Förderstipendium Sophie Thun - Kunststiftung DZ BANK
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Reihe Kunststiftung DZ BANK Band 2 Förderstipendium Sophie Thun und Sara Cwynar 22.09. 2021 – 05.02.2022 Mit Werken von: Sara Cwynar Sophie Thun sowie Katarína Dubovská Philipp Goldbach Talisa Lallai Titelbilder: Cover: Sophie Thun, While holding (passage closed) (Y110,8M17,4D+59F8m18,142CA3T69,2b100l240), 2018 (Detail); Rückseite: Sara Cwynar, Foto: Jody Rogac
Die Sprache der Bilder Wie ist Kunst der Gegenwart zu verstehen? Was soll transportiert die Kenntnis von bereits bestehenden rum bedeutet eine erweiterte Komplexi- werden? Wie lassen sich die Inhalte von Kunstwerken erschließen und Kunstwerken der Bewerberinnen und tät. Bei der Wahrnehmung von künstleri- Bewerber im Besonderen hilft uns dabei, schen Werken dürfen wir nun immer auf welche Weise(n) kann man das Dargestellte erfassen? So oder ihrer Ideen habhaft zu werden. wieder unterschiedliche Traditionen ähnlich lauten häufig die Fragen, wenn wir mit zeitgenössischer Kunst Aus einer übergeordneten Perspektive und Disziplinen mit einbeziehen, die uns konfrontiert sind. kann uns ein kleiner Blick zurück in die teilweise zunächst fremd erscheinen. Wissenschaften der Kunst die Lesbarkeit Was daran deutlich wird, ist, dass von Artefakten erleichtern. Die Kunst- neben kulturellen immer auch politische Ganz ähnliche Fragen stellen sich auch die ihre innere Auseinandersetzung und ihre geschichte oder Kunstwissenschaft ist ein und soziale Entwicklungen Auswirkungen Jurorinnen und Juroren bei der Auswahl Überlegungen dem Gremium verständlich noch verhältnismäßig junges Forschungs- auf die Kunst und ihre Wissenschaften, der Positionen für die Förderstipendien, zu machen, greifen Kunstschaffende auf gebiet, das sich erst Ende des 18. Jahrhun- wie auch auf alle anderen Disziplinen, stellt doch die Lesbarkeit der eingereich- mehr oder weniger individuell gestaltete derts auszuprägen begann. Das erste haben können und damit ihre Deutungen ten Vorschläge immer wieder eine Heraus- Skizzen und Texte zurück. Das heißt, »Handbuch der Kunstgeschichte« (1842) nicht unerheblich beeinflussen. Wir tun forderung dar. Dabei spielt nicht nur die dass sie von ihren genuin künstlerischen befasste sich zunächst noch mit »allen also gut daran, die Methoden der Kunst- Einordnung der künstlerischen Positionen Materialien zumeist Abstand nehmen Zeiten und allen Völkern« 1. Im weiteren geschichte heranzuziehen und gleichzeitig eine wichtige Rolle, sondern auch der müssen. Das wiederum bedeutet für Verlauf wurde das Forschungsgebiet ihre Bedeutung in der Entwicklung der Abstraktionsgehalt der eingereichten die Jurorinnen und Juroren, dass sie anti- immer stärker eingegrenzt, was auch mit Disziplin zu reflektieren, um uns den Projekte. Selbst wenn die Künstlerinnen zipieren sollen, wie das Kunstwerk, das der Vorherrschaft des europäischen und Themen und den Materialien der künstleri- und Künstler mithilfe von Abbildungs- zunächst oft nur in Abbildungen und amerikanischen Einflusses in der Welt schen Ausdrucksformen anzunähern. materialien auf ein bis zwei vorangegan- Worten beschrieben wurde, seine Form zusammenhing. Heute werden die Kunst- Kunstgeschichte beschäftigt sich gene Serien verweisen können, um ihre finden wird. Das ist nicht immer ein wissenschaften – bedingt durch die kriti- zunächst vor allem mit dem »Was« (Was Methoden vorzustellen, bleibt die Präsen- leichtes Unterfangen. sche Auseinandersetzung mit den kolonia- ist abgebildet?), dem »Wie« (Auf welche tation und damit die Imagination der Bei der Imagination der Projekte kann listischen Bestrebungen der westlichen Weise fand das Kunstwerk seine Form?), geplanten Projekte immer wieder eine uns unsere kunstwissenschaftliche wie Welt und vor allem durch eine erweiterte dem »Wann«, also der zeitlichen Einord- besondere Aufgabe – vor allem dann, auch unsere persönliche Erfahrung dien- Rezeptionspraxis mithilfe einer fächerüber- nung eines Werks, und dem »Wo«, dem wenn es sich bei der Umsetzung um neue lich sein. Das Wissen um die verschiede- greifenden Analyse – wieder einem inhalt- Ort der Herstellung. inhaltliche und formale Lösungen sowie nen Wege der Bilderzeugung, die Themen lich, zeitlich und örtlich sehr viel breiteren Das »Was« beschreibt die Genres, Materialien handelt. Bei dem Versuch, und die Materialität im Allgemeinen sowie Gegenstandsgebiet zugeführt. Das wiede- also die Bildthemen wie Porträt, Interieur, 4 5
Stillleben, Landschaft, Genreszenen etc. fand, weist eine enorme Vielfalt an inhalt- geprägten normativen Ästhetiken den schen Einflüsse genauso wie die persön- Immer wieder kommen auch gesellschaft- lichen und technischen Ausprägungen auf. Nachweis des zeitlichen Wandels ästheti- lichen Kontexte der Künstler sowie der liche Inhalte hinzu. Ebenso spielt jegliche Ein weiterer wichtiger Richtwert ist scher Gesetze rücken zu können.« 2 Würde Betrachterinnen mit einbezogen. Über die Ausprägung der Abstraktion sowie der das »Wann«. Das Wissen um die zeitlichen sich die Definition dessen, was »schön« Jahre lassen sich auf diese Weise weitere ungegenständlichen Kunst eine Rolle. Rahmenbedingungen bei der Entstehung ist, nicht fortwährend wandeln, würden Ansätze zur ästhetischen und historischen Lassen sich in der abstrakten Bildsprache von bildender Kunst spielt eine zentrale wir noch immer denselben künstlerischen Deutung ergänzen, was erneut zu einer noch Verbindungen zu erkennbaren Rolle, um einordnen zu können, ob Künst- und ästhetischen Standards anhängen enormen Komplexität in der Rezeption Gegenständen herstellen, verzichtet das ler sich mit aktuellen Zusammenhängen wie der Homo sapiens vor 40 000 Jahren. führt, da alle Parameter bedacht und ein- Ungegenständliche gänzlich auf einen beschäftigen oder eher vergangenen Der deskriptiv-phänomenologische bezogen werden wollen. Bezug zur dinglichen Welt und zu wieder- Themen und Materialien zuwenden. Ansatz ist eine weitere Methode, sich All diesen Fragen dürfen sich nicht nur erkennbaren Objekten. Die ungegenständ- Einige nehmen Strömungen sogar vorweg. Kunstwerken anzunähern. Das Beschrei- Kunstwissenschaftlerinnen und Ausstel- liche Kunst wendet sich vielmehr der Auch das »Wo«, also der Ort der Pro- ben von Kunst kann helfen, ihren Gehalt lungsmacher stellen, die sich mit Werken Untersuchung von übergeordneten Ideen duktion und die Herkunft des Künstlers, zu erfassen. Dabei ist das Forschen nach auseinandersetzen, sondern immer wieder und unserer Wahrnehmung von Farben, ist von zentraler Bedeutung. Ob ein Kunst- einer passenden Wortwahl genauso wich- auch die