Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen - Arbeitspapier 49 Grundlagenpapier

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Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen - Arbeitspapier 49 Grundlagenpapier
Januar 2020

    Arbeitspapier 49

    Förderung von Lebenskompetenzen
    bei älteren Menschen
    Grundlagenpapier
Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von Kantonen und Versicherern getragen wird.
 Mit gesetzlichem Auftrag initiiert, koordiniert und evaluiert sie Massnahmen zur Förderung der
 Gesundheit (Krankenversicherungsgesetz, Art. 19). Die Stiftung unterliegt der Kontrolle des Bundes.
 Oberstes Ent­scheidungsorgan ist der Stiftungsrat. Die Geschäftsstelle besteht aus Büros in Bern
 und Lausanne. Jede Person in der Schweiz leistet einen jährlichen Beitrag von CHF 4.80 zugunsten
 von Gesundheits­förderung Schweiz, der von den Krankenversicherern eingezogen wird.
 Weitere Informationen: www.gesundheitsfoerderung.ch

 In der Reihe «Gesundheitsförderung Schweiz Arbeitspapier» erscheinen von Gesundheitsförderung
 Schweiz erstellte oder in Auftrag gegebene Grundlagen, welche Fachleuten in der Umsetzung in
 Gesundheitsförderung und Prävention dienen. Der Inhalt der Arbeitspapiere unterliegt der redaktio-
 nellen Ver­antwortung der Autorinnen und Autoren. Gesundheitsförderung Schweiz Arbeitspapiere
 liegen in der Regel in elektronischer Form (PDF) vor.

Das Arbeitspapier 49 dient als Grundlagenpapier. Die Broschüre «Lebenskompetenzen und psychische
Gesundheit im Alter» basiert auf diesem Arbeitspapier und bietet eine praxisnahe Orientierungshilfe
für Projekt- und Programmleitende der kantonalen Aktionsprogramme.

Impressum
Herausgeberin
Gesundheitsförderung Schweiz
Autorinnen
– Dr. phil. Anne Eschen, Fachbereich Gerontopsychologie von GERONTOLOGIE CH
– Dr. phil. Franzisca Zehnder, Fachbereich Gerontopsychologie von GERONTOLOGIE CH
Mit bestem Dank für die wertvollen Hinweise im Prozess an die Leitung des Fachbereichs
Gerontopsychologie von GERONTOLOGIE CH
Projektleitung Gesundheitsförderung Schweiz
Cornelia Waser
Reihe und Nummer
Gesundheitsförderung Schweiz, Arbeitspapier 49
Zitierweise
Eschen, A. & Zehnder, F. (2019). Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen. Grundlagenpapier.
Arbeitspapier 49. Bern und Lausanne: Gesundheits­förderung Schweiz.
Redaktionelle Bearbeitung
Nina Jacobshagen
Fotonachweis Titelbild
© iStock
Auskünfte/Informationen
Gesundheitsförderung Schweiz, Wankdorfallee 5, CH-3014 Bern, Tel. +41 31 350 04 04,
office.bern@promotionsante.ch, www.gesundheitsfoerderung.ch
Originaltext
Deutsch
Bestellnummer
02.0305.DE 01.2020
Diese Publikation ist auch in französischer und in italienischer Sprache verfügbar
(Bestellnummern 02.0305.FR 01.2020 und 02.0305.IT 01.2020).
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www.gesundheitsfoerderung.ch/publikationen
© Gesundheitsförderung Schweiz, Januar 2020
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen    3

Inhaltsverzeichnis
Management Summary                                                                                          4

1 Einleitung                                                                                                5
  1.1	Lebenskompetenzen als Zielfelder für die Förderung der psychischen Gesundheit                        5
  1.2	Die Bedeutung von Lebenskompetenzen im Alter                                                         6

2	Interventionsmöglichkeiten zur Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen                      8
   2.1 Kommunikationsfähigkeiten                                                                            9
        2.1.1	Kommunikationsfähigkeiten und psychische Gesundheit im Alter                                 9
        2.1.2 Interventionen                                                                               10
   2.2 Emotionsregulation                                                                                  11
        2.2.1	Emotionsregulation und psychische Gesundheit im Alter                                       11
        2.2.2 Interventionen                                                                               14
   2.3 Selbstreflexion                                                                                     15
        2.3.1	Selbstreflexion und psychische Gesundheit im Alter                                          15
        2.3.2 Interventionen                                                                               16
   2.4 Soziale Kompetenzen                                                                                 17
        2.4.1	Soziale Kompetenzen und psychische Gesundheit im Alter                                      17
        2.4.2 Interventionen                                                                               18
   2.5 Stressbewältigung                                                                                   19
        2.5.1	Stressbewältigung und psychische Gesundheit im Alter                                        19
        2.5.2 Interventionen                                                                               21
   2.6	Entscheidungen treffen                                                                             23
        2.6.1	Entscheidungen treffen und psychische Gesundheit im Alter                                   23
        2.6.2 Interventionen                                                                               24

3 Durchführungsempfehlungen                                                                                25

4 Weiterführende Hinweise                                                                                  27

5 Literaturverzeichnis                                                                                     28
4   Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

Management Summary
Das Arbeitspapier 49 beschreibt die Bedeutsamkeit          tionsfähigkeiten, Emotionsregulation, Selbstrefle-
von Lebenskompetenzen für die psychische Gesund-           xion, soziale Kompetenzen, Stressbewältigung und
heit von Menschen im dritten (65 bis 80 Jahre) und         die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. In jedem
im vierten (+80 Jahre) Lebensalter. Es stellt Inter-       Kapitel definieren wir zunächst die behandelte
ventionsmöglichkeiten für die Stärkung von Lebens-         Lebenskompetenz. Anschliessend beschreiben wir,
kompetenzen bei dieser Bevölkerungsgruppe im               wie sie sich im dritten und vierten Lebensalter
kommunalen Rahmen vor. In der Einleitung werden            verändert und wie sich dies auf die psychische
Lebenskompetenzen definiert und ihre Wechsel-              Gesundheit auswirkt. In Boxen werden wichtige
wirkung mit anderen Faktoren, die ebenfalls die            Entwicklungstheorien, Fachbegriffe oder empiri-
psychische Gesundheit beeinflussen, erläutert, wie         sche Befunde genauer erklärt. Schliesslich stellen
Selbstwirksamkeit, soziale Unterstützung, Lebens-          wir Interventionsmöglichkeiten vor, mit denen jede
umfelder und soziodemografische Personeneigen-             Lebenskompetenz im dritten und vierten Lebens­
schaften. Daneben stellt das Arbeitspapier dar,            alter gestärkt werden kann. Wir führen konkrete
welche besonderen Herausforderungen und Belas-             Umsetzungsbeispiele für die Interventionsmöglich-
tungen im dritten und vierten Lebensalter durch            keiten aus der Praxis auf. Zuletzt werden Empfeh-
Lebenskompetenzen bewältigt werden müssen.                 lungen für die Durchführung (z. B. bezüglich Zeit,
Dabei weisen wir auf die grosse Unterschiedlichkeit        Räume und Gestaltung der Kursmaterialien) so­     -
von Alterungsprozessen und -umständen sowie das            wie für die Werbung von Teilnehmenden (Kanäle
hohe Anpassungspotenzial älterer Menschen hin.             und Inhalte) für die beschriebenen Interventionen
Die nächsten Kapitel widmen sich jeweils einer der         zur Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren
folgenden sechs Lebenskompetenzen: Kommunika-              Men­schen gegeben.
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen   5

