Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK

 
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Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
Förderstipendium
Sophie Thun
Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
Reihe Kunststiftung DZ BANK
Band 2

                                                                                                 Förderstipendium
                                                                                                 Sophie Thun und Sara Cwynar

                                                                                                 22.09. 2021 – 05.02.2022

                                                                                                 Mit Werken von:
                                                                                                 Sara Cwynar
                                                                                                 Sophie Thun
                                                                                                 sowie
                                                                                                 Katarína Dubovská
                                                                                                 Philipp Goldbach
                                                                                                 Talisa Lallai

Titelbilder:
Cover: Sophie Thun, While holding (passage closed) (Y110,8M17,4D+59F8m18,142CA3T69,2b100l240),
2018 (Detail); Rückseite: Sara Cwynar, Foto: Jody Rogac
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Die Sprache der Bilder

Wie ist Kunst der Gegenwart zu verstehen? Was soll transportiert                          die Kenntnis von bereits bestehenden             rum bedeutet eine erweiterte Komplexi-
werden? Wie lassen sich die Inhalte von Kunstwerken erschließen und                       Kunstwerken der Bewerberinnen und                tät. Bei der Wahrnehmung von künstleri-
                                                                                          Bewerber im Besonderen hilft uns dabei,          schen Werken dürfen wir nun immer
auf welche Weise(n) kann man das Dargestellte erfassen? So oder                           ihrer Ideen habhaft zu werden.                   wieder unterschiedliche Traditionen
ähnlich lauten häufig die Fragen, wenn wir mit zeitgenössischer Kunst                          Aus einer übergeordneten Perspektive        und Disziplinen mit einbeziehen, die uns
konfrontiert sind.                                                                        kann uns ein kleiner Blick zurück in die         teilweise zunächst fremd erscheinen.
                                                                                          Wissenschaften der Kunst die Lesbarkeit              Was daran deutlich wird, ist, dass
                                                                                          von Artefakten erleichtern. Die Kunst-           neben kulturellen immer auch politische
Ganz ähnliche Fragen stellen sich auch die   ihre innere Auseinandersetzung und ihre      geschichte oder Kunstwissenschaft ist ein        und soziale Entwicklungen Auswirkungen
Jurorinnen und Juroren bei der Auswahl       Überlegungen dem Gremium verständlich        noch verhältnismäßig junges Forschungs-          auf die Kunst und ihre Wissenschaften,
der Positionen für die Förderstipendien,     zu machen, greifen Kunstschaffende auf       gebiet, das sich erst Ende des 18. Jahrhun-      wie auch auf alle anderen Disziplinen,
stellt doch die Lesbarkeit der eingereich-   mehr oder weniger individuell gestaltete     derts auszuprägen begann. Das erste              haben können und damit ihre Deutungen
ten Vorschläge immer wieder eine Heraus-     Skizzen und Texte zurück. Das heißt,         »Handbuch der Kunstgeschichte« (1842)            nicht unerheblich beeinflussen. Wir tun
forderung dar. Dabei spielt nicht nur die    dass sie von ihren genuin künstlerischen     befasste sich zunächst noch mit »allen           also gut daran, die Methoden der Kunst-
Einordnung der künstlerischen Positionen     Materialien zumeist Abstand nehmen           Zeiten und allen Völkern« 1. Im weiteren         geschichte heranzuziehen und gleichzeitig
eine wichtige Rolle, sondern auch der        müssen. Das wiederum bedeutet für            Verlauf wurde das Forschungsgebiet               ihre Bedeutung in der Entwicklung der
Abstraktionsgehalt der eingereichten         die Jurorinnen und Juroren, dass sie anti-   immer stärker eingegrenzt, was auch mit          Disziplin zu reflektieren, um uns den
Projekte. Selbst wenn die Künstlerinnen      zipieren sollen, wie das Kunstwerk, das      der Vorherrschaft des europäischen und           Themen und den Materialien der künstleri-
und Künstler mithilfe von Abbildungs-        zunächst oft nur in Abbildungen und          amerikanischen Einflusses in der Welt            schen Ausdrucksformen anzunähern.
materialien auf ein bis zwei vorangegan-     Worten beschrieben wurde, seine Form         zusammenhing. Heute werden die Kunst-                Kunstgeschichte beschäftigt sich
gene Serien verweisen können, um ihre        finden wird. Das ist nicht immer ein         wissenschaften – bedingt durch die kriti-        zunächst vor allem mit dem »Was« (Was
Methoden vorzustellen, bleibt die Präsen-    leichtes Unterfangen.                        sche Auseinandersetzung mit den kolonia-         ist abgebildet?), dem »Wie« (Auf welche
tation und damit die Imagination der             Bei der Imagination der Projekte kann    listischen Bestrebungen der westlichen           Weise fand das Kunstwerk seine Form?),
geplanten Projekte immer wieder eine         uns unsere kunstwissenschaftliche wie        Welt und vor allem durch eine erweiterte         dem »Wann«, also der zeitlichen Einord-
besondere Aufgabe – vor allem dann,          auch unsere persönliche Erfahrung dien-      Rezeptionspraxis mithilfe einer fächerüber-      nung eines Werks, und dem »Wo«, dem
wenn es sich bei der Umsetzung um neue       lich sein. Das Wissen um die verschiede-     greifenden Analyse – wieder einem inhalt-        Ort der Herstellung.
inhaltliche und formale Lösungen sowie       nen Wege der Bilderzeugung, die Themen       lich, zeitlich und örtlich sehr viel breiteren       Das »Was« beschreibt die Genres,
Materialien handelt. Bei dem Versuch,        und die Materialität im Allgemeinen sowie    Gegenstandsgebiet zugeführt. Das wiede-          also die Bildthemen wie Porträt, Interieur,

