FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft

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FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Jg 21  Nr 29  Dezember 2020

FN – Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Impressum                                                    Inhalt
                                                                                                                                Liebe Leserinnen und Leser,
FN – Nachrichten der
Felix-­Nussbaum-Gesellschaft                            4    Entdeckungen unter der Malschicht                                                auch die Felix-Nussbaum-Gesellschaft        den Gemälden verborgene Bilder des
he r a u s g eb er Felix-­Nussbaum-Gesellschaft e. V.
                                                             Röntgenuntersuchungen bringen                                                    muss sich den Herausforderungen der         Malers zum Vorschein. Zudem berichten
r e da kti o n Anne Sibylle Schwetter (Redak­
tionsleitung), Manuela Maria Lagemann,
                                                             verschollene Werke zum Vorschein                                                 Corona-Pandemie stellen. Durch die          wir über den überraschenden Fund von
Heiko Schlatermund, ­Karin Jabs-Kiesler,                                                                                                      Absage der planmäßigen Mitglieder-          Handabdrücken der Familien Gossels
Jürgen Jaehner                                          8    Eine ungewöhnliche Tournee                                                       versammlung im Oktober wurde dies           und Nussbaum aus Amsterdam, die
                                                             Unterwegs mit Felix Nussbaum                                                     zuletzt ganz besonders deutlich. Es         dem Team von »Flucht 1937« zugespielt
g e s c h ä f t sstelle
                                                                                                                                              hat den Vorstand dazu veranlasst, über      wurden.
Felix-­Nussbaum-Gesellschaft e.   V.
Konrad-Adenauer-Ring 20, 49 074 Osnabrück
                                                        10   Aus der Vergangenheit lernen –                                                   erweiterte Beteiligungsformate nach-
web         www.fng-os.de                                    Führungen »Jüdische Geschichte«                                                  zudenken und sie den Mitgliedern vor-       Wir freuen uns, dass trotz der Ein-
Manuela Maria Lagemann (Geschäftsführerin)                   Großes Interesse an den historischen Stadtrundgängen                             zuschlagen. Die digitalen Möglichkeiten     schränkungen des öffentlichen Lebens
Telefon 01 71 / 312 57 56                                    zur jüdischen Geschichte in der NS-Zeit                                          hierzu sind eine Herausforderung und        in Folge von Covid-19 neben dem
eMail lagemann@fng-os.de
                                                                                                                                              Chance zugleich.                            Tourneebeginn von »Unterwegs mit
Heiko Schlatermund (Vorsitzender)
Telefon 01 71 / 860 39 54
                                                        14   Spuren und Fundstücke                                                                                                        Nussbaum« zwei weitere Projekte im
eMail schlatermund@fng-os.de                                 Handabdrücke der Familien Nussbaum und                                           Aber noch mehr hat Corona unsere            Jahr 2020 realisiert bzw. in Koopera-
Anne Sibylle Schwetter (1. stv. Vorsitzende)                 Gossels aus Amsterdam                                                            Arbeit auch ganz praktisch einge-           tion begleitet werden konnten: Dazu
Telefon 0151 / 57 76 00 54                                                                                                                    schränkt; insbesondere mussten wir          gehört die Kooperation der Ausstel-
eMail schwetter@fng-os.de
                                                        16   Nasan Tur                                                                        dies bei unserem großen Projekt             lungsreihe »Gegenwärtig – Zeitge-
g e s ta ltung, satz sec GmbH, Osnabrück                     »Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen                                    »Unterwegs mit Felix Nussbaum« leid-        nössische Künstler*innen begegnen
d r u c k Bruns Druckwelt GmbH & Co.KG, Minden               begegnen Felix Nussbaum«                                                         voll feststellen. Nach einem tollen Start   Felix Nussbaum« im Museumsquartier
v e r l ag secolo Verlag, Osnabrück
                                                                                                                                              in der Osnabrücker Partnerstadt Haar-       Osnabrück. In dieser Ausgabe wird die
i s s n 1616-4296
                                                        20   Der Flüchtling – Europäische Vision                                              lem im Februar 2020 konnte die Tournee      Ausstellung »Nasan Tur« besprochen,
a b b i l d u n g en
                                                             Nussbaum-Bild als Faksimile im Vatikan                                           nicht weiter fortgesetzt werden. Nähe-      die nicht nur in den Räumen des Felix-
Titelmotiv: (Ausschnitt) Felix Nussbaum
»Landschaft in der Provence«, um 1929,
                                                                                                                                              res dazu finden Sie in einem gesonder-      Nussbaum-Hauses stattfand, sondern
Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück, Dauerleih­               22   Mitteilungen der Gesellschaft                                                    ten Bericht.                                in der Begegnung des Künstlers mit
gabe des Bundeverwaltungsamtes Köln,                         Gratulation Hans-Jürgen Fip                                                                                                  Osnabrücker*innen auch einen parti-
Foto Museumsquartier Osnabrück,                              Starke Unterstützung durch                                                       Dass auch ein Faksimile dazu beitragen      zipativen Teil beinhaltete. Außerdem
Fotograf Christian Grovermann;
                                                             Hellmann Worldwide ­Logistics                                                    kann, das Werk Nussbaums bekannt            informieren wir Sie über die geführten
S. 4 und 6 (oben): Foto Museumsquartier
Osnabrück, Fotograf Christian Grovermann;
                                                                                                                                              zu machen, wird nicht nur durch unsere      Stadtrundgänge zur jüdischen Geschich-
S. 5, 6 (unten), 7 und Umschlag (Rückseite):                                                                                                  Ausstellungstournee deutlich. Auch          te in Osnabrück und über das über-
Museumsquartier Osnabrück;                                                                                                                    der Papst ist jetzt im Besitz eines Fak-    wältigende Interesse, das dem Projekt
S. 8 und 9: Foto Agentur sec,                                                                                                                 similes. Anlässlich einer Privataudienz     entgegengebracht wird. Wie immer
S. 11 und 13: Foto Karl-Heinz Jansen;
                                                                                                                                              unseres ehemaligen Bundespräsidenten        freuen wir uns auf die Weiterentwick-
S. 12: Foto Friedhelm Groß;
S. 16 und 19: Foto Nasan Tur;
                                                                                                                                              und Vereinsmitgliedes Christian Wulff       lung engagierter Ideen und Vorhaben,
S. 20 und 21: Servizio Fotografico Vaticano;                                                                                                  überreichte dieser Papst Franziskus         zu der alle Mitglieder und Freunde der
S. 22: Foto (oben) Stadt Osnabrück,                                                                                                           eine Reproduktion des Bildes »Der           ­Gesellschaft herzlich eingeladen sind.
Foto (unten) Agentur sec                                                                                                                      Flüchtling«. Auch hierzu finden Sie einen
 Adressenänderungen                                                                                                                           ausführlichen Beitrag über das Bild         Die Vereinsmitglieder erhalten in die-
 Die Geschäftsstelle bittet alle                                                                                                              sowie Aufnahmen bei der Übergabe im         sem Jahr zusätzlich einen gesonderten
­Mit­glieder und sonstige ­Bezieher                                                                                                           Vatikan am 15. Oktober 2020.                Geschäftsbericht, der bedingt durch die
 der FN-Nachrichten, ihr Adressen­                                                                                                                                                        Corona-Lage und dem damit verbunde-
 änderungen mitzuteilen.                                                                                                                      Außerdem stellen wir neue Erkenntnis-       nen Ausfall der Mitgliederversammlung
                                                                                                                                              se über das Werk Felix Nussbaums vor,       schriftlich erfolgt.
 eMail-Adressen                                                                                                                               denn Röntgenuntersuchungen, die das
 Damit Vorstand und Geschäfts­                                                                                                                Team des Museumsquartiers Osnabrück
 stelle aktuelle Informationen                                                                                                                vornehmen konnte, brachten unter            die redaktion
 ­schneller übermitteln können,
  ­bitten sie die ­Mitglieder der
­Felix-­Nussbaum-Gesellschaft                                Senden Sie Ihre eMail-Adresse an:
   und ­sons­­tige Interessenten, ihre
   eMail-­Adressen und ­Fax­nummern                          mail@fng-os.de
   der ­Gesellschaft mitzuteilen.