1 Einleitung
Gesundheitsförderung Schweiz zeigt in ihrem Grund-      Die Entwicklung von Lebenskompetenzen über die
lagenbericht «Psychische Gesundheit über die Le-        Lebensspanne wird laut Grundlagenbericht «Psychi-
bensspanne» auf, wie wichtig es für den Erhalt der      sche Gesundheit über die Lebensspanne» (Blaser &
psychischen Gesundheit in jedem Lebensalter ist,        Amstad 2016) beeinflusst durch die Lebensum­
Lebenskompetenzen von Personen zu stärken               felder, in denen sich Personen bewegen. Soziale,
(Amstad & Blaser 2016). Lebenskompetenzen sind          strukturelle und gesellschaftliche Eigenschaften
Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es Menschen er-       des Umfeldes spielen dabei eine wichtige Rolle. An-
möglichen, Herausforderungen und Belastungen in         dererseits können Personen dank ihrer Lebens-
ihrem Alltag effektiv zu bewältigen (WHO 1997). Die-    kompetenzen auch die Eigenschaften ihres Umfel-
ses Arbeitspapier sensibilisiert für die Bedeutsam-     des mitgestalten. Interventionen zur Förderung von
keit von Lebenskompetenzen für die psychische           Lebenskompetenzen sollten daher nicht nur auf die
Gesundheit im dritten und vierten Lebensalter           Stärkung der Lebenskompetenzen an sich abzielen
(65 bis 80 Jahre bzw. 80+ Jahre). Es stellt Interven-   (Verhaltensmassnahmen), sondern auch auf die Ge-
tionsmöglichkeiten zur Stärkung von Lebenskom-          staltung von Lebenswelten, die diese Kompetenzen
petenzen bei älteren Menschen im kommunalen             fördern (Verhältnismassnahmen).
Rahmen vor. Umsetzungsbeispiele veranschaulichen        Die Entwicklung der Lebenskompetenzen über die
die Interventionsmöglichkeiten.                         Lebensspanne wird auch von soziodemografischen
                                                        Personeneigenschaften beeinflusst. Personen mit
                                                        niedrigem sozioökonomischem Status, geringer Bil-
1.1	Lebenskompetenzen als Zielfelder für               dung oder Migrationshintergrund sowie Frauen ha-
     die Förderung der psychischen Gesundheit           ben über ihr ganzes Leben hinweg weniger Zugang
                                                        zu Lebenskompetenzen fördernden Umfeldern. So-
Zu den Lebenskompetenzen zählen laut der Welt­          zial benachteiligte Gruppen können ihre Umfelder
gesundheitsorganisation (WHO 1997) Kommunika-           auch weniger in diese Richtung beeinflussen. Inter-
tionsfähigkeiten, Emotionsregulation, Selbstrefle­      ventionen zur Stärkung von Lebenskompetenzen
xion, soziale Kompetenzen, Stressbewältigung und        sollten daher gerade die Ressourcen sozial benach-
die Fähigkeit, gute Entscheidungen treffen zu kön-      teiligter Gruppen fördern (Amstad & Blaser 2016;
nen.                                                    Weber et al. 2016).
Diese Lebenskompetenzen sind sehr wichtig, um           Die Wechselwirkung von Lebenskompetenzen mit
zwei Ressourcen zu entwickeln und zu erhalten,          anderen Faktoren, welche die psychische Gesund-
die für die psychische Gesundheit eine besonde-         heit beeinflussen, ist in Abbildung 1 dargestellt.
re Rolle spielen: Selbstwirksamkeit als zentrale        Darin sind besonders altersrelevante Eigenschaften
innere Ressource (Abderhalden et al. 2019) und          von Lebensumfeldern berücksichtigt.
soziale Unterstützung als zentrale äussere Res-
source (Bachmann 2019). So stärkt beispielsweise
eine hohe Emotionsregulations- und Stressbewälti-
gungskompetenz das Erleben von Selbstwirksam-
keit in schwierigen Lebenssituationen. Effektive
Kommunikationsfähigkeiten und gut ausgebildete
soziale Kompetenzen machen den Erhalt sozialer
Unterstützung wahrscheinlicher.
6           Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

ABBILDUNG 1

Lebenskompetenzen als Zielfelder für die Förderung der psychischen Gesundheit im Alter
(basierend auf Amstad & Blaser 2016, 119)

                                                              Interaktion Person/Umfeld                           Interne/externe Ressourcen

                                                        Person                       Lebensumfeld
Soziodemographische Personeneigenschaften

                                               Lebenskompetenzen             Verlässliche Bezugs­personen
                                                                                                                    Selbstwirksamkeit
    z. B. sozioökonomischer Status, Bildung,

                                               z. B.                         z. B.
                                                                                                                    (interne Ressource)
                                               • Kommunikations­             • Partner, Kinder, weitere
           Geschlecht, Migrationsstatus

                                                  fähigkeiten                   Familienangehörige
                                               • Selbstreflexion             • Freunde, Bekannte
                                               • Emotionsregulation          • Nachbarn                                           Psychische
                                               • Soziale Kompetenzen                                                              Gesundheit
                                               • Stressbewältigung           Förderliches Umfeld
                                               • Entscheidungen treffen      z. B. alters­spezifische/alters­
                                                                             gerechte                              Soziale Unterstützung
                                                                             • Freizeit- und Bildungs­              (externe Ressource)
                                                                                angebote
                                                                             • Beratungs-, Unter­stützungs-
                                                                                und Entlastungsangebote
                                                                             • Wohnformen
                                                                             • Infrastruktur
                                                                             • Sozialversicherungen (AHV)
                                                                             • Gesetze (Pensionsalter)
                                                                             • Positive Altersbilder

1.2	Die Bedeutung von Lebenskompetenzen                                                     Jedoch lassen mit zunehmendem Alter nicht zwangs-
     im Alter                                                                                läufig alle Fähigkeiten nach. Einige bleiben stabil,
                                                                                             andere können sich sogar verbessern. Ausserdem
Die Stärkung von Lebenskompetenzen ist für den                                               gibt es gerade im höheren Lebensalter grosse Un-
Erhalt der psychischen Gesundheit im Alter aus fol-                                          terschiede hinsichtlich des Niveaus verschiedener
genden Gründen wichtig (Boss 2016): Die kognitiven,                                          Fähigkeiten zwischen Menschen gleichen Alters.
sensorischen und motorischen Fähigkeiten lassen                                              Grund dafür ist, dass sich die Einflüsse der bisheri-
nach, körperliche Erkrankungen und Gebrechlich-                                              gen Lebensbedingungen und des vormaligen Lebens­
keit nehmen zu und das Risiko abnehmender sozia-                                             stils mit steigender Lebensdauer akkumulieren (Bal-
ler Unterstützung steigt durch Krankheit oder Tod                                            tes 1990). Deshalb gibt es im Alter ebenfalls eine
enger Bezugspersonen. Darüber hinaus müssen sich                                             grössere Heterogenität zwischen Gleichaltrigen als
ältere Menschen in neuen Lebensumfeldern zurecht-                                            in allen früheren Lebensphasen hinsichtlich körper-
finden, z. B. nach der Pensionierung oder wenn sie in                                        licher Gesundheit, sozialer Beziehungen und Le-
eine Altersinstitution umziehen. Ebenso sollen ge-                                           bensumfeldern.
mäss WHO (2015) für ein möglichst gesundes Altern                                            Hierbei kommen besonders soziodemografische
bei älteren Menschen Kompetenzen gefördert wer-                                              Unterschiede zum Tragen. Beispielsweise lebt die
den, welche Lernen, persönliches Wachstum, das                                               aktuelle Generation älterer Frauen wegen ihres
Treffen von Entscheidungen sowie den Aufbau und                                              gesünderen Lebensstils durchschnittlich länger
den Erhalt von sozialen Beziehungen ermöglichen.                                             als gleichaltrige Männer. Gegenwärtig sind Frauen
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen   7

