FRAUEN* STREIK! ANALYSEN - ZUR FEMINISIERUNG VON ARBEITSKÄMPFEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Seite wird erstellt Lars Scholl
 
WEITER LESEN
ANALYSEN

GESELLSCHAFT

FRAUEN*­
STREIK!
ZUR FEMINISIERUNG VON ARBEITSKÄMPFEN

INGRID ARTUS
INHALT

Einleitung                                                           2

1 Frauen* und Streiks – historisch gesehen                           3
1.1 Streikende Frauen*                                               3
1.2 Patriarchale Rollenzuweisung: Streiken ist Männer*sache          5
1.3 Das Streikverhalten von Frauen* in der Geschichte                6
1.4 Lohnarbeiterinnen historisch in der Defensive                    8

2 Feminisierung von Streiks                                          10
2.1 Erfolgreiche Frauen*streiks                                      10
2.2 Gründe für die Feminisierung von Streiks                         12

3 Streiken Frauen* anders? Einige Thesen zur politischen Einordnung
feminisierter Streiks                                                15
3.1 Neue Streikkultur                                                15
3.2 Neue Streikinhalte                                               17
3.3 Neue Streikstrategien                                            18
3.4 Folgen für die Gewerkschaften                                    20
3.5 Folgen für die Frauen* – und die Gesellschaft                    21

Literatur                                                            23
2   EINLEITUNG1

    Die These einer «Feminisierung von           Zunächst geht es um einen historischen
    Streiks» ist relativ neu, zumindest in der   Blick auf «Frauen* und Streiks», auch
    deutschsprachigen Wissenschaft. «Fe­         wenn das Forschungsdefizit hier groß
    minisierung» meint in diesem Zusam­          ist (s. Abschnitt 1). Anschließend wird
    menhang, dass nicht nur die Anzahl der       die aktuelle Situation beschrieben (s. Ab­
    streikenden Frauen*2 zugenommen hat,         schnitt 2) und in einem dritten Schritt
    sondern dass sich dadurch auch die           (s. Abschnitt 3) die Frage gestellt, was es
    Streikkultur verändert hat, die historisch   bedeutet, wenn Frauen* stärker als frü­
    gesehen stark männlich* dominiert war.       her in das Arbeitskampfgeschehen in­
    Zwar haben viele Studien sowohl die Ver­     volviert sind. Ist das überhaupt relevant,
    lagerung des Arbeitskampfgeschehens          wenn jetzt vermehrt Frauen* streiken –
    in den Dienstleistungsbereich, also die      und wenn ja, warum? Wie lässt sich das
    Tertiarisierung von Streiks, als auch die    einordnen? Was folgt daraus?
    Feminisierung von Erwerbsarbeit the­
    matisiert, aber eher selten wurden diese
    beiden Phänomene bisher zusammen­
    gedacht, das heißt als die «Verweibli­
    chung» von Arbeitskämpfen betrachtet.
    Auf internationaler Ebene steht die Femi­
    nisierung von Streiks durchaus im Ram­
    penlicht, etwa wenn es um rebellische
    Wanderarbeiterinnen in China oder Ge­
    werkschaftskämpfe in asiatischen Tex­
    tilfabriken geht. Für und in Deutschland
    war hiervon bislang eher sporadisch die
    Rede (vgl. Bewernitz/Dribbusch 2014;
    Artus/Pflüger 2017; Tügel 2017).
    Im Folgenden sollen die Hintergründe         1 Der folgende Text basiert auf einem Vortrag, den die Autorin
    und Inhalte des relativ jungen Phäno­        am 14. September 2018 im Rahmen der «Linken Woche der
                                                 Zukunft» in Berlin gehalten hat. Für zahlreiche wertvolle Kom­
    mens feminisierter Arbeitskämpfe er­         mentare und Hinweise danke ich Florian Wilde, Fanny Zeise
    örtert werden. Dass das hier nur kurso­      sowie der Lektorin Karolin Nedelmann. 2 Die Schreibweise
                                                 Frauen* oder auch männlich* soll darauf hinweisen, dass die
    risch geschehen kann, versteht sich von      geschlechtliche Zuordnung im Text als Ergebnis eines sozialen
                                                 Prozesses (im Sinne von Gender) und nicht als Ausdruck von
    selbst, denn die Frage nach «Frauen* und     Biologie zu verstehen ist. Zudem ist eine Relativierung der du­
    Streiks» berührt den Kern unserer ka­        alen Geschlechterordnung intendiert, das heißt, es sollen auch
                                                 all jene Menschen angesprochen werden, die sich nicht klar ei­
    pitalistischen und patriarchalen Gesell­     nem der beiden sozial üblichen Geschlechter zuordnen. Wenn
    schaftsordnung. Weder die Geschichte         in diesem Text zudem relativ häufig von Frauen* (sowie manch­
                                                 mal auch von Männern*) im Kollektiv die Rede ist, so impliziert
    von Arbeit, Erwerbsarbeit und Arbeits­       dies freilich nicht die These, dass alle Menschen, die sozial
                                                 dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden, sich in glei­
    kämpfen noch die der Frauen* und ih­         chen oder ähnlichen Lebenslagen befinden. Allerdings sind sie
    rer Emanzipation kann in diesem Rah­         alle von bestimmten Stereotypen und Rollenerwartungen be­
                                                 troffen, die konkrete Auswirkungen auf ihre sozialstrukturelle
    men nachgezeichnet werden. Vielmehr          Verortung haben. Daher macht es meines Erachtens nach wie
    dient das Folgende einer ersten Orien­       vor Sinn, von Frauen* als einer – in bestimmter Hinsicht – ein­
                                                 heitlichen Sozialstrukturkategorie und – zumindest potenziell
    tierung. Die Gliederung ist recht einfach:   und situativ – auch von einem kollektiven Subjekt zu sprechen.
1 FRAUEN* UND STREIKS – HISTORISCH GESEHEN                                                3