Betrachterin oder der »Be-obach- Formen und Proportionen zu. werk in Afrika, Europa oder Asien herge- tig, wie die Gedanken gelegentlich laut ter«, wie Hans Dieter Huber 3 den Besucher Im »Wie« werden die Gattungen – also stellt wurde, bezieht jeweils andere Tradi- auszusprechen, da dies einen Bewusstwer- einer Ausstellung nennt. Der Begriff ist Malerei, Bildhauerei, Zeichnung und Grafik tionen mit ein. Dabei spielt es natürlich dungsprozess über das, was man denkt, dabei wohl gewählt und spricht für sich sowie Architektur – beschrieben. Darüber auch eine Rolle, ob es sich bei den Kunst- fördern kann. So lässt sich immer wieder selbst: Die »Ob-acht« 4, die den Wort- hinaus existiert innerhalb der Gattungen schaffenden um einheimische oder zuge- die Erfahrung machen, dass mit einer aus- stamm des Begriffes markiert, impliziert eine Vielzahl verschiedener Techniken, die wanderte Personen handelt, die immer gesprochenen Beschreibung der struktu- eine Wachsamkeit der Sinne und des Geis- von Kunstschaffenden bewusst gewählt auch einem anderen Einflussbereich unter- rellen Phänomene auch ein Sich-bewusst- tes sowie ein Aufnehmen, ohne vorschnell werden und mit denen sie ihren persön- liegen und dadurch nicht selten in der Werden ihrer Inhalte einhergeht. Dieser zu bewerten. Das Trachten nach etwas 5, lichen Ausdruck finden. Die Architektur Lage sind, Kulturen miteinander zu ver- gesprochene oder auch geschriebene das im »Be-trachter« enthalten ist, formu- eines Holzhauses folgt dabei einer ande- binden oder doch zumindest ihre Unter- Bericht bezieht sich auf alle sichtbaren liert hingegen eher eine Zielsetzung und ren kulturellen Einordnung als die eines schiede deutlich zu machen. Aspekte eines Kunstwerks, also auf die ein Streben nach etwas Bestimmtem. Gebäudes aus Stein oder Beton. Ein Maler, So lassen das »Was«, das »Wie«, das Größe und die Gestalt ebenso wie auf die Es kommt also nicht von ungefähr, dass der sich für Eitempera (eine Mischung aus »Wann« und das »Wo« schon einige Rück- verwendeten Materialien und das Produkt, Hans Dieter Huber sich eher den Beobach- Ei, Leinöl und Farbpigmenten) als Werk- schlüsse darauf zu, was mit einem Kunst- das dabei entsteht. Ganz wie Heinrich von ter in einer offeneren Haltung vorstellen stoff entscheidet, steht in einer anderen werk intendiert wird und welche Innovati- Kleist es 1805 in seinem Aufsatz »Über die möchte als den Betrachter in seiner Tradition als einer, der Öl- oder Acrylfarbe onskraft ihm innewohnt. allmähliche Verfertigung der Gedanken Zielgerichtetheit. Der Wechsel der Begriffe verwendet. Gleichzeitig beeinflusst die Schließlich spielen ästhetische Lösun- beim Reden« ausführt, ist davon auszuge- dient in jedem Fall einer größeren Wahl der Werkstoffe die Verarbeitungs- gen, die mit allgemeingültigen Schönheits- hen, dass auch Künstlerinnen und Künstler Bewusstheit bei der Rezeption. zeit: So trocknet beispielsweise Ölfarbe idealen brechen, um zu neuen Resultaten ihre Gedanken beim Malen, Bildhauen, Hans Dieter Huber bezieht neben den ausgesprochen langsam, so dass Eingriffe zu kommen, immer wieder eine zentrale Drucken, Fotografieren und Entwickeln zeitlichen, örtlichen, sozialen und histori- in die Entstehung des Kunstwerks über Rolle. »Sollte sich die Kunstgeschichts- etc. in eine Form bringen. schen Verhältnissen in besonderem Maße mehrere Tage möglich sind. Andere Far- schreibung nicht gerade mit der Schön- Durch die sich ständig erweiternden auch die persönlichen ›Koordinaten‹ mit ben müssen schnell verarbeitet werden. heit, mit der Harmonie, mit dem Ästheti- künstlerischen und forschenden Diszipli- ein. Wir alle sind Menschen, die bestimm- Auch die Fotografie, die als künstlerische schen schlechthin befassen? Warum lehnt nen kommen immer wieder neue Frage- ten Zusammenhängen entwachsen sind, Gattung erst seit den 1960er Jahren lang- sie dies so kategorisch ab? Eben um an die stellungen in den Kunstwissenschaften haben Eltern, Geschwister (oder eben sam Einzug in die Kunstwissenschaften Stelle von immer wieder unterschiedlich hinzu. So wurden die sozialen und politi- nicht), hatten Lehrerinnen und Leitbilder, 6 7
die uns geprägt haben. Wir stammen aus die je nach innerer Entwicklung auf jeweils Für die beiden Förderstipendien 2019/20, Orientierung, die wir ständig anpassen bestimmten sozialen Schichten und Län- andere Weise gelingt. Damit wird auch die wir pandemiebedingt erst in diesem und neu justieren dürfen, um immer dern, deren Traditionen wir übernommen die sich ständig wandelnde Wahrnehmung Jahr zeigen können, wurden die in New wieder neue Aspekte an Kunstwerken oder gegen die wir uns zur Wehr gesetzt von Kunstwerken verständlich: Je tiefer York arbeitende Kanadierin Sara Cwynar entdecken zu können. Daher freuen haben. Dieser persönliche Ansatz spielt jeder Einzelne in die Zusammenhänge des (* 1985) und die heute in Wien lebende wir uns ausdrücklich auf den Austausch nach Hans Dieter Huber in die Interpreta- Kunstwerks, des Künstlers sowie seiner Polin Sophie Thun mit ihren eingereichten mit unseren Besucherinnen und Besu- tion von Kunst immer schon hinein, auch selbst eindringt, desto vielschichtiger und Projekten ausgewählt – zwei in ihrer chern, um uns der Lesarten der Kunst- wenn er nur selten explizit genannt und in komplexer wird die Wahrnehmung von Herangehensweise und Verarbeitung der werke im Laufe der Ausstellungszeit die Analyse einbezogen wird. »Die Erfah- Kunst. Fotografie gänzlich unterschiedliche und darüber hinaus bewusster zu rung des Individuums ist jedoch stets in In der Kunststiftung DZ BANK haben Künstlerinnen. werden. einen sozialen Kontext eingebettet aus Tra- wir uns die Offenheit des aufmerksamen Die Präsentation der beiden Gewinne- Während sich Sara Cwynar in ver- ditionen, Konventionen und Normen, wel- Beobachtens zur Aufgabe gemacht. Dazu rinnen wird durch die Arbeiten der in schiedenen Serien und Einzelbildern mit che die Variationsbreite der ›subjektiven‹ dienen nicht zuletzt die Ausstellungen, Leipzig wohnenden Slowakin Katarína einem Fundus an kommerziellen und Kunsterfahrung stark einengt. Kunsterfah- die sich mit den Künstlerinnen und Künst- Dubovská (* 1989), des Kölner Philipp kunsthistorischen Bildern beschäftigt, rung muss daher als eine soziale Konstruk- lern der Förderstipendien und dem erwei- Goldbach (* 1978) und der von italieni- denen sie in der Werbung, auf ihrem tion beschrieben werden, weil sie eine terten Kreis aus der Shortlist beschäfti- schen Einwanderern abstammenden und Smartphone sowie ihrem Computer aus- aktive, konstruktive Leistung des Beobach- gen. Hier möchten wir Kunstschaffende in Deutschland geborenen Talisa Lallai gesetzt ist (Abb. 1), entwickelt Sophie ters ist, die stets in einen spezifischen, zu Wort kommen lassen – oder vielleicht (* 1989) ergänzt. Jeder und jede von ihnen Thun in ihrer Arbeit »All Things in My sozialen Raum aus Normen, Gewohnheiten besser »ins Bild setzen« –, die sich im be- hat eine andere Herkunft, die auch in Apartment Smaller Than 8 × 10“« von und Sprachgebräuchen eingebettet ist, sonderen Maße einer Auseinandersetzung ihren gewählten Themen und Materialien 2020 in der Anreicherung privater Gegen- der ihre Bedingungen und Möglichkeiten mit fotografischen Ausdrucksformen nachvollzogen werden kann. So weisen stände, die sie umgeben, ein komplexes kontrolliert, bestimmt und eingrenzt.