4                                                                                                                                                                                    5
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Stillleben, Landschaft, Genreszenen etc.       fand, weist eine enorme Vielfalt an inhalt-   geprägten normativen Ästhetiken den          schen Einflüsse genauso wie die persön-
Immer wieder kommen auch gesellschaft-         lichen und technischen Ausprägungen auf.      Nachweis des zeitlichen Wandels ästheti-     lichen Kontexte der Künstler sowie der
liche Inhalte hinzu. Ebenso spielt jegliche        Ein weiterer wichtiger Richtwert ist      scher Gesetze rücken zu können.« 2 Würde     Betrachterinnen mit einbezogen. Über die
Ausprägung der Abstraktion sowie der           das »Wann«. Das Wissen um die zeitlichen      sich die Definition dessen, was »schön«      Jahre lassen sich auf diese Weise weitere
ungegenständlichen Kunst eine Rolle.           Rahmenbedingungen bei der Entstehung          ist, nicht fortwährend wandeln, würden       Ansätze zur ästhetischen und historischen
Lassen sich in der abstrakten Bildsprache      von bildender Kunst spielt eine zentrale      wir noch immer denselben künstlerischen      Deutung ergänzen, was erneut zu einer
noch Verbindungen zu erkennbaren               Rolle, um einordnen zu können, ob Künst-      und ästhetischen Standards anhängen          enormen Komplexität in der Rezeption
Gegenständen herstellen, verzichtet das        ler sich mit aktuellen Zusammenhängen         wie der Homo sapiens vor 40 000 Jahren.      führt, da alle Parameter bedacht und ein-
Ungegenständliche gänzlich auf einen           beschäftigen oder eher vergangenen                 Der deskriptiv-phänomenologische        bezogen werden wollen.
Bezug zur dinglichen Welt und zu wieder-       Themen und Materialien zuwenden.              Ansatz ist eine weitere Methode, sich            All diesen Fragen dürfen sich nicht nur
erkennbaren Objekten. Die ungegenständ-        Einige nehmen Strömungen sogar vorweg.        Kunstwerken anzunähern. Das Beschrei-        Kunstwissenschaftlerinnen und Ausstel-
liche Kunst wendet sich vielmehr der               Auch das »Wo«, also der Ort der Pro-      ben von Kunst kann helfen, ihren Gehalt      lungsmacher stellen, die sich mit Werken
Untersuchung von übergeordneten Ideen          duktion und die Herkunft des Künstlers,       zu erfassen. Dabei ist das Forschen nach     auseinandersetzen, sondern immer wieder
und unserer Wahrnehmung von Farben,            ist von zentraler Bedeutung. Ob ein Kunst-    einer passenden Wortwahl genauso wich-       auch die Betrachterin oder der »Be-obach-
Formen und Proportionen zu.                    werk in Afrika, Europa oder Asien herge-      tig, wie die Gedanken gelegentlich laut      ter«, wie Hans Dieter Huber 3 den Besucher
     Im »Wie« werden die Gattungen – also      stellt wurde, bezieht jeweils andere Tradi-   auszusprechen, da dies einen Bewusstwer-     einer Ausstellung nennt. Der Begriff ist
Malerei, Bildhauerei, Zeichnung und Grafik     tionen mit ein. Dabei spielt es natürlich     dungsprozess über das, was man denkt,        dabei wohl gewählt und spricht für sich
sowie Architektur – beschrieben. Darüber       auch eine Rolle, ob es sich bei den Kunst-    fördern kann. So lässt sich immer wieder     selbst: Die »Ob-acht« 4, die den Wort-
hinaus existiert innerhalb der Gattungen       schaffenden um einheimische oder zuge-        die Erfahrung machen, dass mit einer aus-    stamm des Begriffes markiert, impliziert
eine Vielzahl verschiedener Techniken, die     wanderte Personen handelt, die immer          gesprochenen Beschreibung der struktu-       eine Wachsamkeit der Sinne und des Geis-
von Kunstschaffenden bewusst gewählt           auch einem anderen Einflussbereich unter-     rellen Phänomene auch ein Sich-bewusst-      tes sowie ein Aufnehmen, ohne vorschnell
werden und mit denen sie ihren persön-         liegen und dadurch nicht selten in der        Werden ihrer Inhalte einhergeht. Dieser      zu bewerten. Das Trachten nach etwas 5,
lichen Ausdruck finden. Die Architektur        Lage sind, Kulturen miteinander zu ver-       gesprochene oder auch geschriebene           das im »Be-trachter« enthalten ist, formu-
eines Holzhauses folgt dabei einer ande-       binden oder doch zumindest ihre Unter-        Bericht bezieht sich auf alle sichtbaren     liert hingegen eher eine Zielsetzung und
ren kulturellen Einordnung als die eines       schiede deutlich zu machen.                   Aspekte eines Kunstwerks, also auf die       ein Streben nach etwas Bestimmtem.
Gebäudes aus Stein oder Beton. Ein Maler,          So lassen das »Was«, das »Wie«, das       Größe und die Gestalt ebenso wie auf die     Es kommt also nicht von ungefähr, dass
der sich für Eitempera (eine Mischung aus      »Wann« und das »Wo« schon einige Rück-        verwendeten Materialien und das Produkt,     Hans Dieter Huber sich eher den Beobach-
Ei, Leinöl und Farbpigmenten) als Werk-        schlüsse darauf zu, was mit einem Kunst-      das dabei entsteht. Ganz wie Heinrich von    ter in einer offeneren Haltung vorstellen
stoff entscheidet, steht in einer anderen      werk intendiert wird und welche Innovati-     Kleist es 1805 in seinem Aufsatz »Über die   möchte als den Betrachter in seiner
Tradition als einer, der Öl- oder Acrylfarbe   onskraft ihm innewohnt.                       allmähliche Verfertigung der Gedanken        Zielgerichtetheit. Der Wechsel der Begriffe
verwendet. Gleichzeitig beeinflusst die            Schließlich spielen ästhetische Lösun-    beim Reden« ausführt, ist davon auszuge-     dient in jedem Fall einer größeren
Wahl der Werkstoffe die Verarbeitungs-         gen, die mit allgemeingültigen Schönheits-    hen, dass auch Künstlerinnen und Künstler    Bewusstheit bei der Rezeption.
zeit: So trocknet beispielsweise Ölfarbe       idealen brechen, um zu neuen Resultaten       ihre Gedanken beim Malen, Bildhauen,             Hans Dieter Huber bezieht neben den
ausgesprochen langsam, so dass Eingriffe       zu kommen, immer wieder eine zentrale         Drucken, Fotografieren und Entwickeln        zeitlichen, örtlichen, sozialen und histori-
in die Entstehung des Kunstwerks über          Rolle. »Sollte sich die Kunstgeschichts-      etc. in eine Form bringen.                   schen Verhältnissen in besonderem Maße
mehrere Tage möglich sind. Andere Far-         schreibung nicht gerade mit der Schön-             Durch die sich ständig erweiternden     auch die persönlichen ›Koordinaten‹ mit
ben müssen schnell verarbeitet werden.         heit, mit der Harmonie, mit dem Ästheti-      künstlerischen und forschenden Diszipli-     ein. Wir alle sind Menschen, die bestimm-
Auch die Fotografie, die als künstlerische     schen schlechthin befassen? Warum lehnt       nen kommen immer wieder neue Frage-          ten Zusammenhängen entwachsen sind,
Gattung erst seit den 1960er Jahren lang-      sie dies so kategorisch ab? Eben um an die    stellungen in den Kunstwissenschaften        haben Eltern, Geschwister (oder eben
sam Einzug in die Kunstwissenschaften          Stelle von immer wieder unterschiedlich       hinzu. So wurden die sozialen und politi-    nicht), hatten Lehrerinnen und Leitbilder,

6                                                                                                                                                                                   7
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Abb. 1
Sara Cwynar, Sahara, 2020
Digitaler Pigmentdruck, Blatt: 76,2 x 91,4 cm