 1.1 Streikende Frauen*                      grundsätzliche Auseinandersetzung zwi­
 Seit es Arbeitskämpfe gibt, waren Frau­     schen Kapital und Arbeit empfunden und
 en* immer auch an ihnen beteiligt oder      erhielt – von beiden Seiten – reichswei­
 standen sogar im Zentrum des Gesche­        te Unterstützung. Der Centralverband
 hens (vgl. Notz 1994). Hierfür gibt es      Deutscher Industrieller stilisierte den
 zahlreiche Beispiele, von denen im Fol­     Konflikt gar zum Kampf «der gesamten
 genden stellvertretend nur einige kurz      deutschen Sozialdemokratie gegen die
 genannt werden sollen:                      gesamte deutsche Arbeitgeberschaft
 Am bekanntesten (ja fast schon my­          um die Machtfrage, um die Frage, ob
 thisch) ist der «Weberaufstand» 1844 in     der Arbeitgeber Herr in seiner Werkstät­
 Schlesien, der mehrheitlich von heimar­     te sein soll oder die Sozialdemokratische
 beitenden Weberinnen getragen wurde.        Organisation» (Centralverband Deut­
 Etwa 50 Jahre später, 1893, fand einer      scher Industrieller 1903, zit. n. Ullmann
 der ersten großen Arbeiterinnenstreiks      1981: 194). Letztlich entschied die Ar­
 in Österreich statt: Der Arbeitskampf       beitsmarktlage den Streik zu Unguns­
 der Appreturarbeiterinnen in drei Wie­      ten der Textilarbeiter*innen. Als immer
 ner Textilbetrieben erregte zur dama­       mehr Arbeitswillige «von außen» nach
 ligen Zeit großes Aufsehen. Und auch        Crimmitschau kamen, riefen die Vorsit­
der berühmte «Crimmitschauer Streik          zenden der beteiligten Gewerkschaften
 der Textil­arbeiter» vom August 1903 bis    im Januar 1904 dazu auf, den Streik er­
­Januar 1904 war eigentlich ein Streik der   gebnislos zu beenden – übrigens gegen
 Textilarbeiterinnen, denn 80 bis 90 Pro­    den Willen der Mehrheit der Streikenden.
 zent der Streikenden waren Frauen*. Ziel    Über 500 Streikende wurden nicht wie­
 des sächsischen Arbeitskampfs war es        der eingestellt und mussten die Region
 vor allem, die überlangen Arbeitszeiten     verlassen. Der Streik der Crimmitschauer
 von elf auf zehn Stunden täglich zu redu­   Textilarbeiter*innen war einer der härtes­
zieren. Die zentrale Kampfparole lautete:    ten Kämpfe seiner Zeit und ist als Symbol
«Eine Stunde für uns! Eine Stunde für un­    für überregionale hartnäckige Solidari­
sere Familie! Eine Stunde fürs Leben!»       tät unter schwierigsten Bedingungen in
Von dem Streik und den darauffolgenden       die Geschichte eingegangen. Fünf Jahre
Aussperrungsmaßnahmen waren rund             später wurde der Maximalarbeitstag, das
8.000 Arbeiter*innen betroffen. Der Aus­     heißt die maximale Arbeitszeit pro Tag,
fall des in Sachsen produzierten Garns       der gewerblichen Arbeiterinnen in Sach­
machte sich nach dem monatelangen            sen auf zehn Stunden herabgesetzt (vgl.
Ausstand in der gesamten deutschen           Notz 1994: 25).
Textilindustrie bemerkbar. Die Behörden      Es gibt in der Geschichte viele Beispiele
gingen hart gegen Streikposten vor und       dafür, dass kollektive Aktionen von Frau­
verhängten sogar «den kleinen Belage­        en* entscheidend für revolutionäre Ver­
rungszustand» über Crimmitschau. So­         änderungen waren. Das Muster ließe
wohl auf gewerkschaftlicher als auch auf     sich möglicherweise gar generalisierend
unternehmerischer Seite wurde der aus­       auf den Nenner bringen: Immer dann,
gesprochen verbissene Arbeitskampf als       wenn sich die Frauen* in die politischen
4   Ereignisse eingemischt haben, wurde es      en* setzten nach drei Wochen Streik er­
    gefährlich für die herrschende Ordnung.     folgreich die Angleichung der Frauen*-
    Dies gilt für die Französische Revoluti­    an die Männer*löhne durch und initiierten
    on von 1789, für die Pariser Commune        eine Bewegung für den «Equal Pay Act»,
    1871 ebenso wie für die Februarrevolu­      die gesetzliche Festschreibung der Norm
    tion 1917 in Russland: Ein Demonstra­       geschlechtsspezifisch gleicher Bezah­
    tionszug von rund 6.000 Frauen* aus         lung (vgl. Cohen 2012; Stevenson 2016).
    Pariser Arbeitervierteln nach Versailles    Als ein Beispiel für die vielen «wilden»
    zwang am 5. Oktober 1789 den franzö­        Streiks in den 1970er Jahren in Deutsch­
    sischen König dazu, nach Paris umzuzie­     land, an denen Migrant*innen großen
    hen, und leitete damit den weiteren re­     Anteil hatten (Birke 2007; Matziaria
    volutionären Umsturz ein. Als Auslöser      2012), sei hier der Streik der Arbeiterin­
    für die Pariser Commune am 18. März         nen bei der Firma Pierburg in Neuss ge­
    1871 gilt gemeinhin, dass eine Gruppe       nannt. Beim Auto- und Luftfahrtgeräte­
    von Frauen* im Morgengrauen – schon         bauer Pierburg standen im August 1973
    früh auf den Beinen, um Lebensmittel für    alle Fließbänder der Vergaserfabrik still,
    die Familien aufzutreiben – den Abtrans­    weil 2.000 Arbeiterinnen streikten – «al­
    port von in der Stadt verbliebenen Kano­    len voran 900 Griechinnen, 500 Türkin­
    nen verhinderten. Und auch in Russland      nen, 200 Italienerinnen, Spanierinnen
    waren es Demonstrationen und Streiks        und Jugoslawinnen – für eine Stunden­
    von Frauen* im Kontext des Internationa­    lohnerhöhung um eine Mark und für die
    len Frauen*kampftags am 8. März 1917        sofortige Streichung der sogenannten
    (nach dem julianischen Kalender der         Leichtlohngruppe 2» (Braeg 2012: 15).
    23. Februar), die zunächst die sogenann­    Nach nur fünf Streiktagen führte vor al­
    te Februarrevolution auslösten und dann     lem die Angst der Unternehmer, der
    zur Oktoberrevolution führten.              Streik könne in den umliegenden Betrie­
    Last but not least, sind einige Beispiele   ben Schule machen, zu deutlichen Lohn­
    der vielen Frauen*streiks zu nennen, die    erhöhungen. Wesentlich länger streikten
    im Kontext der neuen Frauen*bewegung        im Jahr 1975 die Frauen* bei C.I.P., ei­
    der 1960er und 1970er Jahre stattfanden:    ner Textilfabrik im ländlichen Nordfrank­
    Ein Streik von etwa 3.000 Arbeiter*innen    reich. Fast drei Jahre lang besetzten die
    in der Rüstungsfabrik «Fabrique Natio­      rund 120 Frauen* (und ein Mann*) «ih­
    nale d’Armes de Guerre» im belgischen       ren» Betrieb, der geschlossen werden
    Herstal (Tügel 2017: 41) war einer der      sollte. Als «eines der natürlichen und le­
    ersten von vielen europaweit folgenden      gitimen Kinder von Lip» (Borzeix/Maruani
    Streiks, in denen Frauen* gegen ihre Min­   1982: 31; Übers. I. A.) – jener legendären
    derbezahlung und für «gleichen Lohn für     Uhrenfabrik in Besançon, die 1973 von
    gleiche Arbeit» kämpften. Besonders be­     den Arbeiter*innen im Kampf um ihre Ar­
    kannt ist etwa der Streik der Näherinnen    beitsplätze besetzt worden war – fabri­
    in der Ford-Fabrik im Londoner Vorort Da­   zierte die Belegschaft von C.I.P. jahrelang
    genham 1968, der 2010 durch den Spiel­      in Eigenregie Hemden. Ihr Kampf war
    film «Made in Dagenham» in Deutsch­         letztlich erfolgreich. Eine Möbelfabrik
    land unter dem unpassenden Titel «We        übernahm die Firma, um dort Sessel- und
    want Sex» populär wurde. Die Ford-Frau­     Sofabezüge  produzieren zu lassen – das
politische Bewusstsein der Belegschaft       schen beteiligten sich am 8. März 2017       5
hatte sich durch den jahrelangen Kampf       in 120 Städten und Gemeinden. Es han­
nachhaltig verändert.                        delte sich um die größte Mobilisierung
In den genannten Kämpfen agierten            von Frauen* in der Geschichte Spaniens.
Frauen* als Akteur*innen im Bereich          Diese wurde vor allem von autonomen
bezahlter Lohnarbeit, um – «genau wie        Frauen*netzwerken getragen, während
Männer*» – ihre Interessen solidarisch       die Gewerkschaften – ähnlich wie bei
und vertretungsstark durchzusetzen. Et­      den früheren Frauen*streiks – eine eher
was anders und besonders akzentuiert         ambivalente Rolle einnahmen oder sich
sind hingegen Auseinandersetzungen, in       zum Teil sogar distanzierten (Coppens/
denen Frauen* als Frauen ihre Interessen     Nichols 2018).
und Lebenslagen zum Thema machen.            Es wird also deutlich: Selbstverständlich
Die kollektive Identität des «Frau-Seins»    haben Frauen* «immer schon» gestreikt.
wird hier zum Interpretationsrahmen und      Sie waren und sind kämpferisch und so­
Sprengsatz politischer Kämpfe. Dies ge­      lidarisch. Ein ganz anderes Bild zeichnen
schieht zum Beispiel in Streik- und Pro­     kulturelle Repräsentationen vom Verhält­
testaktionen rund um den Internatio­         nis zwischen Frauen* und Arbeitskämp­
nalen Frauen*kampftag, aber auch in          fen.
politischen Frauen*streiks. Bestreikt wer­
den dabei – den weiblichen* Lebenssitu­      1.2 Patriarchale Rollenzuweisung:
ationen entsprechend – meist nicht nur       Streiken ist Männer*sache
bezahlte, sondern auch unbezahlte Tätig­     Im kollektiven Gedächtnis ist die Ge­