« 6 verschrieben haben, die weit über eine allein die biografischen Daten der Künstle- Selbstporträt. Bei einem Besuch in ihrem Ganz analog ergeht es dem Künstler, der Verwendung von Motiven hinausgehen. rinnen und Künstler auf eine große Vielfalt Atelier sagte sie, dass sie sich mit dieser seinerseits seine individuelle Prägung und Begleitet werden die Ausstellungen von an unterschiedlichen kulturellen Traditio- Serie viel stärker ausgesetzt fühle als in Erfahrung in seine Kunst werke einschreibt. einem vielseitigen Vermittlungsprogramm nen sowie historischen und gegenwär- den in anonymen Hotelzimmern aufge- Diese sehr subjektive Sichtweise in die in Form von Kunstführungen, Workshops tigen Einflüssen hin, denen wir uns als nommenen Aktbildern, die sie zuvor ange- Lesbarkeit von Kunst zu integrieren, macht und Symposien. Ausstellungsmacher und Rezipientinnen fertigt habe. Denn ihre privaten Gegen- die Rezeption von Werken überaus kom- In der zeitgenössischen Kunst greifen immer wieder nur annähern können. In stände ließen mehr Rückschlüsse auf ihre plex, denn nun gilt es neben den analyti- nicht nur die Gattungen mehr und mehr jedem Fall tun wir gut daran, uns neben inneren Gedankenwelten zu, was ihr den schen Parametern auch persönliche mit ineinander, auch die Bildthemen sind den sichtbaren Kunstwerken auch mit Eindruck einer größeren Nacktheit ver- einzubeziehen. Es setzt voraus, dass wir längst nicht mehr voneinander abzugren- den Lebenszusammenhängen der Kunst- mittle, als das in ihren Akten der Fall sei. mit einem distanzierten Blick der Super- zen. So kann die Arbeit von Sophie Thun schaffenden auseinanderzusetzen, denen Formal findet Sara Cwynar ihren Aus- vision nicht nur die äußerlich sichtbaren (* 1985) sowohl als Stillleben – als Arran- sie ausgesetzt sind und waren und die sie druck in am Computer erzeugten, mehr- Fakten beleuchten, sondern auch versu- gement alltäglicher Gegenstände – wie beeinflusst haben. Dies können natürlich fach überlagerten Tableaus und Filmen, chen, die Analyse von Kunstwerken durch auch als Porträt, also als Abbild ihrer Per- immer wieder nur Annäherungen sein. in denen sie die Bilderflut einerseits Empathie für uns selbst und die Künstle- sönlichkeit gelesen werden. Gleichzeitig Dasselbe gilt für uns als Beobachter. und die scheinbare Gleichwertigkeit von rinnen und Künstler zu ergänzen. ließe sich ihre Serie auch als Konsumkritik Auch wir haben Vorlieben und Abneigun- Inhalten andererseits thematisiert. Bilder Das bedeutet, dass uns die Rezeption interpretieren: Mit wie vielen Gegenstän- gen, haben eine Geschichte, die wir bei aus der Werbung werden neben Gemäl- von Kunst stets von Neuem ein nicht ge- den umgebe ich mich? Was brauche ich der Rezeption von Kunst immer wieder den aus dem Mittalalter oder aus der ringes Maß an Selbstreflexion abverlangt, davon wirklich? als Kriterien anlegen. Sie geben uns eine Moderne gezeigt. 10 11
Sophie Thun hingegen greift auf eine kugeln und -bilder sowie kleine Filme, die traditionsreiche kameralose Fotografie den Prozess dokumentieren. Die Bildinfor- zurück, indem sie Schattenbilder in Form mationen sind den Bestandteilen nach wie von Fotogrammen mit Gegenständen aus vor eingeschrieben, für uns als Betrachter ihrer Wohnung erzeugt, die kleiner als jedoch nicht mehr erkennbar. Dabei arbei- 8 x 10 Inches sind, um sie direkt auf dem tet die Künstlerin ganz intensiv auch mit Fotopapier belichten zu können (Abb. 2). ihren Händen, indem sie das aufgeweichte Ihre Bilder erwachsen einer haptischen, in Papier knetet und verformt. Sie ist also der Dunkelkammer ertasteten Bilderzeu- nicht nur eine Fotografin, sondern ebenso gung, von der die Künstlerin nicht immer eine Bildhauerin oder -formerin. Die damit weiß, ob und wie die Umsetzung gelingt. verbundene Freiheit, die in diesen Arbei- So spielt auch der Zufall bei ihr immer ten steckt, wirft den Beobachter auf sich wieder eine nicht unwesentliche Rolle. selbst zurück. Die zerstörerische Kraft Sicher hat auch die Herkunft der bei- kann dabei gleichermaßen auch als Neu- den Künstlerinnen Einfluss auf ihre Bild- schöpfung verstanden werden. Dass alle findung: Vielleicht kommt es nicht von Teile ihrer Installation »Intertwined Condi- ungefähr, dass sich Sophie Thun als Euro- tions« miteinander in Beziehung stehen päerin mit einer traditionellen fotogra- und darin auch andere, neue Motive ver- fischen Bildform beschäftigt, die in ihrer borgen liegen, symbolisieren Schläuche, Abstraktion zur Selbstreflexion einlädt, die die Artefakte miteinander verbinden. während Sara Cwynar den Konsum der Ein einziges kleines Motiv befindet sich neoliberalen Gesellschaft, in der sie lebt, sichtbar an der Wand: eine von Farbe förmlich fühlbar macht und auf digitale befleckte, spielerisch geöffnete Hand – Weise verarbeitet. das wichtigste und zugleich sinnlichste Katarína Dubovská zerstört das Werkzeug des Menschen (Abb. 24). erkennbare Abbild ihrer fotografischen Auch Philipp Goldbach er-fasst seine Aufnahmen und scheint zum Bildersturm Kunstwerke, indem er gefundene Gegen- zu blasen, als wolle sie uns in Zeiten der stände verarbeitet und in neue Formen Bilderflut auffordern, uns kein Bild mehr überführt. Dabei kann der manuelle Pro- zu machen. Indem sie die Pigmentdrucke zess, genau wie bei Katarína Dubovská in einem Wasserbad in ihre Bestandteile und auch bei Sophie Thun, immer zugleich Farbe und Papier auflöst, bringt sie ihre ein kognitives Gewahr-werden bedeuten. Inhalte in eine andere, neue Form. Das Wie bei Katarína Dubovská findet auch bei Ergebnis sind Farbbeutel und Pappmaché- Philipp Goldbach eine Transformation von Inhalten statt, indem er die ursprünglichen Motive für das Auge unsichtbar macht. Abb. 2 Das ist so ähnlich, wie wenn unbewusste Sophie Thun, All Things in My Apartment Informationen zum Beispiel in biografi- Smaller Than 8 × 10“, 2020 (Detail) Fotogramm, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, schen Daten – wie Fluchterfahrungen und Blatt: je 40 x 30 cm Vertreibung in der Elterngeneration – im 12 13
