Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen

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Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Tiere
Fremde
und Freunde
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Tiere

Umschlag:
Katze. Holzschnitt in Konrad Gessner,
Historia ­a nimalium, Bd. 1, Zürich 1551,
S. 345.
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen

Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Tiere
Fremde und Freunde

Winterausstellung
24. November 2021 bis 6. März 2022

Herausgegeben von Franziska Schnoor

Verlag am Klosterhof, St. Gallen
Schwabe Verlag, Basel
2021
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
© 2021 Verlag am Klosterhof, St. Gallen

Gestaltung und Satz
TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen

Druck und Ausrüstung
Cavelti AG, Gossau

Bestelladressen
Stiftsbibliothek St. Gallen
Klosterhof 6d
9000 St. Gallen/Schweiz
stibi@stibi.ch
www.stiftsbibliothek.ch

Schwabe Verlag
www.schwabe.ch
CH:
Buchzentrum AG
Industriestr. Ost 10
6414 Hägendorf
kundendienst@buchzentrum.ch

DE / AT / übrige Länder:
Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH
Postfach
D – 70803 Kornwestheim
info@brocom.de

St. Gallen: Verlag am Klosterhof, 2021
ISBN 978 – 3 – 905906 – 46 – 2

Basel: Schwabe Verlag,
Schwabe Verlagsgruppe AG, 2021
ISBN 978 – 3 – 7965 – 4519 – 1
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Vorwort     Cornel Dora                                  6

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier
Sabine Obermaier                                         8

1 Tiere als Freunde       Franziska Schnoor             20

2 Nutztiere      Cornel Dora                            28

3 Tiere ergründen         Andreas Nievergelt            36

4 Drachen und wilde Tiere           Franziska Schnoor   44

5 Tiere und Menschen          Cornel Dora              52

6 Tiere als Symbole        Franziska Schnoor            60

7 Tiere als Buchschmuck           Franziska Schnoor     68

& Marlies Pekarek: Paraden und Prozessionen
Corinne Schatz                                          82

Anhang                                                  88
Anmerkungen                                             89
Register der Handschriften und Drucke                   94
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Vorwort
Tiere sind die lebendigen Begleiter der Menschen.
Sie haben die Fähigkeit, sowohl uns Angst zu machen
als auch uns zutiefst zu rühren. Das war auch in ver-
gangenen Zeiten nicht anders. In vielem sind sich
Tiere und Menschen tatsächlich ähnlich, wie schon
Aristoteles (384–322 v. Chr.) und viele andere Philoso-
phen der Antike und des Mittelalters festgestellt
­haben.
            Vor dem industriellen Zeitalter war die Bezie-
 hung zwischen Menschen und Tieren etwas anders
 als heute, wohl existenzieller und oft auch konkreter.
 In der damaligen Agrargesellschaft waren die Men-
 schen in vielerlei Hinsicht auf Tiere angewiesen.
 ­Diese übernahmen schwere Arbeiten und dienten als
  Nahrung. Sie waren aber auch als Freunde anzutref-
  fen, etwa als Hauskatze oder Papagei. Das Spektrum
  des Umgangs der Menschen mit den Tieren war
  schon immer breit und reichte von engster emotiona-
  ler Verbundenheit bei Haustieren bis hin zu grosser
  Rücksichtslosigkeit bei Schlachttieren.
            Wie vielfältig – manche werden auch denken
  zweideutig – der Umgang mit Tieren auch in histori-
  scher Perspektive ist, zeigt die Winterausstellung
  der Stiftsbibliothek 2021/22, zu der die vorliegende
  Schrift als Katalog erscheint. Die darin vorgestellten
  Beispiele wollen uns diese Fremden und Freunde
  ­zugleich näherbringen. Der Blick auf die Vergangen-
   heit soll auch dazu anregen, über unser heutiges
   ­Verhältnis zu den Tieren nachzudenken.
            Eine Kunstinstallation von Marlies Pekarek
    zeigt uns eine lange Prozession von Tieren rund um
    den Barocksaal der Stiftsbibliothek. Die Tiere
    ­be­gleiten uns beim Betrachten der Vitrinen. Wir
     danken den Sponsoren, die diese Tierparade ermög-
     licht h
           ­ aben: Arnold Billwiller Stiftung, E. Fritz und
     Yvonne Hoffmann-Stiftung, Ernst Göhner Stiftung,

Vorwort                                                 6|7
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Lienhard-Stiftung, Stiftung für Ostschweizer Kunst-
schaffen und Susanne und Martin Knechtli-Kradolfer-
Stiftung, Stadt St. Gallen und Amt für Kultur des
­Kantons St. Gallen.
        Die Ausstellung wurde von Franziska Schnoor
 konzipiert, die auch den Löwenanteil des Inhalts bei-
 gesteuert hat. Grossen Dank dafür! Ich danke ausser-
 dem allen anderen, die zum Inhalt beigetragen haben,
 insbesondere Sabine Obermaier für die erhellende
 Einleitung sowie Andreas Nievergelt und Corinne
 Schatz für die von ihnen verfassten Kapitel. Dank gilt
 auch Silvio Frigg für das Einrichten der Vitrinen.
        Zu guter Letzt danke ich einmal mehr dem
 ­Katholischen Konfessionsteil des Kantons St. Gallen
  und der Stiftsbibliothekskommission, die die Stifts­
  bibliothek tragen und begleiten, und dem Bund, dem
  Kanton und der Stadt St. Gallen für die finanzielle
  Unterstützung.
        Ihnen als Leserinnen und Lesern wünschen
  wir eine gute Begegnung mit den hier vorgestellten
  Tieren und ihren Geschichten.

     Cornel Dora, Stiftsbibliothekar
     Am Gallustag 2020
Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                          St. Gallen, Stiftsbibliothek
Sabine Obermaier                                                         Cod. Sang. 625, S. 7
                                                                         Pergament, 340 Seiten
                                                                         25 × 19.5 cm
Gibt es das überhaupt: das «mittelalterliche» Tier? Vielleicht wäre      Dürnstein, 1454
doch vorsichtiger zu formulieren: Die Suche, auf die wir uns nun
                                                                         Johann Hartlieb,
begeben wollen, gilt dem, was das spezifisch Mittelalterliche ist,       ­Alexanderroman (um 1450)
wenn es um Tiere im Mittelalter geht. Als Wegmarken mögen uns
drei geläufige mediävistische Beschreibungsschablonen dienen,
die damit zugleich auf den Prüfstand kommen.

Erste Schablone:
Das im mittelalterlichen Alltag omnipräsente Tier
Der mittelalterliche Mensch ist, insofern er in einer ständisch
organisierten Agrarkultur lebt, stets von Tieren umgeben. Unter-
wegs ist man zu Pferd, Lasten werden mit entsprechenden Last-
pferden, Maultieren, Eseln oder mit dem Ochsenkarren transpor-
tiert. Ochsen, seltener Pferde, helfen bei der Feldarbeit. Kühe
grasen auf den Weiden. Hühner, Enten und Gänse laufen frei um-
her. Hirten führen Schafe, Ziegen und auch Schweine von Weide
zu Weide. Als weitgehend «Outdoor-Tiere» sind mittelalterliche
Nutztiere damit nicht nur im Alltag der Bauern präsent. Doch auch
die Bedrohung durch wilde Tiere, z. B. durch Wölfe (kaum mehr
durch Bären, die im Mittelalter bereits weitgehend ausgerottet
sind), dürfte noch unmittelbarer Teil des mittelalterlichen Lebens-
gefühls sein – und es spiegelt wohl mehr als Kinderangst, wenn
Gottfried von Strassburg seinen jungen Titelhelden Tristan fürch-
ten lässt, dass ihn Wölfe und wilde Tiere fressen könnten, als er sich
allein ausgesetzt im Wald wiederfindet (Tristan, V. 2511 – 2512). Der
Hund ist – als Hirten-, Wach-, Jagd- oder Schosshund – bereits
treuer Begleiter des Menschen. Die Jagd auf Niederwild durch die
bäuerliche Landbevölkerung dient dem Nahrungserwerb, die Jagd
auf Hochwild, insbesondere die Jagd mit Falken durch die dazu
privilegierte Aristokratie, ist dagegen eher «als Medium feudaler
Identitätsbildung»1 zu sehen. In den mittelalterlichen Städten an
Fluss und Meer entwickelt sich bereits ein ausgeprägtes Fischerei-
wesen. Und wer im Mittelalter Fisch oder Fleisch isst (und das sind
vorzugsweise die Adligen), kann noch gut sehen, dass hier ein Tier
auf den Tisch kommt. Ebenso gehören Felle und Pelze noch fraglos
zur Garderobe bestimmter Stände.
       Tiere, insbesondere Nutztiere, sind – so scheint es – dem
Menschen im Mittelalter sehr viel näher als uns heute – oder ist dies
nur die bukolische Projektion einer an der modernen Massentier-
haltung leidenden Gegenwart? Denn: Wie empfindet ein Mensch
das stete Umgeben-Sein von Tieren, wenn er es gar nicht anders
kennt? Unterläuft nicht gerade die Selbstverständlichkeit dieser
»Nähe» zum Tier das «Nähe»-Theorem? Und: Was heisst hier über-
haupt «Nähe»? Schliesst «räumliche Nähe» (insofern Mensch und