keiten im Bereich feminisierter Haus- und    schichte von Arbeitskämpfen – etwa in
Familienarbeit, manchmal auch die Sex­       der Frühphase des Kapitalismus – stark
arbeit, oder es wird gar zum Gebärstreik     männlich* geprägt. Illustrieren lässt sich
aufgerufen (so z. B. gegen die bevor­        dies anhand vieler zeitgenössischer kul­
mundende Sexual- und Bevölkerungs­           tureller Repräsentationen. Ein gutes
politik in der Weimarer Republik). Ein       Beispiel ist etwa das berühmte Gemäl­
berühmtes Beispiel ist der erste landes­     de «Der Streik» von Robert Koehler, das
weite Frauen*streik 1975 in Island. Et­      1886 auf der Frühjahrsausstellung der
wa 90 Prozent der weiblichen* Bevölke­       National Academy of Design in New
rung Islands verweigerten einen Tag lang     York – im Kontext einer landesweiten
die Arbeit und legten damit das gesam­       Streikwelle – für Furore sorgte. Es avan­
te Land lahm. 1991 folgten die Schwei­       cierte in der Folgezeit zu einer Ikone der
zerinnen diesem Vorbild und 1994 wur­        Arbeiterbewegung. Das Bild zeigt eine
de zum ersten Frauen*StreikTag in            aufgebrachte Menschenmenge, die sich
Deutschland aufgerufen (vgl. Paulus          vor den Stufen eines Herrenhauses ver­
2008; Scharf 2012). Auch wenn die Ak­        sammelt hat. Im Hintergrund sind die
tionen in der Schweiz und Deutschland        rauchenden Schlote von Fabriken zu se­
eher symbolischen Charakter hatten, üb­      hen; im Vordergrund liefert sich ein Ka­
ten sie eine wichtige Mobilisierungswir­     pitalist – in Frack und Zylinder oben auf
kung aus. 2017 wurde diese Tradition         der Eingangstreppe stehend – ein Wort­
in fulminanter Weise in Spanien fortge­      gefecht mit einem Arbeiterführer am Fu­
setzt: Mindestens fünf Millionen Men­        ße der Treppe. Die Menschenmenge um
6   ihn herum scheint heftig zu diskutieren;      französischen Bergbau beschreibt. Auch
    es herrscht Tumult; ein Arbeiter vorne        hier sind die Protagonisten (v. a. der Sozi­
    rechts im Bild greift nach einem Stein.       alist Étienne Lantier) und die aktiv kämp­
    Neben den zahlreichen aufgebrachten           fenden Arbeiter männlich*; zum bekann­
    Arbeitern sind auf dem Bild vereinzelt        ten geschlechtsspezifischen Rollenset
    ein paar Jungs*, ein Mädchen* und drei        kommen allerdings noch junge Frauen*
    Frauen* zu sehen. Die Frauen* tragen          als ungelernte und schlecht bezahlte Ar­
    keine Arbeitermontur, sondern frauenty­       beiterinnen hinzu, die ihr Schicksal in der
    pische Kleidung, und gehören also offen­      Regel demütig hinnehmen – sowie ver­
    bar nicht zu den Streikenden. Vorne links     einzelte Mütter, die den Kampf für eine
    im Bild, abseits der Menge, steht eine        bessere (nämlich sozialistische) Zukunft
    Frau* mit einem Baby auf dem Arm. Dicht       ihrer Kinder unterstützen.
    an sie drängt sich ein kleines Mädchen*,      Summa summarum: Die Frauen* stehen
    das verängstigt den Ereignissen zusieht.      meist hemmend und passiv, nur manch­
    Rechts hinter der Treppe redet eine Frau*     mal solidarisch am Rand des Gesche­
    eindringlich auf einen Mann* ein, der mit     hens, wenn die Männer* streiken. Sie
    verschränkten Armen und von ihr abge­         werden als die Mahnerinnen, als das mo­
    wandtem Blick sich unbeeindruckt von          ralische Gewissen, als die Leidenden ge­
    ihren Worten zeigt. Vorn in der Bildmitte     zeichnet – während die Männer* agieren,
    ist sehr prominent die dritte Frau* zu se­    den Klassenfeind bekämpfen und die Zu­
    hen. Auch sie ist im Gespräch mit einem       kunft in die Hand nehmen.
    Mann*, den sie zu beschwören scheint,         Das war und ist freilich männliche* Ge­
    er möge doch bitte nicht mitstreiken. Der     schichtsschreibung. Dass jedoch die pa­
    Mann* hat den Betrachter*innen den Rü­        triarchal organisierte Gesellschaft das
    cken zugewandt und streckt in einer ver­      Streikverhalten von Frauen* auch in der
    zweifelten Geste beide Arme von sich,         Geschichte tatsächlich geprägt hat, zei­
    als wolle er sagen: Tut mir leid. Ich kann    gen historische Analysen.
    nicht anders. Alle weiblichen* Figuren
    auf diesem Bild sind als Leidende darge­      1.3 Das Streikverhalten von Frauen*
    stellt. Die Frauen* scheinen ihre Männer*     in der Geschichte
    anzuflehen, doch weiterhin für sie und        Streikende Frauen* sind kaum erforscht.
    die Kinder zu sorgen. Sie sind nicht in den   Er besteht ein erhebliches Forschungsde­
    Konflikt zwischen dem Kapitalisten und        fizit. Das ist nicht zuletzt auch darauf zu­
    den Arbeitern involviert, sondern schei­      rückzuführen, dass es – abgesehen von
    nen die Kampfeskraft der Männer* eher         Fotos – häufig keine geschlechtsspezi­
    zu lähmen als zu unterstützen. Das klas­      fisch sensiblen Dokumente gibt: In vielen
    sische Stereotyp der «unsolidarischen         historischen Zeugnissen ist zum Beispiel
    Frau» und Streikbrecherin (Robak 1994)        schlicht von «Arbeitern» die Rede, sodass
    ist hier prominent in Szene gesetzt.          vollkommen unklar bleibt, ob es sich hier­
    Ganz ähnliche weibliche Rollenzuwei­          bei nur um Männer* oder eben doch auch
    sungen finden sich zum Beispiel auch in       um Frauen* handelt (vgl. Thuns 2018: 55).
    dem berühmten Roman «Germinal» von            Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es ein­
    Émile Zola, der 1885 erschienen ist und       zelne Untersuchungen dazu, wie Frauen*
    die Arbeitsverhältnisse und -kämpfe im        in der Geschichte gestreikt haben. Her­
vorzuheben sind in diesem Zusammen­             Kampf gegen Letzteres – wie im Fall von        7
hang zwei Studien, eine aus Frankreich,         Crimmitschau – häufig damit begründet
die andere aus den USA: Michelle Perrot         wurde, dass bei zu langen Arbeitszeiten
(1974) und Ileen A. ­DeVault (2004; 2006)       frau den familiären Pflichten nicht mehr
haben – jeweils bezogen auf «ihren» na­         adäquat nachkommen könne. Eher sel­
tionalen Kontext – eine große Zahl von          ten handelte es sich um offensive Streiks,
Streiks im 19. und zu Beginn des 20. Jahr­      aber häufig waren die Arbeitskämpfe be­
hunderts unter einer geschlechtsspezi­          sonders lebendig und phantasievoll. «Im
fischen Perspektive analysiert. In ihren        grauen Leben dieser Frauen nimmt der
Ergebnissen sind sich die beiden Studi­         Streik häufig die Gestalt einer Flucht, ei­
en überraschend ähnlich: Beide arbeiten         nes Festes an» (ebd.: 127, Übers. I. A.).
typische Unterschiede im geschlechts­           Oft hatten die Frauen* extrem große Pro­
spezifischen Organisations- und Arbeits­        bleme, sich mit ihren Revolten durchzu­
kampfverhalten heraus.                          setzen. Mann «nimmt sie nicht ernst»
Perrot beschreibt, dass die «grèves femi­       (ebd.: 125, Übers. I. A.). Viele Unterneh­
nines» (d. h. dominant von Frauen* ge­          mer weigerten sich, überhaupt mit strei­
führte und geprägte Streiks) (Perrot 1974)      kenden Frauen* zu reden. Verhandlungen
eher kurz waren und geringe Teilneh­            «auf Augenhöhe» kamen nicht infrage.
merinnenzahl hatten, oft spontan ent­           Dies lag auch daran, dass die Moral von
standen sind und sich häufig auf einen          Lohnarbeiter*innen ohnehin in Zweifel
einzelnen Betrieb konzentrierten. Der Ton       gezogen wurde. Als «Fabrikmädchen»
der Streikenden war moderat, sie «pro­          waren sie grundsätzlich dem Vorwurf
testieren eher, als dass sie fordern» (ebd.:    mangelhafter Sittlichkeit und ganz kon­
122, Übers. I. A.). Sie appellierten an die     kret den sexuellen Übergriffen von Vor­
Güte und Einsicht der Geschäftsführer           gesetzen und Patrons ausgesetzt. Wenn
und schrieben höfliche und respektvolle         subalterne «Fabrikmädchen» es dann
Bittbriefe. Die Kirche spielte eine diszipli­   wagten, den Dienst zu verweigern, wur­
nierende Rolle und sorgte dafür, dass sich      de dieses Verhalten als doppelt verwerf­
die Ansicht, Streiken beflecke die «Ehre        lich und unverschämt bewertet. Es wider­
der Frau», verbreitete und festsetzte. Typi­    sprach eklatant den vermeintlich «guten
sche «Frauenthemen», zu denen gestreikt         Sitten», weil es nicht nur die herrschende
wurde, kann Perrot nicht erkennen (ebd.:        kapitalistische, sondern auch patriarcha­
123, Übers. I. A.) – außer vielleicht die Ab­   le Ordnung bedrohte. So wurden Streik­
wehr von extremer Überausbeutung. Oft           führerinnen in der (männlich* dominier­
seien etwa Fälle von einseitigen Lohnre­        ten) Öffentlichkeit häufig dämonisiert, als
duktionen seitens des Managements, die          «leichtsinnig», «übermütig», «verrückt»
die Frauen* als unfaire Angriffe auf ihren      und/oder auch von («roten» und «anar­
ohnehin schon marginalisierten Status           chistischen») Männern* verführt darge­
empfanden und die zudem häufig eine             stellt (vgl. Perrot 1974: 125, Übers. I. A.,