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die uns geprägt haben. Wir stammen aus        die je nach innerer Entwicklung auf jeweils    Für die beiden Förderstipendien 2019/20,      Orientierung, die wir ständig anpassen
bestimmten sozialen Schichten und Län-        andere Weise gelingt. Damit wird auch          die wir pandemiebedingt erst in diesem        und neu justieren dürfen, um immer
dern, deren Traditionen wir übernommen        die sich ständig wandelnde Wahrnehmung         Jahr zeigen können, wurden die in New         wieder neue Aspekte an Kunstwerken
oder gegen die wir uns zur Wehr gesetzt       von Kunstwerken verständlich: Je tiefer        York arbeitende Kanadierin Sara Cwynar        entdecken zu können. Daher freuen
haben. Dieser persönliche Ansatz spielt       jeder Einzelne in die Zusammenhänge des        (* 1985) und die heute in Wien lebende        wir uns ausdrücklich auf den Austausch
nach Hans Dieter Huber in die Interpreta-     Kunstwerks, des Künstlers sowie seiner         Polin Sophie Thun mit ihren eingereichten     mit unseren Besucherinnen und Besu-
tion von Kunst immer schon hinein, auch       selbst eindringt, desto vielschichtiger und    Projekten ausgewählt – zwei in ihrer          chern, um uns der Lesarten der Kunst-
wenn er nur selten explizit genannt und in    komplexer wird die Wahrnehmung von             Herangehensweise und Verarbeitung der         werke im Laufe der Ausstellungszeit
die Analyse einbezogen wird. »Die Erfah-      Kunst.                                         Fotografie gänzlich unterschiedliche          und darüber hinaus bewusster zu
rung des Individuums ist jedoch stets in          In der Kunststiftung DZ BANK haben         Künstlerinnen.                                werden.
einen sozialen Kontext eingebettet aus Tra-   wir uns die Offenheit des aufmerksamen             Die Präsentation der beiden Gewinne-          Während sich Sara Cwynar in ver-
ditionen, Konventionen und Normen, wel-       Beobachtens zur Aufgabe gemacht. Dazu          rinnen wird durch die Arbeiten der in         schiedenen Serien und Einzelbildern mit
che die Variationsbreite der ›subjektiven‹    dienen nicht zuletzt die Ausstellungen,        Leipzig wohnenden Slowakin Katarína           einem Fundus an kommerziellen und
Kunsterfahrung stark einengt. Kunsterfah-     die sich mit den Künstlerinnen und Künst-      Dubovská (* 1989), des Kölner Philipp         kunsthistorischen Bildern beschäftigt,
rung muss daher als eine soziale Konstruk-    lern der Förderstipendien und dem erwei-       Goldbach (* 1978) und der von italieni-       denen sie in der Werbung, auf ihrem
tion beschrieben werden, weil sie eine        terten Kreis aus der Shortlist beschäfti-      schen Einwanderern abstammenden und           Smartphone sowie ihrem Computer aus-
aktive, konstruktive Leistung des Beobach-    gen. Hier möchten wir Kunstschaffende          in Deutschland geborenen Talisa Lallai        gesetzt ist (Abb. 1), entwickelt Sophie
ters ist, die stets in einen spezifischen,    zu Wort kommen lassen – oder vielleicht        (* 1989) ergänzt. Jeder und jede von ihnen    Thun in ihrer Arbeit »All Things in My
sozialen Raum aus Normen, Gewohnheiten        besser »ins Bild setzen« –, die sich im be-    hat eine andere Herkunft, die auch in         Apartment Smaller Than 8 × 10“« von
und Sprachgebräuchen eingebettet ist,         sonderen Maße einer Auseinandersetzung         ihren gewählten Themen und Materialien        2020 in der Anreicherung privater Gegen-
der ihre Bedingungen und Möglichkeiten        mit fotografischen Ausdrucksformen             nachvollzogen werden kann. So weisen          stände, die sie umgeben, ein komplexes
kontrolliert, bestimmt und eingrenzt.« 6      verschrieben haben, die weit über eine         allein die biografischen Daten der Künstle-   Selbstporträt. Bei einem Besuch in ihrem
Ganz analog ergeht es dem Künstler, der       Verwendung von Motiven hinausgehen.            rinnen und Künstler auf eine große Vielfalt   Atelier sagte sie, dass sie sich mit dieser
seinerseits seine individuelle Prägung und    Begleitet werden die Ausstellungen von         an unterschiedlichen kulturellen Traditio-    Serie viel stärker ausgesetzt fühle als in
Erfahrung in seine Kunst werke einschreibt.   einem vielseitigen Vermittlungsprogramm        nen sowie historischen und gegenwär-          den in anonymen Hotelzimmern aufge-
    Diese sehr subjektive Sichtweise in die   in Form von Kunstführungen, Workshops          tigen Einflüssen hin, denen wir uns als       nommenen Aktbildern, die sie zuvor ange-
Lesbarkeit von Kunst zu integrieren, macht    und Symposien.                                 Ausstellungsmacher und Rezipientinnen         fertigt habe. Denn ihre privaten Gegen-
die Rezeption von Werken überaus kom-             In der zeitgenössischen Kunst greifen      immer wieder nur annähern können. In          stände ließen mehr Rückschlüsse auf ihre
plex, denn nun gilt es neben den analyti-     nicht nur die Gattungen mehr und mehr          jedem Fall tun wir gut daran, uns neben       inneren Gedankenwelten zu, was ihr den
schen Parametern auch persönliche mit         ineinander, auch die Bildthemen sind           den sichtbaren Kunstwerken auch mit           Eindruck einer größeren Nacktheit ver-
einzubeziehen. Es setzt voraus, dass wir      längst nicht mehr voneinander abzugren-        den Lebenszusammenhängen der Kunst-           mittle, als das in ihren Akten der Fall sei.
mit einem distanzierten Blick der Super-      zen. So kann die Arbeit von Sophie Thun        schaffenden auseinanderzusetzen, denen            Formal findet Sara Cwynar ihren Aus-
vision nicht nur die äußerlich sichtbaren     (* 1985) sowohl als Stillleben – als Arran-    sie ausgesetzt sind und waren und die sie     druck in am Computer erzeugten, mehr-
Fakten beleuchten, sondern auch versu-        gement alltäglicher Gegenstände – wie          beeinflusst haben. Dies können natürlich      fach überlagerten Tableaus und Filmen,
chen, die Analyse von Kunstwerken durch       auch als Porträt, also als Abbild ihrer Per-   immer wieder nur Annäherungen sein.           in denen sie die Bilderflut einerseits
Empathie für uns selbst und die Künstle-      sönlichkeit gelesen werden. Gleichzeitig       Dasselbe gilt für uns als Beobachter.         und die scheinbare Gleichwertigkeit von
rinnen und Künstler zu ergänzen.              ließe sich ihre Serie auch als Konsumkritik    Auch wir haben Vorlieben und Abneigun-        Inhalten andererseits thematisiert. Bilder
    Das bedeutet, dass uns die Rezeption      interpretieren: Mit wie vielen Gegenstän-      gen, haben eine Geschichte, die wir bei       aus der Werbung werden neben Gemäl-
von Kunst stets von Neuem ein nicht ge-       den umgebe ich mich? Was brauche ich           der Rezeption von Kunst immer wieder          den aus dem Mittalalter oder aus der
ringes Maß an Selbstreflexion abverlangt,     davon wirklich?                                als Kriterien anlegen. Sie geben uns eine     Moderne gezeigt.

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Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
Sophie Thun hingegen greift auf eine               kugeln und -bilder sowie kleine Filme, die
     traditionsreiche kameralose Fotografie             den Prozess dokumentieren. Die Bildinfor-
     zurück, indem sie Schattenbilder in Form           mationen sind den Bestandteilen nach wie
     von Fotogrammen mit Gegenständen aus               vor eingeschrieben, für uns als Betrachter
     ihrer Wohnung erzeugt, die kleiner als             jedoch nicht mehr erkennbar. Dabei arbei-
     8 x 10 Inches sind, um sie direkt auf dem          tet die Künstlerin ganz intensiv auch mit
     Fotopapier belichten zu können (Abb. 2).           ihren Händen, indem sie das aufgeweichte
     Ihre Bilder erwachsen einer haptischen, in         Papier knetet und verformt. Sie ist also
     der Dunkelkammer ertasteten Bilderzeu-             nicht nur eine Fotografin, sondern ebenso
     gung, von der die Künstlerin nicht immer           eine Bildhauerin oder -formerin. Die damit
     weiß, ob und wie die Umsetzung gelingt.            verbundene Freiheit, die in diesen Arbei-
     So spielt auch der Zufall bei ihr immer            ten steckt, wirft den Beobachter auf sich
     wieder eine nicht unwesentliche Rolle.             selbst zurück. Die zerstörerische Kraft
         Sicher hat auch die Herkunft der bei-          kann dabei gleichermaßen auch als Neu-
     den Künstlerinnen Einfluss auf ihre Bild-          schöpfung verstanden werden. Dass alle
     findung: Vielleicht kommt es nicht von             Teile ihrer Installation »Intertwined Condi-
     ungefähr, dass sich Sophie Thun als Euro-          tions« miteinander in Beziehung stehen
     päerin mit einer traditionellen fotogra-           und darin auch andere, neue Motive ver-
     fischen Bildform beschäftigt, die in ihrer         borgen liegen, symbolisieren Schläuche,
     Abstraktion zur Selbstreflexion einlädt,           die die Artefakte miteinander verbinden.
     während Sara Cwynar den Konsum der                 Ein einziges kleines Motiv befindet sich
     neoliberalen Gesellschaft, in der sie lebt,        sichtbar an der Wand: eine von Farbe
     förmlich fühlbar macht und auf digitale            befleckte, spielerisch geöffnete Hand –
     Weise verarbeitet.                                 das wichtigste und zugleich sinnlichste
         Katarína Dubovská zerstört das                 Werkzeug des Menschen (Abb. 24).
     erkennbare Abbild ihrer fotografischen                 Auch Philipp Goldbach er-fasst seine
     Aufnahmen und scheint zum Bildersturm              Kunstwerke, indem er gefundene Gegen-
     zu blasen, als wolle sie uns in Zeiten der         stände verarbeitet und in neue Formen
     Bilderflut auffordern, uns kein Bild mehr          überführt. Dabei kann der manuelle Pro-
     zu machen. Indem sie die Pigmentdrucke             zess, genau wie bei Katarína Dubovská
     in einem Wasserbad in ihre Bestandteile            und auch bei Sophie Thun, immer zugleich
     Farbe und Papier auflöst, bringt sie ihre          ein kognitives Gewahr-werden bedeuten.
     Inhalte in eine andere, neue Form. Das             Wie bei Katarína Dubovská findet auch bei
     Ergebnis sind Farbbeutel und Pappmaché-            Philipp Goldbach eine Transformation von
                                                        Inhalten statt, indem er die ursprünglichen
                                                        Motive für das Auge unsichtbar macht.
     Abb. 2                                             Das ist so ähnlich, wie wenn unbewusste
     Sophie Thun, All Things in My Apartment            Informationen zum Beispiel in biografi-
     Smaller Than 8 × 10“, 2020 (Detail)
     Fotogramm, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier,   schen Daten – wie Fluchterfahrungen und
     Blatt: je 40 x 30 cm                               Vertreibung in der Elterngeneration – im