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                   8|9
Tier den Lebensraum miteinander teilen) «emotionale Nähe» ein?
Ist doch auch immer wieder zu lesen, dass es das Haustier – als heiss­
geliebtes Schmuse- und Knuddeltier und Spielgefährte, ja als Spiel-
zeug der Kinder – im Mittelalter so noch gar nicht gibt (wobei dies
neuere Forschungen in Frage stellen). Zeugnisse mittelalterlicher
«Tierliebe» sind rar – was nicht heissen muss, dass es sie nicht
gibt: Klagen um verstorbene Tiere, aber auch Eigennamen für Tiere
(vor allem für Pferde und Hunde, aber auch für andere Nutztiere)
sprechen dafür, dass Tiere auch geliebt und als «Freunde» wertge-
schätzt werden; und Tierheilkunden (wie etwa der hier ausgestellte
Palimpsest der Mulomedicina) zeigen, dass man sich um das Wohl
zumindest bestimmter Tiere – wenn auch vorrangig im eigenen
Interesse – sorgt. Vom Wert einzelner Tiere legen mittelalterliche
Rechtsquellen ein beredtes Zeugnis ab, wobei es hier vor allem um
den materiellen und rechtlichen Wert des Tieres als Eigentum des
Menschen geht (Tiere sind auch im Mittelalter Statussymbol),
nicht um eine Wertschätzung, wie sie derzeit das Tier im Zuge des
animal turn gewinnt.
        Was ist daran nun spezifisch mittelalterlich? Man kann wohl
sagen: Es sind andere Tiere, nämlich Nutz- und nicht Haustiere, die
im Lebensalltag der mittelalterlichen Menschen präsent sind; und
ihre konkrete Präsenz ist – wie wir gesehen haben – stark ständisch
determiniert. Zu bedenken ist auch, dass sich eine Tierart im Laufe
der Geschichte verändern kann; den Blick dafür hat Robert Delort
1984 mit seinem Buch «Les animaux ont une histoire»2 geschärft.
Der mittelalterliche Braunbär z. B. hat ein sehr viel dunkleres Fell;
auch gibt es deutlich weniger Hunderassen, und das Schwein ist
noch kleiner und rundlicher als sein heute auf Fleischeffizienz
gezüchtetes Pendant (um nur einige markante Beispiele zu nen-
nen). Auch in diesem Sinne sind mittelalterliche Tiere andere Tiere.
        Überdies sind es andere Räume der Präsenz: Der öffentliche
Aussen-Raum ist im Mittelalter deutlich stärker von Tieren
besetzt, während es heute vor allem der private Innen-Raum ist.
Damit sind andere Grenzen von Bedeutung: Die Haustier-/Nutz-
tier-Grenze wird im Mittelalter nicht so scharf gezogen wie die
Wild-/Zahm-Grenze, die bereits der Paradies-Darstellung ein­
geschrieben ist. Die Domestikation wilder Tiere ist nicht von
ungefähr ein weit verbreitetes Narrativ der Heiligenlegende, und
ein allumfassendes Fleischangebot wird mit der Doppelformel
wilt unde zam bezeichnet.
        Omnipräsent sind Tiere allerdings auch in Form von Bildern
und Objekten (z. B. in und an Kirchen sowie an anderen Gebäuden,
als Schmuck von Gebrauchsgegenständen, als Wappentiere etc.),
aber auch in Form von sprachlichen Zeichen (als Literaturtiere, in
Phraseologismen, als Bestandteil von Namen). Das ist im Mittel­
alter kaum anders als heute bzw. hier sind die Unterschiede sehr
subtil: Ich komme darauf zurück.

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                 10 | 11
Zweite Schablone:
Das im Mittelalter (noch) unbekannte Tier
Es gibt Tiere, die dem Mittelalter noch gänzlich unbekannt sind – und
das sind nicht nur Tiere, die auf Kontinenten oder in Lebensberei-
chen (z. B. Tiefsee, Darmflora) zuhause sind, die man noch nicht hat
«entdecken» können. Der Zoo, in dem heute jede/r Tiere aus fernen
Ländern bestaunen kann, ist im Mittelalter in dieser Form noch nicht
erfunden; doch gehören insbesondere exotische Tiere wie Elefanten,
Löwen, Eisbären u. a. als gern ausgetauschte Geschenke im Rahmen
königlicher Diplomatie zum festen Bestand fürstlicher Menagerien,
die allerdings nicht allgemein zugänglich sind. Pilger, Kreuzfahrer
und Kaufleute dürften aber auf ihren Fernreisen die Gelegenheit ge-
habt haben, fremde Tiere zu sehen – davon legen spätmittelalterliche
und frühneuzeitliche Reisebeschreibungen gelegentlich Zeugnis ab.
        Die Biologie ist noch keine Wissenschaft im heutigen Sinne.
An Klosterschulen und mittelalterlichen Universitäten gibt es die-
ses Fach deshalb auch noch nicht. Die grossen lateinischen mittel-
alterlichen Naturenzyklopädien des 13. Jahrhunderts – wie der Liber
de naturis rerum des Thomas von Cantimpré (ca. 1225/26 – 1241), das
Speculum naturale des Vinzenz von Beauvais (ca. 1256 – 1259), De pro-
prietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus (ca. 1240) oder De
animalibus von Albertus Magnus (ca. 1256 – 1260) – sind geschrieben
von gelehrten Kirchenmännern. Diese Bücher dienen als «Predigt-
hilfe»3 und haben das Ziel, ein Instrumentarium zur Deutung der
göttlichen Schöpfung bereitzustellen sowie – in ihren späteren Aus­
prägungen – Orientierungshilfen für moralisch wertvolles Handeln
zu geben. Das hier verhandelte Wissen vom Tier beruht allerdings
nicht auf eigenen Naturbeobachtungen. Vielmehr wird hier das
Tierwissen aus antiken und spätantiken Quellen geschöpft: aus der
Historia animalium des Aristoteles (334 – 323 v. Chr., vermittelt über
die lateinische Übersetzung durch Michael Scotus aus dem Arabi-
schen), der Naturalis Historia des Plinius (um 79 n. Chr.), dem Hexa-
emeron des Ambrosius (339 – 397 n. Chr.), den Etymologiae des Isidor
von Sevilla (um 623/30) u. a. m. Dabei bleibt bisweilen – aus Ehr-
furcht vor den altehrwürdigen Quellen – Widersprüchliches unge-
glättet stehen; nur Albertus Magnus überprüft das Gelesene bis-
weilen quellenkritisch anhand eigener Erfahrungen. Mittelalterli-
ches Tierwissen ist also wesentlich Buchwissen; und insofern sind
auch die Fabeltiere genauso «real» wie die realen, z. T. ähnlich frem-
den Tiere. Nur dort, wo man auf Tiere unmittelbar angewiesen ist
wie etwa bei der Falknerei oder in der Pferdeheilkunde, findet sich
empirisches Wissen, also Wissen, wie es aus dem täglichen Umgang
mit Tieren erwächst – die Quellen dafür sind rar und wertvoll.
        Das bedeutet aber auch: Die in den Enzyklopädien verhan-
delte Tierwelt ist eigentlich die Tierwelt der Antike, nicht die des
Mittelalters. Bemerkbar wird dies dort, wo man die beschriebenen
Tiere offenbar gar nicht mehr zu identifizieren vermag: So gibt es
z. B. bei Thomas von Cantimpré gleich drei Einträge zum Fluss-               St. Gallen, Stiftsbibliothek
pferd: De ipothamo (nach Plinius), De equo fluminis (nach Aristoteles)       Cod. Sang. 77, S. 11
                                                                             Pergament, 482 Seiten
und De equo Nili fluminis (aus unbekannter Quelle, angeblich nach            46.5 × 35 cm
Michael Scotus). Gängige Flusspferd-Attribute finden sich dabei              Kloster St. Gallen,
auf drei verschiedene Tiere verteilt, ohne dass auffiele, dass es sich       um 850/860