im dritten und vierten Lebensalter auch eher allein­     Ebenso setzen Menschen im dritten Lebensalter
stehend als ihre männlichen Altersgenossen. Sie          erfolgreich innere Ressourcen ein (d. h. Lebenser-
überleben ihre Partner häufig nicht nur aufgrund         fahrung und Anpassung eigener Ziele oder Erwar-
ihrer höheren Lebenserwartung, sondern auch, weil        tungen an die aktuellen Kompetenzen und Lebens-
sie im jüngeren Erwachsenenalter einen älteren           umstände). Dies erklärt auch das sogenannte
Partner gewählt haben. Ältere Frauen verfügen in         Paradoxon des Wohlbefindens: gemeint ist die Sta-
der heutigen Zeit über deutlich niedrigere Renten-       bilität oder sogar die Zunahme des psychischen
einkommen und Vermögen als gleichaltrige Männer          Wohlbefindens in dieser Lebensphase trotz abneh-
– zum einen aufgrund ihrer geringeren Bildungs-          mender Fähigkeiten, weniger werdenden engen so-
chancen, zum anderen, weil sie ihre Berufstätigkeit      zialen Beziehungen und der besonderen Lebens-
für die Kinderbetreuung unterbrochen oder aufge-         herausforderungen des Alters (Baltes 1990, 1997;
geben haben (Trilling 2013; Weber et al. 2016). Ältere   Boss 2016). Die Prävalenz der meisten psychischen
Frauen sind heute durch ihre Geschlechtszuge­            Störungen ist im Alter ebenfalls geringer im Ver-
hörigkeit auch stärker von Altersdiskriminierung         gleich zu früheren Lebensphasen. Ausnahmen sind
betroffen als ältere Männer (Hellmich 2013). Die ak-     Demenzen, Schlafstörungen und Suizide, die sich
tuelle Generation älterer Menschen mit Migra­            im Alter häufen, letztere insbesondere bei Männern
tionshintergrund weist wegen ihrer oft körperlich        (Mühlig et al. 2015; Weber et al. 2016).
anstrengenderen und gesundheitsschädigenderen            Im vierten Lebensalter (80+ Jahre) kommt es in der
ehemaligen Berufstätigkeit eine schlechtere körper-      Regel zu grösseren, mehrere Kompetenzen betref-
liche Gesundheit auf. Sie verfügt aufgrund ihrer ge-     fenden Fähigkeitsverlusten. Auch treten Mehrfach-
ringeren Bildungschancen über tiefere Renten und         erkrankungen häufiger auf. Zudem sterben immer
Vermögen und hat in ihrem bisherigen Leben häufi-        mehr nahestehende Personen. Diese Entwicklun-
ger gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminie-       gen können durch äussere und innere Ressourcen
rung erfahren (www.alter-migration.ch). Aufgrund         immer weniger aufgefangen werden (Baltes 1990,
der Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migra-         1997; Boss 2016). Das durchschnittliche psychische
tionshintergrund sowie der wachsenden gesell-            Wohlbefinden nimmt daher im vierten Lebensalter
schaftlichen Akzeptanz von verschiedenen Lebens-         ab. Daneben wächst in der Altersgruppe 80+ der An-
formen und -stilen wird in der Schweiz künftig sogar     teil hilfs- und pflegebedürftiger Menschen (Weber
eine Zunahme von Heterogenität zwischen älteren          et al. 2016) und der Anteil von Personen, die in
Menschen gleichen Alters erwartet (Weber et al.          Alters- und Pflegezentren leben (Kaeser 2012),
2016).                                                   erheblich.
Tendenziell können Menschen im dritten Lebens-           Trotz der beschriebenen Fähigkeitseinbussen im
alter (65 bis 80 Jahre) die bis dahin im Durchschnitt    dritten und vierten Lebensalter kann man zur För-
eher kleinen Fähigkeitseinbussen, wenigen körper-        derung von Lebenskompetenzen bei Menschen in
lichen Erkrankungen sowie seltenen Verluste von          diesen Lebensphasen nicht nur Verhältnismass-
wichtigen Bezugspersonen gut ausgleichen. Dies           nahmen, sondern auch Verhaltensmassnahmen ein-
gelingt ihnen durch den Zugriff auf äussere Res-         setzen. Für das Lernen gibt es keine Altersgrenze,
sourcen wie soziale Unterstützung, Hilfsmittel (z. B.    wenn sich auch Ausmass und Bedingungen effek­
Hörgeräte, Brillen, Haltegriffe im Bad) oder die im      tiven Lernens im Alter verändern (Martin & Kliegel
Pensionsalter mehr zur Verfügung stehende Zeit.          2005).
8   Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

2	Interventionsmöglichkeiten zur
   Förderung von Lebenskompetenzen
   bei älteren Menschen

Jedes der sechs folgenden Unterkapitel widmet sich         Es werden einige psychotherapeutische Interven­
einer der im Alter wichtigen Lebenskompetenzen:            tionen genannt. Psychotherapie dient nicht nur der
• Kommunikationsfähigkeiten                                Behandlung psychischer Erkrankungen. Sie fördert
• Emotionsregulation                                       auch Kompetenzen, Verhalten, Gedanken und Ge-
• Selbstreflexion                                          fühle bei psychisch gesunden Personen, welche
• Soziale Kompetenzen                                      deren psychische Gesundheit stärken und aufrecht-
• Stressbewältigung                                        erhalten. Für viele psychotherapeutische und psy­
• Entscheidungen treffen                                   chologische Interventionen gibt es Umsetzungs­
                                                           anleitungen (Manuale), für die Literaturangaben auf­-
Die jeweilige Lebenskompetenz wird zunächst defi-          geführt werden.
niert, dann wird beschrieben, wie sie sich im Alter        Interventionen, welche mit einem Stern * gekenn-
verändert und wie sie die psychische Gesundheit            zeichnet sind, sollten von Psychologinnen oder
von älteren Menschen beeinflusst. Schliesslich wer-        Psychologen geleitet werden, weil für deren Durch-
den Interventionen vorgestellt, mit denen die Le-          führung spezifische psychologische Kompetenzen
benskompetenz bei älteren Menschen gefördert               nötig sind. Psychotherapeutische Interventionen
werden kann. Ausgewählte, weniger bekannte In-             sind mit zwei Sternen ** gekennzeichnet und sollten
terventionen werden im Anhang der Broschüre                von Psychotherapeutinnen oder Psychotherapeuten
«Lebenskompetenzen und psychische Gesundheit               durchgeführt werden, die in der jeweiligen Psycho-
im Alter» ausführlicher vorgestellt.                       therapieform ausgebildet sind. Für beide Arten von
Da Lebenskompetenzen Personeneigenschaften                 Interventionen empfiehlt sich die Leitung durch
sind, werden vor allem Verhaltensmassnahmen                Gerontopsychologinnen oder Gerontopsychologen.
vorgestellt. Verhältnismassnahmen sind natürlich           Sie verfügen über spezifisches Wissen zu Interven-
gleichsam von Bedeutung und werden ebenfalls               tionen bei älteren Menschen und bringen Erfahrung
thematisiert.                                              in der Umsetzung mit. Adressen von Fachpersonen
Der Fokus wird besonders auf Gruppeninterven­              mit anerkannter Qualifikation sind auf folgenden
tionen gelegt, da sie viele Lebenskompetenzen im           Websites aufgeführt:
Alter auf besondere Weise stärken und gleichzeitig         • w ww.gerontologie.ch: Fachbereich Geronto-
soziale Kontakte fördern (Boss 2016). Dennoch wer-            psychologie von GERONTOLOGIE CH
den auch internetbasierte Interventionen erwähnt,          • w ww.psychologie.ch: Föderation der Schweizer
weil sie weniger mobile ältere Personen in abgele-            Psychologinnen und Psychologen
genen Orten erreichen können. Ausserdem steigt die         • https://sbap.ch: Schweizerischer Berufsverband
Kompetenz älterer Menschen im Umgang mit den                  für Angewandte Psychologie
neuen digitalen Medien stetig (Seifert & Schelling
2015). Ebenso werden einige Beratungsangebote              Die Interventionen berücksichtigen, wann immer
beschrieben, die sich an einzelne Personen richten.        möglich, auch besonders benachteiligte Gruppen
Diese haben den Vorteil, dass individuelle Bedürf-         älterer Menschen. Es wird kein Anspruch auf Voll-
nisse, Fähigkeiten und Lebensumfelder stärker be-          ständigkeit erhoben.
rücksichtigt werden können.
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen   9