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Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
Unterbewusstsein ihre Arbeit beginnen.         Meer oder anderen natürlichen Bewegun-          was das Leben sein kann. Ob in den           In der Stiftung werden wir es in den kom-
Aus 70 000 Kleinbild-Dias, die kunsthisto-     gen wie Wind herstellt. Diese kombiniert        Schattenbildern von Sophie Thun, in          menden Jahren weiterführen und weiter-
rischen oder archäologischen Instituten        sie in ihren raumgreifenden Installationen      Philipp Goldbachs Transkription des          entwickeln.
von Universitäten entstammen, entsteht         mit Pigmentdrucken von Parkanlagen,             Buches »Ins Universum der technischen            Wir freuen uns sehr, dass wir eine
eine Plastik aus seiner Werkgruppe »Loss-      erhabenen Ausblicken über Landschaften          Bilder« von Vilém Flusser oder in der        ausdrückliche Förderung für Künstlerinnen
less Compression«, die an digitale Pixel-      sowie historischen Gebäuden, die sie            Auflösung der fotografischen Prozesse        und Künstler ausschreiben können, die
bilder oder QR-Codes erinnert (Abb. 16).       selbst aufgenommen hat. Bei ihren Auf-          bei Katarína Dubovská – immer schreiben      sich im Bereich fotografischer Ausdrucks-
Philipp Goldbach überführt also die ana-       nahmen rekurriert sie auf traditionelle         sich diese Künstler mit ihren handwerk-      formen eine Position erarbeitet haben
logen Abbilder von historischen Kunstge-       architektonische sowie landschaftliche          lichen Techniken formbildend in ihre         oder dabei sind, dies zu tun. Wir werden
genständen mit analogen Mitteln in einen       Klischees Italiens und fügt ihnen gefun-        Kunstwerke ein und befragen auf diese        die Preisträgerinnen und Preisträger im
Speicher, der an digitale Bildinformationen    dene Gegenstände wie Briefmarken,               Weise auch die Wahrnehmung unserer           Blick behalten und freuen uns über neue
aus aus Einsern und Nullen erinnert. In-       Postkarten und Bücher hinzu (Abb. 14),          subjektiven Wirklichkeit.                    Impulse für die Kunstsammlung der
dem er die Glasrahmen in die Horizontale       die sie teilweise von ihrer Mutter aus-             Die siebenköpfige Jury des Förder-       DZ BANK.
verlegt, treten die mit schwarzem Klebe-       gehändigt bekam. Diese Objekte sind,            stipendiums 2019/20 setzte sich aus
band umfassten Ränder der Reproduktio-         wie sie selbst, viel ›gereist‹. Hände haben     folgenden Fachleuten zusammen (Abb. 3):      Christina Leber
nen von Artefakten aus anderen Jahrhun-        Spuren an ihnen hinterlassen, bevor sie
derten in den Fokus. Unterbrochen wer-         ihren Platz in einer der Arbeiten von           Felix Hoffmann, Hauptkurator C/O Berlin
den die schwarzen Streifen von weißen          Talisa Lallai gefunden haben. Auf diese         Foundation, Berlin; Albrecht Haag, Pro-
Etiketten, die von der Beschriftung der        Weise lässt sich ihre Serie, ähnlich wie die    jektleitung Darmstädter Tage der Foto-
Bilder herrühren. Wie nah hier die reale       von Sophie Thun, zugleich als ein Porträt       grafie (Vertretung für Alexandra Lechner,    1 Heinrich Dilly: »Einführung«. In: Hans Belting u. a. (Hg.),
                                                                                                                                            Kunstgeschichte. Eine Einführung, 3., durchgesehene u.
Ansammlung von Bildern der digitalen           ihrer selbst lesen.                             Freie Fotografin und Kuratorin, Frankfurt    erweiterte Aufl., Berlin 1988, S. 10.
Bildverarbeitung kommt, ist frappierend.           Es ist auffällig, dass vier der fünf        am Main); Kathrin Schönegg, zum Zeit-        2 Ebd., S. 13.

Wie in der Transformation der formalen         Künstlerinnen und Künstler eine innere          punkt der Jurysitzung noch freie Kuratorin   3 Vgl. Hans Dieter Huber: Bild – Beobachter – Milieu. Entwurf
                                                                                                                                            einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfi ldern-Ruit 2004. Hans
und materialen Lösung bei Katarína             oder äußere Wandlung vollziehen, ganz           und Autorin, heute Kuratorin C/O Berlin      Dieter Huber ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Gesell-
                                                                                                                                            schaft für interdisziplinäre Bildwissenschaften. Er studierte
Dubovská verschwinden auch bei Philipp         als würden sie die »Passage« – das Leit-        Foundation, Berlin; Christin Müller,         Malerei und Grafi k an der Akademie der Bildenden Künste in
Goldbach die einzelnen Motive der 70 000       thema des Jahres 2022 – vorwegnehmen.           Freie Kuratorin, Leipzig; Mario Kramer,      München, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie an
                                                                                                                                            den Universitäten München und Heidelberg und wurde zum
Dias in einer neuen Gestalt und bleiben        Die Befragung dessen, was Fotografie            Sammlungsleiter und Kurator, Museum          Thema »System und Wirkung. Rauschenberg – Twombly –
als historische Verweise im Kunstwerk          sein kann, wozu sie dient und was mit ihr       für Moderne Kunst, Frankfurt am Main;        Baruchello. Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitge-
                                                                                                                                            nössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz« promoviert.
dennoch gegenwärtig.                           in Zeiten einer immer noch größer wer-          Christina Leber, Geschäftsführerin           1994 habilitierte Huber mit der Arbeit »Paolo Veronese. Kunst
                                                                                                                                            als soziales System«. Es folgten Professuren für Kunstgeschich-
    Talisa Lallai hat sich in Bewegung         denden Flut an Bildern transportiert wird,      Kunststiftung DZ BANK und Leiterin           te an der Hochschule für Grafi k und Buchkunst in Leipzig sowie
gesetzt und Italien, das Heimatland ihrer      ist dagegen bei allen fünf Kunstschaffen-       DZ BANK Kunstsammlung, Frankfurt am          für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie
                                                                                                                                            an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart,
Eltern, der Länge nach bereist. Reisen         den Teil ihrer Suche. Bei Sophie Thun,          Main; Gertrud Peters, Künstlerische          wo er bis heute lehrt.
stellen immer wieder auch eine Transfor-       Philipp Goldbach, Katarína Dubovská und         Leitung KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf.   4 Das Substantiv »Obacht« ist ein Kompositum aus der
mation dar, eine äußerliche wie innerliche     Talisa Lallai schwingt auch die Philoso-                                                     Präposition »ob« (›über‹, ›auf‹) und dem Substantiv »Acht«
                                                                                                                                            (›Beachtung‹) und seit dem 17. Jahrhundert belegt.
Veränderung. Talisa Lallai ist in Deutsch-     phie der Fotografie mit, also eine Befrei-      Die Kunststiftung DZ BANK hat die Auf-       5 Das Verb »trachten« (›bestrebt sein‹, ›beabsichtigen, etw.
land geboren. Hier war sie nicht selten        ung vom Material hin zu einer gedank-           gabe übernommen, Kunst zu fördern, aus-      Bestimmtes zu erreichen‹) geht zurück auf das mittelhoch-
                                                                                                                                            deutsche »trahten« (›betrachten‹, ›woran denken‹, ›nach etwas
die Italienerin und in Italien ›la tedesca‹.   lichen Offenheit, zu der Idee eines Welt-       zustellen und zu vermitteln. So gelangte     streben‹). Vgl. DWDS, Deutsches Wörterbuch der deutschen
In »Autosole« befragt sie das Herkunfts-       bildes, das sich nicht (allein) an sichtbaren   das Förderstipendium (ehemals f/12.2         Sprache.
                                                                                                                                            6 Hans Dieter Huber: »Wissenschaftliche Grundlagen«.
land ihrer Ahnen, indem sie kleine, fast       Bildern orientiert, sondern an den              Projektstipendium) der DZ BANK Kunst-        In: ders., Kunst als soziale Konstruktion, Paderborn, München
meditative Filme von anstrandendem             tieferen Qualitäten einer Suche danach,         sammlung in die Hände der Kunststiftung.     2007, S. 34.