existenzbedrohende Bedeutung hatten,            sowie beispielhaft die Lebensgeschichte
Auslöser für Streiks gewesen. Auch un­          der Lucie Baud, 1908, verfasst von Perrot
erträgliche, zum Teil sexistische Vorge­        2012).
setzte oder mehr als überlange Arbeits­         Es kann daher vielleicht als rationale
zeiten waren Streikgründe, wobei der            Strategie gelten, wenn – nach der Zäh­
8   lung von Perrot (1974) – etwa 90 Pro­          Rechtliche, ökonomische und moralische
    zent aller feminisierten Streiks nicht von     Diskriminierung bedingen und durchdrin­
    weiblichen*, sondern von männlichen*           gen sich hier wechselseitig. Dies gilt im
    Anführer*innen repräsentiert wurden. Bei       Grundsatz nach wie vor, war historisch
    Verhandlungen mit den Patrons waren            jedoch noch wesentlich gravierender
    die Männer* wieder unter sich. Die strei­      als heute: Frauen* verrichteten die so­
    kenden Frauen* akzeptierten und wähl­          genannte Reproduktionsarbeit3 und hat­
    ten Männer* zu ihren Anführern, weil           ten – juristisch wie moralisch – bis weit in
    Letztere ernster genommen wurden –             die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hi­
    sowohl von den Unternehmern als auch           nein kein Recht auf Erwerbsarbeit. In der
    in den damaligen (männer*dominierten)          Bundesrepublik wurde zum Beispiel das
    Gewerkschaften. Nicht immer zeigten            Gesetz, dass es Frauen* nur dann erlaubt
    sich die Gewerkschaften solidarisch, und       ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen,
    auch wenn sie es taten, war dies für die       wenn ihre Ehemänner* zustimmen, erst
    streikenden Frauen* häufig ein «zwei­          in den 1970er Jahren abgeschafft. Auch
    schneidiges Schwert» (DeVault 2004;            wenn Frauen* im Zuge der Industrialisie­
    2006): Zwar förderte gewerkschaftliche         rung zunehmend erwerbstätig waren,
    Unterstützung das Selbstbewusstsein            war und blieb ihre Stellung als Lohnarbei­
    der Frauen* und lieferte zusätzliche ma­       terin* eigentlich eine illegitime. Die pat­
    terielle wie immaterielle Ressourcen.          riarchale Ideologie wies den Frauen* per
    Gleichzeitig veränderten sich mit der So­      «Geschlechtscharakter» (Hausen 1976)
    lidarisierung von männlichen* Arbeitern        ihren Platz in Heim und Familie zu – wenn
    und der Integration in allgemeinere ge­        nicht zur Überlebenssicherung unter pro­
    werkschaftliche Agenden jedoch nicht           letarischen (und z. T. auch unter bürgerli­
    selten die ursprünglichen Inhalte der          chen) Bedingungen der Verkauf ihrer Ar­
    Frauen*kämpfe – zugunsten eher männ­           beitskraft erforderlich war.
    licher* Interessen (DeVault 2004).             Die Illegitimität weiblicher* Lohnarbeit
                                                   wurde (und wird) zudem durch die fami­
    1.4 Lohnarbeiterinnen historisch               liäre und gesellschaftliche Disziplinierung
    in der Defensive                               als Frauen* durch Männer* – also etwa
    Ein weiteres Ergebnis, zu dem sowohl           durch Väter, Ehemänner*, Brüder, Poli­
    DeVault als auch Perrot kommt, ist,
    dass Frauen* an den Arbeitskämpfen im          3 Der Begriff der Reproduktionsarbeit bezieht sich auf mensch­
                                                   liche Tätigkeiten, die nicht als Lohnarbeit bzw. als bezahlte Ar­
    19. und 20. Jahrhundert zahlenmäßig            beiten verrichtet werden und die dem Erhalt und der Wieder­
                                                   herstellung der menschlichen Arbeitskraft dienen. Mit dieser
    eher unterdurchschnittlich beteiligt wa­       Begrifflichkeit geht in der marxistischen Tradition häufig eine
    ren. Auch wenn wir aufgrund des For­           gewisse Abwertung dieser Arbeiten einher, die auf die Annah­
                                                   me zurückzuführen ist, es handele sich bei Reproduktionsarbeit
    schungsdefizits nicht mit Gewissheit sa­       um «unproduktive» Arbeit, die zwar Gebrauchswerte, aber we­
                                                   der Tauschwerte noch Mehrwert produziere. Nicht selten wurde
    gen können, ob das stimmt, gibt es gute        sie zugleich als private, nicht von den Zwängen kapitalistischer
    Gründe dafür, anzunehmen, dass Lohnar­         Ausbeutung und Profitlogik geprägte Arbeit idealisiert. Dieser
                                                   Tradition soll hier freilich nicht gefolgt, sondern die Notwendig­
    beiterinnen im Bereich der Arbeitskämp­        keit eines umfassenden Arbeitsbegriffs betont werden, der alle
    fe historisch in der Defensive waren.          menschlichen Tätigkeiten in kreativer Auseinandersetzung mit
                                                   der Natur umfasst, egal ob bezahlt oder unbezahlt (vgl. hierzu
    An erster Stelle ist hier sicherlich die be­   u. a. Notz 2014). Marxistisch inspirierte Traditionen des sozia­
                                                   listischen Feminismus bemühen sich seit Langem um einen
    grenzte Integration von Frauen* in die         solchen integrierten Arbeitsbegriff (vgl. zu neueren Debatten
    Sphäre bezahlter Arbeit zu nennen.             etwa www.zeitschrift-luxemburg.de/das-ganze-der-arbeit/).
zisten, Pfarrer oder Vorgesetzte – perma­     Politisches Engagement von Frauen*           9
nent hergestellt und stabilisiert. Ein Auf­   war lange Zeit aber sowieso verboten
begehren von Frauen* im Bereich der           (z. B. durch das Preußische Vereinsge­
Lohnarbeit war insofern doppelt illegitim     setz bis 1908). In vielen Gewerkschaf­
und gefährdet(e) nicht nur die kapitalisti­   ten waren Frauen* als Mitglieder zu­
schen, sondern auch die geschlechtsspe­       nächst gar nicht zugelassen. So nahm
zifischen Hierarchien. Deshalb erforderte     etwa die Gewerkschaft der Buchdrucker
(und erfordert) es besonderen Mut, sich       erst nach dem Ersten Weltkrieg auch Ar­
mit Vorgesetzten «anzulegen», die nicht       beiterinnen auf (Robak 1994; vgl. auch
nur klassen-, sondern auch geschlechts­       Losseff-Tillmanns 1978). Denn viele Ge­
spezifisch eine höhere Stellung einnah­       werkschaften bekämpften die Erwerbs­
men (und einnehmen) als Frauen*. Rechte       arbeit von Frauen* explizit oder betrach­
einzufordern war (und ist) für die Frauen*    teten sie als notwendiges Übel. Noch
umso schwerer, als ihre geschlechtstypi­      1872 wurde auf dem Erfurter Gewerk­
sche Erziehung eher auf Demut, Duldung        schaftskongress beschlossen, «gegen
und Friedfertigkeit ausgerichtet war (und     alle Frauenarbeit in den Fabriken und
teils noch immer ist) (vgl. Mitscherlich      Werkstätten zu wirken und dieselbe ab­
1985). Für Rebellion und Widerstand wur­      zuschaffen» (Lion 1926: 30, zit. n. Robak
den (und werden) sie in ihrer Sozialisation   1994). Es dauerte lange, bis sich in der
eher unzureichend vorbereitet.                internationalen Arbeiterbewegung allge­
Auch die Vorstellung, dass die weibli­        mein die Auffassung durchsetzte, dass
che* Arbeitskraft weniger wert sei als        Frauen*lohnarbeit nicht als «Lohndrü­
die männliche*, zieht sich wie ein roter      ckerei» zu bekämpfen sei, sondern dass
Faden durch die Geschichte: Was wol­          eine solidarische Organisierung beiden
len Frauen* schon fordern, wenn sie oh­       Geschlechtern nützt.
nehin nur einen Zuverdienst leisten und       Die Gründe dafür, weshalb sich Frauen*
eine Arbeitskraft anbieten können, die        als Lohnarbeiterinnen historisch in der
sozusagen per Geschlecht weniger Ge­          Defensive befanden, sind also zahlreich
wicht hat und mit weniger Kompetenz           und betreffen unterschiedliche Ebenen,
und Entscheidungsgewalt ausgestattet          die stark ineinandergreifen. Eine alte
ist? Was sind da die Verhandlungsmas­         Boxerweisheit besagt: Zum Zuschlagen
se und das Druckpotenzial? Diese Ab­          brauchst du ein paar feste Meter zum
wertung schlug sich auch im Zugang von        Stehen. Oder anders: Wenn Frauen*
Frauen* zur Bildung nieder und schuf da­      keine Rechte besitzen und nur geringe
mit die materiellen Voraussetzungen da­       Ressourcen – zeitlich, materiell, qualifi­
für, dass Frauen* in der Regel geringer       katorisch, moralisch und auch hinsicht­
qualifiziert waren. Deshalb arbeiteten sie    lich der verfügbaren Energie –, dann ist
häufig als Un- und Angelernte, waren da­      es schwer, sich zu wehren oder gar an­
mit leicht austauschbar und (etwa im Fall     zugreifen. Historisch kann deshalb da­
von Arbeitskämpfen) eventuell auch ver­       von gesprochen werden, dass Arbeits­
zichtbar. Zudem arbeiteten (und arbeiten)     kampfe männlich* geprägt waren. Um so
sie häufig vereinzelt – etwa als Dienstbo­    größer ist die Bedeutung, die der zuneh­
tinnen oder Hausangestellte –, was eine       menden Feminisierung von Streiks in der
Organisierung deutlich erschwert.             Gegenwart zukommt.
10   2 FEMINISIERUNG VON STREIKS