                                                                                                                    Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020                                    3
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Röntgenuntersuchungen bringen verschollene Werke zum Vorschein

Entdeckungen unter der Malschicht

                                                                                                                                      »Die Judengasse in Antwerpen«
                                                                                                                                      Die »Landschaft in der Provence«
                                                                                                                                      (Abb. 1) von 1929 gehörte zu den ersten
                                                                                                                                      Werken, die einer Röntgenuntersuchung
                                                                                                                                      unterzogen wurden. Denn in der Ober-
                                                                                                                                      flächenstruktur der Malschicht zeichnen                                                Abb. 2
                                                                                                                                                                                                                             Felix Nussbaum, Judengasse in Antwerpen,
                                                                                                                                      sich Erhebungen ab, die sich mit dem
                                                                                                                                                                                                                             um 1928 (WV 73)
                                                                                                                                      südfranzösischen Landschaftsmotiv                                                      Technik, Bildträger und Maße unbekannt
                                                                                                                                      nicht erklären lassen. Bereits die grafi-                                              Abbildung aus: Menorah. Jüdisches
                                                                                                                                      sche Rekonstruktion des Oberflächen-                                                   Familienblatt für Wissenschaft/Kunst und
                                                                                                                                      reliefs zeigte, dass Nussbaum offenbar                                                 Literatur, Jg. 8, Nr. 5/6 (Mai/Juni) 1930, S. 278.
                                                                                                                                      das Bild »Judengasse in Antwerpen«
                                                                                                                                      übermalt hatte. Dieses Gemälde, das
                                                                                                                                      im Werkverzeichnis des Künstlers als
                                                                                                                                      verschollen geführt wird, ist durch eine
                                                                                                                                      erhaltene Schwarz-Weiß-Abbildung in
                                                                                                                                      der Zeitschrift »Menorah« aus dem Jahr
                                                                                                                                      1930 mit der Bildunterschrift »Aus einer
                                                                                                                                      Judengasse in Antwerpen« bekannt
                                                                                                                                      (Abb. 2).
                                                                                                                                          Der Vergleich des Röntgenbildes
                                                                                                                                      (Abb. 3) mit der Abbildung der »Juden-
                                                                                                                                      gasse in Antwerpen« zeigt eindeutige
                                                                                                                                      Übereinstimmungen: Dazu gehören die
                                                                                                                                      Fassadengestaltung mit dem Laden-
Abb. 1
                                                                                                                                      schild des Restaurants »Estaminet« und
Felix Nussbaum, Landschaft in der Provence,
um 1929 (WV 92)                                                                                                                       die Pflastersteine der Gasse. Weitere
Öl auf Leinwand, 48,5 x 60,5 cm                                                                                                       Details wie die Rückenansicht des Man-
Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück, Dauerleihgabe                                                                                          nes auf dem Stuhl, ein Eimer und der
des Bundesverwaltungsamtes Köln                                                                                                       kleine Klapptisch am rechten Bildrand
                                                                                                                                      entsprechen sich ebenfalls genau.
                                                                                                                                          Nussbaum hatte das Motiv wahr-
                                                                                                                                                                                                                             Abb. 3
                                                                                                                                      scheinlich auf einer Reise durch B
                                                                                                                                                                       ­ elgien
                                                                                                                                                                                                                             Röntgenbild zu WV 92
»Er [Nussbaum] war inzwischen zu               die jüngsten Röntgenuntersuchungen                                                     im Sommer 1928 entdeckt.3 Es ist
Hans Meid übersiedelt, weil er dort            von vier ausgewählten Werken des                                                       anzunehmen, dass das Gemälde nach
eines der kleinen Ateliers zur Verfügung       Malers zeigen2, übermalte Nussbaum                                                     der Rückkehr Nussbaums in Berlin ent-
bekam. Bei uns krebste er ab und zu            aber nicht nur Bilder seiner Künstler-                                                 standen ist und schließlich nach der        abgebildet war – zu einem Zeitpunkt
auf, um neue Leinwände gegen unsere            kollegen und -kolleginnen, sondern                                                     Südfrankreichreise im Sommer 1929 mit       also, als das Bild bereits übermalt war.           3 Eine Reihe von Bildern, die in
bemalten zu tauschen. Diese alten,             auch eigene. Die Ergebnisse können                                                     dem Landschaftsmotiv der Provence              Trotz der zahlreichen Übereinstim-                Ostende oder an anderen Orten
                                                                                                1 Hermann Wilhelm, Erinnerungen I.                                                                                                     in Belgien entstanden, sind 1928
steinharten Schwarten schnitt er sich          in zwei Fällen als kleine Sensation                                                    übermalt wurde.                             mungen zwischen dem Röntgenbild und
                                                                                                  1900 –1931, Nürnberg o.J.                                                                                                            datiert. In zwei Fällen findet sich
auf seine Formate zurecht, und darauf          bezeichnet werden: Während sich unter            2 Untersucht wurden neben den in
                                                                                                                                          Warum Nussbaum die »Judengasse          der Abbildung des verschollenen Bildes               die Datierung »Juli 1928«
malte er seine modernen Hosemannia-            dem »Stillleben mit Fächer, Krug und               diesem Artikel näher besproche-     in Antwerpen« übermalt hat, ist nicht       bleibt es also ungeklärt, ob es sich um              (WV 67 und 71).
den: ›Weißt du‹, sagte er, ›das flutscht       Perlenkette« von 1938 ein frühes Bild              nen Werken »Landschaft in der       einfach zu beantworten. Denn das Bild       dasselbe Werk oder um eine zweite                  4 Fast identische Kopien sind
so schön.‹« 1                                  Nussbaums zum Themenkreis Tod und                  Provence« (1929) und »Stillleben    gehört zur Reihe der belgischen Stadt-      Version des Gemäldes handelt. Denn                   bekannt von den Gemälden
                                                                                                  mit Fächer, Krug und Perlenkette«                                                                                                    »Die Perlen (1)« (WV 332) und
   Felix Nussbaum, so berichtet sein           Sterben verbirgt, könnte sich unter dem                                                und Landschaftsbilder, die er 1929 und      dass Nussbaum mehrere Fassungen
                                                                                                  (1938) auch die Bilder »Blumen                                                                                                       »Die Perlen (2)« (WV 333) von 1938
Studienfreund Hermann Wilhelm in sei-          Gemälde »Landschaft in der Provence«               in Milchkanne« von 1928 (WV 65)
                                                                                                                                      1930 in Ausstellungen zeigte. Hinzu         eigener Werke anfertigte, ist zumin-                 sowie »Der Flüchtling (1)«
nen Erinnerungen, hatte eine besondere         von 1929 ein verschollen geglaubtes                sowie »Junges Paar« von 1941        kommt, dass die »Judengasse in Antwer-      dest aus späteren Jahren überliefert.4               (WV 350) und »Der Flüchtling (2)«
Vorliebe für bemalte Leinwände. Wie            Bild des Malers befinden.                          (WV 414).                           pen« 1930 in der Zeitschrift »Menorah«      Manchmal sind es fast identische                     (WV 351) aus dem Jahr 1939.

4                                                    Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020       Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020                                                          5
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Abb. 4
    Felix Nussbaum, Stillleben mit Fächer, Krug und
                         Perlenkette, 1938 (WV 334)
                    Öl auf Leinwand, 71,5 x 59,5 cm
                  Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück