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Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
Abb. 3:
     Die Jury (v. l. n. r.):
     Felix Hoffmann
     (Hauptkurator,
     C/O Berlin Foundation)
     Albrecht Haag
     (Projektleitung Darmstädter
     Tage der Fotografi e)
     Kathrin Schönegg
     (Kuratorin,
     C/O Berlin Foundation)
     Christin Müller
     (Freie Kuratorin, Leipzig)
     Mario Kramer
     (Sammlungsleiter und Kurator,
     Museum für Moderne Kunst,
     Frankfurt am Main)
     Alexandra Lechner
     (Freie Fotografin und
     Kuratorin, Frankfurt am Main)
     Christina Leber
     (Geschäftsführerin Kunst-
     stiftung DZ BANK und Leiterin
     DZ BANK Kunstsammlung,
     Frankfurt am Main)
     Gertrud Peters
     (Künstlerische Leitung KIT –
     Kunst im Tunnel, Düsseldorf)

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Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
Kartografieren, ausschöpfen,
begegnen, neu betrachten,
transformieren – über die
künstlerische Erforschung des
Fotografischen in der Gegenwart

»Im 21. Jahrhundert stellt die Fotografie keine Praxis der angestaubten                  neben- und übereinander, dass sich beim       genauerer Betrachtung als Kartografien
Augenweide dar, sondern die Erforschung dessen, was etwas zu                             Betrachten zunächst eine visuelle Überfor-    der Vernetzung und Transformation von
                                                                                         derung einstellt (Abb. 4). Diese Überforde-   Bildern im digitalen Raum verstehen.
einem Bild macht«, schreibt Daniel Rubinstein über den Status quo der                    rung ist gewollt – Cwynar geht es genau           Paradigmatisch für das Spannungsfeld,
gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Medium                           um die künstlerische Übersetzung des          in dem ihr Werk zu verorten ist, steht ein
Fotografie. Durch die zunehmende digitale Vernetzung und den                             »chaos of living through phones and social    kleines Bild im rechten oberen Bereich
wachsenden Einfluss von Algorithmen verliert die klassische Repräsen-                    media, chaos of information and how           der Collage »Opps (Tools of Power)«, das
tationsfunktion des Mediums an Bedeutung. Stattdessen sieht                              hard it is to situate oneself« 2. Dieses      leicht übersehen werden kann. Es zeigt
                                                                                         Gefühl prägt unsere Gegenwart und hat         den Handy-Screenshot einer Instagram-
Rubinstein die Fotografie als ein Mittel zur Erforschung »der Arbeits-                   sich mit den Kontakt- und Bewegungs-          Story, in der die Titelsequenz der vierten
weisen, die diese Welt durch Massenproduktion, Komputation,                              einschränkungen aufgrund der Corona-          Episode von John Bergers Serie »Ways of
Selbstreplikation und Mustererkennung prägen«1.                                          Pandemie in den Jahren 2020/21 poten-         Seeing« eingefangen ist. Das Bild verbin-
                                                                                         ziert. Die Begegnung mit Bildern und der      det das schnelle, flüchtige Konsumieren
                                                                                         Austausch verlagern sich immer stärker in     von Bildern über Social Media mit dem
In den Arbeiten der beiden Stipendiatin-      Lebenswelt. Die Künstlerinnen und Künst-   den digitalen Raum. Dort verschieben sich     analytischen Betrachten und Hinterfragen,
nen des Förderstipendiums 2019/2020           ler halten unserer Wahrnehmung und         die Hierarchien von Bildern durch die kom-    zu dem John Berger in seiner BBC-Serie
Sara Cwynar und Sophie Thun sowie der         Nutzung des Mediums nicht nur einen        plexe Vernetzung von visuellem Material.      von 1972 einlädt. Berger appelliert in der
zwei Künstlerinnen und dem Künstler der       Spiegel vor, sondern erweitern zugleich        In ihrem künstlerischen Werk unter-       vierten Episode der Serie daran, Medien-
Shortlist Katarína Dubovská, Talisa Lallai    die Grenzen dessen, was als das Fotogra-   sucht Sara Cwynar, wie Ideologien und         bilder und deren Veröffentlichungskontex-
und Philipp Goldbach finden Rubinsteins       fische verstanden werden kann.             Geschichte(n) über Bild-Ikonen, Kunstwer-     te auf ihren ideologischen Gehalt zu
Annahmen einen Widerhall. Sie alle set-                                                  ke und Gebrauchsgegenstände transpor-         untersuchen und unsere eigenen Erfahrun-
zen für ihre Befragung des fotografischen                                                tiert werden. Sie fragt, wie Nachrichten      gen zu diesen Bildwelten in Beziehung
                                              Kartografieren digitaler
Bildes bei den genuinen Charakteristika                                                  und Werbung, Kunst und Populärkultur          zu setzen. Indem Sara Cwynar das Bezie-
                                              Bilderwelten – Sara Cwynar
des Mediums an und untersuchen so die                                                    bestimmte Weltbilder und Machtverhält-        hungsgeflecht der uns umgebenden Bil-
Variabilität des fotografischen Prozesses     Die Arbeiten von Sara Cwynar gleichen      nisse vermitteln und welche Sehnsüchte        derwelt kartografiert, verleiht sie Bergers
und der Ausdrucksmittel. Mit ihren Arbei-     auf den ersten Blick einem opulenten       und Verhaltensweisen durch Bilder hervor-     analytischem Ansatz eine visuelle Entspre-
ten verorten sie sich darüber hinaus inner-   Bilderrausch. Sie schichtet eigene         gerufen werden. Sara Cwynars fotografi-       chung. Sie sucht nach den bewussten und
halb unserer stark von Bildern geprägten      und gefundene Bilder und Objekte so        sche und filmische Collagen lassen sich bei   unbewussten Einflüssen von Bildern im