     2.1 Erfolgreiche Frauen*streiks               rechtlich überhaupt arbeitskampffähig
     Die Anzahl der Frauen*streiks hat in den      zu werden, erwies sich dieses Thema
     letzten Jahren in Deutschland zugenom­        als extrem mobilisierungsfähig, weil es
     men. Weibliche* Beschäftigte vertreten        unmittelbar an die besondere berufliche
     ihre Interessen nicht nur häufiger, son­      Belastungssituation von Erzieher*innen
     dern zunehmend auch sehr kämpfe­              anschließt. Ziel beider Streiks war aber
     risch – sowohl in den Arbeitskämpfen          letztlich die nachhaltige Aufwertung von
     selbst als auch in der Öffentlichkeit. Her­   Erziehungsarbeit – sowohl in materieller
     vorzuheben sind insbesondere die Streiks      als auch in symbolischer Hinsicht. Expli­
     im Reinigungsbereich, im Einzelhandel,        zit wurde hier die Angleichung des Werts
     im Erziehungsbereich und in der Pflege:       von Frauen*arbeit an Männer*arbeit ge­
     2009 sorgte der Streik der Putzfrauen* für    fordert – sowie bessere Arbeits- und Sor­
     viel Aufmerksamkeit, die Tarifrunde war       gebedingungen (vgl. hierzu diverse Bei­
     erfolgreich. Schwieriger und langwie­         träge in Artus et al. 2017). Unter dem
     riger waren die Auseinandersetzungen          Motto «Mehr von uns ist besser für alle»
     im Einzelhandel in den Tarifrunden 2009       waren auch die Kämpfe in den Kranken­
     und 2013. Der Streik der – überwiegend        häusern äußerst erfolgreich und medien­
     weiblichen* – Verkäufer*innen war eher        wirksam – mit der Berliner Klinik Charité
     defensiv geprägt. Es ging im Grunde um        als Flaggschiff. Inzwischen machen die
     die Verhinderung tariflicher Verschlechte­    Krankenschwestern (und wenigen -pfle­
     rungen und die Aufrechterhaltung eines        ger) bundesweit für eine bessere Perso­
     Mindestniveaus an Tarifbindung. Obwohl        nalausstattung und Pflege mobil – nicht
     die Verhandlungen zäh und die Streik­         nur in Berlin, sondern auch im Saarland,
     bedingungen äußerst prekär waren, er­         in Bayern, in Baden-Württemberg und
     wiesen sich die Streikenden bei einer         in den Universitätskliniken in Düsseldorf
     Vielzahl von eher kleinen Streik­aktionen     und Essen.
     als extrem hartnäckig und entwickelten        Statistisch ist das Phänomen der Femi­
     punktuell eine erhebliche Kampfkraft,         nisierung von Streiks bislang allerdings
     die zu partiellen Erfolgen führte. Medial     nur sehr schwer zu fassen. Denn zu der
     ausgesprochen viel Aufmerksamkeit er­         Schwierigkeit, Streiks und Streikende
     regte der Arbeitskampf im Bereich der         überhaupt zu zählen (Dribbusch 2018),
     Sozial-  und Erziehungsdienste (S&E),         tritt das fast vollständige Fehlen von Er­
     auch bekannt unter dem Namen «Kita-­          hebungen zum Geschlecht von Strei­
     Streiks»: Auf den ersten S&E-Streik 2009      kenden. Bisher haben Informationen zu
     mit rollierenden Streiktagen folgte 2015      diesem Thema offenbar weder die Wis­
     ein vierwöchiger Vollstreik in fast allen     senschaft noch die Gewerkschaften be­
     Bundesländern. War das Thema Ge­              sonders interessiert. Eine erfreuliche
     sundheitsschutz anfänglich eher als ta­       Ausnahme stellt die geschlechtsspezifi­
     rifpolitischer Hebel benutzt worden, um       sche Streikstatistik von ver.di dar:
Abbildung 1: Streikteilnehmer*innen im Bereich von ver.di nach Geschlecht                                              11
2000–2015 (in Prozent-Anteil an allen Streikenden)
80