Unterbewusstsein ihre Arbeit beginnen. Meer oder anderen natürlichen Bewegun- was das Leben sein kann. Ob in den In der Stiftung werden wir es in den kom- Aus 70 000 Kleinbild-Dias, die kunsthisto- gen wie Wind herstellt. Diese kombiniert Schattenbildern von Sophie Thun, in menden Jahren weiterführen und weiter- rischen oder archäologischen Instituten sie in ihren raumgreifenden Installationen Philipp Goldbachs Transkription des entwickeln. von Universitäten entstammen, entsteht mit Pigmentdrucken von Parkanlagen, Buches »Ins Universum der technischen Wir freuen uns sehr, dass wir eine eine Plastik aus seiner Werkgruppe »Loss- erhabenen Ausblicken über Landschaften Bilder« von Vilém Flusser oder in der ausdrückliche Förderung für Künstlerinnen less Compression«, die an digitale Pixel- sowie historischen Gebäuden, die sie Auflösung der fotografischen Prozesse und Künstler ausschreiben können, die bilder oder QR-Codes erinnert (Abb. 16). selbst aufgenommen hat. Bei ihren Auf- bei Katarína Dubovská – immer schreiben sich im Bereich fotografischer Ausdrucks- Philipp Goldbach überführt also die ana- nahmen rekurriert sie auf traditionelle sich diese Künstler mit ihren handwerk- formen eine Position erarbeitet haben logen Abbilder von historischen Kunstge- architektonische sowie landschaftliche lichen Techniken formbildend in ihre oder dabei sind, dies zu tun. Wir werden genständen mit analogen Mitteln in einen Klischees Italiens und fügt ihnen gefun- Kunstwerke ein und befragen auf diese die Preisträgerinnen und Preisträger im Speicher, der an digitale Bildinformationen dene Gegenstände wie Briefmarken, Weise auch die Wahrnehmung unserer Blick behalten und freuen uns über neue aus aus Einsern und Nullen erinnert. In- Postkarten und Bücher hinzu (Abb. 14), subjektiven Wirklichkeit. Impulse für die Kunstsammlung der dem er die Glasrahmen in die Horizontale die sie teilweise von ihrer Mutter aus- Die siebenköpfige Jury des Förder- DZ BANK. verlegt, treten die mit schwarzem Klebe- gehändigt bekam. Diese Objekte sind, stipendiums 2019/20 setzte sich aus band umfassten Ränder der Reproduktio- wie sie selbst, viel ›gereist‹. Hände haben folgenden Fachleuten zusammen (Abb. 3): Christina Leber nen von Artefakten aus anderen Jahrhun- Spuren an ihnen hinterlassen, bevor sie derten in den Fokus. Unterbrochen wer- ihren Platz in einer der Arbeiten von Felix Hoffmann, Hauptkurator C/O Berlin den die schwarzen Streifen von weißen Talisa Lallai gefunden haben. Auf diese Foundation, Berlin; Albrecht Haag, Pro- Etiketten, die von der Beschriftung der Weise lässt sich ihre Serie, ähnlich wie die jektleitung Darmstädter Tage der Foto- Bilder herrühren. Wie nah hier die reale von Sophie Thun, zugleich als ein Porträt grafie (Vertretung für Alexandra Lechner, 1 Heinrich Dilly: »Einführung«. In: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, 3., durchgesehene u. Ansammlung von Bildern der digitalen ihrer selbst lesen. Freie Fotografin und Kuratorin, Frankfurt erweiterte Aufl., Berlin 1988, S. 10. Bildverarbeitung kommt, ist frappierend. Es ist auffällig, dass vier der fünf am Main); Kathrin Schönegg, zum Zeit- 2 Ebd., S. 13. Wie in der Transformation der formalen Künstlerinnen und Künstler eine innere punkt der Jurysitzung noch freie Kuratorin 3 Vgl. Hans Dieter Huber: Bild – Beobachter – Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfi ldern-Ruit 2004. Hans und materialen Lösung bei Katarína oder äußere Wandlung vollziehen, ganz und Autorin, heute Kuratorin C/O Berlin Dieter Huber ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Gesell- schaft für interdisziplinäre Bildwissenschaften. Er studierte Dubovská verschwinden auch bei Philipp als würden sie die »Passage« – das Leit- Foundation, Berlin; Christin Müller, Malerei und Grafi k an der Akademie der Bildenden Künste in Goldbach die einzelnen Motive der 70 000 thema des Jahres 2022 – vorwegnehmen. Freie Kuratorin, Leipzig; Mario Kramer, München, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie an den Universitäten München und Heidelberg und wurde zum Dias in einer neuen Gestalt und bleiben Die Befragung dessen, was Fotografie Sammlungsleiter und Kurator, Museum Thema »System und Wirkung. Rauschenberg – Twombly – als historische Verweise im Kunstwerk sein kann, wozu sie dient und was mit ihr für Moderne Kunst, Frankfurt am Main; Baruchello. Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitge- nössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz« promoviert. dennoch gegenwärtig. in Zeiten einer immer noch größer wer- Christina Leber, Geschäftsführerin 1994 habilitierte Huber mit der Arbeit »Paolo Veronese. Kunst als soziales System«. Es folgten Professuren für Kunstgeschich- Talisa Lallai hat sich in Bewegung denden Flut an Bildern transportiert wird, Kunststiftung DZ BANK und Leiterin te an der Hochschule für Grafi k und Buchkunst in Leipzig sowie gesetzt und Italien, das Heimatland ihrer ist dagegen bei allen fünf Kunstschaffen- DZ BANK Kunstsammlung, Frankfurt am für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Eltern, der Länge nach bereist. Reisen den Teil ihrer Suche. Bei Sophie Thun, Main; Gertrud Peters, Künstlerische wo er bis heute lehrt. stellen immer wieder auch eine Transfor- Philipp Goldbach, Katarína Dubovská und Leitung KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf. 4 Das Substantiv »Obacht« ist ein Kompositum aus der mation dar, eine äußerliche wie innerliche Talisa Lallai schwingt auch die Philoso- Präposition »ob« (›über‹, ›auf‹) und dem Substantiv »Acht« (›Beachtung‹) und seit dem 17. Jahrhundert belegt. Veränderung. Talisa Lallai ist in Deutsch- phie der Fotografie mit, also eine Befrei- Die Kunststiftung DZ BANK hat die Auf- 5 Das Verb »trachten« (›bestrebt sein‹, ›beabsichtigen, etw. land geboren. Hier war sie nicht selten ung vom Material hin zu einer gedank- gabe übernommen, Kunst zu fördern, aus- Bestimmtes zu erreichen‹) geht zurück auf das mittelhoch- deutsche »trahten« (›betrachten‹, ›woran denken‹, ›nach etwas die Italienerin und in Italien ›la tedesca‹. lichen Offenheit, zu der Idee eines Welt- zustellen und zu vermitteln. So gelangte streben‹). Vgl. DWDS, Deutsches Wörterbuch der deutschen In »Autosole« befragt sie das Herkunfts- bildes, das sich nicht (allein) an sichtbaren das Förderstipendium (ehemals f/12.2 Sprache. 6 Hans Dieter Huber: »Wissenschaftliche Grundlagen«. land ihrer Ahnen, indem sie kleine, fast Bildern orientiert, sondern an den Projektstipendium) der DZ BANK Kunst- In: ders., Kunst als soziale Konstruktion, Paderborn, München meditative Filme von anstrandendem tieferen Qualitäten einer Suche danach, sammlung in die Hände der Kunststiftung. 2007, S. 34. 14 15