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3D-Modell der Firma TurboSquid. Ihr Kör-       auf die Politik der USA und somit nach
                                                                                                    per und ihr Gesicht wirken trotz – oder        außen gerichtet. Zwischen diese visuellen
                                                                                                    gerade aufgrund – der physischen Perfek-       Versatzstücke platziert Sara Cwynar
                                                                                                    tion seltsam normiert und geglättet. Diese     größere und kleinere Selbstporträts.
                                                                                                    verstörende Künstlichkeit verbindet die        Stellvertretend für uns setzt sie sich dem
                                                                                                    Schwimmerin visuell mit zahlreichen Vor-       Bilderstrom aus und schlüpft in diverse
                                                                                                    her-Nachher-Bildern von Frauengesichtern,      Rollen. Auf einigen Bildern trägt sie ein
                                                                                                    bei denen unklar bleibt, ob die Ursache        T-Shirt mit dem Antlitz des linken Demo-
                                                                                                    der Veränderung ein professionelles            kraten Bernie Sanders und der Aufschrift
                                                                                                    Make-up oder die Bildbearbeitung ist. In       »Rage against the machine«. Ein anderes
                                                                                                    der Collage haben des Weiteren Repräsen-       Mal ist sie mit einem papiernen Schürzen-
                                                                                                    tationen von diversen Frauenrollen einen       kleid und Rührschüssel versehen und
                                                                                                    Platz erhalten, so die Frau als Schwangere     stilisiert sich so als 1950er-Jahre-Anzieh-
                                                                                                    und Mutter, als Partnerin, Geliebte, Unab-     püppchen (vgl. auch Abb. 1). In fast allen
                                                                                                    hängige und stilbildende Ikone. Unter          Bildern steht Sara Cwynar mit weit auf-
                                                                                                    ihnen befindet sich u. a. die Autorin Virgi-   gerissenem Mund da, als müsse sie ihre
                                                                                                    nia Wolf, fotografiert von Gisèle Freund.      Position als junge Künstlerin und Frau in
                                                                                                    Beide waren über den von ihnen gewähl-         einer polarisierenden Bilderwelt lautstark
                                                                                                    ten Beruf unabhängige, emanzipierte            schreiend für sich erkämpfen.
                                                                                                    Frauen der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-           In dem Film »Scroll 1« geraten Sara
                                                                                                    derts. Zu sehen ist außerdem das Auge          Cwynars Bilder in einen endlos erscheinen-
                                                                                                    Lee Millers, aufgenommen von Man Ray           den Loop. Der Titel verweist auf unser
                                                                                                    – das Künstlerpaar steht für die Avant-        alltägliches Durchqueren des digitalen
                                                                                                    garde im Paris der 1920er und 1930er           Raums auf den Bildschirmen der Computer
Abb. 4:
                                                                                                    Jahre. Für ein von den Massenmedien            und Mobiltelefone. Eine minimale physi-
Sara Cwynar, Standbild aus: Scroll 1, 2020, aus der Serie: Marilyn
Video, Laufzeit: 00:21:35                                                                           und Sozialen Medien geprägtes Körper-          sche Bewegung ist ausreichend, um in die
                                                                                                    bewusstsein des 21. Jahrhundert stehen         Tiefen des World Wide Web vorzudringen,
                                                                                                    wiederum die Stil-Ikone und Influencerin       von Bildern umspült zu werden und sich in
                                                                                                    Kim Kardashian sowie Winnie Harlow, ein        deren hierarchielosem Nebeneinander zu
                                                                                                    erfolgreiches US-amerikanisches Model          verlieren. Sara Cywnar übersetzt dies in
Alltag, auf die John Berger hinweist: »We               stab vorgibt. Die Collage wird durch das    mit Hautpigmentstörung, hier als Marilyn       ihrem Atelier in eine Versuchsanordnung.
remember or forget these images, but                    Abbild einer Schwimmerin gegliedert, die    Monroe posierend. Darüber hinaus setzt         Auf übereinander positionierte Plexiglas-
briefly we take them in. And for a moment               die Metapher des Schwimmens im Strom        Sara Cwynar in der Collage zwei weitere,       scheiben legt sie Bilder und Alltagsobjekte
they stimulate our imagination, either by               der Bilder in Erinnerung ruft. Sie taucht   gegensätzlich ausgerichtete Bezugs-            und filmt sie von oben (Abb. 4). Die
way of memory or anticipation.« 3                       in der Collage immer wieder auf, mal        punkte: Auf innere Zustände verweisen          Kamera bewegt sie in unterschiedlichen
    In »Opps (Tools of Power)« liegen hän-              beim Kopfsprung, mal beim Schwimmen         Bilder von menschlichen Eingeweiden.           Geschwindigkeiten horizontal vor und
disch ausgeschnittene Bilder auf einem                  oder Kraulen, stehend von verschiedenen     Demgegenüber sind Fotografien von              zurück und zoomt in ihre Versuchsanord-
rot eingefärbten, stark vergrößerten Milli-             Seiten und mehrfach im Porträt mit unter-   Donald Trump, mal allein, mal mit seinen       nung hinein und aus ihr heraus. Über die
meterpapier, das die Zusammenstellung                   schiedlichen Gesichtsausdrücken. Bei        Geschwistern, ein Anti-Trump-Graffiti so-      Kamerabewegung verschieben sich die
strukturiert und einen scheinbaren Maß-                 der Schwimmerin handelt es sich um ein      wie eine Schlagzeile der »New York Times«      räumlichen und inhaltlichen Konstellatio-

20                                                                                                                                                                                         21
und Dingen. Versammelt hat sie dazu          als lebendige Person zu erkennen gibt.       (Abb. 5), »Hands« (Abb. 6) und »Tabacco
                                             Frauendarstellungen von vorwiegend           Die verschiedenen Realitäten der stillen     Silk 1« (Abb. 7) kurz zu beruhigen. In
                                             männlichen Künstlern wie Leonardo            und bewegten Bilder treten an diesen         »Fawn (Protection from Predators)« be-
                                             da Vinci, René Magritte, Man Ray,            Stellen in einen vielschichtigen Dialog.     gegnet uns ein Rehkitz, das sich durch die
                                             Salvador Dalí, Paul Cezanne, Constantin           Neben diesen zwei Werken enthält        Farbe und Struktur seines Fells im Wald
                                             Brancusi und Pablo Picasso. Ergänzt wer-     Sara Cwynars Zusammenstellung für die        tarnen kann. Es steht für den Rückzug
                                             den diese durch gefundene und private        Kunststiftung DZ BANK fotografische Col-     in die Natur und den Versuch, dort den
                                             Fotografien, Alltagsgegenstände und aus      lagen, die als Gegenbewegungen zu der        überbordenden Bildern und Nachrichten
                                             der Mode gekommene Designobjekte.            Fülle an visuellen Eindrücken zu verstehen   zu entkommen. Dass dies nicht gelingt,
                                             Auf das Vergehen von Zeit verweisen          sind. Der Bilderstrom scheint sich in den    vermitteln fragmentarische Bildelemente,
                                             Uhren, zerbrochene Tassen ebenso wie         stilllebenartigen Aufnahmen »Red Rose«       die bis in die Natur vordringen. In zwei
                                             das Nebeneinander eines Festnetztelefons
                                             mit Wählscheibe und eines Werbefotos
                                             für brandneue Smartphones. Ein Bild von
                                             Donald Trump verortet die Arbeit zudem
                                             in der politischen Gegenwart der späten
                                             2010er Jahre.
                                                 An manchen Stellen bricht diese Ver-
                                             suchsanordnung auf und es öffnen sich
Abb. 5                                       neue, scheinbar endlose Welten hinter den
Sara Cwynar, Red Rose II, 2020,
aus der Serie: Marilyn                       Bildern. Die Kameraperspektive springt
Digitaler chromogener Abzug auf PE-Papier,   von fotografischen Bildern zu filmischen
Blatt: 76,2 x 61 cm                          Aufnahmen des jeweils gleichen Motivs:
                                             Beim Heranzoomen auf ein Studiofoto
                                             wird plötzlich das Posieren des Models als
                                             bewegte Filmsequenz sichtbar. An einer
                                             anderen Stelle probiert die Künstlerin
                                             selbst typische Gesichtsausdrücke der
                                             Modebranche aus. Von einer Fotografie
                                             des Kolosseums wechselt das Bild zu einer
nen der Bilder und Objekte ungleichmäßig     Filmaufnahme mit Passanten vor Ort; in
in verschiedene Richtungen – als Sinnbild    einer anderen Filmsequenz hantiert eine
für die unstete Aufmerksamkeit im digita-    Arbeiterin mit Strumpfhosen in einer
len Raum. Je nach Perspektive gehen          Fabrik. Eine weitere Form von Unterbre-
die versammelten Gegenstände zeitweise       chung findet statt, wenn die Künstlerin
visuelle Verbindungen ein, ergänzen,         in ihren Versuchsaufbau eingreift, wenn
verdecken und kontrastieren einander.        sie auf einzelne Bilder zeigt oder diese
    Inhaltlich befragt Sara Cwynar mit       zurechtrückt. Oder wenn sie unter den        Abb. 6                                       Abb. 7
                                                                                          Sara Cwynar, Hands, 2019/2020                Sara Cwynar, Tobacco Silk 1 (Ceramic Art), 2020,
»Scroll 1« die sich wandelnden Vorstellun-   Plexiglasscheiben liegend direkt in die      Digitaler Pigmentdruck,                      aus der Serie: Tobacco Silk
gen und Wertschätzungen von Körpern          Kamera schaut und sich durch Zwinkern        Blatt: 133,4 x 108 cm                        Digitaler Pigmentdruck,
                                                                                                                                       Blatt: 76,2 x 61 cm