2.1   Kommunikationsfähigkeiten                       Einzelne sensorische Einschränkungen können
                                                      meist kompensiert werden. Es lohnt sich, dennoch
2.1.1	Kommunikationsfähigkeiten und                  beispielsweise bereits bei einer geringen Hör­
       psychische Gesundheit im Alter                 minderung zu handeln, damit Gehör und Gehirn im
Kommunikationsfähigkeiten beinhalten Sprachver-       Alltag im selben Masse angeregt und trainiert blei-
ständnis (sensorische und kognitive Prozesse),        ben. Zahlreiche Fachstellen bieten hierfür Beratun-
mündliche und schriftliche Sprachproduktion (Spre-    gen und Hilfsmittel an. Liegen eine oder mehrere
chen, Lesen, Schreiben) sowie Mimik und Gestik.       Sinneseinschränkungen gleichzeitig vor, sollte be-
Dazu gehört auch die Fähigkeit zur Nutzung von        achtet werden, dass dies psychische Belastungen
elektronischen Kommunikationsmitteln und -kanä-       und sozialen Rückzug nach sich ziehen kann (Wahl
len. Im Zuge der Digitalisierung nimmt ihre Bedeu-    & Heyl 2015).
tung auch im Alter zu.                                Verminderte Seh- und Hörfähigkeit kann einerseits
Die Kommunikationsfähigkeiten bleiben im Alter        die Nutzung von Technik einschränken oder ver­
grundsätzlich stabil, da sie aufgrund ihrer lebens-   unmöglichen. Hilfsmittel – auch technologische –
langen Nutzung eine hochtrainierte Fähigkeit sind.    können bei Seh- und Höreinschränkungen ande­
Kommunikative Stärken im Alter sind ein umfassen-     rerseits Abhilfe schaffen. Darüber hinaus können
des Vokabular und sogenanntes Weltwissen (Kennt-      diese auch als Trainingsgeräte zur Förderung des
nisse und Erfahrungen über Umwelt und Gesell-         Sprachverständnisses genutzt werden. So können
schaft).                                              neue Informations- und Kommunikationstechnolo-
Einschränkungen in den sprachlich-kommunikativen      gien Kompensationsmöglichkeiten schaffen, indem
Fähigkeiten im Alter basieren meist auf               sie Informationen darbieten, die gleichzeitig meh­
• dem Nachlassen sensorischer Fähigkeiten bzw.        rere Sinne (Sehen, Hören, Fühlen) ansprechen. Die
  altersbedingten Hör- oder Sehverlusten (siehe       neuen digitalen Technologien eröffnen zudem viel-
  Box 1),                                             fältige Möglichkeiten, ungewollte soziale Isolation
• geringerer Kompetenz in der Nutzung von neuen       zu vermeiden. Auch über grosse räumliche Distan-
  Kommunikationsmitteln und -kanälen,                 zen und bei eingeschränkter Mobilität lassen sich
• dem Nachlassen kognitiver Fähigkeiten beispiels­    mit ihnen die Kommunikation mit Angehörigen und
  weise aufgrund einer sinkenden Geschwindig-         anderen Personen aufrechterhalten, neue Kontakte
  keit von Informationsverarbeitung oder Aufmerk-     knüpfen oder Informationen einholen. Diese Tech-
  samkeitsleistungen (Ryan & Kwong See 2004),         nologien (z. B. Internet und Smartphones) werden
• sozialen Einflüssen: z. B. altersstereotypes        von der älteren Bevölkerung zunehmend genutzt.
  Sprachverhalten (vereinfachende Sprechweisen        Zugleich nimmt die Zahl der Schulungsangebote
  gegenüber älteren Menschen u. a.; «elderspeak»,     und Generationenprojekte zu, welche die digitale
  siehe unten) oder mangelnde Möglichkeiten zur       Inklusion fördern (E-Inklusion), also die Teilhabe
  Kommunikation mit anderen Menschen.                 älterer Menschen an der Informationsgesellschaft
                                                      (Seifert & Schelling 2015).
 Box 1: Hör- und Sehverluste im höheren               Kognitive Einschränkungen können hinsichtlich
 Lebensalter                                          Sprachwahrnehmung und -verarbeitung dazu füh-
 Bedeutsame Hörverluste zeigen sich bei ca. 30 %      ren, dass es älteren Personen schwerer fällt, Irre-
 der über 65-Jährigen und bei ca. 60 % der über       levantes zu ignorieren, komplexe Texte zu ver­
 80-Jährigen, vor allem in Form von Alters-           stehen, ähnliche Laute zu unterscheiden oder Dis­
 schwerhörigkeit (Presbyakusis). Bedeutsame           kussionen mit Hintergrundgeräuschen zu folgen.
 Sehverluste finden sich bei ca. 20 % der über        Weitere im Alter häufiger auftretende Phänomene
 65-Jährigen und bei ca. 30 % der über 80-Jähri-      sind gesteigerte Verbosität (ein ungebremster Rede­
 gen, vor allem bedingt durch altersabhängige         fluss mit Mangel an Fokussierung) oder das Zungen­
 Erkrankungen der Netzhaut. Etwa 15 % der             spitzenphänomen (ein Wort «liegt auf der Zunge»,
 über 80-Jährigen weisen bedeutsame gleich­           kann aber momentan nicht abgerufen werden) (Ab-
 zeitige Einschränkungen des Hörens und               rams & Farrell 2011). Mit den kognitiven Einschrän-
 des Sehens auf (Wahl & Heyl 2015).                   kungen einhergehende Schwierigkeiten können
                                                      sich auf die Alltagskompetenzen und das subjektive
                                                      Wohlbefinden negativ auswirken.
10   Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

Neben biologischen Faktoren können soziale Fak­             Interventionen zur Anpassung an Seh- und
toren wie negative Altersbilder die intergeneratio-         Höreinschränkungen
nelle Kommunikation beeinflussen. Diese führen oft          Beratungen durch Fachorganisationen (Beispiele):
zu altersstereotypem Sprechen oder «elderspeak»:            • Seh- und Hörhilfenberatung sowie Beratung
ältere Menschen werden zu laut oder zu langsam                 zu Hilfsmitteln im Alltag: z. B. Nutzung von Hör­
angesprochen; Gesprächspartnerinnen oder Ge-                   geräten, angepasste Telefontechnik und Hör­
sprächspartner vereinfachen Vokabular, verwenden               taktiken zur Verbesserung der Kommuni­kation
Telegrammstil-Grammatik, sprechen ältere Men-                  mit anderen Personen, Einbezug von Ange­
schen distanzlos an («Wie geht es uns heute?»), mit            hörigen, Telefon­apparate mit optischem Klingel-
altersanzeigenden Benennungen («Grosi») oder be-              signal, Ver­wendung von kontrastierten Schneide-
schränken sich auf vermeintlich ältere Menschen in-           brettchen
teressierende Gesprächsthemen. Dies kann zur Ver-           • Low-Vision-Beratungen umfassen sämtliche
stärkung altersstereotyper Verhaltensweisen führen             Massnahmen, die der maximalen Nutzung des
(Rückzug, Einfordern von mehr Hilfe als nötig), was            vorhandenen Sehpotenzials dienen. Dies bein­
wiederum soziale Interaktionen (z. B. mit Pflegeper-           haltet die Messung des Sehpotenzials, die Erfas-
sonen) negativ beeinflussen und das Selbstbewusst-             sung der Sehgewohnheiten sowie die Abklärung
sein und die Selbstständigkeit bei älteren Personen            der Sehbedürfnisse, Beratung zu und Training
vermindern kann (Nussbaum & Coupland 2004).                    der Verwendung von optischen Hilfsmitteln wie
Kommunikationsfähigkeiten können auch deshalb                  Lupenbrillen oder Bildschirmlese­geräten sowie
nachlassen, weil sie mangels Gelegenheiten zu we-              Beratung zu Einrichtung und Beleuchtung
nig angewendet werden. Soziale Kontakte und Inter-          • Sozialberatung über Rechte und Pflichten von
aktionen schaffen Kommunikationsmöglichkeiten                  Menschen mit Seh-/Hörbehinderung durch Fach-
und tragen dazu bei, diese Fähigkeiten im Alter auf-           organisationen wie den Schweizerischen Zentral­
rechtzuerhalten. Daneben ermöglichen sie soziale               verein für das Blindenwesen (SZB), den Schwei-
Teilhabe und haben so einen besonders positiven                zerischen Blinden- und Sehbehindertenverband
Einfluss auf das psychische Wohlbefinden im Alter              (SBV) oder pro audito Schweiz (Selbsthilfeorga­ni­
(Keller-Cohen et al. 2006).                                    sation von und für Schwerhörige/Hörbehinderte)