Abb. 3: Die Jury (v. l. n. r.): Felix Hoffmann (Hauptkurator, C/O Berlin Foundation) Albrecht Haag (Projektleitung Darmstädter Tage der Fotografi e) Kathrin Schönegg (Kuratorin, C/O Berlin Foundation) Christin Müller (Freie Kuratorin, Leipzig) Mario Kramer (Sammlungsleiter und Kurator, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main) Alexandra Lechner (Freie Fotografin und Kuratorin, Frankfurt am Main) Christina Leber (Geschäftsführerin Kunst- stiftung DZ BANK und Leiterin DZ BANK Kunstsammlung, Frankfurt am Main) Gertrud Peters (Künstlerische Leitung KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf) 16 17
Kartografieren, ausschöpfen, begegnen, neu betrachten, transformieren – über die künstlerische Erforschung des Fotografischen in der Gegenwart »Im 21. Jahrhundert stellt die Fotografie keine Praxis der angestaubten neben- und übereinander, dass sich beim genauerer Betrachtung als Kartografien Augenweide dar, sondern die Erforschung dessen, was etwas zu Betrachten zunächst eine visuelle Überfor- der Vernetzung und Transformation von derung einstellt (Abb. 4). Diese Überforde- Bildern im digitalen Raum verstehen. einem Bild macht«, schreibt Daniel Rubinstein über den Status quo der rung ist gewollt – Cwynar geht es genau Paradigmatisch für das Spannungsfeld, gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Medium um die künstlerische Übersetzung des in dem ihr Werk zu verorten ist, steht ein Fotografie. Durch die zunehmende digitale Vernetzung und den »chaos of living through phones and social kleines Bild im rechten oberen Bereich wachsenden Einfluss von Algorithmen verliert die klassische Repräsen- media, chaos of information and how der Collage »Opps (Tools of Power)«, das tationsfunktion des Mediums an Bedeutung. Stattdessen sieht hard it is to situate oneself« 2. Dieses leicht übersehen werden kann. Es zeigt Gefühl prägt unsere Gegenwart und hat den Handy-Screenshot einer Instagram- Rubinstein die Fotografie als ein Mittel zur Erforschung »der Arbeits- sich mit den Kontakt- und Bewegungs- Story, in der die Titelsequenz der vierten weisen, die diese Welt durch Massenproduktion, Komputation, einschränkungen aufgrund der Corona- Episode von John Bergers Serie »Ways of Selbstreplikation und Mustererkennung prägen«1. Pandemie in den Jahren 2020/21 poten- Seeing« eingefangen ist. Das Bild verbin- ziert. Die Begegnung mit Bildern und der det das schnelle, flüchtige Konsumieren Austausch verlagern sich immer stärker in von Bildern über Social Media mit dem In den Arbeiten der beiden Stipendiatin- Lebenswelt. Die Künstlerinnen und Künst- den digitalen Raum. Dort verschieben sich analytischen Betrachten und Hinterfragen, nen des Förderstipendiums 2019/2020 ler halten unserer Wahrnehmung und die Hierarchien von Bildern durch die kom- zu dem John Berger in seiner BBC-Serie Sara Cwynar und Sophie Thun sowie der Nutzung des Mediums nicht nur einen plexe Vernetzung von visuellem Material. von 1972 einlädt. Berger appelliert in der zwei Künstlerinnen und dem Künstler der Spiegel vor, sondern erweitern zugleich In ihrem künstlerischen Werk unter- vierten Episode der Serie daran, Medien- Shortlist Katarína Dubovská, Talisa Lallai die Grenzen dessen, was als das Fotogra- sucht Sara Cwynar, wie Ideologien und bilder und deren Veröffentlichungskontex- und Philipp Goldbach finden Rubinsteins fische verstanden werden kann. Geschichte(n) über Bild-Ikonen, Kunstwer- te auf ihren ideologischen Gehalt zu Annahmen einen Widerhall. Sie alle set- ke und Gebrauchsgegenstände transpor- untersuchen und unsere eigenen Erfahrun- zen für ihre Befragung des fotografischen tiert werden. Sie fragt, wie Nachrichten gen zu diesen Bildwelten in Beziehung Kartografieren digitaler Bildes bei den genuinen Charakteristika und Werbung, Kunst und Populärkultur zu setzen. Indem Sara Cwynar das Bezie- Bilderwelten – Sara Cwynar des Mediums an und untersuchen so die bestimmte Weltbilder und Machtverhält- hungsgeflecht der uns umgebenden Bil- Variabilität des fotografischen Prozesses Die Arbeiten von Sara Cwynar gleichen nisse vermitteln und welche Sehnsüchte derwelt kartografiert, verleiht sie Bergers und der Ausdrucksmittel. Mit ihren Arbei- auf den ersten Blick einem opulenten und Verhaltensweisen durch Bilder hervor- analytischem Ansatz eine visuelle Entspre- ten verorten sie sich darüber hinaus inner- Bilderrausch. Sie schichtet eigene gerufen werden. Sara Cwynars fotografi- chung. Sie sucht nach den bewussten und halb unserer stark von Bildern geprägten und gefundene Bilder und Objekte so sche und filmische Collagen lassen sich bei unbewussten Einflüssen von Bildern im 18 19
3D-Modell der Firma TurboSquid. Ihr Kör- auf die Politik der USA und somit nach per und ihr Gesicht wirken trotz – oder außen gerichtet. Zwischen diese visuellen gerade aufgrund – der physischen Perfek- Versatzstücke platziert Sara Cwynar tion seltsam normiert und geglättet. Diese größere und kleinere Selbstporträts. verstörende Künstlichkeit verbindet die Stellvertretend für uns setzt sie sich dem Schwimmerin visuell mit zahlreichen Vor- Bilderstrom aus und schlüpft in diverse her-Nachher-Bildern von Frauengesichtern, Rollen. Auf einigen Bildern trägt sie ein bei denen unklar bleibt, ob die Ursache T-Shirt mit dem Antlitz des linken Demo- der Veränderung ein professionelles kraten Bernie Sanders und der Aufschrift Make-up oder die Bildbearbeitung ist. In »Rage against the machine«. Ein anderes der Collage haben des Weiteren Repräsen- Mal ist sie mit einem papiernen Schürzen- tationen von diversen Frauenrollen einen kleid und Rührschüssel versehen und Platz erhalten, so die Frau als Schwangere stilisiert sich so als 1950er-Jahre-Anzieh- und Mutter, als Partnerin, Geliebte, Unab- püppchen (vgl. auch Abb. 1). In fast allen hängige und stilbildende Ikone. Unter Bildern steht Sara Cwynar mit weit auf- ihnen befindet sich u. a. die Autorin Virgi- gerissenem Mund da, als müsse sie ihre nia Wolf, fotografiert von Gisèle Freund. Position als junge Künstlerin und Frau in Beide waren über den von ihnen gewähl- einer polarisierenden Bilderwelt lautstark ten Beruf unabhängige, emanzipierte schreiend für sich erkämpfen. Frauen der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- In dem Film »Scroll 1« geraten Sara derts. Zu sehen ist außerdem das Auge Cwynars Bilder in einen endlos erscheinen- Lee Millers, aufgenommen von Man Ray den Loop. Der