                                                                                       Kopien, manchmal – wie die zweite Ent-                                                    Version vorliegt, zählt sicher zu den              5 Siehe Peter Junk, Zerborstene
                                                                                       deckung zeigt – Abwandlungen eines                                                        wichtigen Werken des Malers aus den                  ­S iegessäule. Zu Felix Nussbaums
                                                                                                                                                                                                                                       »Der tolle Platz«, in: FN-Nachrich-
                                                                                       Motivs.                                                                                   Berliner Jahren. Nussbaum zitiert das
                                                                                                                                                                                                                                       ten Jg. 2, Nr. 1, Februar 2011, S. 3–6
                                                                                                                                                                                 Bild 1931 in dem Gemälde »Der tolle                   und ders., »Sie sind nicht mehr
                                                                                       Nussbaums Bilder von Sterben und Tod                                                      Platz«5, und es war im Besitz des Berli-              da«. »Der tolle Platz« – Teil 2, in:
                                                                                       Das »Stillleben mit Fächer, Krug und                                                      ner Kunstkritikers Paul Westheim, der                 FN-Nachrichten Jg. 3, Nr. 1, Mai
                                                                                       Perlenkette« (Abb. 4) entstand 1938 im                                                    eine bedeutende Sammlung zeitgenössi-                 2002, S. 3–8.
                                                                                                                                                                                                                                    6 Paul Westheim, der 1933 nach
                                                                                       Brüsseler Exil. Wie bei der »Landschaft                                                   scher Kunst besaß.6
                                                                                                                                                                                                                                       Frankreich und schließlich 1941
                                                                                       in der Provence» deuten auch hier                                                            Die »Hosemanniaden», auf die Her-                  nach Mexiko emigrierte, ließ seine
                                                                                       Auffälligkeiten in der Malschicht auf                                                     mann Wilhelm in dem eingangs erwähn-                  umfangreiche Kunstsammlung
                                                                                       ein unter dem Bild verborgenes Werk                                                       ten Zitat anspielt, beziehen sich wohl auf            in Berlin zurück. Großteile seiner
                                                                                       hin. Die Röntgenuntersuchung brachte                                                      Nussbaums humorvolle Schilderungen                    Sammlung wurden durch Bomben-
                                                                                                                                                                                                                                       angriffe zerstört oder gelten als
                                                                                       schließlich auch hier eine Überraschung                                                   des Berliner Großstadtlebens.7 Die
                                                                                                                                                                                                                                       verschollen.
                                                                                       zum Vorschein, denn das Röntgenbild                                                      ­Tatsache, dass Nussbaum durch alle                 7 Theodor Hosemann (1807–1875)
                                                                                       (Abb. 5) zeigt deutlich eine erkennbare                                                   Schaffensphasen hindurch eigene Bilder                war ein Berliner Kunstmaler, Illus-
                                                                                       Mauerstruktur mit der Form eines                                                          übermalte, lässt weitere Überraschungen               trator und Karikaturist, der unter
                                                                                       Totenkopfes und Kreuze im Hintergrund.                                                    erwarten. Die nächsten Röntgenunter-                  anderem für seine humoristischen
                                                                                                                                                                      Abb. 6
                                                                                                                                                                                                                                       Darstellungen des Berliner Alltags-
                                                                                           Damit verweist das Ergebnis auf         Felix Nussbaum, »Friedhof« (»Friedhof mit     suchungen sind bereits in Planung. Wir
                                                                                                                                                                                                                                       lebens bekannt war. Diesen Hin-
                                                                                       die Bilder zum Themenkreis Tod und                        Windmühle«), 1929 (WV 108)      werden in den FN-Nachrichten berichten.               weis verdanke ich dem Übersetzer
                                                                                                                                    Technik, Bildträger und Maße unbekannt
                                                                                       Sterben, mit dem sich Nussbaum Ende                                                                                                             Richard Toovey in Berlin.
                                                                                                                                   Abbildung aus: Kunst der Zeit 1930, S. 247
                                                                                       der 1920er-Jahre mehrfach beschäftigte.                                                  anne sibylle schwetter
                                                                                       Eine Mauer mit Totenkopfgraffiti findet                                                  kuratorin sammlung felix nussbaum ,
                                                                                       sich in dem Gemälde »Friedhof« (»Fried-                                                  museumsquartier osnabrück
                                                                                       hof mit Windmühle«) (Abb. 6) wieder,
                                                                                       das wie die »Judengasse in Antwerpen»
                                                                                       zu den verschollenen Arbeiten Nuss-
                                                                                       baums gehört, die nur durch Schwarz-
                                                                                       Weiß-Fotografien erhalten sind.
                                                                                           Der direkte Vergleich mit dem Bild
                                                                                       »Friedhof« gibt weitere Hinweise zur      Wie funktioniert das Röntgen?
                                                                                       Lesbarkeit des Röntgenbildes: Die
                                                                                       Mauer kann als Friedhofsmauer iden-       Und was verraten uns die Bilder?
                                                                                       tifiziert werden und weitere Kreuze
                                                                                       hinter der Mauer sowie eine Mühle mit
                                                                                       weißem Fensterkreuz werden sichtbar.      Röntgenstrahlen sind für das mensch-           eine Art Film, der durch Röntgenstrah-        mensetzung absorbieren (»schlucken«)
                                                                                       Selbst die Witwen mit ihren Trauerkrän-   liche Auge nicht wahrnehmbare elektro-         len belichtet wird. Für ein aussagekräf-      die Farben die Röntgenstrahlen unter-
                                                                                       zen lassen sich im Röntgenbild andeu-     magnetische Wellen. Wie beim Röntgen           tiges Röntgenbild sind nicht nur die          schiedlich stark. Folglich sind verschie-
                                                                                       tungsweise erkennen.                      von Körpern in der Medizin, können             Intensität und Dauer der Strahlung            dene (Farb-)Schichten und Schatten
                                                                                           Der direkte Vergleich zeigt aber      diese Strahlen buchstäblich »Licht« in         entscheidend. Auch die chemische              mal besser, mal schlechter sichtbar.
                                                                                       auch, dass es sich bei dem Bild unter     ein Kunstwerk und seine unterschied-           Zusammensetzung und die Dichte des            Dies ist auch bei den Werken von Felix
                                                                                       dem Stillleben nicht um das verscholle-   lichen Ebenen bringen. Sichtbar wer-           von dem Künstler oder der Künstlerin          ­Nussbaum der Fall. Das sogenannte
                                                                                       ne Gemälde »Friedhof« handeln kann.       den beispielsweise Malschichten oder           verwendeten Materials spielt eine Rolle.       »Bleiweiß« zum Beispiel »schluckt« auf-
                                                                                       Denn trotz der motivischen Überein-       Besonderheiten des Bildträgers. So ist         Um das Röntgenbild optimal deuten              grund seines hohen Bleigehaltes sehr
                                                                                       stimmungen sind deutliche Abweichun-      es unter anderem möglich, Übermalun-           zu können, muss man etwas über die             viel Röntgenstrahlung. Im Röntgenbild
                                                                                       gen festzustellen: Die Gestaltung der     gen, Reparaturen oder verdeckte Signa-         chemische Zusammensetzung und die              treten diese Teile daher hell hervor.
                                                                                       Mauergraffitis mit dem Totenschädel       turen zu erkennen.                             Eigenschaften von Materialien wissen.
                                                                                       und den gekreuzten Knochen sind eben-         Beim Röntgen eines Kunstwerks                 Farben beispielsweise setzen sich
                                                                                       so wie die Kreuze hinter der Mauer und    befindet sich – genau wie beim Rönt-           aus verschiedenen Pigmenten und Bin-
                                                                                       ihre Platzierung nicht deckungsgleich     gen eines Menschen – hinter dem Bild           demitteln zusammen. Je nach Zusam-
                                                       Abb. 5                          ausgeführt. Das Gemälde »Friedhof«,
                                                       Röntgenbild zu WV 334           das hier offenbar in einer zweiten

6                                                 Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020     Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020                                                            7
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Unterwegs mit Felix Nussbaum

Eine ungewöhnliche Tournee

                                                                                                                               28. März zu zeigen. Die Corona-Pande-      Kunst und Kreativität in Derby, ist für      Bereits für den 9. September 2021 steht
                                                                                                                               mie führte mit ihren Reisebeschränkun-     unser Projekt eine ideale Einrichtung        eine mehrwöchige Ausstellung im Holo-
                                                                                                                               gen jedoch dazu, dass die Ausstellung      und Partnerorganisation zugleich. Vor-       caust-Museum der Slowakei fest. Das
                                                                                                                               erst Anfang Juni ihre Rückreise nach       gesehen waren parallele Vermittlungs-        Museum, Zweigstelle des jüdischen Teils
»Wenn ich untergehe, lasst meine Bilder   sogenannten Flightcases, sowohl die                                                  Osnabrück antreten konnte. Eigentlich      projekte mit dem Ziel, »durch diese Aus-     des slowakischen Nationalmuseums,
nicht sterben. Zeigt sie den Menschen.«   Bilder als auch alle begleitenden Mate-                                              hätte sie da bereits seit dem 16. April    stellung zwei zentrale Knotenpunkte,         befindet sich in einem einstigen KZ in
Diese Bitte Felix Nussbaums ist für       rialien, Werbeutensilien und die gesam-                                              an ihrem zweiten Standort sein sollen,     das Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück,          Sered‘ bei Bratislava. Auch hier wollen
unsere Gesellschaft eine beständig        te Ausstellungstechnik mitzuführen.                                                  der Staatlichen Akademie der Künste        und die Artcore Galerie, Derby, zusam-       wir mit engagierten Partnern das Aus-
wirksame Aufforderung, das Wissen um          Geplant war, die Ausstellung im                                                  in Minsk. Nicht nur Corvid-19, sondern     menzubringen, wodurch ein neues,             stellungsprojekt, dann ohne Pandemie-
sein Werk, zu dem seine Bilder über den   »Refter«, einem früheren Kreuzgang                                                   auch die katastrophalen Einfuhrbedin-      künstlerisches Licht auf die Philosophie     einschränkungen, weiter fortsetzen.
Holocaust gehören, wie auch um seine      und heutigen Ausstellungskomplex am                                                  gungen nach Belarus vereitelten diesen     von Partnerstädten geworfen wird.«              Wir können mit der Wanderausstel-
künstlerische Größe zu erhalten und       Rathaus der Stadt Haarlem, bis zum                                                   Plan. Im Bemühen um eine Alternative       Dieser Ansatz von »Artcore« kann nun         lung auch deshalb so flexibel reagieren,
weiterhin zu vermitteln.                                                                                                       waren die Abstimmungen mit der deut-       ebenfalls aktuell nicht realisiert werden.   wie im Jahr 2020 bewiesen, weil es
    So planten wir seit 2015 eine                                                                                              schen Botschaft in Warschau schon          Die Entwicklung der Corona-Fallzahlen        sich bei den 20 Nussbaum-Bildern um
Wander­ausstellung mit den Reproduk-                                                                                           ­fortgeschritten, doch Corona hat auch     machte es uns als Veranstalter nicht         Reproduktionen handelt. Sie ersetzen
tionen wichtiger Werke Nussbaums                                                                                                hier durch Quarantänebedingungen          möglich, zum geplanten Zeitpunkt mit         sicher nicht die Originale, machen es
in einigen europäischen Städten. Sie                                                                                            eine Fortsetzung verhindert.              der Ausstellung fortzufahren. Ein neuer      aber leichter, zunächst für das Werk zu
wurde am 28. Februar 2020 erfolgreich                                                                                               In der Hoffnung, dann aber endlich    Termin im Jahr 2021 soll nun dieses          interessieren, da Reproduktionen nicht
in Haarlem, Niederlande, gestartet.                                                                                             in Osnabrücks englischer Partnerstadt     Vorhaben zu einem guten Abschluss            die Bedingungen und Aufwendungen
    Nach intensiver Vorbereitung hatten                                                                                         Derby den weiteren Tourneeplan umzu-      bringen und zugleich die beiden Part-        erfüllen müssen, die in Museen oder
wir uns auf den Weg machen können,                                                                                              setzen, war die nächste Station vom       nerstädte noch stärker zu verbinden.         Galerien für Originale vorausgesetzt
um den Menschen einen, vielleicht                                                                                               26. November bis 21. Dezember 2020           Weitere Planungen konzentrieren           werden. Dies sollte für uns eine Chance
ersten, Eindruck zu vermitteln, welche                                                                                          dort vorgesehen. Die relativ kurze Aus-   sich daher auf das kommende Jahr. In         sein, den zu Beginn zitierten Worten
Bedeutung diesem Künstler heute für                                                                                             stellungsdauer wurde wiederum durch       der Hoffnung, die Pandemie zu überwin-       von Felix Nussbaum zu entsprechen.
die europäische Malerei des letzten                                                                                             einen weiteren Umstand bestimmt –         den, sind bislang als nächste Standorte
Jahrhunderts zukommt. Mit der Vor-                                                                                              den Brexit und die damit verbundenen      Angers, Osnabrücker Partnerstadt in
planung verbunden war zugleich eine                                                                                             Unsicherheiten bezüglich der Zoll­        Frankreich, sowie Camp de Milles in          heiko schlatermund
logistische Herausforderung, die es uns                                                                                         bestimmungen ab dem 1. Januar 2021.       Südfrankreich, eine Gedenkstätte für
ermöglichen sollte, mit lediglich zwei                                                                                              Die Galerie »Artcore«, ein interna-   ein früheres Internierungslager, vorge-
flexibel zu bewegenden Transportkisten,                                                                                         tionales Zentrum für zeitgenössische      sehen.