70

60

50

40

30

20

10

 0
     2000   2001   2002   2003   2004   2005   2006   2007    2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014   2015
                                                                                     Männeranteil       Frauenanteil
Quelle: eigene Darstellung nach Dieckhoff (2013: 33);
für die Jahre 2013, 2014 und 2015 ergänzt durch Heiner Dribbusch

Obwohl die Mitgliedschaft von ver.di zu                       Ergänzende Informationen zum Ge­
rund 50 Prozent weiblich* ist, zeigt die                      schlecht der Streikenden in ­a nderen
Abbildung deutlich, dass Männer* bei                          Branchen, insbesondere im ­Bereich
gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen im                          der IG Metall, die quantitativ ­einen
Organisationsbereich von ver.di (nach                        ­relativ hohen Anteil am gesamten deut­
wie vor) überrepräsentiert sind. Ausnah­                     schen Streikgeschehen haben, wä­
men stellen die Jahre 2001 und 2002,                         ren freilich wünschenswert. Bedenkt
2009, 2013 und das – für seine außeror­                      man jedoch, dass ein Großteil der
dentlich hohe Streikaktivität fast schon                     Frauen*erwerbstätigkeit ohnehin im
«berühmte» – Jahr 2015 dar (vgl. Artus                       Dienstleistungsbereich stattfindet (und
2017). Während 2001 und 2002 die Ar­                         der Frauen*anteil unter den Mitgliedern
beitskampftätigkeit insgesamt eher ge­                       der IG Metall bei etwa 18 Prozent liegt),
ring ausfiel und der Feminisierung von                       so ist die obige Statistik sicherlich ausrei­
Streiks in diesen Jahren daher wenig                         chend als Grundlage für die Feststellung:
(quantitative) Bedeutung zuzumessen                          Auch heute noch ist von mehrheitlich
ist, gehen die hohen Anteile weiblicher*                     männlich* dominierten Arbeitskämp­
Streikender in den Folgejahren vor allem                     fen in Deutschland auszugehen. Dies
auf die oben erwähnten Arbeitskämpfe                         hat sicherlich mit den institutionellen Or­
im Einzelhandel (2009 und 2013), in den                      ganisationsbedingungen von Streiks in
Sozial- und Erziehungsdiensten (2009                         Deutschland zu tun: Angesichts eines
und 2015) sowie im Gesundheitsbereich                        schwachen Streikrechts, das den Ge­
(2015 u. a.) zurück.                                         werkschaften ein Monopol auf legale Ar­
12   beitskämpfe zuspricht, wird das Streik­       sich auch die Arbeitskämpfe und Streiks
     verhalten sehr stark von den Politik- und     ein Stück weit in diese wachsenden
     Tarifstrategien der Gewerkschaften ge­        Branchen verschieben. Und Dienstleis­
     prägt – und vergleichsweise weniger           tungsarbeit ist von jeher ein relativ stark
     von spontanem Protest, Unzufrieden­           feminisierter Bereich.
     heit oder auch vom (vermeintlich ge­          Die Tertiarisierung der Wirtschaft – und
     schlechtstypischen) Arbeitskampfwillen        das ist ein weiterer, vielleicht sogar der
     und von der «Kampfkraft» der Beschäf­         zentrale Grund für die Feminisierung
     tigten. Dem Streikgeschehen liegen al­        von Streiks – ist verknüpft mit und par­
     so auch Entscheidungen zugrunde, die          tiell auch induziert vom starken Anstieg
     in überwiegend männlich* besetzten            der Frauen*erwerbstätigkeit. Lag die
     Gewerkschaftsgremien getroffen wer­           Frauen*erwerbstätigenquote, das heißt
     den und auf der Einschätzung beruhen,         der Anteil der Erwerbstätigen an allen
     dass Tarifforderungen eher in männlich*       (erwerbsfähigen) Frauen* (zwischen 15
     geprägten Branchen durchsetzbar seien         und 64 Jahren), in den 1960er Jahren
     und dass ein Konflikt eher in maskulini­      in Westdeutschland noch unter 50 Pro­
     sierten* Berufsbereichen gewagt werden        zent, ist sie zwischen 2007 und 2017 von
     könne, sodass Streikgelder eher für die       66,7 Prozent auf 75,2 Prozent deutlich
     Wahrung und verbesserte Durchsetzung          gestiegen (Destatis 2018a). Damit liegt
     von Interessen in männlich* dominierten       sie zwar immer noch etwas unter der
     Branchen eingesetzt werden.4                  Männer*erwerbstätigenquote (83 Pro­
     Trotz dieser Ausgangssituation ist eine       zent), aber Deutschland liegt diesbezüg­
     Zunahme von Streikaktivitäten in femi­        lich in Europa mittlerweile (nach Schwe­
     nisierten Berufsbereichen zu beobach­         den und Litauen) an dritter Stelle.
     ten. So hat zum Beispiel ver.di im Fall der   Diese Entwicklungen sind aus feminis­
     S&E-Streiks im Vertrauen auf die Mobi­        tischer Sicht gleichzeitig als gut und als
     lisierungsfähigkeit der Erzieher*innen        schlecht zu bewerten: Sie sind gut, weil
     einen durchaus kostspieligen Vollstreik       die Hürden für die  Integration von Frau­
     riskiert und eine offensive Auseinander­      en* in die Erwerbsarbeit offenbar zu­
     setzung, die vor allem von Frauen* ge­        nehmend sinken. Zugang zu Lohnarbeit
     tragen wurde, strategisch geplant und         bedeutet in unseren kapitalistischen Ge­
     durchgeführt.                                 sellschaften Autonomie für Frauen*, die
                                                   damit ihr eigenes Geld verdienen, ein un­
     2.2 Gründe für die Feminisierung              abhängiges Leben führen können, sozi­
     von Streiks                                   al abgesichert sind und Anerkennung er­
     Die Veränderung, die sich hier abzeich­       fahren. Auch wenn Marx und Engels so
     net, ist zunächst einmal – relativ banal –    schön formuliert haben, «produktiver Ar­
     im Zusammenhang mit dem wirtschaft­           beiter» zu sein, sei «kein Glück, sondern
     lichen Strukturwandel zu sehen, das           ein Pech» (Marx 1890/1984: 532), so
     heißt mit der Verlagerung von Beschäf­        ringen Frauen* aktuell immer noch dar­
     tigung vom Produktions- in den Dienst­        um, dieses «Pech» der Männer* teilen zu
     leistungsbereich (Tertiarisierung): Wenn
     mehr Menschen im Dienstleistungsbe­           4 Dies bedeutet allerdings nicht, dass weibliche Gewerk­
                                                   schaftskader notwendigerweise eine nachhaltige Feminisie­
     reich arbeiten, erscheint es logisch, dass    rung der Arbeitskämpfe vorantreiben würden.
können. Frauen* wollen ihre Arbeitskraft      nahme der Frauen*erwerbstätigkeit ist         13
nicht (nur) unbezahlt im Heim, am Herd        also einerseits Ausdruck von Emanzipa­
und im Ehrenamt verausgaben, sondern          tion und besserem Zugang zum Arbeits­
wenigstens einen Lohn dafür erhalten –        markt, andererseits stellt sie aber auch
auch wenn dieser noch immer 21 Pro­           die Folge eines verschärften Zwangs zur
zent niedriger liegt als der der Männer*      Lohnarbeit dar.
und sie wesentlich häufiger als Teil des      Fest steht, dass sich Frauen* zunehmend
prekarisierten Teilzeitproletariats tätig     auf dem Arbeitsmarkt behaupten müs-