Titel verweist auf unser – das Künstlerpaar steht für die Avant- alltägliches Durchqueren des digitalen garde im Paris der 1920er und 1930er Raums auf den Bildschirmen der Computer Abb. 4: Jahre. Für ein von den Massenmedien und Mobiltelefone. Eine minimale physi- Sara Cwynar, Standbild aus: Scroll 1, 2020, aus der Serie: Marilyn Video, Laufzeit: 00:21:35 und Sozialen Medien geprägtes Körper- sche Bewegung ist ausreichend, um in die bewusstsein des 21. Jahrhundert stehen Tiefen des World Wide Web vorzudringen, wiederum die Stil-Ikone und Influencerin von Bildern umspült zu werden und sich in Kim Kardashian sowie Winnie Harlow, ein deren hierarchielosem Nebeneinander zu erfolgreiches US-amerikanisches Model verlieren. Sara Cywnar übersetzt dies in Alltag, auf die John Berger hinweist: »We stab vorgibt. Die Collage wird durch das mit Hautpigmentstörung, hier als Marilyn ihrem Atelier in eine Versuchsanordnung. remember or forget these images, but Abbild einer Schwimmerin gegliedert, die Monroe posierend. Darüber hinaus setzt Auf übereinander positionierte Plexiglas- briefly we take them in. And for a moment die Metapher des Schwimmens im Strom Sara Cwynar in der Collage zwei weitere, scheiben legt sie Bilder und Alltagsobjekte they stimulate our imagination, either by der Bilder in Erinnerung ruft. Sie taucht gegensätzlich ausgerichtete Bezugs- und filmt sie von oben (Abb. 4). Die way of memory or anticipation.« 3 in der Collage immer wieder auf, mal punkte: Auf innere Zustände verweisen Kamera bewegt sie in unterschiedlichen In »Opps (Tools of Power)« liegen hän- beim Kopfsprung, mal beim Schwimmen Bilder von menschlichen Eingeweiden. Geschwindigkeiten horizontal vor und disch ausgeschnittene Bilder auf einem oder Kraulen, stehend von verschiedenen Demgegenüber sind Fotografien von zurück und zoomt in ihre Versuchsanord- rot eingefärbten, stark vergrößerten Milli- Seiten und mehrfach im Porträt mit unter- Donald Trump, mal allein, mal mit seinen nung hinein und aus ihr heraus. Über die meterpapier, das die Zusammenstellung schiedlichen Gesichtsausdrücken. Bei Geschwistern, ein Anti-Trump-Graffiti so- Kamerabewegung verschieben sich die strukturiert und einen scheinbaren Maß- der Schwimmerin handelt es sich um ein wie eine Schlagzeile der »New York Times« räumlichen und inhaltlichen Konstellatio- 20 21
und Dingen. Versammelt hat sie dazu als lebendige Person zu erkennen gibt. (Abb. 5), »Hands« (Abb. 6) und »Tabacco Frauendarstellungen von vorwiegend Die verschiedenen Realitäten der stillen Silk 1« (Abb. 7) kurz zu beruhigen. In männlichen Künstlern wie Leonardo und bewegten Bilder treten an diesen »Fawn (Protection from Predators)« be- da Vinci, René Magritte, Man Ray, Stellen in einen vielschichtigen Dialog. gegnet uns ein Rehkitz, das sich durch die Salvador Dalí, Paul Cezanne, Constantin Neben diesen zwei Werken enthält Farbe und Struktur seines Fells im Wald Brancusi und Pablo Picasso. Ergänzt wer- Sara Cwynars Zusammenstellung für die tarnen kann. Es steht für den Rückzug den diese durch gefundene und private Kunststiftung DZ BANK fotografische Col- in die Natur und den Versuch, dort den Fotografien, Alltagsgegenstände und aus lagen, die als Gegenbewegungen zu der überbordenden Bildern und Nachrichten der Mode gekommene Designobjekte. Fülle an visuellen Eindrücken zu verstehen zu entkommen. Dass dies nicht gelingt, Auf das Vergehen von Zeit verweisen sind. Der Bilderstrom scheint sich in den vermitteln fragmentarische Bildelemente, Uhren, zerbrochene Tassen ebenso wie stilllebenartigen Aufnahmen »Red Rose« die bis in die Natur vordringen. In zwei das Nebeneinander eines Festnetztelefons mit Wählscheibe und eines Werbefotos für brandneue Smartphones. Ein Bild von Donald Trump verortet die Arbeit zudem in der politischen Gegenwart der späten 2010er Jahre. An manchen Stellen bricht diese Ver- suchsanordnung auf und es öffnen sich Abb. 5 neue, scheinbar endlose Welten hinter den Sara Cwynar, Red Rose II, 2020, aus der Serie: Marilyn Bildern. Die Kameraperspektive springt Digitaler chromogener Abzug auf PE-Papier, von fotografischen Bildern zu filmischen Blatt: 76,2 x 61 cm Aufnahmen des jeweils gleichen Motivs: Beim Heranzoomen auf ein Studiofoto wird plötzlich das Posieren des Models als bewegte Filmsequenz sichtbar. An einer anderen Stelle probiert die Künstlerin selbst typische Gesichtsausdrücke der Modebranche aus. Von einer Fotografie des Kolosseums wechselt das Bild zu einer nen der Bilder und Objekte ungleichmäßig Filmaufnahme mit Passanten vor Ort; in in verschiedene Richtungen – als Sinnbild einer anderen Filmsequenz hantiert eine für die unstete Aufmerksamkeit im digita- Arbeiterin mit Strumpfhosen in einer len Raum. Je nach Perspektive gehen Fabrik. Eine weitere Form von Unterbre- die versammelten Gegenstände zeitweise chung findet statt, wenn die Künstlerin visuelle Verbindungen ein, ergänzen, in ihren Versuchsaufbau eingreift, wenn verdecken und kontrastieren einander. sie auf einzelne Bilder zeigt oder diese Inhaltlich befragt Sara Cwynar mit zurechtrückt. Oder wenn sie unter den Abb. 6 Abb. 7 Sara Cwynar, Hands, 2019/2020 Sara Cwynar, Tobacco Silk 1 (Ceramic Art), 2020, »Scroll 1« die sich wandelnden Vorstellun- Plexiglasscheiben liegend direkt in die Digitaler Pigmentdruck, aus der Serie: Tobacco Silk gen und Wertschätzungen von Körpern Kamera schaut und sich durch Zwinkern Blatt: 133,4 x 108 cm Digitaler Pigmentdruck, Blatt: 76,2 x 61 cm 22 23
weiteren Arbeiten – »Sahara from Ssense they are seeing, what happens in the with Swimmers from TurboSquid« und brain, when the mind can’t figure out »Sahara from Ssense.com (As Young as what the eye is seeing and the viewer is You Feel)« – wird das Bildmodel schließlich trying to situate herself in the space.« 4 selbstständig. Das Model des kanadischen Luxus-Onlinehändlers Ssense probiert in- Fotografische Handlungsräume mitten einer skulpturalen Installation aus ausschöpfen – Sophie Thun Bildfragmenten verschiedene Rollenmuster wie Kleider an und bewegt sich dabei Mit der Arbeit von Sophie Thun geraten souverän zwischen den ideologischen Aufnahme- und Abbildungsmöglichkeiten Frauendarstellungen. des Mediums Fotografie in den Blick. Die Konstruktion ihrer Bilder setzt Sara Während Sara Cwynar einen Blick nach Cwynar in ihren Arbeiten als produktive außen, auf die uns aktuell umgebende Strategie ein. So glättet sie die Materialität Bilderwelt richtet, sich Bilder aneignet und ihrer analogen und digitalen Werkzeuge sich zu diesen in Beziehung setzt, interes- nicht, sondern stellt sie eigens heraus. Die siert sich Sophie Thun für Eingriffe in den Schnittkanten der Abbildungen sind ein fotografischen Prozess und bringt dafür ebenso wichtiger Bestandteil wie die Navi- ihren eigenen Körper ins Spiel: »Ich lege gationstools der digitalen Medien oder die in die Bildproduktion eingeschriebenen das Verwackeln einer Kameraaufnahme. Orte, Mechanismen und Performances Einzelne Bildelemente wiederholt sie in offen und untersuche die Konstruktion der unterschiedlichen Konstellationen und Identität, indem ich die Konstruktion des Größen immer wieder. Papierne Studio- Bildes untersuche.