8                                               Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020     Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020                                               9
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Großes Interesse an den historischen Stadtrundgängen zur jüdischen Geschichte in der NS-Zeit

Aus der Vergangenheit lernen –
Führungen »Jüdische Geschichte«

                        Die Felix-Nussbaum-Gesellschaft lädt        treibung und Vernichtung der jüdischen     In ihrer Führung auf den Spuren Felix
                        seit Anfang 2020 dazu ein, die Geschich-    Gemeinde Osnabrück 1900 –1945«),           Nussbaums beschäftigte sich Anne
                        te und Geschichten jüdischen Lebens         Anne Sibylle Schwetter, der Kuratorin      Sibylle Schwetter mit der Jugend des
                        in Osnabrück kennenzulernen. In the-        der Sammlung Felix Nussbaum im             Malers, die er selbst als »glückliche
                        matisch geführten Stadtrundgängen           Museumsquartier Osnabrück, Dieter          Zeit« bezeichnete und die vom bürgerli-
                        werden dabei an historischen Orten          Przygode (Autor des Buches »Von Bram-      chen Lebensstil der Familie geprägt war.
                        ausgewählte Biografien und Schicksale       sche nach Buenos Aires. Auf den Spuren     Felix Nussbaum teilte mit seinem Vater
                        jüdischer Mitbürger*innen vorgestellt,      der jüdischen Familie Voss«) und Rolf      nicht nur die Verbundenheit mit seiner
                        die in den Jahren der Weimarer Repub-       Spilker, dem langjährigen Direktor und     Heimatstadt, sondern auch die Liebe
                        lik in Osnabrück lebten und als Teil der    Geschäftsführer des Museums Indus­         zur Kunst. Die Teilnehmenden erfuhren,
                        Stadtgesellschaft das kulturelle Leben      triekultur.                                wie Osnabrücker Motive noch bis 1941,
                        in der Stadt mitgestalteten.                    Im Rahmen der Kooperation mit          als die Familie längst ins Exil getrieben
                            Dabei wird die Alltagsrealität der      der Volkshochschule Osnabrück, die         war, Eingang in Felix Nussbaums Bilder-
                        schrittweisen Diffamierung und Aus-         die Führungen in ihr Programm auf-         welt fanden.
                        grenzung ab 1933 bis hin zur Verfolgung     nahm, wurde das Projekt in einer                Im Juli unternahmen Martina
                        und Deportation anhand von Einzel-          Handreichung des Deutschen Volks-          Sellmeyer und Dieter Przygode eine
                        schicksalen lebendig. Die Rundgänge         hochschulverbands zum Thema »1700          Radtour durch Eversburg. Im Kriegsge-
                        führen an Wohnorte, Geschäfte und           Jahre jüdisches Leben in Deutschland«      fangenenlager OFLAG VI C überlebte
                        Orte der Verfolgung und vermitteln          aufgenommen, mit der den Koopera­          die größte jüdische Gemeinschaft
                        einen persönlichen und lokalen Zugang       tionspartner*innen Empfehlungen für        im deutschen Reich der NS-Zeit den
                        zur kulturellen, sozialen und politischen   verschiedene Veranstaltungsformate         Holocaust. In Eversburg gab es auch
                        Geschichte Osnabrücks: von der Inte­        gegeben werden. Die Osna­brücker           einen jüdischen Unternehmer, der hier
                        gration der jüdischen Gemeinde in die       Stadtrundgänge der Felix-Nussbaum-         eines der führenden Unternehmen der
                        Stadtkultur bis zu ihrer Vernichtung in     Gesellschaft und die Gesellschaft          Feinkostbranche in Norddeutschland
                        der Zeit des Nationalsozialismus.           selbst bekommen damit bundesweite          betrieb und von NS-Organisationen
                            Die Führungen stießen und stoßen        Aufmerksamkeit unter den Volkshoch-        massiv bedroht und schließlich enteig-
                        noch immer auf ein überwältigendes          schulen.                                   net wurde.
                        Interesse. Die Termine sind nicht nur           Die erste Führung unter dem Titel           Im September gingen Rolf Spilker
                        schnell ausgebucht, sondern mit bis zu      »Rabbiner, Ritualbeamter, Kantor« im       und Martina Sellmeyer bei einem Ein-
                        60 Anmeldungen pro Führung um das           März beschäftigte sich mit der Frage,      kaufsbummel in »Neu Jerusalem« der
                        Vielfache der möglichen Personenzahl        wer die jüdische Gemeinde bis zu ihrer     Frage nach, welche Rolle jüdische Kauf-
                        überbucht.                                  Vernichtung im Nationalsozialismus         leute bei der rasanten Entwicklung der
                            Etliche Interessierte meldeten sich     leitete und wo sie betete. Die Gemein-     Großen Straße seit Anfang des 19. Jahr-
                        gleich nach Erscheinen des Programms        de hatte nur kurze Zeit einen eigenen      hunderts spielten. Die Kaufhäuser jüdi-
                        für mehrere der Führungen an, die über      Rabbiner und musste sich während der       scher Inhaber trugen einen nicht uner-
                        die Website der Gesellschaft und einen      längsten Zeit ihrer Existenz mit viel      heblichen Anteil zum wirtschaftlichen
                        Flyer beworben wurden.                      zu engen Bet-Räumen behelfen. Ihre         Erfolg der Stadt bei. Dennoch wurde die
                            Dank der Unterstützung durch die        sichtbare Präsenz war in der Stadt nicht   Große Straße bereits seit dem 19. Jahr-
                        Stadt Osnabrück, die Herrenteichslai-       erwünscht. Nur 33 Jahre lang konnte        hundert zum Ziel agitatorischer Angriffe
                        schaft und die Jüdische Gemeinde Osna-      sich die Gemeinde in einer eigenen wür-    auf die jüdischen Geschäftsleute der
                        brück können die Führungen kostenlos        devollen Synagoge versammeln.              Stadt. Immer wieder versuchten die
                        angeboten werden. Durchgeführt wer-             Nach dem Ausfall der Führungen         Interessenvertretungen der Einzelhänd-
                        den sie von Martina Sellmeyer (Autorin      im April und Mai aufgrund der Corona-      ler, sie mit unfairen Methoden aus dem
                        der Dokumentation »Stationen auf dem        Pandemie wurde das Programm im Juni        Wettbewerb zu drängen, bis dies den
                        Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Ver-       wieder aufgenommen.                        Nationalsozialisten tatsächlich gelang.

