Abschnitt dieses Werts. Wie exemplarisch in Für die drei Szenarien к=1, к=0,5 1.1) ermittelt. Abbildung 2 für к=0,5 illustriert, und к=0,1 wird die hypothetische steigt für alle Szenario- und Overlap- Gesamtzahl von Sterbefällen inner- 3. Ergebnisse Parameterwerte die Zahl der Sterbe- halb eines Jahres als Funktion von fälle mit zunehmendem Alter sehr Alter und Overlap-Parameter be- 3.1. Zusätzliche Sterbefälle deutlich an. rechnet. Aus der Gesamtzahl der Sterbefälle und der Populationsgrö- Abbildung 2 zeigt die Übersterblich- 3.2. Sterberaten ße für jede Altersgruppe ergeben keit im Kontext der Epidemie für alle sich adjustierte Sterberaten. Der Szenarien sowie für к=0,5 aufge- 3.2.1. COVID-19-Faktor COVID-19-Faktor der Sterberaten ist schlüsselt nach Altersgruppen. Für definiert als Quotient zwischen der к=1 und geringen Overlap würde Abbildung 3 zeigt die aufgrund der Sterberate in der Pandemie und der die Zahl zusätzlicher Sterbefälle im Pandemie adjustierten Sterberaten regulären Sterberate. Schließlich Fallbeispiel Deutschland die Millio- sowie den COVID-19-Faktor, defi- werden die resultierenden Perio- nengrenze übersteigen. Für к=0,5 niert als Quotient aus erhöhter und denlebenserwartungen mithilfe des und Overlap ¾ ist die Übersterblich- regulärer Sterberate, im Worst-Case- Algorithmus zur Berechnung von keit größer als 100.000 Personen; bei Szenario к=1. Abbildung 4: COVID-19-Faktor der Sterberaten für Szenarioparameter к=0,5 und к=0,1 6 Der Aktuar 02.2020
Fachartikel Auffällig ist ein besonders erhöhter COVID-19-Faktor für die Altersgrup- Abbildung 5: pen 25–40 und 60–80; in diesen Al- Hypothetische Alterung für Szenarioparameter к=1 tersgruppen ist der Effekt der Epide- mie im Vergleich zur normalen Sterblichkeit am deutlichsten. Trotz- dem sind die absoluten Sterberaten für jüngere Menschen in der Fallstu- die auch während der Pandemie wei- terhin gering. Im Worst-Case-Szena- rio к=1 und beim ungünstigsten Overlap 0 bleibt der COVID-19-Fak- tor für alle Altersgruppe durch eine Zahl leicht oberhalb von 3 be- schränkt. Abbildung 4 zeigt den COVID- 19-Faktor für к=0,5 und für к=0,1. Die Erhöhung der Sterberaten durch COVID-19 ist in diesen Fällen gerin- ger ausgeprägt. Für к=0,1 etwa liegt der COVID-19-Faktor – selbst bei un- günstigem geringen Overlap – für alle Altersgruppen stets deutlich un- der Population, der für den Zeitho- 3.3. Erwartete Restlebensdauer ter 1,5. rizont von einem Jahr bei Verwen- dung der regulären Sterblichkeit 3.3.1. Verringerung der 3.2.2. Hypothetische auf die Sterblichkeit in der Pande- Periodenlebenserwartung Altersverschiebung mie führen würde. Im Worst-Case- Szenario к=1 und bei Overlap 0 Was impliziert eine Erhöhung der Da reguläre Sterberaten (ungefähr hätte die Pandemie z. B. für eine Sterberaten im Jahr der Pandemie für ab dem Alter 25, jenseits des Un- 60-jährige Person in Bezug auf die verbleibende Lebenserwartung fallbuckels) monoton wachsen, ihre Mortalität innerhalb des aktu- für verschiedene Altersgruppen? lässt sich der Effekt der Pandemie ellen Jahres denselben Effekt wie auch als hypothetischer Alterungs- eine temporäre hypothetische Al- Abbildung 6 zeigt die adjustierte Pe- prozess interpretieren. Abbildung terung von 12 Jahren; im Folgejahr riodenlebenserwartung und die Re- 5 zeigt im Worst-Case-Szenario wäre – gemäß den Annahmen un- duktion der Periodenlebenserwar- к=1 den hypothetischen Lebens- serer Fallstudien – die Sterberate tung durch die Pandemie im alterszuwachs für Individuen in wieder regulär. Worst-Case-Szenario к=1. Selbst in Abbildung 6: COVID-19-Periodenlebenserwartung sowie deren Verringerung im Vergleich zur regulären Periodenlebenserwar- tung für Szenarioparameter к=1 Der Aktuar 02.2020 7