eigentlich um ein und dasselbe Tier handelt. Die in der Würzburger
                                                                             Die Erschaffung der Tiere
Handschrift zum Stichwort Ipothamus beigegebene Illustration, die            im ersten Band der Grossen
ein Hybridwesen aus Fischkörper mit Pferdekopf zeigt (Würzburg,              Hartmut-Bibel (linke Spalte,
Universitätsbibliothek, M. ch. f. 150, fol. 143va), macht unverkennbar       Z. 13 – 17; rechte Spalte,
                                                                             Z. 3 – 8): Dixit etiam Deus:
deutlich, dass man Flusspferde nicht kennt (andere Illustrationen            Producant aquae reptile
zeigen die «Wasserpferde» als Pferde im Wasser oder als Monster-             ­animae viventis et volatile
wesen). Wir sind heute leicht dabei, solche Missverständnisse und             super terram sub firmamento
                                                                              caeli. […] Dixit quoque
Irrtümer milde zu belächeln – dabei sollten uns die regelmässigen             Deus: Producat terra
Falsifizierungen von Hypothesen, wie sie in der modernen Wissen-              ­animam viventem in genere
schaft an der Tagesordnung sind, eines Besseren belehren: Wissen               suo, iumenta et reptilia et
                                                                               bestias terrae secundum
ist stets nach dem jeweiligen Wissensstand zu bewerten.                        species suas («Dann sprach
        Nicht unbedingt genuin mittelalterlich, da zum Teil aus Antike         Gott: Das Wasser wimmle
und Spätantike ererbt, aber doch radikal anders als in der Zeit nach           von Schwärmen lebendiger
                                                                               Wesen und Vögel sollen
Linné und Darwin sind die Kriterien zur Einteilung der Tierwelt.               über der Erde am Himmels-
Grosse Autorität hat für das Mittelalter der biblische Schöpfungs­             gewölbe fliegen. […] Dann
bericht (Gen 1,20 – 25), der die Tierwelt in Tiere des Wassers (ohne           sprach Gott: Die Erde bringe
                                                                               Lebewesen aller Art hervor,
eigenes Wort), geflügelte Tiere (volatile), Vieh (iumenta), Kriechtiere        von Vieh, von Kriechtieren
(reptilia, einschliesslich Insekten) und wilde Landtiere (bestias terrae)      und von Wildtieren der
einteilt (leicht abweichende Einteilungen finden sich in Dtn 4,17 – 18;        Erde nach ihrer Art»,
                                                                               Gen 1,20 und 24).
1 Kön 5,13; Ez 38,20 sowie Gen 6,1 – 8,22). Diese von den Schöpfungs-
tagen ausgehende Klassifikation lässt sich gut mit Plinius’ Einteilung
in Landtiere, Wassertiere, Vögel und Insekten harmonisieren, indem
man die Kriterien Lebensbereiche/Elemente (Luft, Wasser, Erde)
und Fortbewegungsart (Fliegen, Kriechen, Gehen, Schwimmen)
kombiniert. Wie populär solche Einteilungen sind, zeigt die Selbst-
verständlichkeit, mit der sie der zweite Reichston-Spruch Walthers
von der Vogelweide (1198) rekapituliert: Ich hôrte ein wazzer diezen /
unde sach die vische vliezen, […] / swaz kriuchet unde vliuget / und bein
zer erden biuget, / daz sach ich […]4 («Ich hörte das Wasser rauschen
und sah die Fische schwimmen […]. Alles, was kriecht und fliegt und
das Bein auf die Erde beugt [= geht], das sah ich […]»).
        Eine Klassifikation dieser Art lässt sich auch gut in die Vor-
stellung einer der göttlichen Ordnung entstammenden «Stufen­
leiter der Natur» einpassen, die streng hierarchisch vom Vollkom-
meneren zum weniger Vollkommenen herab reicht: Menschen,
Tiere, Pflanzen, Steine, Metalle. Innerhalb der Tierwelt gilt nach
Thomas von Cantimpré, der seine Enzyklopädie nach Seinsstufen
gliedert, die folgende Stufenfolge: vierfüssige Tiere, Vögel, Meer-
wunder (mit eigenem Kapitel!) und Fische (= Wassertiere), Schlan-
gen (= Kriechtiere) und Insekten.
        Eine Vorstufe zu Darwins Evolutionstheorie bildet diese
Scala naturae genauso wenig wie das aristotelische Konzept der

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                    12 | 13
«Lebensleiter». Zwar sehen mittelalterliche Gelehrte die Nähe zwi-
schen Mensch und Affe durchaus, aber an eine genetische Abstam-
mung denkt noch niemand. Bei der mit grossem Ernst geführten
Diskussion, ob monstra mehr beim Tier oder mehr beim Menschen
anzusiedeln sind, ordnet Albertus Magnus die Pygmäen über den
Affen, aber eine Stufe unter dem Menschen ein;5 im nächsten Kapi-
tel zählt er sie allerdings wieder zu den Affen – «Animalisierung» ist
auch im Mittelalter ein traditioneller Topos im Diskurs über das
Fremde. Und obgleich die Tier-Mensch-Grenze noch unantastbar
erscheint, greifen auch die Gelehrten des Mittelalters den alten
Streit auf, ob die Tiere eine Ratio, ja eine Seele haben.
        Halten wir fest: Das Wissen vom Tier, wie es sich in den
gelehrten Naturkunden des Mittelalters präsentiert, ist elitär (inso-
fern es vor allem die Domäne der Gelehrten ist), literarisch (insofern
es Buchwissen ist), konservativ (insofern es antike Quellen repro-
duziert) und theologisch motiviert (insofern es Predigthilfe sein will).
Damit entspricht die mittelalterliche Tierkunde mitnichten unse-
ren Vorstellungen einer Naturwissenschaft. Von daher verbietet es
sich auch, Konrads von Megenberg Buch der Natur (1348/50), die
deutsche Übersetzung einer Kurzversion des Liber de natura rerum
des Thomas von Cantimpré, als «erste Naturgeschichte in deut-
scher Sprache» zu bezeichnen, wie es sein erster Herausgeber
Franz Pfeiffer noch unbekümmert tat.
        Von heutiger Warte aus wirkt mittelalterliches Tierwissen
rudimentär und erratisch: Das Tier erscheint als (noch) unbekanntes
Tier. Wir lächeln, wenn die Fledermaus, die bereits Aristoteles als
Säugetier bestimmt und die selbst von den mittelalterlichen Enzy-
klopädisten als «gebärendes» und «säugendes» Tier erkannt wird,
zu den Vögeln gezählt wird und der Wal zu den Fischen, obwohl er,
wie Konrad von Megenberg sagt, vnchaeuscht, d. h. säugetiergemäs-
sen Geschlechtsverkehr hat. Denkt man aber vom Massstab des
Mittelalters aus, ist diese Zuordnung gar nicht mehr so falsch: Vögel
sind Lufttiere, die fliegen; Fische sind Wassertiere, die schwim-
men. Und wenn Krokodil, Delfin und Flusspferd neben Meer-
mönch und Meerjungfrau bei den Meerwundern zu finden sind,
zeigt dies, dass die Grenze Fabeltier/reales Tier für die Naturkunde
des Mittelalters wie noch der frühen Neuzeit so gar nicht existiert;
noch Conrad Gessner integriert das ein oder andere Fabelwesen
(z. B. das Einhorn) in seine Historia animalium (1551 – 1558).