sind (Destatis 2018b: 42 ff.). Die massive    sen – und dass sie dies auch tun. Sie for­
Steigerung der Qualifikation von Frauen*      dern das Recht auf gleiche Bezahlung
und die mittlerweile sogar errungenen         und gleiche Anerkennung ihrer Arbeit ein
Bildungsvorteile der Mädchen* gegen­          und sind immer öfter bereit, diese Ziele
über den Jungs* spielen für den verbes­       auch konflikthaft durchzusetzen. Das
serten Zugang zum Arbeitsmarkt eine           hat auch viel mit Selbstbewusstsein zu
sehr große Rolle.                             tun – und dem Gefühl, legitime Forderun­
Auf der anderen Seite ist die Zunahme         gen stellen zu können. Dies sind die zen­
von Frauen*erwerbsarbeit aber auch auf        tralen Gründe für die Feminisierung von
den neoliberalen Umbau und Abbau des          Streiks.
Sozialstaats zurückzuführen, wodurch          Der bereits erwähnte neoliberale Abbau
sich die soziale Absicherung insbeson­        und Umbau des Sozialstaats spielte aber
dere von geschiedenen und alleinerzie­        noch in anderer Hinsicht eine Rolle für die
henden Frauen* deutlich verschlechtert        Ausweitung feminisierter Arbeitskämpfe.
hat: Mütter müssen – selbst bei alleiniger    Er führt nämlich dazu, dass sich die Ar­
Fürsorge für mehrere Kinder – dem Ar­         beits- und Entgeltbedingungen gerade in
beitsmarkt wieder zur Verfügung stehen,       vielen feminisierten Berufsbereichen er­
sobald der/die Kleinste drei Jahre alt ist.   heblich verschlechtert haben. Angespro­
Die Einführung der sogenannten Hartz-         chen ist hiermit vor allem der sogenannte
Gesetze hat nicht nur dazu geführt, dass      Care-Bereich, also der Gesundheitsbe­
Arbeitslosigkeit staatlich schlechter ab­     reich, die Altenpflege, die Kinderbetreu­
gesichert ist, sondern auch zu einem Ver­     ung und Erziehungsarbeit, all jene Berei­
fall der Reallöhne – insbesondere in den      che der allgemeinen Daseinsfürsorge,
unteren Segmenten des Arbeitsmarkts –,        die früher einmal fast ausschließlich von
sodass Frauen* und Männer* gleicher­          der öffentlichen Hand organisiert worden
maßen (ganz wie in der kapitalistischen       sind und nun Profit abwerfen sollen (vgl.
Frühphase der Industrialisierung) zum         Winker 2015). Im Zuge der Durchset­
Verkauf ihrer Arbeitskraft zu fast jeder      zung neoliberaler Prämissen haben diese
Bedingung gezwungen sind, vor allem           Wirtschaftssegmente in den letzten 20
wenn Kinder ernährt werden müssen.            bis 30 Jahren einen Prozess der Ökono­
Das Rollenmodell der Hausfrau war zwar        misierung und Privatisierung durchlau­
unter emanzipatorischen Aspekten stets        fen. Damit verknüpft waren die Zerschla­
eine Katastrophe; gegenwärtig ist es aber     gung von Unternehmensstrukturen und
auch deshalb weniger häufig anzutref­         das Outsourcing profitabler Geschäfts­
fen, weil es (wieder) zum unerschwing­        bereiche, Prozesse des Tarifdumpings
lichen Luxusmodell avanciert ist. Die Zu­     und der Tarifflucht, der Abbau von Per­
14   sonal und die extreme Verdichtung von         «Organisieren am Konflikt» (Kocsis et al.
     Arbeitsprozessen, die Verstärkung bü­         2013) heißen sowohl bei der IG Metall als
     rokratischer Kontrollmechanismen bei          auch bei ver.di die neuen Zauberworte,
     zugleich oft steigenden Arbeitsanfor­         um sich aus der gewerkschaftlichen De­
     derungen. Dies hat insgesamt zu einer         fensive zu befreien. Im Dienstleistungs­
     deutlichen Verschlechterung der Arbeits­      bereich stehen dabei insbesondere die
     bedingungen und zum Teil auch der er­         Sorgearbeiter*innen im Fokus, die sich
     brachten Dienstleistungen geführt. Typi­      in Kindertagesstätten und Krankenhäu­
     sche Frauen*berufe in der Erziehung und       sern als erstaunlich konfliktfähig und mo­
     Pflege sind also besonders stark von der      bilisierungsbereit gezeigt haben. Wenn
     Austeritätspolitik des Staates und ihren      mehrheitlich männlich* geprägte Berei­
     negativen Folgen betroffen.                   che (wie die Müllentsorgung oder der
     Zugleich stellt der Fachkräftemangel in       öffentliche Nahverkehr) sukzessive pri­
     den sozialen Berufen grundsätzlich ei­        vatisiert und/oder ausgegliedert werden,
     ne günstige Voraussetzung für Arbeits­        muss der Flächentarifvertrag im öffentli­
     kämpfe dar – ein Sachverhalt, der in an­      chen Dienst schließlich von irgendwem
     deren, besonders stark prekarisierten         verteidigt werden.
     und feminisierten Berufsbereichen (wie        Die Erosion des Flächentarifvertrags,
     dem Einzelhandel, dem Reinigungsbe­           aber auch neue Offensivstrategien der
     reich oder der Systemgastronomie) so          Arbeitgeberseite sind zudem dafür ver­
     nicht vorhanden ist. Dennoch festigt          antwortlich, dass sich aktuell die Schwer­
     und verbreitet sich auch in den letztge­      punktsetzungen und Formen gewerk­
     nannten Branchen offenbar die Über­           schaftlicher Arbeitskämpfe wandeln: Die
     zeugung, dass Widerstand notwendig            Zeiten, in denen Streiks vor allem als ri­
     ist, um angesichts von Outsourcing, Ta­       tualisierte Showkämpfe und Machtde­
     rifdumping und der systematischen und         monstrationen, sozusagen als «Begleit­
     professio­n ell geplanten Bekämpfung          musik» zu den alljährlichen Tarifrunden
     gewerkschaftlicher Interessenvertretun­       inszeniert wurden, sind zwar noch nicht
     gen (­Union Busting) nicht völlig unterzu­    völlig vorbei, hinzugekommen ist jedoch
     gehen. Dies hat sich nicht nur im Reini­      eine Kakophonie von neuen, oft sehr har­
     gungsbereich gezeigt, sondern auch in         ten Auseinandersetzungen in Branchen,
     erbitterten Kämpfen zum Beispiel bei dem      die bislang noch nicht oder wenig ge­
     Catering-Unternehmen gate gourmet             werkschaftlich erschlossen sind, in de­
     2005 (Flying Pickets 2007) oder der out­      nen Arbeitskämpfe eher ungewöhnlich
     gesourcten Service-Tochter der Charité        und daher oft schwierig sind, in denen
     CFM 2016/17 in Berlin.                        Menschen streiken, die dies noch nie
     Es ist also alles andere als zufällig, dass   vorher getan haben und möglicherwei­
     mehr oder weniger stark feminisierte          se noch nicht einmal Gewerkschafts­
     Beschäftigtensegmente aktuell von den         mitglied sind, und diese Menschen sind
     Gewerkschaften «entdeckt» werden, die         häufiger (als früher) weiblich*.
     nach dem radikalen Mitgliederschwund          Aber was bedeutet dieser Trend zur Femi­
     seit den 1990er Jahren aktuell um neue        nisierung von Streiks? Streiken Frauen*
     Zukunftsstrategien und -perspektiven          denn anders als Männer*? Was folgt da­
     ringen. «Organizing» (Wetzel 2013) bzw.       raus für Streikziele, Streikstrategien, für
die Gewerkschaften, für die gesellschaft­   an dieser Stelle nicht erschöpfend be­       15
lichen Geschlechterverhältnisse insge­      handelt werden kann. Trotzdem sollen im
samt und für die Frauen* selbst? Dies ist   Folgenden einige Thesen dazu formuliert
ein umfassendes Thema, das sicherlich       werden.