« 5 Sie erzeugt span- hintergründe knittern, sind teilweise zer- nungsreiche, teilweise irritierende Bezüge rissen. Die verwendeten Plexiglasscheiben zwischen Körper und Raum und deren reflektieren Licht und haben feine Kratzer. fotografischem Abbild. Damit fordert sie Unsichtbares Hilfsmaterial aus dem Studio ihr Medium heraus und reflektiert zugleich wie Stative, Lampen, Klammern, Schnüre ihre Rolle als Künstlerin. und Klebebänder integriert Sara Cwynar Sophie Thuns neue Arbeit »All Things in ihre Installationen (Abb. 1). Mit Hilfe in My Apartment Smaller Than 8 x 10“« des Programms Photoshop verschiebt sie begann mit einer Entscheidung von per- schließlich subtil Farben und Bildebenen, sönlicher und technischer Tragweite. Aus- um die analog angelegten Tromp-l’œil- nahmslos alle Gegenstände, die sich in Effekte und den Dialog der Bildelemente ihrer Wiener Privatwohnung befinden und zu verstärken. Mit solchen visuellen die auf ein 8 x 10 Inches bzw. 20,3 x 25,4 Abb. 8 Bruchlinien destabilisiert sie unsere Wahr- Zentimeter großes Großformatnegativ Sophie Thun, All Things in My nehmung und stellt das Betrachten selbst passen, sollten Teil des Werkes werden. Apartment Smaller Than 8 × 10“, als aktive Tätigkeit heraus: »I am very Das bedeutet einerseits einen radikalen 2020 (Detail) Fotogramm, Silbergelatine-Abzug interested in trying to trick the viewer, in Einblick in die Privatsphäre der Künstlerin, auf Barytpapier, making them question what they think andererseits stellen sich vielschichtige Blatt: je 40 x 30 cm 24
tung, die Dunkelkammer. Sophie Thun herstellung, bei der die Objekte zunächst durch sich wiederum Rückschlüsse auf entwickelt ihre Bilder ausschließlich analog auf ein Negativ gelegt und von oben mit- ihre Lebensumstände und ihre Wohnung und kann dadurch den gesamten Prozess hilfe eines Vergrößerers belichtet und an- ziehen lassen. der Bildproduktion eigenständig durch- schließend entwickelt werden. In einem An diese Beobachtungen anknüpfend führen, kontrollieren und in diesen inter- zweiten Schritt kehrt Sophie Thun das lässt sich fragen, ob dieses Selbstporträt venieren. In ihren Arbeiten »Double Negativ schließlich über eine Kontaktkopie als eine zeitgenössische Form der fotogra- Release« und »After Hours« tritt sie etwa in ein Positiv um und fixiert dabei die fischen Dokumentation der persönlichen in beiden Räumen in das Bild ein – vor Negativblätter mit den Händen, so dass Lebensumstände einer jungen Künstlerin die Kamera bei der Aufnahme und vor auf dem Fotopapier weiße Schatten ihrer zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstan- den Vergrößerer bei der Belichtung des Hände zu sehen sind. Wortwörtlich hat den werden kann. In der Befragung von Fotopapiers – und erzeugt so mehrfach die Künstlerin die Repräsentation ihrer »All Things in My Apartment Smaller Than verschachtelte Bilder (vgl. Covermotiv). Gegenstände somit »in der Hand« und 8 × 10“« aus der Perspektive der Fotogra- In ihrer neuen Arbeit verlegt sie die Bild- markiert ihre Rolle als Bildproduzentin. fie treten darüber hinaus die Eigenheiten Abb. 9 produktion komplett in die Dunkelkammer Rund 500 Gegenstände sind in »All des fotografischen Abbildcharakters her- Sophie Thun, All Things in My Apartment Smaller Than 8 × 10“, 2020 (Detail) und wird so nur über ihre Hände sichtbar Things in My Apartment Smaller Than vor. Sophie Thuns Aufnahmen erinnern Fotogramm, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, (Abb. 2, 8–10). 8 × 10« abgebildet. Kategorisieren lassen an das, was Georges Didi-Huberman zum Blatt: 40 x 30 cm Mit ihrer Arbeit »All Things in My sich diese nach ihrem räumlichen Bezug: Abdruck als einer »Form der Kritik an Apartment Smaller Than 8 × 10“« richtet Dinge, die sich am Körper der Künstlerin der klassischen Repräsentation« schreibt. sie den Blick auf die sie umgebenden befinden (Brille, Ringe, Haargummis) Anders als die Tendenz der Abstraktion, Gegenstände, also auf das, was ihren (Abb. 9), Dinge aus ihren Taschen (Telefon, »sich radikal vom dargestellten Gegen- Alltag prägt, und erstellt auf diese Weise Schlüssel, Geldbörse), Dinge an verschie- Fragen an das Medium. Sie knüpft damit ein indirektes Selbstporträt. Im Gespräch denen Orten in ihrer Wohnung (Bad, zugleich an die langen Traditionen der erzählt die Künstlerin, dass dies ihre bis- Küchenschrank, Regal, Schublade) und Selbstdarstellung und der Stillleben-Foto- lang persönlichste Arbeit sei, obwohl sie Dinge ohne konkreten Ort (Fahrradlicht, Abb. 10 grafie an und fügt diesen eine eigene in vorherigen Bildern vollständig als USB-Stick, Stifte). Sophie Thun, All Things in My Apartment Variante hinzu, die zunächst visuell ana- Person und teilweise nackt zu sehen war. Befragen lassen sich die Gegenstände Smaller Than 8 × 10“, 2020 (Detail) chronistisch erscheint und sich dennoch in Jeder ihrer Gegenstände wird auf einem auch im Hinblick auf die Persönlichkeit Fotogramm, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, Blatt: 40 x 30 cm der Gegenwart verorten lässt. Abzug wiedergegeben, alle erhalten gleich der Künstlerin. Erkennbar wird unter In vielen ihrer bisherigen Werke be- viel Bildraum, unabhängig von Größe und anderem, dass sie gerne Romane liest treibt Sophie Thun ein ernsthaftes visuel- Bedeutung. Vor den Aufnahmen entschied und dies in drei Sprachen (Polnisch, les Spiel in den Handlungsräumen der sie, dass jedes Objekt im Verhältnis eins Englisch und Deutsch) (Abb. 8). Kleine Fotografie. Ihr Körper und die in den zu eins abgebildet werden soll. Damit ver- Tierfiguren zeugen von Aufenthalten fotografischen Prozess involvierten Räume bunden ist die Frage, was »eins zu eins« in Afrika, Privatfotos von ihrer Familie sind Teil ihres visuellen Experiments. in der fotografischen Abbildung von drei- und ein Selbstporträt der Renaissance- »Räume« meint in diesem Fall nicht nur dimensionalen Gegenständen bedeutet Malerin Sofonisba Anguissola von ihrem den Ort der Aufnahme – Thun fotografiert und wie dies fotografisch zu realisieren ist. Interesse an historischen Selbstdarstellun- u. a. in Museums- und Galerieräumen Sophie Thun entschied sich für die Kon- gen von Frauen. Insgesamt wird deutlich, sowie im öffentlichen Raum und in Hotel- taktkopie von einem Negativ-Fotogramm dass sich in Sophie Thuns Privaträumen zimmern. Zu dem Aktionsradius der Künst- der Gegenstände als Technik. Es ist eine vergleichbar wenige Gegenstände bis lerin gehört auch der Ort der Ausbelich- Entscheidung für eine mehrstufige Bild- zur Größe 8 x 10 Inches befinden, wo- 26 27