Dritte Schablone:
Das als allegorisches Zeichen zu lesende Tier
Wer im Mittelalter Naturkunde betreibt, tut dies nicht um der Natur
willen: Als göttliche Schöpfung ist das «Buch der Natur» ein – zur
Bibellektüre gleichberechtigter – Weg zur Erkenntnis Gottes und
der Welt, wie es Alanus ab Insulis († um 1202), ein französischer
Zisterziensermönch aus der Schule von Chartres, so einprägsam

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                   14 | 15
formuliert hat: Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est
et speculum, / nostrae vitae, nostrae mortis, / nostri status, nostrae sortis /
fidele signaculum6 («Die gesamte Schöpfung der Welt ist für uns
gleichsam ein Buch und ein Bild und ein Spiegel, ist ein getreues
Zeichen unseres Lebens, unseres Todes, unseres Zustandes [und]
unseres Schicksals»). Die «natürlichen Dinge», zu denen auch die
Tiere gehören, werden also sämtlich als Zeichen verstanden, die auf
Gott, Welt und Mensch verweisen.
        Prominentestes Zeugnis dieses Denkens ist der Physiologus,
eine im 2. Jahrhundert n. Chr. innerhalb der frühchristlichen Gemein-
den Alexandrias entstandene, ursprünglich griechische «Natur-
lehre», die das christliche Mittelalter in lateinischen und volksspra-
chigen Übersetzungen intensiv rezipiert. Beschrieben werden darin
zunächst die natürlichen Eigenschaften, die sog. proprietates der
Tiere, ursprünglich auch noch der Pflanzen und Steine, welche in der
Bibel vorkommen, um sie dann Punkt für Punkt theologisch auszu­
legen. So etwa steht der Adler, der – alt und blind geworden – eine
Quelle sucht, von dort zur Sonne fliegt, dort sein Gefieder verbrennt
und sich danach in die Quelle zurück fallen lässt, wodurch er wieder
jung und sehend wird, für den Menschen der alten Sünde (einen
Juden oder einen Heiden), der durch die Taufe geistlich wiedergebo-
ren wird (Physiologus, Millstätter Reimfassung, V. 130,3 – 131,6). Die Pro-
prietäten-Beschreibungen orientieren sich dabei am tradierten natur-
kundlichen Buchwissen. Eine weitere Besonderheit dieser spezifisch
mittelalterlichen Art, über Tiere zu denken und Tiere auszulegen, ist,
dass man kein Problem damit hat, ein und dasselbe Tier sowohl in
bonam partem (zum Guten) als auch in malam partem (zum Schlechten)
zu deuten: Der Adlervater, der seine Jungen zwingt, direkt in die
Sonne zu sehen, und der das Küken, das blinzelt oder dessen Auge
tränt, aus dem Nest wirft, steht für den Christen, der seine Werke
prüft. Diese Proprietät der «Jungenprobe» des Adlers ist allerdings
nicht in den überlieferten Physiologus-Texten zu finden, sondern in
den – das Physiologus-Wissen anreichernden und vulgarisierenden –
mittelalterlichen Bestiarien, z. B. in De bestiis et aliis rebus des
Ps.-Hugo von St. Victor. Die naturkundliche Grundlage für diese Pro-
prietät ist bereits in der Naturalis Historia des Plinius nachzulesen.
        Das Tier ist hier also ein Bedeutungsträger ganz besonderer
Art: Es ist nicht der Mensch, der das Tier als Zeichen benutzt, son-
dern das Tier ist Zeichen, insofern es Teil der göttlichen Schöpfung
ist. Dies macht verständlich, warum der Meissner, ein theologisch
versierter Sangspruchdichter des 13. Jahrhunderts, seinen Sanges-
kollegen Marner harsch angeht, weil dieser in seinem Physiologus-
Spruch7 nach Ansicht des Meissners seine «wissenschaftliche Sorg-
faltspflicht» verletzt: her lese baz die buoch8 («er möge die Bücher
genauer lesen»). Der Meissner kritisiert hier eine fehlerhafte Wieder-
gabe der Proprietäten von Strauss, Phönix und Pelikan, weil diese
eben nicht im willkürlichen Ermessen des Autors liegt, ­sondern
einer höheren Wahrheit zu folgen hat. Der Marner verstösst –
dem Meissner zufolge – also gegen die Sinnfindungsregel der
christlichen Hermeneutik, wie sie Friedrich Ohly in seinem mass-
geblichen Aufsatz «Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter»
(1958/59) freigelegt und beschrieben hat: Jedes von Gott geschaf-
fene Ding, welches durch das Wort benannt wird, «deutet auf einen
höheren Sinn, ist Zeichen von etwas Geistigem, hat eine significa-
tio, eine be-zeichenunge [sic!], eine Be-deutung [sic!]».9 Die Erschlies-
sung dieser Bedeutung geschieht aufgrund der Eigenschaften (lat.
proprietates) des Dings, welche zugleich Eigenschaften oder Merk-
male des Bezeichnenden (der res significans) wie des Bezeichneten
(des significatum) sind. Die Proprietäten sind also wahr im Sinne ihrer
Bedeutung und insofern korrekt wiederzugeben.
        Wer nun aber glaubt, damit auch den Schlüssel zum Verstehen
literarischer Tier-Bilder des Mittelalters in der Hand zu halten, wird
enttäuscht: Enites Pferde im Erec Hartmanns von Aue, der Löwe in
Hartmanns Iwein, das Wunderhündchen Petitcreiu und der Minne-
grotten-Hirsch in Gottfrieds Tristan, der Drache, den Herzeloyde im
Parzival Wolframs von Eschenbach zu gebären träumt, oder der
Drache, in dessen Blut Siegfried im Nibelungenlied badet, wie auch
der Fuchs Reinhart und der Wolf Isengrim aus dem Tierepos oder gar
die Nachtigallen im Minnesang (um nur ein paar prominente Bei-
spiele zu nennen) – sie alle sind über die christliche Tierallegorese im
Grunde nicht oder zumindest nicht allein zu erschliessen. Ob als Ver-
gleich, Metapher, Teil des Namens oder Wappens oder als Traum-
symbol, ob als Geschenk, Reittier, Gefährte, Kampfgegner oder
Jagdbeute – literarische Tiere übernehmen ganz eigene Funktionen
für das Werk, in dem sie anzutreffen sind: Beispielsweise markieren
sie den sozialen Status oder beschreiben die Qualität(en) einer Figur,
sie machen die Figur identifizierbar, sie verknüpfen Figuren und
­Szenen, sie kommentieren implizit Figur oder Geschehen usw. Es
 sind hier die jeweiligen mittelalterlichen Autoren und/oder ihre
 Leserinnen und Leser, die für das konkrete Tier innerhalb des kon­
 kreten Werkkontextes die Bedeutung setzen, die also das Tier erst
 zum Zeichen machen. Und in diese Bedeutungssetzungen können sich
 traditionelle (auch: natur­allegoretische) Deutungen sowie andere
 zeitgenössische Wissens­bestände vom Tier einschreiben.
        Dass das Tier als literarisches Zeichen Teil hat an den spezi-
 fischen Wissens-, Denk- und Deutungstraditionen des Mittel­
 alters, macht auch das literarische Tier des Mittelalters zu einem
 «mittelalterlichen» Tier. Darüber hinaus lassen sich auch einige
 Unterschiede zum neuzeitlichen literarischen Tier benennen: In
 der mittelalterlichen Literatur kommt – zumindest, was die promi-
 nenteren Tierfiguren angeht – ein begrenztes Tierrepetoire zum Ein-
 satz: Es sind vor allem Tiere aus der adligen Lebenswelt (Pferde,
 Hunde, Jagdtiere usw., aber auch: Löwen), bestimmte Fabeltiere
 (Drache, Einhorn usw.) oder eben das feste Tierpersonal aus der

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                    16 | 17
antiken Fabeltradition (Fuchs, Wolf usw.), welche eine grössere
Rolle spielen. Auffällig ist auch, dass in der Literatur des Mittelalters
Tiere zwar den Status einer literarischen Figur erhalten können,
prominent etwa der Löwe in Hartmanns Iwein, man aber in der
Rolle des Protagonisten, der Reflektorfigur oder gar des (Ich-)
Erzählers Tiere vergebens sucht, sieht man von den Tieren der
Fabel und des Tierepos, die jedoch als Tiere verkleidete Menschen
sind, ab. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der Eisbär im Märe
Schrätel und Wasserbär (spätes 13. Jahrhundert), der zumindest im
Mittelstück der Erzählung Mit-Protagonisten-Status erhält; auch
der Hengst Beiart spielt im Reinolt von Montelban bzw. den Haimons-
kindern (15. Jahrhundert) die Rolle eines Mit-Protagonisten, wenn
auch den menschlichen Protagonisten dieses Erzähltextes nicht
ganz gleichgestellt. Dass versucht würde, sich erzählend in die
Tierheit von Tieren hineinzuversetzen, ist mir in der mittelalterli-
chen Literatur nicht begegnet: Das Tier tritt als literarische Figur
nur reduziert auf, es bleibt Zeichen.