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FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
heit. Ihre Nationalität aber war deutsch,
                                                                                                         und dem Land, in dem sie seit vielen
                                                                                                         Generationen lebten, galt ihre volle
                                                                                                         Loyalität.
                                                                                                             In den Gesprächen mit den Teilneh-
                                                                                                         menden der Stadtrundgänge wurde
                                                                                                         deutlich, dass es nicht nur historisches
                                                                                                         Interesse ist, das so viele Menschen zur
                                                                                                         Teilnahme bewegt. Viele interessieren
                                                                                                         sich für das Thema aufgrund der aktuel-
                                                                                                         len antisemitischen Vorfälle in Deutsch-
                                                                                                         land – nach dem Motto »Aus der
                                                                                                         Vergangenheit lernen«. Die Führungen
                                                                                                         entsprechen damit genau der Inten-
                                                                                                         tion der Felix-Nussbaum-Gesellschaft,
                                                                                                         das Vermächtnis Felix Nussbaums als
                                                                                                         Auftrag zu verstehen, sich den gesell-
                                                                                                         schaftspolitischen Herausforderungen
                                                                                                         unserer Gegenwart zu stellen.
                                                                                                             Aufgrund des großen Interesses
                                                                                                         – bisher sind insgesamt 270 Anmel-
                                                                                                         dungen eingegangen und wegen der
                                                                                                         beschränkten und durch Covid-19
                                                                                                         zusätzlich reduzierten Teilnehmerzahl
                                                                                                         konnte nur rund die Hälfte der Perso-
                                                                                                         nen an den Angeboten teilnehmen –
     Die Führung im Oktober, »Auf den Spu-       kungen wegen Covid-19 leider nicht                      ist eine Fortsetzung der Stadtrund-
     ren der NS-Zeit im Katharinenviertel«,      stattfinden. Sie folgen den Spuren der                  gänge geplant. Wir informieren Sie
     beleuchtete die zentrale Rolle des          Opfer, Täter und Zuschauer der Pog-                     auf der Website der Felix-Nussbaum-
     Viertels in der Geschichte der jüdischen    romnacht zu den Orten, an denen Men-                    Gesellschaft, wo auch alle Themen und
     Gemeinde. Hier befand sich mit der          schen mitten in der Nacht aus ihren                     Termine angekündigt werden.
     Synagoge der religiöse Mittelpunkt          Häusern geprügelt und zusammen-                             Die Stadtrundgänge stießen nicht        die interessante und sehr engagierte
     der Osnabrücker*innen mit jüdischer         getrieben wurden und ihre Geschäfte                     nur auf ein riesiges Interesse in Osna-     Führung durch die jüdische Welt in
     Religion, hier verbrachten die jüdischen    geplündert wurden.                                      brück und Umgebung, sondern auch            Osnabrück« und wünschte »alles Gute
     Kinder ihre ersten vier Schuljahre in der       Im Januar 2021 beschäftigt sich Mar-                auf ein äußerst positives Feedback.         für Ihre weitere Arbeit und viele Unter-
     Israelitischen Elementarschule. Außer       tina Sellmeyer mit den »Patrioten mit                   Teilnehmer*innen lobten den Einsatz         stützer in Bürgerschaft, Kirche und
     der Parteizentrale im »Hitlerhaus«          jüdischer Religion« – Kriegsteilnehmer                  für die Geschichtsvermittlung vor Ort,      ­Politik.« Das wünschen wir uns auch.
     waren auch Hitlerjugend, Gestapo und        des Ersten Weltkriegs, die ihr Leben                    »noch dazu umweltfreundlich mit dem
     SA im Viertel präsent.                      für ihr Heimatland riskierten, während                  Rad«. Ein Teilnehmer bedankte sich »für     martina sellmeyer
         Zwei für November geplante Rad-         Osnabrücker jüdische Frauen sich an
     touren sollten den Spuren der Opfer,        der »Heimatfront« für die Verwunde-
     Täter und Zuschauer an den Orten der        ten und das Vaterland engagierten.
     Pogromnacht folgen. Beide Radtouren         Ihr Judentum war für die Osnabrücker
     waren bereits ausgebucht, konnten           Gemeindemitglieder eine religiöse,                                                 Mehr Informationen unter: www.fng-os.de/projekte/juedisches-leben/
     schließlich aber in Folge der Einschrän-    sicher auch eine kulturelle Angelegen-

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FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Handabdrücke der Familien Nussbaum und Gossels aus Amsterdam

Spuren und Fundstücke
                                           Im Frühjahr 2020 nahm die niederländi-       es uns obendrein fast so vor, als würden
                                           sche Historikerin Alexandra Nagel mit        wir nachträglich mit einem Händedruck
                                           uns, dem Team von »Flucht 1937«, über        als Gruß aus der Vergangenheit belohnt.
                                           Facebook Kontakt auf (www.facebook.              Meerloos Rückschlüsse auf die
                                           com/Flucht1937). Was Alexandra teilen        Gesundheit, den Charakter oder das
                                           wollte, war für uns eine kleine Sensa­       Schicksal dieser Personen sind leider
                                           tion: Handabdrücke der Familien Nuss-        nicht überliefert. Allerdings wissen wir,
                                           baum und Gossels, die aus der Hand-          dass er einige Zeit ein Nachbar von
                                           lesepraxis von Philip Leonard Meerloo        Emma Gossels-Heilbrunn war, als sie in
                                           stammten. Meerloo war zwischen 1936          Amsterdam in die Albrecht Dürerstraat
                                           und 1942 ein professioneller Chirologe       zog.
                                           (Handleser) in Amsterdam.                        Julius Spier, Meerloos größter Kon-
                                                    Alexandra wurde im Rahmen           kurrent, wohnte in der Courbetstraat,
                                                    ihrer Recherchen für ihre           gegenüber von Alfred und Minna Gos-
                                                    Doktorarbeit über den Psycho-       sels. Es gibt jedoch keinerlei Belege
                                                    Chirologen Julius Spier auf         dafür, ob sie möglicherweise Spier
                                                    Meerloo aufmerksam. Sie nahm        ebenfalls konsultiert haben. Interes-
                                                    mit dessen Sohn, Philip Meer-       sant könnte es sein, zu erfahren, ob ein
                                                    loo jr., Kontakt auf, der ihr aus   heutiger Chirologe ohne biografisches
                                                    dem Nachlass seines Vaters          Vorwissen über die Personen mit den
                                                    1.300 Handabdrücke überließ.        vorhandenen Abbildungen Deutungen
                                                    Darunter waren die Abdrücke         vornehmen würde bzw. könnte.
                                                    der Handlinienflächen von               Mit Ausnahme von Auguste Mina
                                                    Alfred Gossels, seiner Mutter       Thormann-Gossels wurden alle anderen
                                                    Emma, seiner Frau Mina, eben-       Mitglieder der Familien Gossels und
                                                    so die von Justus Nussbaum,         Nussbaum nur wenige Jahre danach
                                                    dem älteren Bruder des Malers       deportiert und ermordet. Alfred Gossels
                                                    Felix Nussbaum – entstanden         war 1944 erst 34 Jahre alt, seine Mutter
                                                    1941 und 1942 in Amsterdam;         Emma 70, Justus Nussbaum 43. Mina
                                                    es waren Abdrücke jener             Gossels überlebte das Konzentrations-
                                                    Menschen aus Osnabrück, die         lager Ravensbrück und wohnte bis Ende
                                                    damals im Amsterdamer Exil          der 1950er-Jahre in Amsterdam. Danach
                                                    lebten und die in unserem Film      kehrte sie in ihre Geburtsstadt Osna-
                                                    »Flucht 1937« eine wichtige         brück zurück, wo sie 1989 starb.
                                                    Rolle spielen. Zehn Prozent der         Philip Leonard Meerloo, Mitglied
                                                    Sammlung sind Handabdrücke          einer Widerstandsgruppe und jüdischer
Philip Leonard Meerloo                              von Shoah-Opfern und auf            Abstammung, wurde verraten, verhaftet
(fotografiert von Godfried de Groot),
                                           der Webseite Joods Monument ver-             und 1942 im KZ Amersfoort ermordet.
Quelle Archiv Philip Meerloo, mit
freundlicher Genehmigung von Philip
                                           fügbar (www.joodsmonument.nl/en/             Er wurde 34 Jahre alt. Er hinterließ eine
Meerloo jr. und Marjolijn Gibes-Meerloo.   page/215047/philip-leonard-meerloo).         Frau (schwanger mit seinem Sohn)
                                               Mit diesen Bildern vor Augen fühlten     sowie eine Tochter.
                                           Abigail und ich uns zurückversetzt in
                                           den Sommer 2015, als wir ein halbes          mark mathew
                                           Jahr lang mehr über diese Personen
                                           und ihren Lebensweg erfahren wollten.
                                           Damals hatten wir zu den Namen noch
                                           keine Gesichter. Erst dank der Funde                                                     Handabdrücke
                                                                                                                                    oben von links nach rechts: Justus Nussbaum, Emma Gossels
                                           in diversen Archiven und dem Quellen-
                                                                                                                                    unten von links nach rechts: Alfred Gossels, Mina Gossels-Thormann
                                           material von Zeitzeugen nahmen die
                                           Menschen für uns Gestalt an. Das waren                                                   Quelle: Archiv Philip Meerloo,
                                           bewegende Momente. Und jetzt kommt                                                       mit freundlicher Genehmigung von Philip Meerloo jr. und Marjolijn Gibes-Meerloo