2.1.2 Interventionen                                        Trainings
Da die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Seh-          • Verständigungstrainings: Sie üben das Ablesen
oder Hörbehinderung mit zunehmendem Alter steigt,              der Sprechbewegungen von den Lippen, beinhal-
ist es sinnvoll, im kommunalen Rahmen Massnah-                 ten Hör- und Kommunikationsstrategien, betreffen
men anzubieten, die der Anpassung an reduzierte                Artikulation, Modulation und Ausdrucksweise,
Seh- und Hörfähigkeiten dienen. Dabei sind auch                erweitern den Wortschatz, trainieren das Verste-
Interventionen wichtig, die psychosoziale Faktoren             hen von gesprochener Sprache, beziehen Bezugs­
berücksichtigen, z. B. zur Unterstützung bei der Be-           personen/Angehörige ein (pro audito Schweiz)
wältigung des Sehverlusts. Sinnvoll sind auch Bewe-         • Gehörtherapie (auch vorbeugend): am Computer
gungs- und Low-Vision-Programme, die auf Lebens-               wird das Sprachverständnis in schwierigen
qualität und Alltagskompetenz fokussieren (Wahl &              Situationen trainiert, z. B. das Verstehen in einer
Heyl 2015). Weitere wichtige Interventionsfelder sind          lebhaften Gesprächsrunde, bei hohem Umge-
die Förderung der Nutzung von Informations- und                bungslärm oder bei undeutlicher Aussprache
Kommunikationstechnologien bei älteren Menschen                (KOJ-Gehörtherapie)
(E-Inklusion) wie auch die Nutzung von technischen          • *Psychoedukative Trainings: «Neun Themen bei
Hilfsmitteln (Internet, Smartphone usw.) zur Anpas-            Sehverlust» für ältere sehbehinderte Menschen
sung an die verminderten Kommunikationsfähig­                  (Diesmann & Schacht 2015): Information über
keiten und zur Ermöglichung von sozialer Teilhabe.             psychische Belastungen und Erkrankungen, die
Auch bei der Sensibilisierung für altersstereotypfreie         bei einem Sehverlust auftreten können, z. B.
Kommunikation sollte angesetzt werden. Zudem gilt              akute Belastungs- und Stressreaktion, depressive
es, allgemein den Zugang zu sozialen Interaktionen             Symptome oder Angst und deren Behandlungs-
zu fördern: Soziale Interaktionen sind Trainingsset-           möglichkeiten, Förderung von Konflikt-/Selbstma-
tings für Kommunikationsfähigkeiten.                           nagement.
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen   11

Im Zusammenhang mit Einschränkungen eben­              2.2   Emotionsregulation
falls hilfreich
• Sehbehinderten- und blindengerechte Bewe-           2.2.1	Emotionsregulation und psychische
   gungsprogramme: Tai-Chi-Programme z. B. för-               Gesundheit im Alter
   dern Gleichgewicht, Kondition und Befindlichkeit    Unter Emotionsregulation versteht man Strategien,
• Orientierungs- und Mobilitätstrainings: z. B.       mit denen Menschen beeinflussen, welche Gefühle
   Gehen mit oder ohne Langstock, Üben von ÖV-­        sie erleben, wann und wie sie diese erleben und wie
   Nutzung                                             sie diese ausdrücken (Gross 1999). Es werden zwei
• Trainings von lebenspraktischen Fähigkeiten:        Arten von Emotionsregulationsstrategien unter-
   Tipps für und Training von Alltagsaktivitäten wie   schieden: antizipatorische (vorwegnehmende) und
   Kochen, Körper- und Kleiderpflege, Kommunika-       reaktive (siehe Box 2). Emotionsregulationsdefizite
   tion, Freizeitaktivitäten wie Üben der Bedienung    spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung
   von Abspielgeräten für Hörbücher usw.               der meisten psychischen Störungen eine zentrale
                                                       Rolle (Berking 2015).
Interventionen zur Förderung der E-Inklusion
• Kursangebote von Pro Senectute: Tablet-Kurse,        Box 2: Emotionsregulationsstrategien
 Handy-Kurse, E-Banking-Kurse usw.                      (Gross 1999)
• Computerias: sind Lern-, Support- und Begeg-         Antizipatorische Strategien richten sich darauf
   nungsorte, in denen ältere Menschen ermutigt         aus, das Auftreten und die Stärke von Gefühlen
   werden, sich mit den neuen Informationstechno-       zu beeinflussen, bevor sie sich im vollen Umfang
   logien und sozialen Netzwerken aktiv zu befas-       ausbilden können. Reaktive Emotionsregulations­
   sen. Es wird die Anwendung von Hard- und Soft-       strategien zielen auf eine Beeinflussung von
   ware, Internet und sozialen Netzwerken               bereits entstandenen Gefühlen ab. Beispiele:
   ausprobiert, gelernt und geübt. Die Nutzerinnen
   und Nutzer leisten gegenseitige Selbsthilfe          Antizipatorisch
   (www.computerias.ch).                                • Man begibt sich bewusst in bestimmte Situa­
• CompiSternli: Kinder und Jugendliche unterstüt-         tionen oder vermeidet sie absichtlich (man
   zen ältere Personen auf dem Weg in die digitale         sieht sich z. B. eine Komödie im Fernsehen an,
   Welt (www.compisternli.ch).                             weil sie Freude auslöst, oder man schaut keine
                                                           Nachrichten, weil sie einem Angst machen).
Interventionen zur Reduktion von alters­                • Man lenkt gezielt den Verlauf einer Situation
stereotyper Kommunikation («elderspeak»)                   (indem man sich z. B. so verhält, dass ein Kon-
• *CHAT-Training: das Changing-Talk-Training ist          flikt sich entspannen kann).
   ein Sensibilisierungstraining für Pflegepersonal     • Man richtet die Aufmerksamkeit bewusst auf
   mittels Perspektivenwechsel, Audio-Sequenzen,           bestimmte Aspekte einer Situation (indem
   Reflexion eigener Altersstereotype und eigener          man z. B. bewusst auf Zeichen von Zustimmung
   nonverbaler Verhaltensweisen (Williams 2017).           beim Gegenüber achtet).
                                                        • Man verändert seine Deutung bestimmter
Interventionen zur Förderung von Kommunikation             Situationen oder Situationsaspekte (z. B.:
• Mittagstische (Table d’hôtes, Tavolata), Spiel-         «Ein Bekannter hat mich nicht gegrüsst, weil
 nachmittage, Seniorentreffpunkte                         er in Eile war, nicht weil er mich nicht mag»).
• Telefonketten: ermöglichen Kommunikation und
 Sozialkontakte und basieren auf dem aus der            Reaktiv
 Schulzeit bekannten Klassentelefon. Einmal             • Man verstärkt oder schwächt physiologische
 in der Woche rufen sich die Teilnehmerinnen und           Reaktionen (z. B. Veränderungen von Herz-
 Teilnehmer einer Telefonkette reihum an. Sie             schlag, Blutdruck, Atemfrequenz und Muskel-
 erkundigen sich nach dem gegenseitigen Wohl­             spannung) oder Verhaltensreaktionen auf
 befinden und tauschen Neuigkeiten aus (Tele-             Emotionen (z. B. indem man sich bewusst ent-
 fonketten von Pro Senectute).                            spannt oder seine Mimik und Gestik bewusst
                                                          steuert).
12   Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