Fachartikel diesem Extremfall beträgt die Verrin- Abbildung 7: gerung für alle Altersgruppen bei be- Zur COVID-19-Periodenlebenserwartung korrespondierendes Kalender- liebigem Overlap weniger als ein jahr für Szenarioparameter к=1 Jahr. Für Personen, die im Jahr der Pandemie jünger als 50 Jahre alt sind, bleibt die Periodenlebenswertung fast unverändert. Im Kollektiv ist der Einfluss der Epidemie auf die Lebens- erwartung beschränkt. 3.3.2. Historischer Vergleich Eine Verringerung der Lebenserwar- tung kann als Zeitreise in die Vergan- genheit interpretiert werden, da Sterblichkeiten in den letzten Jahren einen negativen Trend aufgewiesen haben. Historische Daten für Deutschland werden vom Statisti- schen Bundesamt [4] zur Verfügung gestellt. Abbildung 7 gibt im Worst-Case-Sze- nario к=1 für jede Altersgruppe und jeden beliebigen Overlap-Parameter talität quantitativ illustriert werden. rechnungen zugrunde liegt, sind das eindeutige historische Kalender- Ergänzende Fallstudien, Zahlen so- elektronisch in Awiszus & Weber [5] jahr an, in dem die reguläre geglättete wie der MATLAB-Code, der den Be- erhältlich. Periodenlebenserwartung der auf- grund der Pandemie in den Fallstu- dien adjustierten aktuellen Perioden- Kerstin Awiszus, Prof. Dr. Stefan lebenserwartung entsprochen hat. M. Sc., ist wis- Weber ist senschaftliche Direktor des Zeitreisen von mehr als 20 Jahren sind Mitarbeiterin interdisziplinä- auch im Worst-Case-Szenario к=1 im Fachbereich ren House of nicht erforderlich. Personen, die jün- Versicherungs- Insurance und ger als 30 Jahre sind, müssen keine und Finanz- Professor für längeren Reisen in die Vergangenheit mathematik Versicherungs- des House of und Finanzma- unternehmen: Zum Referenz- Insurance an der thematik an der jahr 2017, aus dem die regulären Leibniz Universität Hannover. Ihr Leibniz Universität Hannover. Mortalitätsdaten stammen, ergibt sich aktueller Forschungsschwerpunkt ist Zudem engagiert er sich als Vor- nur eine sehr geringe Adjustierung. das Risikomanagement in Netz- standsmitglied in der DGVFM und werkmodellen. ist Vertrauensdozent der DAV. 4. Zusammenfassung Die SARS-CoV-2-Pandemie ist mit Literaturverzeichnis sterbetafeln für Deutschland und die Übersterblichkeit verknüpft, die sich [1] Human Mortality Database. Uni- Bundesländer, 5. November 2019. in den Zahlen der Todesfälle, Sterbe- versity of California, Berkeley (USA) und [4] Statistisches Bundesamt (Destatis) – raten und Lebenserwartungen der Max Planck Institute for Demographic Statistische Bibliothek: Sterbetafeln, sie- verschiedenen Altersgruppen aus- Research (GER). https://www.mortality. he z. B. https://www.destatis.de/GPSta- drückt. Präzise Vorhersagen sind der- org (zuletzt besucht am 17. März 2020). tistik/receive/DESerie_serie_00003028 zeit nicht möglich, weil die Auswir- [2] Ferguson, N. M. et al. on behalf of (zuletzt besucht am 8. Mai 2020). kungen von politischen Maßnahmen, the Imperial College London COVID-19 [5] Awiszus, K. und Weber, S.: CO- dem Verhalten der Bevölkerung und Response Team: Impact of non-pharma- VID-19 Mortality, 2. April 2020, https:// medizinischen Innovationen abhän- ceutical interventions (NPIs) to reduce www.insurance.uni-hannover.de/ COVID-19 mortality and healthcare fileadmin/house-of-insurance/Publica- gen, die unsicher sind. In komparati- demand, 16. März 2020, https://doi. tions/2020/COVID/COVID-19_Mortali- ven Fallstudien, die als Eingangspa- org/10.25561/77482 (zuletzt besucht am rameter den betroffenen Anteil der ty_Studies.pdf & https://www.insurance. 8. Mai 2020). uni-hannover.de/fileadmin/house-of-in- Bevölkerung, die Überschätzung der [3] Statistisches Bundesamt (Destatis): surance/Publications/2020/COVID/Mor- Letalität zu Beginn der Pandemie Methoden- und Ergebnisbericht zur talityCalculationCOVID19.m (zuletzt und Overlap verwenden, können laufenden Berechnung von Perioden- besucht am 13. Mai 2020). mögliche Auswirkungen auf die Mor- 8 Der Aktuar 02.2020
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