stand, vom ›Realen‹ abzuwenden, wendet vor allem davon ab, ob uns das visuelle die damit verbundenen Veränderungen Imaginierten Landschaften der Abdruck sich ihm radikal zu« 6. Die Antlitz eines Gegenstands vertraut ist. unseres Lebensalltags (Abb. 10). begegnen – Talisa Lallai fotogrammatische Abbildung hinterlässt Bei anderen Gegenständen findet eine Die Autorin Orit Gat erweitert die Vor- auf dem Fotopapier keine physische visuelle Verschiebung statt, etwa wenn stellung von Zeitlichkeit in Bezug auf die Die Arbeit »Autosole« nimmt ihren Aus- Spur. Mit Kratzern in den Negativen oder Farben der Buchcover durch die Reduktion Arbeiten Sophie Thuns wie folgt: »Wo fan- gang bei der Künstlerin selbst. Wie Sophie Fingerabdrücken schreibt sich eher der auf Schwarz-Weiß in abweichenden gen Fotografien an? Fangen Thuns Bilder Thun verfolgt auch Talisa Lallai eine Herstellungsprozess als der Gegenstand Helligkeitswerten wiedergegeben werden dort an, wo sie entstehen? Wo sie gezeigt persönliche Perspektive auf ihren Bild- selbst in das Bild ein. Wie bei einem Ab- oder, wie im Fall von Postkarten oder werden? Mir gefällt der Gedanke, dass gegenstand. Dieser führt bei Talisa Lallai druck findet bei einem Fotogramm jedoch Fotografien, sich Vorder- und Rückseite sie ihren Anfang im Körper der Künstlerin weg von dem direkten Umfeld und ist ein direkter Kontakt zwischen Gegenstand überlagern. Manche Gegenstände wider- nehmen und im Verhältnis, das sie zwi- stattdessen auf die Auseinandersetzung und Bildträger statt, der in einer solchen setzen sich einer klaren Abbildung da- schen diesem und dem Raum skizziert.« 8 mit einer Kulturlandschaft gerichtet, absoluten Nähe über die Kameraoptik durch, dass sie während der Belichtung Der Akt des Fotografierens wird diesem mit der sie familiär eng verbunden ist. unmöglich ist. Didi-Huberman beschreibt wegrollen oder vibrieren. In Aufnahmen Ansatz zufolge zum vielschichtigen Bild- Die Künstlerin ist als Tochter süditalieni- eine solche Zuwendung als »so radikal, von leuchtenden Gegenständen, wie prozess, der der Vorstellung vom Einfan- scher Eltern in Deutschland geboren daß er [der Abdruck] in der Berührung etwa der des Mobiltelefons Sophie Thuns gen eines entscheidenden Augenblicks und mit einer romantisch-idyllischen jede optische ›angemessene Distanz‹, oder ihres Fahrradlichts, wird wiederum entgegensteht. In Bezug auf die hier ge- Vorstellung von Italien aufgewachsen. jede Konvention oder Evidenz der Sicht- die Aufzeichnung gestört und es zeigt zeigte Arbeit wäre der Anfang der Bilder Ein ambivalentes Heimatgefühl sowie barkeit, der Erkennbarkeit, der Lesbarkeit sich die besondere Beziehung zwischen vermutlich in der Wohnung der Künstlerin die beständige verklärte Sehnsucht subvertiert« 7. Fotografie und Licht. Das Eigenlicht zu verorten: Aufgenommen wurden die nach dem imaginären Süden prägten »All Things in My Apartment Smaller dieser Gegenstände und das Licht des Gegenstände, die sich zu diesem Zeit- Talisa Lallai so sehr, dass sie sich bereits Than 8 × 10“« setzt auch die Arbeitsmittel Vergrößerers gehen hier eine spannungs- punkt der Bildproduktion von Ende April in mehreren Arbeiten mit Vorstellungen der Künstlerin ins Bild. Innerhalb der Serie reiche Liaison ein. bis Anfang Juni 2020 in Thuns Wohnung und Klischeebildern des Südens befinden sich Gegenstände, die Sophie Das prozesshafte Entstehen der Auf- befanden. Auf Einladung der Wiener beschäftigt hat. Viele verbinden mit Thun für ihre Arbeiten verwendet, wie die nahmen ruft die Frage hervor, welche Secession errichtete Thun ihren Arbeits- diesem sogenannten Süden ein ent- Kameras (Großformat, Mittelformat und Zeitlichkeit den Bildern Sophie Thuns inne- raum im Museum und verlegte ihre Dun- spanntes Lebensgefühl, gutes Essen und Kleinbild), weiteres fotografisches Equip- wohnt. Einzeln betrachtet wirken viele kelkammerarbeit in den Ausstellungsraum. sonnige Tage. Unwillkürlich entstehen ment (Fernauslöser, Objektiv, Belichtungs- Gegenstände zeitlos. Manche verweisen Aufgrund der Pandemie war das Museum in unseren Köpfen Bilder von idyllischen messer, Negativkassette, Kleinbildfilm) auf die Vergangenheit, das sind insbeson- geschlossen. Um die Bildproduktion den- Landschaften und pittoresker Archi- und Labormaterial (Fadenzähler, Film- dere Fotografien, Trauer- oder Postkarten, noch sichtbar zu machen, installierte tektur. In einem solchen träumerischen wechseltasche). Die Eigenheiten der foto- andere verorten die Arbeit explizit in der Thun eine permanent laufende Webcam. Schwelgen vergessen wir am liebsten grammatischen Abbildung zeigen sich zu- Gegenwart von 2020. Postalische Neu- Zeit und Ort der Bildproduktion und einer die andere Seite des geografischen dem in den unterschiedlichen Reaktionen jahrsgrüße benennen etwa das Jahr der ersten, ausschnitthaften Präsentation Südens, die wirtschaftlichen und des Negativs sowie des Fotopapiers auf Entstehung von »All Things in My Apart- fielen zusammen und schrieben sich in die gesell-schaftspolitischen Krisen und die die Gegenstände. Gläser erscheinen auf- ment Smaller Than 8 × 10“« und kleine Werkgenese ein. Ihre finale Präsentations- »Gastarbeiter« und Geflüchteten. Mit grund ihrer Transparenz im Bild fast foto- Karten von C/O Berlin laden zu drei paral- form findet die Arbeit »All Things in My sprechenden Titeln wie »Time is the realistisch. Lichtundurchlässige Dinge lelen Ausstellungen im Frühjahr des glei- Apartment Smaller Than 8 × 10“« zum Longest Distance«, »Terra Incognita«, sehen aus wie tiefschwarze Schatten. chen Jahres ein – eine davon zu »Extensi- Zeitpunkt ihrer Ausstellung in der Kunst- »Disappear Here« und »Post-Tropical« Anhand ihrer Umrisse lässt sich nur on« von Sophie Thun. Ein Mund-Nasen- stiftung DZ BANK, bei der im Nebenein- gehen Talisa Lallais vorherige Projekte erahnen, um was es sich genau handeln Schutz aus Stoff erinnert an die Pandemie, ander der Einzelbilder die Werkgruppe der Frage nach, was diese Sehnsucht könnte. Das Erkennen der Objekte hängt die Anfang 2020 Europa erreichte, und an erstmals als Ganzes sichtbar wird. nach der gedanklichen Flucht ausmacht. 28 29
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