Vom jungen Erwachsenenalter bis zum dritten Le-              Box 3: Sozioemotionale Selektivitätstheorie
bensalter nimmt das Erleben von positiven Gefüh­-            (SST, Carstensen 2006)
len zu und das Erleben von negativen Gefühlen ab.            Der stärkere Einsatz von antizipatorischen Emo­
Schwankungen zwischen positiven und negativen                tionsregulationsstrategien von älteren Menschen
Gefühlen werden ausserdem kleiner und seltener.              wird von der SST mit motivationalen Verände­
Im vierten Lebensalter gibt es wieder einen leichten         rungen erklärt, die mit der subjektiv noch ver­
Trend in Richtung weniger positive und mehr nega­            bleibenden Zeit bis zum Tod zusammenhängen.
tive Gefühle, wobei selbst dann im Durchschnitt              Wenn diese Zeit als noch sehr lang eingeschätzt
immer noch mehr positive und weniger negative                wird, werden Aktivitäten bevorzugt, welche einen
Gefühle erlebt werden als zwischen dem 20. und               langfristigen Nutzen für das psychische Wohl­
dem 30. Lebensjahr (Charles 2010; Charles & Cars-            befinden haben, aber durchaus von negativen Ge-
tensen 2009).                                                fühlen begleitet sein können. Dazu gehören Akti-
                                                             vitäten, die der Informationssammlung, dem
Die Zunahme von positivem Gefühlserleben von der             Kompetenz­erwerb, dem Erleben von Neuem und
Jugend bis zum dritten Lebensalter wird auf eine             dem Ausbau des eigenen sozialen Netzwerks
mit dem Lebensalter steigende Anwendung von an-              dienen. Wird hingegen die verbleibende Lebens-
tizipatorischen Emotionsregulationsstrategien zu-            zeit als gering empfunden, werden eher Aktivitä-
rückgeführt. So vermeiden ältere Menschen eher               ten bevorzugt, die dem kurzfristigen Erleben
emotional anstrengende oder neue Situationen und             von positiven Gefühlen dienen, d. h. Emotionsre-
konzentrieren sich auf wenige, aber nahe und posi­           gulationsstrategien. Für die SST spricht, dass
tive Beziehungen (Carstensen 2006; Charles 2010;             man ähnliche motivationale und emotionale Ver-
Charles & Carstensen 2009). Ebenso beeinflussen              änderungen wie bei älteren Menschen auch
sie Situationen eher so, dass sie weniger negative           bei jüngeren Menschen findet, wenn sie nur noch
Gefühle auslösen. Beispielsweise vermeiden ältere            eine kurze Zeit zu leben haben. Ausserdem
Personen häufiger als jüngere Streit in angespann-           konnten Altersunterschiede in der Aufmerksam-
ten Situationen. Folglich sind sie weniger emotional         keitsausrichtung und im Gedächtnis aufgehoben
belastet als jüngere Menschen (Charles et al. 2009).         werden durch experimentelle Manipulation
Ausserdem richten ältere Menschen ihre Aufmerk-              der subjektiv noch verbleibenden Lebenszeit.
samkeit eher auf positive als auf negative Aspekte
einer Situation und erinnern sich eher daran. Bei
Jüngeren verhält es sich umgekehrt: Sie schenken            Die Abnahme von positivem Gefühlserleben im vier-
negativen Aspekten mehr Aufmerksamkeit als posi-            ten Lebensalter wird mit Veränderungen in den Emo-
tiven und erinnern sich besser an negative Informa-         tionsregulationsstrategien erklärt (Charles 2010).
tionen, weil negative Reize evolutionär einen höhe-         Reaktive Emotionsregulationsstrategien funktionie-
ren Informationsgehalt haben als positive. Diese            ren im hohen Alter häufig weniger gut, da mit nega­
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisveränderungen                tiven Gefühlen einhergehende physiologische Reak­
im Alter sind als Positivitätseffekt bekannt gewor-         tionen langsamer abklingen als in jüngeren Jahren.
den (Carstensen 2006). Darüber hinaus bewerten              Ausserdem können antizipatorische Strategien wie
ältere Menschen Erlebnisse oder auch das Verhal-            Aufmerksamkeitslenkung oder Bewertungsverän-
ten von wichtigen Bezugspersonen im Nachhinein              derung von hochaltrigen Menschen in der Regel
oft positiver, als sie von Fachexpertinnen oder Fach-       nicht mehr so gut eingesetzt werden. Grund dafür
experten objektiv eingestuft wurden (Charles 2010).         ist das Nachlassen von bestimmten höheren kogni-
                                                            tiven Fähigkeiten im vierten Lebensalter. Ausser-
                                                            dem treten vermehrt länger andauernde emotional
                                                            belastende Situationen auf, die nicht vermieden
                                                            werden können. Beispiele sind der Verlust nahe­
                                                            stehender Menschen, die Betreuung hilfsbedürf­
                                                            tiger Angehöriger, Gebrechlichkeit oder chronische
                                                            Krankheiten.
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen   13

Folgende Interventionen empfehlen sich daher be-          Gebrechlichkeit löst bei älteren Menschen oft Sturz­
sonders bei älteren Menschen:                             angst aus oder die Angst, Opfer eines Verbrechens
• Interventionen, die sie befähigen, physiologische      zu werden. Sturzangst entsteht dabei häufig aus ei-
   Reaktionen auf negative Gefühle schneller ab­          ner Unterschätzung der eigenen körperlichen Leis-
   klingen zu lassen,                                     tungsfähigkeit und einer Überschätzung des eige-
• Interventionen, die ihnen helfen, altersspezifische,   nen Sturzrisikos oder der Schwere von Sturzfolgen.
   länger anhaltende emotional belastende Situatio-       Dies führt oft zu einer Reduktion von körperlichen
   nen zu bewältigen.                                     Aktivitäten, was das Schwinden von Muskelkraft
                                                          und das Nachlassen des Gleichgewichtssinns zur
Zu letzteren zählen Interventionen, die Strategien        Folge hat. Dies wiederum lässt die tatsächliche
zum gezielten Hervorrufen von positiven Gefühlen          Sturzgefahr steigen. Interventionen, welche die oben
vermitteln und trainieren, wie auch Interventionen,       genannten Fehleinschätzungen entkräften und zu
die ältere Menschen im Trauerprozess unterstützen         körperlichen Aktivitäten motivieren, haben sich als
und es ihnen ermöglichen, durch Gebrechlichkeit           wirksam für die Reduktion von Sturzangst und auch
ausgelöste Ängste zu reduzieren. Interventionen zur       für die Steigerung des Gleichgewichts erwiesen (Liu
Stärkung des psychischen Wohlbefindens von be-            et al. 2018). Auch die Angst älterer Menschen, Opfer
treuenden Angehörigen hilfsbedürftiger Menschen           eines Verbrechens zu werden, ist zum grossen Teil
sind in Kessler und Boss (2019) ausführlich be-           unbegründet. Tatsächlich werden ältere Personen
schrieben.                                                seltener Opfer von Straftaten wie Raub, Körperver-
Trauer sollte man nicht pathologisieren, auch wenn        letzung, Diebstahl oder Einbruch. Ausnahmen sind
über längere Zeit Traurigkeit, Wut, Schuldgefühle,        Betrugsdelikte, welche direkt auf ältere Menschen
emotionale Taubheit, schnellere Erschöpfbarkeit,          abzielen, wie z. B. der sogenannte Enkel­trick. Auf-
Schlafprobleme oder sozialer Rückzug auftreten.           klärung, Beratung und Üben von Vorsichtsmass-
Nur ein geringer Teil der Trauernden entwickelt eine      nahmen können helfen, weniger Angst vor Krimi-
sogenannte anhaltende oder komplizierte Trauer-           nalität und mehr Sicherheit zu empfinden (Greve &
störung. Diese sollte psychotherapeutisch behan-          Görgen 2012).
delt werden (siehe Box 4). Für Menschen im norma-         Ausserdem sollten Emotionsregulationsinterventio­
len Trauerprozess haben sich psychotherapeutische         nen ältere Menschen darin bestärken, negative Ge-
Interventionen als effektlos herausgestellt. Sie hat-     fühle besser aushalten und akzeptieren zu können.
ten teilweise sogar negative Auswirkungen. Selbst-        Ein zu starker Fokus auf positive Erfahrungen und
hilfegruppen haben sich hingegen als hilfreich er-        Informationen kann nämlich auch Probleme nach
wiesen (Wagner 2013).                                     sich ziehen. Dazu gehören eine massive Einengung
                                                          des Lebensradius, die den Erhalt und das Neulernen
 Box 4: Eine anhaltende oder komplizierte                 von kognitiven, sozialen und körperlichen Fähigkei-
 Trauer­störung ist dadurch gekennzeichnet, dass          ten einschränkt, das Vermeiden von notwendigen
 die Betroffenen sehr lange unter einem starken           Konfliktgesprächen, Veränderungen des Lebens-
 Trennungsschmerz leiden, Orte oder Personen              stils oder des Lebensumfelds (z. B. altersgerechte
 vermeiden, die sie an die verstorbene Person             Einrichtung der Wohnung, Umzug ins Altersheim)
 erinnern, sowie Schwierigkeiten haben, ihr Leben         und eine Anfälligkeit für emotionale Manipulationen
 ohne die verstorbene Person fortzuführen (Flüe-          oder Betrugsversuche (z. B. mit dem Enkeltrick).
 ler & Forstmeier 2013). Hier helfen spezi­fische
 kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychothera-
 pieverfahren (Wagner 2013), auch in Online-­
 Versionen (Wagner et al. 2006; noch in Evaluation:
 Brodbeck et al. 2017: www.online-­therapy.ch/
 livia).
14   Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