Ein Beispiel als Resümee: Alexander und Pucival
Die mittelalterlichen Alexanderromane, die auch Alexanders Ver-
hältnis zu seinem fabulösen Hengst Bukephalos aufgreifen, geben
uns die Gelegenheit, unsere Überlegungen zum «mittelalterli-
chen» Tier abzurunden. Wir schauen auf den Alexander Ulrichs von
­Etzenbach (um 1284),10 weil dieser in der Tradition der Alexandreis
 Walthers von Châtillon stehende Alexanderroman nicht nur von
 der Bezwingung Pucivals, wie das Pferd hier heisst, durch den
 ­Knaben Alexander erzählt, sondern auch von Pucivals Tod. Bei ihrer
  ersten Begegnung fällt dieses unbezwingbare, Menschen tötende
  Fabel-Pferd vor dem Knaben Alexander auf die Knie und lässt
  sich von ihm mühelos das Zaumzeug anlegen, satteln und reiten
  (V. 1660 – 1720):11 Dem Ausnahme-Herrscher Alexander gebührt das
  Ausnahme-Pferd Pucival, Ross und Reiter bilden künftig eine sieg-
  reiche Kampfeinheit. In der Schlacht gegen Porus findet Pucival
  den Tod, was Alexander ausdrücklich beklagt, indem er an die
  vielen Feinde erinnert, die er auf Pucival bezwungen hat und die er
  auf ihm noch hätte bezwingen wollen (V. 20044 – 20056). Daraufhin
  führt er die Schlacht auf einem sofort bereit gestellten Ersatzpferd
  (V. 20057) zu Ende.12 Auf seiner Orientfahrt kehrt Alexander erneut
  an diesen Ort zurück und lässt Pucivals Gebeine in seidene Tücher
  einschlagen und in ein aufwändig ausgestattetes Grabmal legen;
  und auf dem Grabstein lässt er eine Inschrift anbringen, auf der
  man von den Taten lesen kann, die er auf Pucival vollbracht hat
  (V. 23539 – 23552). Überdies lässt Alexander an dieser Stelle eine
  Stadt mit Namen Pucival (griech. Bukephala, heute wohl Jalepur)
  errichten (V. 23553 – 23555).13
         Die hier beschriebene Ritter-Pferd-Symbiose ist typisch für
  das Mittelalter und weist zugleich über den Normalfall hinaus: Als
Spiegel seines Reiters, als Standesattribut, ja als Herrschaftssignum     St. Gallen, Stiftsbibliothek
wird das Pferd «zur komplexen Einschreibefläche für das ‹kultu-           Cod. Sang. 625, S. 313
                                                                          Pergament, 340 Seiten
relle› Selbstverständnis des [mittelalterlichen] Adels».14 Im Akt der     25 × 19.5 cm
Zähmung beweist sich Alexander als künftiger Herrscher, das               Dürnstein, 1454
Bezwingen des unbezwingbaren Pferdes lässt sich als eine Herr-
                                                                          Johann Hartlieb,
schaftsprobe par excellence lesen. Das Verhältnis zwischen Mensch         ­Alexanderroman (um 1450).
und Tier ist funktional, das verdeutlicht insbesondere der Einsatz         Alexander erbaut eine Stadt
eines Ersatzpferdes: Das Tier dient dem Menschen, der Mensch ist           namens Alexandria dort,
                                                                           wo sein Pferd Buffaly
auf das Tier angewiesen – und insofern wird verständlich, warum            (Bukephalos) begraben ist
gerade eine Aussage zum materiellen (!) Wert des Pferdes, der,             (Z. 12 – 15).
hätte das Pferd Alexander in seinen Schlachten weiter unterstützen
können, mit drîzig lande (V. 20056, «dreissig Länder»)15 sehr hoch
angesetzt wird, Alexanders Totenklage beschliesst. Auf eine emo-
tionale Bindung mag der Umstand hindeuten, dass das Tier – wie
es für Pferde recht üblich ist – einen Eigennamen trägt. Grabmal
und Städtegründung scheinen darüber hinaus ein eindrückliches
Zeugnis von «Tierliebe» zu bieten. Zuvor schon schildert Ulrich,
wie sich Alexander liebevoll um sein ermattetes Streitross küm-
mert, indem er es vom Kopfschutz befreit und ihm den Schweiss
von den Augen wischt (V. 13341 – 13346).16 Allerdings: Klage und
Grabstein erinnern vorrangig an die Taten, die Alexander (!) auf
Pucival vollbracht hat, nicht an Pucival selbst – das Pferd wird zum
Memorial für Alexanders Leistung. Im hier ausgestellten Alexander
Johann Hartliebs (um 1450), der zwar den Tod des Pferdes nicht
eigens erzählt, aber an späterer Stelle erwähnt, erhält die Stadt, die
Alexander an der statt, da sein wunderleich rozz Buffaly begraben
wardt (Z. 7345, Übers.: Stelle, wo sein erstaunliches Streitross
Bukephalos begraben wurde) erbauen lässt, daher sehr folgerichtig
den Namen Alexandria (Z. 7344) und nicht Bukephala (sie ist hier
die erste der zwölf Städte, die Alexander nach Hartlieb gegründet
hat und die seinen Namen tragen).17
        Um nun unsere Spurensuche zu einem Ende zu führen (und
mir ist bewusst, dass ich damit sehr holzschnittartig vereinfache),
könnte man sagen, dass Alexanders Pferd Pucival in gewisser Weise
all das verkörpert, was das «mittelalterliche» Tier ausmacht: Es ist
ein Tier für den Menschen, um des Menschen willen, ein Nutz- und
Gebrauchstier, ein Standestier, ein Symboltier, ein Zeichen. Es ist
aber auch ein Buchtier, ein Tier aus antiker Quelle, ein – um dieses
Oxymoron zu bemühen – «reales Fabeltier». Anfangs noch ein
fremdes Tier, ein unbekanntes Tier, wird es für Alexander zu einem
nahen Tier, einem geliebten Tier. Vieles davon liesse sich gewiss
auch über Tiere anderer Epochen sagen – was das Tier zum «mittel-
alterlichen» Tier macht, sind die spezifischen Gegebenheiten des
Mittelalters (wie hier: Rittertum und Herrschaft, in anderen
­Kontexten: das Christentum), die die Vorstellung vom Tier im
 Mittelalter massgeblich bestimmen.

Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier                 18 | 19
1
Tiere als Freunde
Franziska Schnoor
Gab es schon in der Antike und im Mittelalter freundschaftliche
Beziehungen von Menschen zu Tieren oder ist die emotionale Bin-
dung zum Haustier eine «Erfindung» der Neuzeit? Sabine Ober-
maier legt in ihrer Einleitung zu diesem Katalog dar, dass die
Mensch-Tier-Beziehung im Mittelalter zwar anders geartet war, als
sie heute ist, aber dass es doch Zeugnisse für die Freundschaft zu
Tieren gibt (vgl. S. 10).18
       Im Folgenden werden drei Texte vorgestellt, in denen wir
solchen Freundschaften begegnen. Der erste – Ovids Amores 2, 6
über den Papagei der Corinna – ist eine antike Liebeselegie, die
übrigen zwei sind mittelalterliche Heiligenleben. Es werden also
Quellen unterschiedlicher Art herangezogen, die aber gemeinsam
haben, dass sie literarische Texte sind. Eine mehr oder weniger
starke Stilisierung ist daher anzunehmen, und man muss kritisch
fragen, ob die Texte überhaupt als Belege für ein bestimmtes Verhal-
ten von Menschen gegenüber Tieren genommen werden können.
       Während die ältere Forschung Ovids Liebeselegien autobio-
graphisch gelesen hat, unterscheidet die jüngere Forschung zwi-
schen dem Autor Ovid und seiner persona (dem elegischen Ich), die
in den Gedichten als Dichter und Liebhaber auftritt. Die Beziehung
zu Corinna, der Geliebten, wird vielfach als fiktiv angesehen. Wenn
es aber keine reale Corinna gab, so existierte folglich auch kein
Papagei, der ihr gehörte und den sie mochte. Der Papagei wird in
neueren Aufsätzen stattdessen etwa als Sinnbild für den Dichter
Ovid gelesen.19 Dass er kein reales Tier repräsentiert, heisst jedoch
nicht, dass eine freundschaftliche Beziehung zwischen einem
Papagei und seiner Besitzerin zu Ovids Zeiten undenkbar war. Viel-
mehr kann das Tier nur dann metaphorisch gedeutet werden, wenn
das dahinterstehende Verhalten plausibel ist. Dass in Rom Papa-
geien gehalten wurden, ist auch aus anderen Quellen belegt.20
       In mittelalterlichen Heiligenleben muss man stets damit
rechnen, dass das, was über einen Heiligen oder eine Heilige
geschrieben wird, teilweise auf einer literarischen Tradition beruht
und nicht unbedingt der Wahrheit entspricht. In den vorgestellten
Texten lassen die Tierepisoden aber wohl auf eine grundsätzliche
Realität schliessen. In der Geschichte vom Eremiten und der Katze
in der Vita Gregorii magni wird das tierfreundliche Verhalten des
Einsiedlers gerade dadurch glaubwürdiger, dass es kritisiert wird.
Und in den Viten des Franz von Assisi lässt die Häufung von tierbe-
zogenen Episoden auf ein besonderes, von Geschwisterlichkeit
geprägtes Verhältnis von Franziskus zu Tieren schliessen. Ein Ver-
gleich mit authentischen Äusserungen des Heiligen bestätigt das.

                                                               20 | 21
St. Gallen, Stiftsbibliothek      Corinnas Papagei
Cod. Sang. 864, S. 369            Ein Papagei – ein Vogel, der aus Indien stammt und Stimmen nach-
Pergament, 406 Seiten
21 – 22.5 × 13 – 14.5 cm          ahmen kann – ist gestorben und alle anderen Vögel sollen um ihn
11./12. Jahrhundert               trauern: So beginnt das sechste Gedicht im zweiten Buch der
                                  ­Liebeselegien (Amores) des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. –
Die Elegie beginnt in Z. 19,
die P-Initiale ist nicht ausge-    17 n. Chr.).21 Die Vögel werden aufgefordert, mit menschlichen
führt worden: Psittacus,           Trauergesten ihren Schmerz zum Ausdruck zu bringen, sie sollen
Eois imitatrix ales ab Indis /     sich mit den Flügeln an die Brust schlagen, ihre Wangen mit den
occidit […] («Der Papagei,
der Nachahmer unter den            scharfen Krallen zerkratzen und sich die Flaumfedern auf dem Kopf
Vögeln aus dem indischen           zerraufen. Viel zu früh musste der Papagei sterben, während an-
Morgenland, ist gestorben          dere, viel schlechtere Vögel länger leben. Weder seine Treue noch
[…]»).
                                   seine Sprachbegabung oder seine Schönheit22 bewahrten ihn vor
                                   dem Tod. Einen Trost gibt es immerhin: Er wird ins Vogel-Elysium
                                   kommen.
                                           Was hat ein Gedicht, das vordergründig als Totenklage auf
                                   ein Tier erscheint, in einer Sammlung von Liebeselegien zu suchen?
                                   Die Antwort liegt in Corinna, der Geliebten des elegischen Ichs in
                                   Ovids Amores. Ihr gehörte der Papagei, sie sorgte sich um ihn, als er
                                   krank war, beobachtete die Entwicklung seiner Krankheit genau,
                                   legte sogar Gelübde für seine Genesung ab und konnte doch nicht
                                   verhindern, dass der Vogel am siebten Tag starb. Noch im Sterben
                                   rief er ihren Namen: Corinna, vale («Corinna, leb wohl», V. 48).
                                           Ovid zeichnet das Bild einer von Zuneigung geprägten
                                   Beziehung zwischen Corinna und ihrem Papagei, der ihr von dem
                                   Moment an gefiel, als sie ihn geschenkt bekam (V. 19). Das steht
                                   auch auf der Grabinschrift, die Ovid dem Vogel selbst in den Schna-
                                   bel legt: Colligor ex ipso dominae placuisse sepulcro («An diesem Grab
                                   kann man erkennen, dass ich meiner Herrin gefiel», V. 61).
                                           Der zweite Vers der Grabinschrift geht auf die typischste
                                   Eigenschaft des Papageis ein, seine Sprachfähigkeit: Ora fuere mihi
                                   plus ave docta loqui. Wegen des Wortspiels mit ave ist dieser Vers
                                   zweideutig: «Mein Schnabel konnte mehr sprechen als jeder andere
                                   Vogel» oder «Mein Schnabel konnte mehr als nur ‹Ave› sagen». Dass
                                   Papageien Ave («sei gegrüsst») sagen, berichtet schon Plinius der
                                   Ältere in seiner Naturgeschichte. Corinnas Papagei konnte noch
                                   mehr: Wenn Ovid dem Vogel nachsagt, er habe sich sterbend von
                                   Corinna verabschiedet, so spricht er ihm indirekt menschlichen
                                   Verstand zu.
                                           Die Handschrift, in der diese Elegie überliefert ist, besteht
                                   aus vier unabhängig voneinander im 11. und 12. Jahrhundert ent-
                                   standenen Teilen mit Werken der antiken Autoren Horaz, Lukan,
                                   Sallust und Ovid. Der Teil mit Ovids Amores ist zwischen den Zei-
                                   len und am Rand intensiv kommentiert worden. Wir wissen aller-
                                   dings nicht, ob der Text und die Kommentierung in St. Gallen ent-
                                   standen sind. Für den Unterricht an der Klosterschule eigneten
                                   sich die Liebesgedichte eher nicht.

                                  1 Tiere als Freunde                                             22 | 23
Der Einsiedler und seine Katze                                           St. Gallen, Stiftsbibliothek
Johannes Diaconus († 880/882)23 erzählt in seiner zwischen 873 und       Cod. Sang. 578, S. 105
                                                                         Pergament, 294 Seiten
876 verfassten Lebensbeschreibung Papst Gregors des Grossen              34 – 35 × 25 – 26 cm
(† 604) von einem Eremiten und seiner Katze:                             St. Gallen, um 900
        Ein Einsiedler besitzt nichts auf der Welt ausser einer Katze,
mit der er zusammenlebt. Gerne lässt er sie auf seinem Schoss sit-
zen und streichelt sie. Er möchte nun wissen, wie es ihm nach sei-
nem Tod ergehen wird. Als ihm in einer nächtlichen Vision offen-
bart wird, dass er im Jenseits bei Papst Gregor dem Grossen leben
wird, ist der Einsiedler schockiert. Er soll nach dem Tod mit einem
so reichen Mann zusammenleben? Haben etwa sein Leben in frei-
williger Armut, sein Fasten und seine Abkehr von der Welt ihm gar
nichts genützt? Wieder und wieder vergleicht er seine eigene
Armut mit Gregors grossem Reichtum und beklagt sich bitterlich.
Da sagt ihm Christus in einer weiteren Traumvision: «Reich ist
nicht, wer viel besitzt, sondern wer viel begehrt. Wie kannst du dich
für arm halten, obwohl du deine Katze, die du täglich streichelst
und niemandem überlassen würdest, mehr liebst als Gregor alle
seine Reichtümer, die er nicht liebte, sondern verachtete und frei-
gebig an alle verschenkte?» Daraufhin sieht der Eremit ein, welch
grosse Ehre es ist, nach dem Tod mit Gregor dem Grossen zusam-
menleben zu dürfen, und betet inständig darum, dass ihm das
zuteilwerden möge.24
        Rainer Kampling bezeichnet das Motiv des Eremiten und
seiner Katze als «literarisches Wandermotiv».25 Es ist in der mittel-
alterlichen Literatur immer wieder anzutreffen, verweist aber trotz
literarischer Abhängigkeiten wohl auf einen wahren Kern: Eremi-
ten haben manchmal Katzen gehalten und ihre Gesellschaft zu
schätzen gewusst. Vom Nutzen der Katze als Mäusefängerin ist hier
nicht die Rede, die Beziehung ist vielmehr emotional geprägt. Sie
stösst aber auf Missbilligung, weil der Eremit mit ihr gegen sein
Armutsgelübde verstösst: Reichtum ist das, woran das Herz hängt,
unabhängig vom materiellen Wert. Das Herz eines Einsiedlers
sollte aber allein an Gott hängen, nicht an weltlichem Besitz, ande-
ren Menschen oder Tieren.
        Interessanterweise ist mit keinem Wort die Rede davon, dass
der Einsiedler sich nach der zweiten Vision von der Katze trennte.
Ob er das tat oder nicht, ist aber im Kontext der Vita Gregors des
Grossen auch gar nicht wichtig. Die Erzählung erfüllt vielmehr eine
andere Funktion: Sie entschuldigt den Reichtum des Papstes, der
einem Heiligen eigentlich nicht angemessen ist. Entscheidend ist
aber der Umgang mit dem Reichtum, und hier erweist sich Gregor
als der bessere Christ, da er seinen Besitz verachtete und an die
Armen verteilte.