3 STREIKEN FRAUEN* ANDERS? EINIGE THESEN ZUR
POLITISCHEN EINORDNUNG FEMINISIERTER STREIKS

3.1 Neue Streikkultur                       schaftlich organisierte Kinderbetreuun­
Um es kurz zu machen: Ja. Frauen* strei­    gen geben, um Frauen* die Teilnahme
ken anders. Das hat freilich nichts mit     an Streikversammlungen und Demons­
Biologie oder biologistischen Argumen­      trationen zu ermöglichen. Häufiger ist
ten zu tun, sondern ergibt sich aus der     die Weitergabe der Care-Verpflichtun­
Tatsache, dass wir nach wie vor in einer    gen – ganz im Sinne von «Care Chains» –
Gesellschaft leben, die in vielerlei Hin­   an andere Frauen* (Omas, andere Müt­
sicht geschlechtsspezifisch strukturiert    ter, Nachbarinnen, Töchter), seltener an
ist. Folglich sind auch Streiks gegender­   männliche Bezugspersonen; oder die
te Phänomene. Das zeigt sich auf unter­     Kinder werden einfach mitgenommen
schiedlichen Ebenen.                        zur Aktion. Arbeitskämpfe sind immer
(1) Die gesellschaftliche Arbeitsteilung    Teil «des ganzen Lebens» der Kämpfen­
ist in Deutschland nach wie vor ge­         den – nicht nur des Erwerbsarbeitsle­
schlechtsspezifisch organisiert. Frauen*    bens. Solange sich daher der typische
übernehmen – trotz neuer Väterlichkeit –    Alltag von Frauen* von dem der Män­
nach wie vor den Löwinnenanteil an der      ner* unterscheidet, so lange werden sich
unbezahlten Haus- und Familienarbeit,       auch Streikpraxen unterscheiden.
der sogenannten Reproduktionsarbeit.        (2) Nach wie vor ist auch der Arbeits­
Das hat selbstverständlich Folgen für die   markt selbst in feminisierte und masku­
Ressourcen und auch für die konkreten       linisierte Berufsbereiche aufgeteilt (vgl.
Formen von Arbeitskämpfen. Wer neben        Hausmann/Kleinert 2014). Frauen* sind
der Erwerbsarbeit immer noch die Kinder     tendenziell in anderen Bereichen er­
und vielleicht auch die Schwiegermut­       werbstätig als Männer*. In diese Berei­
ter mitbetreuen muss, hat weniger Zeit      che fallen insbesondere jene bereits ge­
und Energie, um sich zu organisieren.       nannten, feminisierten Sorgeberufe, in
Aber auch die zeitliche Organisation von    denen viele aktuelle Arbeitskämpfe statt­
Streiks und die kollektiven Ausdruckfor­    finden. Aber gerade in diesen Berufen
men werden sich unterscheiden, wenn         herrschen auch spezifische Bedingun­
die Streikenden im Alltag permanent         gen für Arbeitskämpfe, die das Streiken
(auch) Reproduktionsarbeiten zu leis­       gar nicht so einfach machen (vgl. dazu
ten haben. Häufig bedarf es weiblicher*     insbesondere Punkt 5).
Netzwerke, um die Gleichzeitigkeit von      (3) All jene patriarchalen gesellschaftli­
Fürsorgearbeit und politischer Aktion zu    chen und familiären Hierarchien, die wei­
ermöglichen. Manchmal mag es gewerk­        ter oben bereits als bedeutsam für die
16    historischen Arbeitskämpfe beschrie­        orientierungen auszuhalten, dazu gehört
      ben worden sind, sind auch heute noch       viel Mut – privat wie beruflich.
     ­wirkmächtig: Schließlich haben es zum       (4) Nicht zu unterschätzen ist der Ein­
     Beispiel die Krankenschwestern nach          fluss, den das Gender-Stereotyp von der
     wie vor mit «Göttern in Weiß» zu tun,        friedfertigen, demütigen und opferberei­
     die das Aufbegehren der Untergebenen         ten Frau auf das politische Engagement
     als illegitime Anmaßung einstufen. Und       von Frauen* (noch immer) hat. Das soge­
     Frauen* haben immer noch Ehemän­             nannte Helfersyndrom als typisches Be­
     ner*, die sagen: «Wie? Du gehst heu­         rufsethos im Pflegebereich ist nicht gen­
     te Abend noch zur Streikversammlung?         derneutral und müsste deshalb eher als
     Wer macht mir denn dann die Pizza?»          Helferinnensyndrom bezeichnet werden.
     Die Frage, wie Arbeitskämpfe gender­         Positiv formuliert bildet die Ethik fürsorg­
     spezifisch in familiäre Beziehungen ein­     licher Praxis (Senghaas-Knobloch 2008),
     gelagert sind, wurde für stark maskulin      das heißt die professionelle Orientierung
     geprägte Streiks in der Vergangenheit        an den Bedürfnissen und am Wohlerge­
     wiederholt erforscht. Der Hinweis auf die    hen von hilfebedürftigen Klient*innen,
     wichtige Rolle solidarischer Ehefrauen*      freilich den Kern vieler Sorgetätigkeiten.
     etwa bei den Kohle- und Stahlarbeiter­       Die damit zum Teil einhergehende Zu­
     streiks fehlt in kaum einer Streikantho­     rückstellung eigener Bedürfnisse und
     logie. Umgekehrt gibt es aber kaum For­      Interessen und die Bereitschaft, betrieb­
     schungen zum Einfluss der Ehemänner*         liche Organisations- und Personalmän­
     auf streikende Ehefrauen*. Einschlägige      gel individuell zu kompensieren, gilt den­
     Erfahrungsberichte (z. B. Borzeix/Marua­     noch als eines der zentralen Hemmnisse
     ni 1982), Romane oder auch Biografien        bei der Entwicklung kämpferischer Inte­
     von Streikführerinnen (z. B. Perrot 2012)    ressenpolitik im Sorgebereich (vgl. z. B.
     weisen jedoch nachdrücklich auf die ho­      Nowak 2017; Zender 2014), das es bei
     he Relevanz familiärer Unterstützung für     der Formulierung gewerkschaftlicher
     streikende Frauen* hin. Manchmal ist die     Ziele und Strategien adäquat zu berück­
     Solidarität von (evtl. gewerkschaftlich      sichtigen gilt.
     selbst engagierten) Partnern und Kindern     (5) Auch das Phänomen, dass weibli­
     extrem stärkend. Nicht selten führt ein      che* Revolten nicht ernst genommen
     aufbrechendes politisches Engagement         werden – oder jedenfalls als unbedenk­
     von Frauen* aber auch dazu, dass tradi­      licher eingestuft werden als männlich*
     tionelle Beziehungsstrukturen infrage        geprägte Aufstände – ist nach wie vor zu
     gestellt oder sogar zerstört werden. Dies    beobachten. Dies lässt sich etwa anhand
     kann freilich auch ein Emanzipations­        von Diskursanalysen der deutlich unter­
     schritt sein: Ein in betrieblichen Kämpfen   schiedlichen Medienberichterstattung
     neu erworbenes Selbstbewusstsein von         über männliche* und weibliche* sozia­
     Frauen* lässt sie über traditionelle Rol­    le Proteste zeigen (z. B. Einwohner et al.
     lenmodelle «hinauswachsen». Die Kon­         2000). Die lustig-bunt streikende Erzie­
     flikte in der Erwerbssphäre sind daher oft   herin hat eine andere Außenwirkung und
     eng mit parallelen Krisen und Auseinan­      erfährt ein – geschlechtsspezifisch – an­
     dersetzungen im Privatleben verwoben.        deres Framing als der uniformierte Flug­
     Diese Kämpfe, Unsicherheiten und Neu­        kapitän oder Lokführer. Eigenschaften
Sie können auch lesen