2.2.2 Interventionen                                         nell begleitetes Trauercafé am Universitätsspital
                                                             Zürich: www.dermatologie.usz.ch/unser-angebot/
Interventionen zur Reduktion von physiologischen             Documents/USZ-Dermatologie_Trauercafe.pdf
Gefühlreaktionen: Entspannungsverfahren
• Atementspannung (z. B. Höfler 2015)                      Interventionen zur Reduktion von gebrechlich­
• Progressive Muskelentspannung                            keits­assoziierten Ängsten
   (z. B. Hofmann 2012)                                     • **Sturzangst: Veränderung von angstauslösen-
• Autogenes Training (spezifisch für ältere                   den Überzeugungen und Motivation zu körper­
   Menschen: Hirsch & Hespos 2000)                             lichen Aktivitäten (Liu et al. 2018)
                                                            • Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden: Auf-
Interventionen zum gezielten Hervorrufen von                   klärung, Beratung und Üben von Vorsichtsmass-
positiven Gefühlen                                             nahmen; z. B. kostenloser Kurs der Stadtpolizei
• **Genusstraining (Koppenhöfer 2004): Steigern               Zürich für Erwachsene ab 60 Jahren u. a. über
   des Erlebens von Genuss durch das Üben einer                Schutzmassnahmen gegen Taschen- und Trick-
   bewussten, konzentrierten Wahrnehmung                       diebstahl, Diebstahl beim Abheben von Geld am
   über alle Sinne sowie das gezielte Suchen nach              Geldautomaten und Betrug im Internet:
   an­genehmen Reizen im Alltag                                www.parcours60plus.ch
• **Imaginative Verfahren: Training des Erzeugens
   von angenehmen inneren Vorstellungsbildern               Interventionen zur Förderung des Aushaltens
   oder Erinnerungen (spezifisch für ältere Men-            und Akzeptierens von negativen Gefühlen
   schen: Erlanger 1997; Reddemann et al. 2013)             • Mindful Self-Compassion (MSC)-Programm
• *Interventionen aus der Positiven Psychologie               (Neff & Germer 2018): Förderung von drei Ele-
   (Seligman 2002): z. B. Charakterstärken kennen-             menten des Selbstmitgefühls: freundlicher Um-
   lernen und bewusst im Alltag einsetzen, abends              gang mit sich selbst bei Fehlern und Versagen
   drei lustige Erlebnisse aufschreiben, wichtigen             sowie in schwierigen Situationen, Menschlichkeit
   Personen einen Dankesbrief schreiben (Esch                  (Anerkennen, dass niemand perfekt ist und dass
   2017), kostenloses, für ältere Menschen wirk­               Schwierigkeiten und Leid zum Leben gehören)
   sames (Proyer et al. 2014) Online-Training:                 und Acht­samkeit (negative Gedanken und Gefühle
   www.staerkentraining.ch                                     ohne Bewertung wahrnehmen und nicht sofort
• Humortrainings: 7-Humor-Habits-Trainings­                   unterdrücken oder vermeiden); Durchführung
   programm* (McGhee 2016; deutsches Manual:                   durch speziell ausgebildete Trainer; Anbieter in
   Falkenberg et al. 2013; Trainer in der Schweiz:             der Schweiz: www.mindfulselfcompassion.ch,
   www.psychologie.uzh.ch/de/bereiche/sob/pers­                www.ibp-institut.ch/angebot-details/achtsames-­
   psy/trainings/humortraining; Wirksamkeit am                 selbstmitgefühl, www.centerformindfulness.ch/
   besten durch Studien belegt, auch für ältere Men-           kursangebote
   schen), Humorgruppen für Bewohnerinnen und               • **Training emotionaler Kompetenzen (TEK)
   Bewohner von Alterszentren (Hänni 2016) bzw.                (Berking 2015): Förderung von 7 Emotionsregu­
   psychisch kranke ältere Erwachsene** (Hirsch                lationsstrategien: 1) bewertungsfreies Wahr­
   2016; Hirsch et al. 2010; Hirsch & Kranzhoff 2004)          nehmen, Erkennen und Benennen von Gefühlen,
                                                               2) Akzeptanz und Aushalten von unangenehmen
Interventionen zur Unterstützung von älteren                   Gefühlen, 3) die Fähigkeit, sich selbst in emo­
Menschen im Trauerprozess                                      tional belastenden Situationen innerlich anteil-
• Selbsthilfegruppen: professionell begleitete                nehmend und unterstützend zur Seite zu stehen,
   Selbsthilfegruppen für trauernde ältere Men-                aber auch Reduktion von physiologischen Gefühls-
   schen allgemein und speziell für trauernde                  reaktionen durch 4) Atementspannung und 5) Pro-
   Grosseltern (Schroeter-Rupieper 2013); Gruppen              gressive Muskelentspannung, 6) aktive Analyse
   in der Schweiz: www.selbsthilfeschweiz.ch,                  der Ursachen für das aktuelle Gefühlserleben und
   professionell begleiteter Trauerstammtisch am               darauf basierend 7) eine aktive Veränderung der
   Friedhofsforum Zürich: www.stadt-zuerich.ch/                ge­fühlsauslösenden oder -aufrechterhaltenden
   prd/de/index/bevoelkerungsamt/FriedhofForum/                Faktoren; Liste mit ausgebildeten TEK-Trainern:
   veranstaltungen/trauer-stammtisch, professio-               www.tekonline.info
Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen   15