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FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
»Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum«

Nasan Tur
                                                                                                                                                      Er spürt in sich hinein, horcht den inne-    Für das Soundobjekt »Deutschland«
                                                                                                                                                      ren Stimmen nach, gibt den Gefühlen          (2019) modifizierte Nasan Tur eine histo-
                                                                                                                                                      Raum – Getriebensein, Zerrissenheit,         rische Drehorgel, sodass sie selbsttätig
                                                                                                                                                      Ängste, Beklemmung, Mitgefühl, Wider-        zu spielen begann und in langgezo-
                                                                                                                                                      stand, Verehrung oder Wünsche –, um          genen, gequälten Tönen die deutsche
                                                                                                                                                      die Gedanken, die daraus folgen, in sei-     Nationalhymne zu hören gab. Felix
                                                                                                                                                      ner Kunst zu reflektieren. Trotzdem sind     Nussbaum erschuf zu seiner Zeit mit
                                                                                                                                                      seine Kunstwerke alles andere als Arbei-     dem Orgelmann ein Bild der Einsamkeit
                                                                                                                                                      ten, die einzig um seine Person kreisen.     und Melancholie eines Künstlerda-
                                                                                                                                                          »Meine Kunst befragt unsere Rolle        seins. Er wählte mit der Drehorgel ein
                                                                                                                                                      in der Gesellschaft – sie fragt nach dem     Instrument, das kein virtuoses Spiel
                                                                                                                                                      Sinn und warum wir das tun, was wir          erlaubt und bei welchem das gestanz-
                                                                                                                                                      tun.« (Nasan Tur)                            te Lochband einzig die immer gleiche
                                                                                                                                                          Eher als Soziologe denn als Künst-       Leier wiederholen lässt. »Beides macht
                                                                                                                                                      ler empfand sich Nasan Tur zu Anfang         sie für Nussbaum zum Symbol des
                                                                                                                                                      seiner Laufbahn. Nach wie vor sind die       menschlichen Daseins allgemein, in der
                                                                                                                                                      wissenschaftlichen Erkenntnismetho-          Besonderheit seiner Situation aber zum
                                                                                                                                                      den essentiell für sein künstlerisches       Symbol seiner künstlerischen Tätigkeit
                                                                                                                                                      Schaffen: sehen, analysieren, Thesen         in der Emigration«1. Nasan Tur nun ver-
                                                                                                                                                      aufstellen. Sein Beobachtungsfeld ist die    knüpft diese symbolische Bedeutung
                                                                                                                                                      Gesellschaft mitsamt ihren Produkten         bei Nussbaum, die auch Ausgrenzung
                                                                                                                                                      wie Politik und Medien; mit ihrem Kern,      und Isolation anspricht, mit dem Heute
                                                                                                                                                      dem Menschen und dessen Handlungs-           und der Betrachtung von Begriffen wie
                                                                                                                                                      rahmen; mit sich selbst als einem Teil       »Nation« oder »national« und identitäts-
                                                                                                                                                      der Gesellschaft. Für Nasan Tur ist die      stiftenden Kulturgütern wie den Natio­
                                                                                                                                                      Kunst Mittel zur Reflexion; er gibt sie      nalhymnen, die zusammenschließen,
                                                                                                                                                      den Betrachtenden als Mittel zur Kom-        aber ebenso eingesetzt werden, um
                                                                                                                                                      munikation.                                  abzugrenzen und auszuschließen.
                                                                                                                                                          Die Ausstellung im Felix-Nussbaum-           In Turs Fotografie »Agony« treffen
                                                                                                                                                      Haus präsentierte ältere Werke von           natürliche Feinde aufeinander – hier
                                                                                                                                                      Nasan Tur, die im Zuge der Begegnung         Schaf und Schakal. Entgegen der Erwar-
                                                                                                                                                      des Künstlers mit dem Leben und Werk         tung ist es aber das Schaf, das dem
                                                                                                                                                      Felix Nussbaums eine neue Aktualität         Schakal in die Kehle beißt. Oder liebkost
                                                                                                                                                      bekommen hatten, und für die Ausstel-        die weiße, weiche Schnauze den Hals
                                                                                                                                                      lung neu geschaffene Arbeiten als Reak-      des Raubtieres? »Agony« ist eine meta-
                                                                                                                                                      tion und Kommentar auf die gegenwär­         phorische Arbeit und für Nasan Tur ein
                                                                                                                                                      tige Begegnung.                              Ausdruck des Widerstandes, ein »Nicht-
                                                                                                                    Blick in die Ausstellung              Im Raum der Gegenwart stand man          akzeptieren-Wollen« von vorgegebenen
                                                                                                                      »Nasan Tur« im »Raum
                                                                                                                                                      dem wandfüllenden Video »Run« (2004)         vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten.
                                                                                                                  der Gegenwart« des Felix-
        Als ich letztes Jahr die Ausstellung von   man und reagiert mit Unverständnis                               Nussbaum-Hauses, 2020             gegenüber und verfolgte einen ren-           Die Fotografie befragt die Verhältnisse:
        Nasan Tur vorbereitete und mich in         oder Betroffenheit. Nacktheit, also die                                                            nenden Mann in Rückenansicht, der in         Wie leben wir? Wie reflektieren wir?
        seine Werke vertiefte, wurde wieder­       bildliche Nacktheit, das Pure, das Unver-                                                          beengten Raumverhältnissen hastig im         Und wie wollen wir leben?
        kehrend ein Satz in meinem Kopf laut:      deckte ist ungewöhnlich geworden und                                                               Kreis läuft, ohne Anfang, ohne Ende, im          »Plötzlich geht es nicht mehr nur um
        »Ohne die Kleider fallen zu lassen,        bedeutet schutzlos und angreifbar zu                                                               Dauerloop, kein Ausweg. Die durchdrin-       die Umkehr von Machtverhältnissen,
        macht Nasan Tur sich nackt«.               sein. Stattdessen uniformiert man sich,                                                            gende Soundkulisse der auf den Boden         sondern um die Macht des Perspektiv-
           Das Sprichwort des Sich-nackt-          verbarrikadiert sich hinter unsichtbaren                                                           aufschlagenden Schuhe, die Größe des         wechsels« (Harff-Peter Schönherr, TAZ,
        Machens ist in unserer Welt mit Skepsis    Masken und emotionalen Rüstungen                                                                   Videos und die Nähe zu dem Flüchten­         05.01.2020).
        verbunden: »Willst du dich wirklich so     oder guckt schlichtweg weg, weil das                                                               den zogen die Betrachter*innen in                Eine Einladung zum Perspektivwech-
        nackt machen?«, fragt man Freunde und      Sichtbare kaum zu ertragen ist.                         1 Berger, Eva u.a., Felix Nussbaum.
                                                                                                                                                      dieses Bild der Ruhelosigkeit, des Getrie-   sel ist auch das Projekt »Ausblicke«, das
        denkt, man schützt sie. »Er oder sie hat       Für Nasan ist diese bildliche Nackt-                  Verfemte Kunst, Exilkunst, Wider-        benseins und des Nichtankommenkön-           Nasan Tur als partizipatives Werk im
        sich ganz schön nackt gemacht«, sagt       heit, das Menschsein, Motor seiner Kunst.                 standskunst, Bramsche 2007, S. 289       nens hinein.                                 Sinne der Prozesskunst parallel zu der

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FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft
Blick in die Ausstellung
                                                                                                        »Nasan Tur« im »Raum
                                                                                                        der Gegenwart« des Felix-
                                                                                                        Nussbaum-Hauses, 2020