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weiteren Arbeiten – »Sahara from Ssense          they are seeing, what happens in the
with Swimmers from TurboSquid« und               brain, when the mind can’t figure out
»Sahara from Ssense.com (As Young as             what the eye is seeing and the viewer is
You Feel)« – wird das Bildmodel schließlich      trying to situate herself in the space.« 4
selbstständig. Das Model des kanadischen
Luxus-Onlinehändlers Ssense probiert in-
                                                 Fotografische Handlungsräume
mitten einer skulpturalen Installation aus
                                                 ausschöpfen – Sophie Thun
Bildfragmenten verschiedene Rollenmuster
wie Kleider an und bewegt sich dabei             Mit der Arbeit von Sophie Thun geraten
souverän zwischen den ideologischen              Aufnahme- und Abbildungsmöglichkeiten
Frauendarstellungen.                             des Mediums Fotografie in den Blick.
    Die Konstruktion ihrer Bilder setzt Sara     Während Sara Cwynar einen Blick nach
Cwynar in ihren Arbeiten als produktive          außen, auf die uns aktuell umgebende
Strategie ein. So glättet sie die Materialität   Bilderwelt richtet, sich Bilder aneignet und
ihrer analogen und digitalen Werkzeuge           sich zu diesen in Beziehung setzt, interes-
nicht, sondern stellt sie eigens heraus. Die     siert sich Sophie Thun für Eingriffe in den
Schnittkanten der Abbildungen sind ein           fotografischen Prozess und bringt dafür
ebenso wichtiger Bestandteil wie die Navi-       ihren eigenen Körper ins Spiel: »Ich lege
gationstools der digitalen Medien oder           die in die Bildproduktion eingeschriebenen
das Verwackeln einer Kameraaufnahme.             Orte, Mechanismen und Performances
Einzelne Bildelemente wiederholt sie in          offen und untersuche die Konstruktion der
unterschiedlichen Konstellationen und            Identität, indem ich die Konstruktion des
Größen immer wieder. Papierne Studio-            Bildes untersuche.« 5 Sie erzeugt span-
hintergründe knittern, sind teilweise zer-       nungsreiche, teilweise irritierende Bezüge
rissen. Die verwendeten Plexiglasscheiben        zwischen Körper und Raum und deren
reflektieren Licht und haben feine Kratzer.      fotografischem Abbild. Damit fordert sie
Unsichtbares Hilfsmaterial aus dem Studio        ihr Medium heraus und reflektiert zugleich
wie Stative, Lampen, Klammern, Schnüre           ihre Rolle als Künstlerin.
und Klebebänder integriert Sara Cwynar               Sophie Thuns neue Arbeit »All Things
in ihre Installationen (Abb. 1). Mit Hilfe       in My Apartment Smaller Than 8 x 10“«
des Programms Photoshop verschiebt sie           begann mit einer Entscheidung von per-
schließlich subtil Farben und Bildebenen,        sönlicher und technischer Tragweite. Aus-
um die analog angelegten Tromp-l’œil-            nahmslos alle Gegenstände, die sich in
Effekte und den Dialog der Bildelemente          ihrer Wiener Privatwohnung befinden und
zu verstärken. Mit solchen visuellen             die auf ein 8 x 10 Inches bzw. 20,3 x 25,4
                                                                                                Abb. 8
Bruchlinien destabilisiert sie unsere Wahr-      Zentimeter großes Großformatnegativ            Sophie Thun, All Things in My
nehmung und stellt das Betrachten selbst         passen, sollten Teil des Werkes werden.        Apartment Smaller Than 8 × 10“,
als aktive Tätigkeit heraus: »I am very          Das bedeutet einerseits einen radikalen        2020 (Detail)
                                                                                                Fotogramm, Silbergelatine-Abzug
interested in trying to trick the viewer, in     Einblick in die Privatsphäre der Künstlerin,   auf Barytpapier,
making them question what they think             andererseits stellen sich vielschichtige       Blatt: je 40 x 30 cm

24
tung, die Dunkelkammer. Sophie Thun             herstellung, bei der die Objekte zunächst     durch sich wiederum Rückschlüsse auf
                                                   entwickelt ihre Bilder ausschließlich analog    auf ein Negativ gelegt und von oben mit-      ihre Lebensumstände und ihre Wohnung
                                                   und kann dadurch den gesamten Prozess           hilfe eines Vergrößerers belichtet und an-    ziehen lassen.
                                                   der Bildproduktion eigenständig durch-          schließend entwickelt werden. In einem            An diese Beobachtungen anknüpfend
                                                   führen, kontrollieren und in diesen inter-      zweiten Schritt kehrt Sophie Thun das         lässt sich fragen, ob dieses Selbstporträt
                                                   venieren. In ihren Arbeiten »Double             Negativ schließlich über eine Kontaktkopie    als eine zeitgenössische Form der fotogra-
                                                   Release« und »After Hours« tritt sie etwa       in ein Positiv um und fixiert dabei die       fischen Dokumentation der persönlichen
                                                   in beiden Räumen in das Bild ein – vor          Negativblätter mit den Händen, so dass        Lebensumstände einer jungen Künstlerin
                                                   die Kamera bei der Aufnahme und vor             auf dem Fotopapier weiße Schatten ihrer       zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstan-
                                                   den Vergrößerer bei der Belichtung des          Hände zu sehen sind. Wortwörtlich hat         den werden kann. In der Befragung von
                                                   Fotopapiers – und erzeugt so mehrfach           die Künstlerin die Repräsentation ihrer       »All Things in My Apartment Smaller Than
                                                   verschachtelte Bilder (vgl. Covermotiv).        Gegenstände somit »in der Hand« und           8 × 10“« aus der Perspektive der Fotogra-
                                                   In ihrer neuen Arbeit verlegt sie die Bild-     markiert ihre Rolle als Bildproduzentin.      fie treten darüber hinaus die Eigenheiten
Abb. 9                                             produktion komplett in die Dunkelkammer             Rund 500 Gegenstände sind in »All         des fotografischen Abbildcharakters her-
Sophie Thun, All Things in My Apartment
Smaller Than 8 × 10“, 2020 (Detail)
                                                   und wird so nur über ihre Hände sichtbar        Things in My Apartment Smaller Than           vor. Sophie Thuns Aufnahmen erinnern
Fotogramm, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier,   (Abb. 2, 8–10).                                 8 × 10« abgebildet. Kategorisieren lassen     an das, was Georges Didi-Huberman zum
Blatt: 40 x 30 cm                                      Mit ihrer Arbeit »All Things in My          sich diese nach ihrem räumlichen Bezug:       Abdruck als einer »Form der Kritik an
                                                   Apartment Smaller Than 8 × 10“« richtet         Dinge, die sich am Körper der Künstlerin      der klassischen Repräsentation« schreibt.
                                                   sie den Blick auf die sie umgebenden            befinden (Brille, Ringe, Haargummis)          Anders als die Tendenz der Abstraktion,
                                                   Gegenstände, also auf das, was ihren            (Abb. 9), Dinge aus ihren Taschen (Telefon,   »sich radikal vom dargestellten Gegen-
                                                   Alltag prägt, und erstellt auf diese Weise      Schlüssel, Geldbörse), Dinge an verschie-
Fragen an das Medium. Sie knüpft damit             ein indirektes Selbstporträt. Im Gespräch       denen Orten in ihrer Wohnung (Bad,
zugleich an die langen Traditionen der             erzählt die Künstlerin, dass dies ihre bis-     Küchenschrank, Regal, Schublade) und
Selbstdarstellung und der Stillleben-Foto-         lang persönlichste Arbeit sei, obwohl sie       Dinge ohne konkreten Ort (Fahrradlicht,
                                                                                                                                                 Abb. 10
grafie an und fügt diesen eine eigene              in vorherigen Bildern vollständig als           USB-Stick, Stifte).                           Sophie Thun, All Things in My Apartment
Variante hinzu, die zunächst visuell ana-          Person und teilweise nackt zu sehen war.            Befragen lassen sich die Gegenstände      Smaller Than 8 × 10“, 2020 (Detail)
chronistisch erscheint und sich dennoch in         Jeder ihrer Gegenstände wird auf einem          auch im Hinblick auf die Persönlichkeit       Fotogramm, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier,
                                                                                                                                                 Blatt: 40 x 30 cm
der Gegenwart verorten lässt.                      Abzug wiedergegeben, alle erhalten gleich       der Künstlerin. Erkennbar wird unter
    In vielen ihrer bisherigen Werke be-           viel Bildraum, unabhängig von Größe und         anderem, dass sie gerne Romane liest
treibt Sophie Thun ein ernsthaftes visuel-         Bedeutung. Vor den Aufnahmen entschied          und dies in drei Sprachen (Polnisch,
les Spiel in den Handlungsräumen der               sie, dass jedes Objekt im Verhältnis eins       Englisch und Deutsch) (Abb. 8). Kleine
Fotografie. Ihr Körper und die in den              zu eins abgebildet werden soll. Damit ver-      Tierfiguren zeugen von Aufenthalten
fotografischen Prozess involvierten Räume          bunden ist die Frage, was »eins zu eins«        in Afrika, Privatfotos von ihrer Familie
sind Teil ihres visuellen Experiments.             in der fotografischen Abbildung von drei-       und ein Selbstporträt der Renaissance-
»Räume« meint in diesem Fall nicht nur             dimensionalen Gegenständen bedeutet             Malerin Sofonisba Anguissola von ihrem
den Ort der Aufnahme – Thun fotografiert           und wie dies fotografisch zu realisieren ist.   Interesse an historischen Selbstdarstellun-
u. a. in Museums- und Galerieräumen                Sophie Thun entschied sich für die Kon-         gen von Frauen. Insgesamt wird deutlich,
sowie im öffentlichen Raum und in Hotel-           taktkopie von einem Negativ-Fotogramm           dass sich in Sophie Thuns Privaträumen
zimmern. Zu dem Aktionsradius der Künst-           der Gegenstände als Technik. Es ist eine        vergleichbar wenige Gegenstände bis
lerin gehört auch der Ort der Ausbelich-           Entscheidung für eine mehrstufige Bild-         zur Größe 8 x 10 Inches befinden, wo-