1 Tiere als Freunde                                            24 | 25
St. Gallen, Stiftsbibliothek   Franz von Assisi und die Tiere
Cod. Sang. 582, S. 553         Die Lebensbeschreibungen des Franz von Assisi († 1226) sind voll
Pergament, 699 Seiten
21.5 × 15.5 cm                 von Geschichten über Begegnungen des Heiligen mit Tieren.26 Die
Bodenseeraum (?),              bekannteste darunter ist wohl die Vogelpredigt.27 Sie ist in der
14. Jahrhundert                Kunst häufig dargestellt worden, zum Beispiel in dem berühmten
Franz von Assisi nennt         Fresko von Giotto di Bondone in der Basilika San Francesco in Assisi
eine Grille «Schwester»        (um 1295). Die Vogelpredigt ist auch in die Legenda aurea, eine Samm-
(linke Spalte, Z. 1 – 3):      lung von Heiligenviten des Dominikaners Jacobus de Voragine
[…] cicada in ficu residens
frequenter canebat. Quam       († 1298) aufgenommen worden, die hier in einer Handschrift des
vir dei manum extendens        14. Jahrhunderts, vielleicht aus dem Bodenseeraum, zu sehen ist:28
vocavit dicens: Soror                  «Einmal begegnete er einer grossen Schar Vögel. Er grüsste
mea cicada, veni ad me
(«Eine Grille, die in einem    sie, als hätten sie Verstand, und sagte: ‹Meine Brüder Vögel, ihr
Feigenbaum sass, zirpte oft.   müsst euren Schöpfer fleissig loben, denn er hat euch in Federn
Der Mann Gottes streckte       gekleidet, euch Flügel zum Fliegen gegeben, die reine Luft
die Hand aus und rief sie
mit den Worten: ‹Meine         ge­schenkt und lenkt euch ohne euer Zutun.› Da begannen die Vögel
Schwester Grille, komm zu      ihre Hälse ihm entgegenzurecken, ihre Flügel auszustrecken, ihre
mir.›»)                        Schnäbel zu öffnen und ihn aufmerksam anzuschauen. Er aber ging
                               durch ihre Mitte, und obwohl er sie mit seiner Tunika berührte,
                               bewegte sich keiner von ihnen vom Fleck, bis er es ihnen erlaubte.
                               Da flogen sie alle auf einmal davon.»29
                                       Franziskus behandelt die Vögel als Wesen mit Verstand und
                               spricht zu ihnen auf Augenhöhe. Die Vögel danken es ihm mit Ver-
                               trauen, indem sie ihn ganz nah herankommen lassen und selbst
                               dann, wenn er sie mit seinem Gewand berührt, nicht davonfliegen.
                                       Das Kapitel über Franziskus in der Legenda aurea enthält
                               noch weitere Tierepisoden. Manchmal fordert Franziskus Vögel auf
                               zu schweigen, dann nämlich, wenn sie so laut zwitschern, dass man
                               seine Predigt nicht mehr verstehen kann oder er und sein Begleiter
                               sich beim Singen des Stundengebets gegenseitig nicht mehr hören
                               können.30 Besonders aufschlussreich sind die Episoden, in denen
                               sich Franziskus’ Verbundenheit mit den kleinsten Tieren zeigt: Er
                               sammelt Würmer vom Weg auf, damit sie nicht von den Vorbei­
                               gehenden zertreten werden. Damit die Bienen in der Kälte des
                               Winters nicht verhungern, lässt er ihnen Honig und den besten
                               Wein vorsetzen. Eine Grille, die in der Nähe seiner Zelle zirpt,
                               ­fordert er auf, auf seine Hand zu springen und Gott zu preisen. Er
                                spricht sie mit «Schwester Grille an», wie er überhaupt alle Tiere
                                mit «Schwester» oder «Bruder» anredet.31
                                       Dieses geschwisterliche Verhältnis des Franz von Assisi zu
                                Tieren wird durch seine eigenen Schriften bestätigt. In ihnen bringt
                                er seine Verbundenheit mit allen Geschöpfen, selbst mit der unbe-
                                lebten Natur, zum Ausdruck. So bezeichnet er im Sonnengesang
                                auch Sonne und Mond, Wind, Wasser und Feuer als Brüder und
                                Schwestern.32

                               1 Tiere als Freunde                                            26 | 27
2
Nutztiere
Cornel Dora
Das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ist in den meisten
Kulturen klar hierarchisch. Das Tier gehört demnach einer tieferen
Ordnung an und wird von den Menschen deshalb fast überall als
Nutztier eingesetzt. Diese Haltung kommt auch im biblischen
Schöpfungsbericht zum Ausdruck, indem Gott den Menschen den
Auftrag gibt: «Waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des
Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!» (Gen 1,28)
Man muss wohl sagen, dass die Menschen praktisch überall tat-
sächlich über die Tiere herrschen und sie in vieler Hinsicht nutzen.
        Seit Urzeiten wurden Tiere in spirituellen Ritualen getötet,
eine Praxis, die heute glücklicherweise weitgehend verschwunden
ist.33 Dagegen sind Tiere bis heute ein wichtiger Teil des mensch-
lichen Speisezettels. Sie wurden auf der Jagd erlegt und im Verlauf
der Geschichte zunehmend auch eigens dazu gezüchtet, gemästet,
planmässig geschlachtet und zu Essen verarbeitet. Fast rund um die
Welt bilden Tiere einen festen Teil der Kochkultur und -literatur.
Dazu gehören auch tierische Erzeugnisse wie Milch oder Eier.
        Freilich war der Anteil des Fleischkonsums am gesamten
Konsum von Lebensmitteln früher viel geringer als heute. Fleisch
war rar und viele Menschen konnten es sich nicht leisten. Es war
eine Speise für Feste und für die Oberschicht. So betrachtet ist die
heutige Hinwendung zum Vegetarismus und Veganismus ein Stück
weit auch eine gewisse Normalisierung.
        In der christlichen Kirche gab es – wie in manchen anderen
Religionen – Vorbehalte gegenüber dem Fleischgenuss, die sich in
strengen Fastengeboten ausdrückten. In der Benediktsregel heisst
es: «Auf das Fleisch vierfüssiger Tiere sollen alle verzichten, ausser
die ganz schwachen Kranken» (Kapitel 39).34 Daraus wurde aller-
dings vielerorts abgeleitet, dass der Verzehr von Geflügel und natür-
lich auch von Fischen erlaubt sei, weil sie ja nicht vier Füsse hätten.
        Im Folgenden werden nun aber nicht Kochrezepte vorge-
stellt, sondern wir wenden uns anderen Bereichen zu, in denen
Tiere vom Menschen genutzt wurden: Damit etwa Maultiere ­Lasten
transportieren konnten, mussten die Tierhalter sie gesund erhal-
ten. Auch benötigte die Arbeit mit Tieren einen Rechtsrahmen.
Und schliesslich zeigt das Beispiel des St. Galler Bestiarius, welch
wichtige Rolle die Magie in der medizinischen Nutzung der Tiere
spielte.