                                                                                                        ins Auge fallen, wenn man Angst haben        sie die Ausstellung von Nasan gesehen       ich würde sagen, dass die Ausstellung zur
                                                                                                        müsste, dass an die Tür geklopft wird        hatte. Damals, vor nun fast einem Jahr,     Selbstbefragung einlädt. Und dass es um
                                                                                                        und man gezwungen werde, das Land            antwortete ich mit dem Untertitel der       Austausch geht, darum, (sich) zu sehen.
                                                                                                        zu verlassen? Wie würde ich mit dem          Ausstellungsreihe, in welche Nasans             Heute betrachte ich Nasans Kunst
                                                                                                        Gefühl der Unsicherheit leben?               ­Präsentation eingebunden ist: »Zeitge-     als Einladung an uns alle, sich ein wenig
                                                                                                            Zum Ende der Ausstellung werden           nössische Künstler*innen begegnen Felix    »nackter« zu machen: ehrlich, sensibel
                                                                                                        die Fotos der »Ausblicke« als Plakatak-       Nussbaum« und verwies darauf, dass in      und verletzbar zu sein, Angst zu benen-
                                                                                                        tion zurück in die Stadt geschickt und        dieser Reihe die Aktualität der Themen     nen und Wut zu spüren. Seine Kunst
                                                                                                        laden in den eigenen vier Wänden zu           und Fragestellungen von Nussbaums          ist der Spiegel, in dem man sich unge-
                                                                                                        einem Perspektivwechsel ein. In dem           Arbeiten in unserem Heute befragt wird.    schminkt entdecken kann: Was bin ich
                                                                                                        Buch, das mit den Plakaten veröffent-         Wie in diesem Text ging ich auf die ein-   und wer möchte ich sein? Seine Kunst
                                                                                                        licht wird, sehen wir die Menschen, die       zelnen Werke der Ausstellung ein und       ist es auch, die uns am Ende zeigt, dass
                                                                                                        in den Wohnungen leben, und erfahren          erzählte Nasans Geschichte dazu, bet-      wir alle gleichermaßen menschlich sind.
                                                                                                        von ihnen, von ihrer Geschichte, von          tete die Werke in den Kontext von Felix    Wie das Werk von Felix Nussbaum ist
                                                                                                        ihren Erlebnissen.                            Nussbaum ein und leistete den Transfer     das von Nasan Tur eine Auseinanderset-
                                                                                                            »Es ist eine der kleinsten, aber          zu der Bedeutung für die Besuchenden.      zung mit dem Menschen innerhalb des
                                                                                                        zugleich eine der berührendsten, bewe-           Heute – mit der Erfahrung vieler        Gesellschaftskörpers, eine Befragung
                                                                                                        gendsten Ausstellungen, die dieses            Gespräche in der Ausstellung und mit       seines Handlungsrahmens und am Ende
                                                                                                        Haus je gezeigt hat. Mit alptraumhaften       dem Kennenlernen von den Projektteil-      ein starkes Plädoyer gegen Rassismus,
                                                                                                        Szenen der Fremdheit und Flucht kon-          nehmenden und ihren Geschichten –          gegen Ausgrenzung und gegen Ent-
                                                                                                        frontiert sie uns mit Szenen der Zerfa-       würde ich anders antworten; ich würde      menschlichung.
                                                                                                        serung jeglicher Identität, existenzieller    sagen, dass es um das Fühlen geht, um
                                                                                                        Unsicherheit.« (Harff-Peter Schönher,         das Mitfühlen, um das Zuhören und Hin-     dr. mechtild achelwilm
                                                                                                        TAZ, 21.07.2020)                              einhorchen; ich würde antworten, dass      kuratorin zeitgenössische
                                                                                                            »Was ist das Thema?«, fragte eine         das Thema das Hinschauen ist und es        kunst und programm,
                                                                                                        Teilnehmerin der »Ausblicke«, nachdem         darum geht, eine Haltung einzunehmen;      museumsquartier osnabrück

                                                                                                        Johanna Diehl: Taubes Geäst
                                                                                                        13. Dezember 2020 bis 14. November 2021

                                                                                                        In ihrem Beitrag zum Projekt »Zeitge-        volle Symbolik, die in Nussbaums Werk       Den Blick zu werfen auf das, was nicht
                                                                                                        nössische Künstler*innen begegnen            besonders in den Jahren 1939 bis 1944       im Fokus steht, auf das Abseitige außer-
                                                                                                        Felix Nussbaum« dringt die Künstlerin        subtil am Rande auftaucht, in den Vor-      halb des Bildzentrums, charakterisiert
                                                                                                        Johanna Diehl tief in das Leben und          dergrund. Diehl konzentriert sich u. a.     Diehls künstlerisches Vorgehen. Hier,
     Ausstellung im Felix-Nussbaum-Haus        Balkone gegenüberliegender Wohn­                         Werk Nussbaums ein. Die international        auf die gestutzten Bäume aus Nuss-          in den Zwischenräumen, sucht sie das
     angestoßen hat. Für die »Ausblicke«       einheiten – nichts Ungewöhnliches. Nor-                  renommierte Fotokünstlerin begibt sich       baums Symbolik, die mitunter für das        Eigentliche unter Bezugnahme auf Wal-
     besuchte Nasan Tur Menschen, die in       malerweise sind es aber nicht wir, die                   auf Spuren Felix Nussbaums während           frühzeitig Um-die-Existenz-gebracht-        ter Benjamins Passagenwerk: »In den
     Osnabrück im Exil leben, um sich auszu-   Betrachter der Fotografien, die aus die-                 des Exils und der Flucht und untersucht,     Werden stehen. Auch richtet sie ihren       Falten der Geschichte befindet sich das
     tauschen, um einander kennenzulernen      sem Fenster schauen. Durch die Fotogra-                  in welcher Gestalt sein vom Widerstand       Blick auf die beschädigten Musikins-        Eigentliche, im Subjektiven, Alltäglichen,
     und voneinander zu erfahren. Am Ende      fien nehmen wir den Platz einer Person                   geprägtes Werk heute noch präsent ist.       trumente in den Bildern Nussbaums,          also in dem Nicht-in-den-offiziellen-
     der Treffen machte Nasan Fotografien      ein, die in Osnabrück im Exil lebt. Wären                    In den eigens für die Ausstellung        wie Lauten und Geigen, sowie auf das        Geschichtsbüchern-Verzeichneten«
     ihrer Ausblicke – ihrer Fenster mit       die Gedanken in der Situation die glei-                  im Felix-Nussbaum-Haus entstandenen          Fragment einer Partitur und beschäftigt     (Johanna Diehl).
     ihrem Blick in die Stadt. Man sieht       chen? Würde man über das Wetter nach-                    Fotografien und Filmen (in Zusammen-         sich mit der darin spürbaren Vorahnung
     Fensterrahmen, Blicke durch das Glas,     denken, wenn man Sorge hätte, beim                       arbeit mit dem Künstler und Musiker          des Verlusts des Lebens, des Zerfalls
     Sonnenstrahlen, man erkennt benach-       Einkauf beschimpft zu werden? Würde                      Raphael Sbrzesny) tritt die geheimnis-       Europas.
     barte Häuserzeilen, sieht bepflanzte      auch die Balkongestaltung der Nachbarn

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Nussbaum-Bild als Faksimile im Vatikan