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stand, vom ›Realen‹ abzuwenden, wendet         vor allem davon ab, ob uns das visuelle       die damit verbundenen Veränderungen           Imaginierten Landschaften
der Abdruck sich ihm radikal zu« 6. Die        Antlitz eines Gegenstands vertraut ist.       unseres Lebensalltags (Abb. 10).              begegnen – Talisa Lallai
fotogrammatische Abbildung hinterlässt         Bei anderen Gegenständen findet eine              Die Autorin Orit Gat erweitert die Vor-
auf dem Fotopapier keine physische             visuelle Verschiebung statt, etwa wenn        stellung von Zeitlichkeit in Bezug auf die    Die Arbeit »Autosole« nimmt ihren Aus-
Spur. Mit Kratzern in den Negativen oder       Farben der Buchcover durch die Reduktion      Arbeiten Sophie Thuns wie folgt: »Wo fan-     gang bei der Künstlerin selbst. Wie Sophie
Fingerabdrücken schreibt sich eher der         auf Schwarz-Weiß in abweichenden              gen Fotografien an? Fangen Thuns Bilder       Thun verfolgt auch Talisa Lallai eine
Herstellungsprozess als der Gegenstand         Helligkeitswerten wiedergegeben werden        dort an, wo sie entstehen? Wo sie gezeigt     persönliche Perspektive auf ihren Bild-
selbst in das Bild ein. Wie bei einem Ab-      oder, wie im Fall von Postkarten oder         werden? Mir gefällt der Gedanke, dass         gegenstand. Dieser führt bei Talisa Lallai
druck findet bei einem Fotogramm jedoch        Fotografien, sich Vorder- und Rückseite       sie ihren Anfang im Körper der Künstlerin     weg von dem direkten Umfeld und ist
ein direkter Kontakt zwischen Gegenstand       überlagern. Manche Gegenstände wider-         nehmen und im Verhältnis, das sie zwi-        stattdessen auf die Auseinandersetzung
und Bildträger statt, der in einer solchen     setzen sich einer klaren Abbildung da-        schen diesem und dem Raum skizziert.« 8       mit einer Kulturlandschaft gerichtet,
absoluten Nähe über die Kameraoptik            durch, dass sie während der Belichtung        Der Akt des Fotografierens wird diesem        mit der sie familiär eng verbunden ist.
unmöglich ist. Didi-Huberman beschreibt        wegrollen oder vibrieren. In Aufnahmen        Ansatz zufolge zum vielschichtigen Bild-      Die Künstlerin ist als Tochter süditalieni-
eine solche Zuwendung als »so radikal,         von leuchtenden Gegenständen, wie             prozess, der der Vorstellung vom Einfan-      scher Eltern in Deutschland geboren
daß er [der Abdruck] in der Berührung          etwa der des Mobiltelefons Sophie Thuns       gen eines entscheidenden Augenblicks          und mit einer romantisch-idyllischen
jede optische ›angemessene Distanz‹,           oder ihres Fahrradlichts, wird wiederum       entgegensteht. In Bezug auf die hier ge-      Vorstellung von Italien aufgewachsen.
jede Konvention oder Evidenz der Sicht-        die Aufzeichnung gestört und es zeigt         zeigte Arbeit wäre der Anfang der Bilder      Ein ambivalentes Heimatgefühl sowie
barkeit, der Erkennbarkeit, der Lesbarkeit     sich die besondere Beziehung zwischen         vermutlich in der Wohnung der Künstlerin      die beständige verklärte Sehnsucht
subvertiert« 7.                                Fotografie und Licht. Das Eigenlicht          zu verorten: Aufgenommen wurden die           nach dem imaginären Süden prägten
    »All Things in My Apartment Smaller        dieser Gegenstände und das Licht des          Gegenstände, die sich zu diesem Zeit-         Talisa Lallai so sehr, dass sie sich bereits
Than 8 × 10“« setzt auch die Arbeitsmittel     Vergrößerers gehen hier eine spannungs-       punkt der Bildproduktion von Ende April       in mehreren Arbeiten mit Vorstellungen
der Künstlerin ins Bild. Innerhalb der Serie   reiche Liaison ein.                           bis Anfang Juni 2020 in Thuns Wohnung         und Klischeebildern des Südens
befinden sich Gegenstände, die Sophie              Das prozesshafte Entstehen der Auf-       befanden. Auf Einladung der Wiener            beschäftigt hat. Viele verbinden mit
Thun für ihre Arbeiten verwendet, wie die      nahmen ruft die Frage hervor, welche          Secession errichtete Thun ihren Arbeits-      diesem sogenannten Süden ein ent-
Kameras (Großformat, Mittelformat und          Zeitlichkeit den Bildern Sophie Thuns inne-   raum im Museum und verlegte ihre Dun-         spanntes Lebensgefühl, gutes Essen und
Kleinbild), weiteres fotografisches Equip-     wohnt. Einzeln betrachtet wirken viele        kelkammerarbeit in den Ausstellungsraum.      sonnige Tage. Unwillkürlich entstehen
ment (Fernauslöser, Objektiv, Belichtungs-     Gegenstände zeitlos. Manche verweisen         Aufgrund der Pandemie war das Museum          in unseren Köpfen Bilder von idyllischen
messer, Negativkassette, Kleinbildfilm)        auf die Vergangenheit, das sind insbeson-     geschlossen. Um die Bildproduktion den-       Landschaften und pittoresker Archi-
und Labormaterial (Fadenzähler, Film-          dere Fotografien, Trauer- oder Postkarten,    noch sichtbar zu machen, installierte         tektur. In einem solchen träumerischen
wechseltasche). Die Eigenheiten der foto-      andere verorten die Arbeit explizit in der    Thun eine permanent laufende Webcam.          Schwelgen vergessen wir am liebsten
grammatischen Abbildung zeigen sich zu-        Gegenwart von 2020. Postalische Neu-          Zeit und Ort der Bildproduktion und einer     die andere Seite des geografischen
dem in den unterschiedlichen Reaktionen        jahrsgrüße benennen etwa das Jahr der         ersten, ausschnitthaften Präsentation         Südens, die wirtschaftlichen und
des Negativs sowie des Fotopapiers auf         Entstehung von »All Things in My Apart-       fielen zusammen und schrieben sich in die     gesell-schaftspolitischen Krisen und die
die Gegenstände. Gläser erscheinen auf-        ment Smaller Than 8 × 10“« und kleine         Werkgenese ein. Ihre finale Präsentations-    »Gastarbeiter« und Geflüchteten. Mit
grund ihrer Transparenz im Bild fast foto-     Karten von C/O Berlin laden zu drei paral-    form findet die Arbeit »All Things in My      sprechenden Titeln wie »Time is the
realistisch. Lichtundurchlässige Dinge         lelen Ausstellungen im Frühjahr des glei-     Apartment Smaller Than 8 × 10“« zum           Longest Distance«, »Terra Incognita«,
sehen aus wie tiefschwarze Schatten.           chen Jahres ein – eine davon zu »Extensi-     Zeitpunkt ihrer Ausstellung in der Kunst-     »Disappear Here« und »Post-Tropical«
Anhand ihrer Umrisse lässt sich nur            on« von Sophie Thun. Ein Mund-Nasen-          stiftung DZ BANK, bei der im Nebenein-        gehen Talisa Lallais vorherige Projekte
erahnen, um was es sich genau handeln          Schutz aus Stoff erinnert an die Pandemie,    ander der Einzelbilder die Werkgruppe         der Frage nach, was diese Sehnsucht
könnte. Das Erkennen der Objekte hängt         die Anfang 2020 Europa erreichte, und an      erstmals als Ganzes sichtbar wird.            nach der gedanklichen Flucht ausmacht.

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