                                                                28 | 29
Die Pflege von Maultieren und Pferden in der Antike                       St. Gallen, Stiftsbibliothek
Zu den ältesten bekannten Nutztieren der Menschen gehören                 Cod. Sang. 908, S. 277 – 292
                                                                          (S. 283)
Pferde, Esel und Maultiere. Anders als heute galt in der Antike das       Pergament, 412 Seiten
Maultier, die Kreuzung einer Pferdestute mit einem Eselhengst, als        20.5 × 13.5 cm
besonders edles Tier, denn es vereinigt die physischen Vorzüge des        Italien, spätes 6. Jahrhun-
                                                                          dert (untere Schrift)
Pferds, etwa Kraft und Schnelligkeit, mit den charakterlichen Vor-
zügen des Esels wie Geduld und Gleichmut.35
        Aufgrund der besonderen Wertschätzung für die Maultiere
wird die Pferdemedizin von den Autoren des Altertums mulomedi-
cina («Maultierheilkunde») genannt. So auch in den umfangreichen
Digesta artis mulomedicinalis von Publius Flavius Renatus Vegetius
(um 383 – um 450), der sonst vor allem für seine Militärlehre De
re militari bekannt ist.36 Bei seiner Maultierheilkunde stützte er
sich auf bestehende Werke, insbesondere von Chiron Centaurus
(4. Jahrhundert) und Pelagonius Saloninus (um 300 n. Chr.), die er
neu ordnete und mit seinem umfangreichen eigenen Wissen
ergänzte, das er sich im Verlauf von Reisen und bei der Arbeit im
eigenen Gestüt erworben hatte.37 Buch 1 befasst sich mit verschie-
denen Krankheiten, Buch 2 mit den einzelnen Körperteilen und
Buch 3 mit Arzneirezepten. In der Überlieferung wurde ein eben-
falls von Vegetius verfasstes Buch 4 De curis boum epitoma angefügt,
das sich mit dem Braunvieh befasst.38
        Gemäss Vincenzo Ortoleva gibt es 20 Textzeugen des Werks,
von denen die Fragmente in Cod. Sang. 908 (S. 277 – 292) die mit
Abstand ältesten sind.39 Es handelt sich um 16 Seiten im sogenann-
ten «König der Palimpseste» der Stiftsbibliothek. Diese ausserge-
wöhnliche Handschrift besteht aus 412 palimpsestierten Seiten, die
zwei Mal oder – wie bei der Mulomedicina – gar drei Mal beschrieben
wurden. Die älteren Schriftebenen stammen dabei durchgängig aus
der Spätantike und überliefern sehr seltene und entsprechend
bedeutende Text-Bruchstücke. Thematisch spannen diese einen
weiten Bogen von der Bibel bis zur Mulomedicina von Vegetius.
        Der Vegetius-Text findet sich auf der nebenstehenden Abbil-
dung als untere Schrift quer zur Seite verlaufend. Die schöne Unziale
ist wohl ins späte 6. Jahrhundert zu datieren und nach Italien zu ver-
orten. Erhalten sind Passagen aus den Kapiteln 11 bis 17 von Buch 1.
        Der abgebildete Abschnitt (Buch 1, Kapitel 17, Absatz 11 – 13)
handelt von der bis heute vorkommenden Pferdekrankheit Rotz
(lat. morbus mallei), die auch als Seuche auftreten kann.40 Als Gegen-
mittel werden eine ganze Reihe verschiedener Arzneien empfoh-
len, darunter hier ein Trank mit einem Pfund Stink-Wacholder, drei
Unzen Edel-Gamander, zwei Unzen Flockenblumen und je vier
Unzen Pfeifenblumen, Lorbeer und Myrrhe. Dies alles soll zerstos-
sen und zu Pulver verarbeitet werden. Bei Bedarf ist dieses Pulver
dann in einem grossen Kochlöffel mit einem halben Liter warmem
Wein aufzulösen und dem Tier in den Rachen zu schütten.41

2 Nutztiere                                                     30 | 31
Tiere als Eigentum                                                     St. Gallen, Stiftsbibliothek
In der agrarischen Welt der Germanen bildeten die Haustiere auf        Cod. Sang. 731, S. 234 – 292
                                                                       (S. 242 – 243)
dem Bauernhof ein wichtiges Element des bäuerlichen Eigen-             Pergament, 342 Seiten
tums. Sie mussten vor Verlust und insbesondere auch vor Dieb-          22.5 × 13 cm
stahl gesichert werden. Dafür gab es Gesetze, die sicherstellten,      Lyon, Wandalgarius, 793

dass Streitfälle von der Gemeinde in einer Gerichtsversammlung
(Thing) unter Vorsitz eines Richters geschlichtet werden konn-
ten. Darin wurden auch Bussen festgelegt, die an den Geschädig-
ten zu entrichten waren (Kompositionensystem).42
       Zur Zeit Karls des Grossen flossen im fränkischen Reich
zwei grosse europäische Rechtstraditionen zusammen, nämlich
das römische Recht einerseits und die verschiedenen Stammes-
rechte der Germanen, die vom 5. bis zum 9. Jahrhundert in den
sogenannten Legessammlungen verschriftlicht wurden, ander-
seits. Auch wenn die Leges den römischen Einfluss zeigen, so set-
zen sie doch andere Schwerpunkte.43 Charakteristisch sind Rei-
nigungseide, Gottesurteile, Zweikämpfe und Bussenkataloge.44
       Als Beispiel für die Kompensation von Tierdiebstahl dient
hier die vom römischen Recht vergleichsweise wenig berührte
Lex Salica, die Rechtssammlung der Salfranken.45 Sie ist in Cod.
Sang. 731 in einer frühkarolingischen Fassung mit 100 Titeln
erhalten. Karl Ubl vermutet, dass diese Version von König Pippin
764 auf der Reichsversammlung von Worms erlassen wurde.46
       Der Diebstahl von Tieren wird unter den Titeln 2 bis 7 und
unter den Titeln 9 und 63 nach Tierart (Schweine, Rinder, Schafe,
Ziegen, Hunde, Vögel, Bienen und Pferde) geordnet behandelt.47
Die Bussen, die neben der Rückerstattung des Diebesguts zu ent-
richten waren, variieren je nach Tier und spiegeln dessen Nutzen
und Wert. So betrug die Busse für ein einzelnes Schwein zwi-
schen einem Schilling für ein Ferkel und 17½ Schillingen für ein
erwachsenes Schwein (Titel 2), für ein Stück Braunvieh zwischen
3 und 45 Schillingen (Titel 3), für einen Hund zwischen 3 und 15
Schillingen (Titel 6) und so weiter. Zum Vergleich: Für die Tötung
einer Frau im gebärfähigen Alter betrug die Busse 600 Schillinge,
für die Tötung eines Mannes je nach Stand und Tötungsart zwi-
schen 70 und 1800 Schillingen (Titel 32 und 69).48
       Als Beispiel für die Formulierung sei die Bestimmung zu
Kranich und Schwan angeführt: «Wenn einer einen zahmen Kra-
nich oder Schwan stiehlt, werde er 3 Schillinge ausser Wert und
Weigerungsgeld zu schulden verurteilt.»49
       Vielleicht dachte der Schreiber der Handschrift an die
Abschnitte zu den Vögeln, als er die Initialen am Anfang des Kapi-
tels auf Seite 242 verzierte. Er nennt seinen Namen, Wandalga-
rius, an zwei Stellen der Handschrift (S. 234 und 342) und hält auf
dem letzten Blatt fest, dass er die Handschrift am 1. November 793
fertiggestellt habe.50 Es handelt sich somit um eine der frühesten
eindeutig datierten Handschriften der Schweiz.51

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