 Der Flüchtling – Europäische Vision
                                                                                                                                     Juden in ihrer tödlichen Falle einsperre.   Ein Tisch in dieser Größe lädt zu nor-   prangert in seinem Rundschreiben in
                                                                                                                                     Zugleich wird unterstrichen, wie sehr       malen Zeiten zum Essen ein, verführt     mehreren Kapiteln den Egoismus von
                                                                                                                                     dieses Bild das Exil als die von nun an     zum geselligen Miteinander der Groß-     Rechtspopulisten und Nationalisten
                                                                                                                                     unumkehrbare Lage des Künstlers zum         familie bei Speis und Trank, wie es      an und fordert eine menschenwürdige
                                                                                                                                     Ausdruck bringe. Dessen Mitte wird          zur jüdischen Tradition besonders am     Migrationspolitik, wobei er betont, dass
                                                                                                                                     beherrscht von einem langen und brei-       Sabbat ganz selbstverständlich dazu-     Abschottung und Abwertung anderer
                                                                                                                                     ten, makellos weißen Tisch, auf dem         gehört. Nichts davon ist hier auch nur   nicht zur Lösung der weltweiten Kri-
                                                                                                                                     ein Globus thront, die Umrisse Europas      angedeutet. Und doch kann ich mich       sen führe. »Wer daraus seine Identität
                                                                                                                                     zeigend und einen gelblich-braunen,         des Eindrucks nicht erwehren, als habe   gewinne, verrate die Ideale von Freiheit
                                                                                                                                     runden Schatten auf die Tischplatte         den Künstler die Erinnerung und der      und Gleichheit« (so in Publik Forum wie-
                                                                                                                                     werfend. Mich hat in dem erwähnten          schmerzliche Verlust solcher Art fröh-   dergegeben). Mir fällt dazu ein jüngst
                                                                                                                                     Katalog aus Paris die Formulierung »le      licher Tischgemeinschaft beim Malen      erschienenes Buch von Heribert Prantl
                                                                                                                                     rectangle immaculé« (das unbefleckte        geführt.                                 ein: »Außer man tut es«. Im Vorwort
                                                                                                                                     Rechteck) nachdenklich gemacht. Was             Wie verzweifelt die Situation ins-   unterstreicht der namhafte SZ-Journa-
                                                                                                                                     hat Felix Nussbaum bewogen, diesen          gesamt für den am äußersten Ende         list: »Es geht immer um den Ausgang
                                                                                                                                     Tisch so großflächig und so unschuldig      des Tisches Kauernden ist, das zeigt     des Menschen aus der gesellschaftszer-
                                                                                                                                     weiß darzustellen? Daneben wirkt            besonders eindringlich der Blick nach    störenden Gleichgültigkeit«. Es lohnt,
                                                                                                                                     ja die auf einem Hocker kauernde,           draußen. Ein runder Torbogen lässt im    darüber nachzudenken, jeden Tag aufs
                                                                                                                                     schwarz gekleidete Gestalt des Flücht-      Hintergrund kahle Hügel, entlaubte       Neue und nicht zuletzt beim Blick auf
                                                                                                                                     lings, das Gesicht in den Händen ver-       Bäume, dazu tief fliegende schwarze      Nussbaums Gemälde »Der Flüchtling«.
                                                                                                                                     graben, Stock und Reisebündel neben         Vögel erkennen – ein einziges Bild
                                                                                                                                     ihm auf dem Boden, noch verzweifelter       der Hoffnungslosigkeit, voller Trauer    karin jabs-kiesler
                                                                                                                                     und hilfloser.                              und Melancholie. Papst Franziskus

                                               Spätestens seit 2015, dem Jahr der Auf-    Papst diese Enzyklika »als demütigen
                                               nahme so vieler Flüchtlinge in unserem     Beitrag zum Nachdenken« geschrieben
                                               Land, kommt dem Werk »Der Flüchtling«      habe, zudem dazu angeregt worden sei
                                               – Öl auf Leinwand, nach 1939 – eine        durch die Begegnung mit Großimam
                                               noch größere Bedeutung zu als schon        Ahmad al-Tayyeb 2019 in Abu Dhabi.
                                               zuvor. Was für ein Gemälde, so sparsam     Was für eine Nachricht! Vor Jahren noch
                                               in seiner Farbigkeit, so eindringlich in   undenkbar, unter welchem päpstlichen
                                               seiner Aussage, dabei die persönliche      Vorgänger auch immer!
                                               Lage des Malers Felix Nussbaum im              Was macht dieses Gemälde »Der
                                               Jahre 1939 in so berührender Weise vor     Flüchtling« so bewegend? Wir sehen ja
                                               Augen führend!                             nur wenige charakteristische Elemente:
                                                   Diese Arbeit nun wurde als Faksimile   Einen hohen, fast leeren, kahlen Raum
                                               Mitte Oktober in Rom Papst Franziskus      mit rohen Wänden, von denen Teile
                                               persönlich überreicht von Christian        des Putzes abgefallen sind, sodass Zie-
                                               Wulff, dem früheren Bundespräsidenten      gelsteine sichtbar werden. Zur großen
                                               und Mitglied unserer Gesellschaft. Die     Nussbaum-Ausstellung im Jahre 2010
                                               Übergabe erfolgte zu einem Zeitpunkt,      in Paris im Musée d'art et d'histoire du
                                               da das päpstliche Rundschreiben            Judaisme erschien ein bemerkenswerter
                                               »Fratelli tutti« – in Anlehnung an eine    Katalog. Darin wird mit Bezug auf die-
                                               Formulierung von Franz von Assisi – in     ses besondere Werk von einem Raum
                                               Deutschland unter dem Titel »Über die      mit »aussätzigen Wänden« (aux murs
                                               Geschwisterlichkeit« gerade erschienen     lépreux) gesprochen und mit Blick auf
1 PUBLIK FORUM Nr. 19, S. 38 f.,               war. In einem Artikel in PUBLIK FORUM1     deren Farbe assoziiert, dass die braune
  Britta Baas »Enzyklika wider den Egoismus«   entdecke ich den Hinweis, dass der         Pest sich über Europa ausbreite und die

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Mitteilungen der Gesellschaft

Gratulation Hans-Jürgen Fip                                                                                                               Die FN-Nachrichten im Überblick

Unser Ehrenvorsitzender Hans-Jürgen              von Bildern des Malers errichtet wer-                                                    Alle bisher erschienenen Ausgaben der FN-Nachrichten
Fip hat im November 2020 seinen                  den konnte.                                                                              finden Sie ab sofort digital auf unserer Website: www.fng-os.de/fn-nachrichten
80. Geburtstag gefeiert. Ein Grund zu                In seiner Funktion als Osnabrücker
gratulieren und für die nächsten Jahre           Oberbürgermeister war es ihm ein
alles Gute und besonders beste                   besonderes Anliegen, dieses einmalige
Gesundheit zu wünschen.                          Gebäude errichten zu lassen. Seinem
    Hans-Jürgen Fip hat nicht nur viele          Einsatz verdanken wir einen Ausstel-
Jahre die Felix-Nussbaum-Gesellschaft            lungsort, der dem Wunsch des Malers
als Vorsitzender geleitet, sondern               Felix Nussbaum »Wenn ich untergehe,
maß­geblich dafür gesorgt, dass das              lasst meine Bilder nicht sterben – zeigt
Osnabrücker »Felix-Nussbaum-Haus«                sie den Menschen« in herausragender
als Museum der größten Sammlung                  Weise Rechnung trägt.

                Heiko Schlatermund              Manuela Maria Lagemann
                Vorsitzender		                  Geschäftsführerin

                                                                                                                                                                                                                           Felix-Nussbaum-Gesellschaft e. V.
Förderer, Partner und Sponsoren

                                                                                                                                                                                                                           Konrad-Adenauer-Ring 20
                                                                                                                                                                                                                           49074 Osnabrück
                                                                                                 Wir sind sehr dankbar für die starke
                                                                                                 Unterstützung durch Hellmann
                                                                                                 Worldwide Logistics, mit der unsere
                                                                                                 Wanderausstellung »Unterwegs mit
                                                                                                 Felix ­Nussbaum« in die Welt geschickt
                                                                                                 werden kann, und freuen uns auf die
                                                                                                 Zusammenarbeit bei vielen weiteren
                                                                                                 spannenden Stationen und Projekten.
                                                                                                    Für das kommende Jahr geplant
                                                                                                 sind Ausstellungen in Derby (England),
                                                                                                 Angers (Frankreich) und in Bratislava/
                                                                                                 Sered´ (Slowakei).
Heiko Schlatermund, Vorsitzender Felix-Nussbaum-Gesellschaft (links),                                                                     Wir danken den Sponsoren für die Herausgabe der FN Nachrichten:
Matthias Magnor, Chief Operating Officer Road & Rail Hellmann Worldwide Logistics (Mitte), und
Manuela Maria Lagemann, Geschäftsführerin Felix-Nussbaum-Gesellschaft (rechts),
mit den Flightcases und Reproduktionen der Nussbaum-Bilder

Wir danken den Sponsoren für die Umsetzung der Wanderausstellung »Unterwegs mit Felix Nussbaum«

22                                                       Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 21 | Nr 29 | Dezember 2020
Beitrittserklärung
Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zur
Felix-Nussbaum-Gesellschaft e. V. und erkenne die Satzung an.

     Name                                     Vorname

     Anschrift

     Geburtsdatum                             Telefon

     E-Mail

     Datum                                    Unterschrift

jährlicher Beitrag:
           beitragsfrei Schüler *in , Studierende , OS-Pass-Berechtigte
            40 € Einzelpersonen    60 € Ehepaar/Partnerschaft
           Beitrag für juristische Personen im Sinne von:
 	         120 € Organisation / Verein / Verband
 	         180 € Unternehmen* | anderer Jahresbeitrag: __________ €
bis auf Widerruf.
   * 180 € Mindestjahresspende – höhere Beiträge sind willkommen –­
   gekoppelt mit dem Angebot, Sonderführungen u. Ä. in Anspruch zu nehmen

Ich ermächtige die Felix-Nussbaum-Gesellschaft e. V. bis auf
Widerruf zum jährlichen Einzug meines Mitgliedsbeitrages

erstmalig ab dem
     Bank

     IBAN

     BIC

     Datum                                    Unterschrift

     Sparkasse Osnabrück, IBAN: DE28 2655 0105 0000 0044 40, BIC: NOLADE22XXX

Satzung der Felix-Nussbaum-Gesellschaft e. V.:
www.fng-os.de/satzung/
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