2.3   Selbstreflexion                                   Box 5: Theorien zur Selbstreflexion im Alter

2.3.1	Selbstreflexion und psychische                   Erikson (1998): Theorie zur Entwicklung
       Gesundheit im Alter                              der Selbstidentität über die Lebensspanne
Unter der Lebenskompetenz Selbstreflexion wird          Laut Erikson ist die lebenslange Identitäts­
die Fähigkeit verstanden, sich selbst zu kennen und     entwicklung durch acht psychosoziale Krisen
zu mögen (WHO 1997). Theorien zur Entwicklung der       gekennzeichnet, die in bestimmten Lebens-
Selbstidentität über die Lebensspanne (Erikson 1998;    altern auftreten. Die Lebenszufriedenheit in
Tornstam 1989; siehe Box 5) betonen, dass diese         einem bestimmten Lebensalter hängt mit
Kompetenz besonders im Alter gefordert wird, weil       der erfolgreichen Bewältigung der Krisen in
dann identitätsstiftende Rollen durch Pensionierung     früheren Lebensphasen zusammen. Für das
oder Verwitwung wegfallen. Ausserdem können das         Alter postuliert Erikson die Krise Ich-Integrität
Nachlassen kognitiver und körperlicher Fähigkeiten      versus Verzweiflung. Sie kann durch Selbst­
und die Nähe des eigenen Todes das Selbstbild ins       reflexion im Sinne von Auseinandersetzung mit
Wanken bringen. Aufgrund dieser Entwicklungen           der eigenen Lebensgeschichte, Akzeptanz von
sind ältere Menschen meist besonders motiviert,         Gelebtem und Nicht-Gelebtem und von Endlich-
sich selbst zu reflektieren. Dieses erhöhte Engage-     keit sowie Entwicklung von Kontinuitäts- und
ment in Selbstreflexion führt schliesslich oft zu       Zugehörigkeitserleben bewältigt werden.
einem Kompetenzzuwachs in dieser Fähigkeit.
Es kann zu einer Beeinträchtigung des psychischen       Tornstam (1989): Theorie der Gerotranszendenz
Wohlbefindens bis hin zur Verzweiflung kommen,          Tornstam nimmt an, dass die im Alter zuneh-
wenn eigene Überzeugungen und Einstellungen             mende Selbstreflexion nicht nur auf die Ebene
oder diejenigen von Bezugspersonen das vermehrte        des Selbst (Beschäftigung mit der eigenen
Engagement in Selbstreflexion behindern. Hierbei        Lebensgeschichte und persönlichen Eigenschaf-
können Altersbilder eine Rolle spielen, welche ein-     ten) beschränkt ist, sondern sich auch auf eine
seitig die Vermeidung von körperlichen Alterungs-       kosmische und soziale Ebene richtet. Auf kosmi­
prozessen und Tod durch eine hohe Beteiligung älte-     scher Ebene kommt es zu einer stärkeren In-
rer Menschen an sozialen, sportlichen oder geistigen    tegration von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
Aktivitäten fordern (Höpflinger 2002; Kruse 2014).      kunft (beispielsweise indem das eigene Leben
Dadurch kann die gedankliche Auseinandersetzung         mit dem Leben vorhergehender und nachfolgen-
mit der zunehmenden körperlichen Verletzlich-           der Generationen in Beziehung gesetzt wird).
keit und dem nahenden Tod verdrängt werden. Nach        Des Weiteren vollzieht sich eine Abwendung von
Erikson (1998) und Tornstam (1989) aber gibt diese      einer rein materialistischen und rationalistischen
Auseinandersetzung erst den Impuls zur vermehr-         Weltsicht hin zu einer stärkeren Auseinander­
ten Selbstreflexion im Alter. Daneben kann die Be-      setzung mit mystischen und spirituellen Dimen-
schäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte von        sionen des Lebens. Dies kann die Todesfurcht
anderen als übertriebene Selbstbezogenheit und          verringern. Auf sozialer Ebene vollzieht sich eine
Vergangenheitsorientierung ausgelegt werden. Auch       stärkere Reflexion der Passung von eigenen
kann der mit vermehrter Selbstreflexion einherge-       Werten, Eigenschaften und Vorlieben mit eigenen
hende soziale Rückzug negativ bewertet werden.          sozialen Rollen, Beziehungen und allgemeinen
Für ältere Menschen sind daher Interventionen be-       sozialen Normen. Damit geht einher, dass ober-
sonders relevant, welche die Reflexion der eigenen      flächliche Beziehungen aufgegeben, bedeutsame
Lebensgeschichte, der eher schmerzlichen Aspekte        Beziehungen dagegen intensiviert werden. Es
des Alters sowie der persönlichen Altersbilder för-     kommt zu einem stärkeren sozialen Rückzug,
dern.                                                   aber auch zu reiferen Urteilen in sozialen Lebens­
                                                        fragen und mehr selbst- statt normenkonfor-
                                                        mem Verhalten.
16   Förderung von Lebenskompetenzen bei älteren Menschen

2.3.2 Interventionen                                        Interventionen zur Reflexion von schmerzlichen
                                                            Aspekten des Alters
Lebensrückblickinterventionen (Maercker 2013,               • Integration bedrohlicher Erfahrungen ins Selbst-
Wirksamkeit der ersten drei Formen sehr gut                    bild: **Personzentrierte Psychotherapie nach
belegt, siehe Metaanalyse Pinquart & Forstmeier                Carl R. Rogers (spezifisch für ältere Menschen:
2012 und 2013)                                                 Elfner 2008)
• Reminiszieren: Sammeln von Erinnerungen zu               • Reflexion von Sinnfragen: **Logotherapie oder
   bestimmten Themen wie Feste, erster Schultag                Existenzanalyse nach Viktor Frankl (1987)
   oder Jahreszeiten in der Gruppe, z. B. in «Erzähl-       • Auseinandersetzung mit zentralen, existenziellen
  cafés»: www.netzwerk-erzählcafé.ch                           Themen des Menschseins wie Leid und Tod:
• Biografiearbeit: gezieltes Durchsprechen aller              **Existenzielle Psychotherapie nach Irvin Yalom
   Lebensphasen von der Kindheit bis in die Gegen-             (1989)
   wart                                                     • Auseinandersetzung mit und evtl. Änderung von
• Lebensrückblicktherapie: gezieltes Durchspre-               eigenen Werten, Einstellungen zu sich selbst und
   chen aller Lebensphasen von der Kindheit bis                persönlichen Gewohnheiten sowie Akzeptieren
   in die Gegenwart und die Förderung des gezielten            von leidvollen Erfahrungen und unveränderlichen
   Reflektierens der eigenen Biografie (z. B. Fragen           Lebenssituationen: **Akzeptanz- und Commit-
   nach Gefühlen, Einfluss der Lebensumstände                  ment-Therapie (ACT, Hayes et al. 2014), Anwen-
   auf die Selbstentwicklung und gezielte Erfassung            dung bei älteren Menschen siehe Wilz et al. (2017);
   von positiven und negativen Ereignissen), z. B.             Anbieter in der Schweiz: Gruppe für Erwachsene
   **Gruppentherapie «Auf der Suche nach Sinn»:                mit chronischen Schmerzen in Winterthur
   Versionen für selbstständig wohnende ältere                 (www.zumbeherztenleben.ch)
   Menschen sowie für Bewohnerinnen und Bewoh-              • Gesprächsrunden über Leben und Sterben: Cafés
   ner von Alterszentren (Pot & van Asch 2013); in­            mortels (www.sterben.ch/index.php?id=373)
   dividuelle Würdezentrierte Therapie am Lebens­
   ende (Reflexion der eigenen Lebensgeschichte             Interventionen zur Förderung der Reflexion
   mit Erstellen eines Nachlassdokuments mit der            von eigenen Altersbildern
   Biografie und Wünschen, Hoffnungen und Rat-              • Offene Gesprächsgruppe zu philosophischen
   schlägen für die Zukunft der Angehörigen [Spang             Theorien zum Älterwerden: Café Dialogue vom
   & Züger 2017; Manual: Chochinov 2017]; Anbieter             Gesundheitsdepartement Basel Stadt:
   in der Schweiz: www.andreasweber­stiftung.ch/               www.gesundheit.bs.ch/gesundheitsfoerderung/
   wirkungsfelder-film, www.kssg.ch/palliativzent-             psychische-gesundheit/seniorinnen-senioren/
   rum/leistungsangebot/wuerdezentrierte-thera-                cafe-dialogue.html
   pie, www.palliativzentrum.insel.ch/fileadmin/            • Künstlerische Beschäftigung mit eigenen und
  zentrumpalliativ/pdf/Dignity_Therapy.pdf)                    gesellschaftlichen Altersbildern: Tessiner Projekt
• Zeitzeugeninterviews: Online-Plattform des                  «TeatroBenessereAnziani»; Tanztheater Dritter
   Ins­tituts für Sozialanthropologie und Empirische           Frühling: www.dritter-fruehling.ch
   Kulturwissenschaften (ISEK) der Universität
   Zürich für schriftliche Zeitzeugendokumente mit
   jährlicher Preisverleihung für besonders gelun-
   gene Berichte (www.meet-my-life.com); liesse
   sich künftig in Projekte zur Gemeindegeschichte
   oder Ausstellungen an Museen einbetten; z. B.
   Projekte zu den Lebenserfahrungen von spezi­
   fischen älteren Bevölkerungsgruppen (z. B. ältere
   Menschen mit Migrationshintergrund oder homo-
   sexueller Orientierung)
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