Fremde und Freunde - Stiftsbezirk St.Gallen
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Tiere Umschlag: Katze. Holzschnitt in Konrad Gessner, Historia a nimalium, Bd. 1, Zürich 1551, S. 345.
Tiere Fremde und Freunde Winterausstellung 24. November 2021 bis 6. März 2022 Herausgegeben von Franziska Schnoor Verlag am Klosterhof, St. Gallen Schwabe Verlag, Basel 2021
© 2021 Verlag am Klosterhof, St. Gallen Gestaltung und Satz TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen Druck und Ausrüstung Cavelti AG, Gossau Bestelladressen Stiftsbibliothek St. Gallen Klosterhof 6d 9000 St. Gallen/Schweiz stibi@stibi.ch www.stiftsbibliothek.ch Schwabe Verlag www.schwabe.ch CH: Buchzentrum AG Industriestr. Ost 10 6414 Hägendorf kundendienst@buchzentrum.ch DE / AT / übrige Länder: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH Postfach D – 70803 Kornwestheim info@brocom.de St. Gallen: Verlag am Klosterhof, 2021 ISBN 978 – 3 – 905906 – 46 – 2 Basel: Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, 2021 ISBN 978 – 3 – 7965 – 4519 – 1
Vorwort Cornel Dora 6 Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier Sabine Obermaier 8 1 Tiere als Freunde Franziska Schnoor 20 2 Nutztiere Cornel Dora 28 3 Tiere ergründen Andreas Nievergelt 36 4 Drachen und wilde Tiere Franziska Schnoor 44 5 Tiere und Menschen Cornel Dora 52 6 Tiere als Symbole Franziska Schnoor 60 7 Tiere als Buchschmuck Franziska Schnoor 68 & Marlies Pekarek: Paraden und Prozessionen Corinne Schatz 82 Anhang 88 Anmerkungen 89 Register der Handschriften und Drucke 94
Vorwort Tiere sind die lebendigen Begleiter der Menschen. Sie haben die Fähigkeit, sowohl uns Angst zu machen als auch uns zutiefst zu rühren. Das war auch in ver- gangenen Zeiten nicht anders. In vielem sind sich Tiere und Menschen tatsächlich ähnlich, wie schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) und viele andere Philoso- phen der Antike und des Mittelalters festgestellt haben. Vor dem industriellen Zeitalter war die Bezie- hung zwischen Menschen und Tieren etwas anders als heute, wohl existenzieller und oft auch konkreter. In der damaligen Agrargesellschaft waren die Men- schen in vielerlei Hinsicht auf Tiere angewiesen. Diese übernahmen schwere Arbeiten und dienten als Nahrung. Sie waren aber auch als Freunde anzutref- fen, etwa als Hauskatze oder Papagei. Das Spektrum des Umgangs der Menschen mit den Tieren war schon immer breit und reichte von engster emotiona- ler Verbundenheit bei Haustieren bis hin zu grosser Rücksichtslosigkeit bei Schlachttieren. Wie vielfältig – manche werden auch denken zweideutig – der Umgang mit Tieren auch in histori- scher Perspektive ist, zeigt die Winterausstellung der Stiftsbibliothek 2021/22, zu der die vorliegende Schrift als Katalog erscheint. Die darin vorgestellten Beispiele wollen uns diese Fremden und Freunde zugleich näherbringen. Der Blick auf die Vergangen- heit soll auch dazu anregen, über unser heutiges Verhältnis zu den Tieren nachzudenken. Eine Kunstinstallation von Marlies Pekarek zeigt uns eine lange Prozession von Tieren rund um den Barocksaal der Stiftsbibliothek. Die Tiere begleiten uns beim Betrachten der Vitrinen. Wir danken den Sponsoren, die diese Tierparade ermög- licht h aben: Arnold Billwiller Stiftung, E. Fritz und Yvonne Hoffmann-Stiftung, Ernst Göhner Stiftung, Vorwort 6|7
Lienhard-Stiftung, Stiftung für Ostschweizer Kunst- schaffen und Susanne und Martin Knechtli-Kradolfer- Stiftung, Stadt St. Gallen und Amt für Kultur des Kantons St. Gallen. Die Ausstellung wurde von Franziska Schnoor konzipiert, die auch den Löwenanteil des Inhalts bei- gesteuert hat. Grossen Dank dafür! Ich danke ausser- dem allen anderen, die zum Inhalt beigetragen haben, insbesondere Sabine Obermaier für die erhellende Einleitung sowie Andreas Nievergelt und Corinne Schatz für die von ihnen verfassten Kapitel. Dank gilt auch Silvio Frigg für das Einrichten der Vitrinen. Zu guter Letzt danke ich einmal mehr dem Katholischen Konfessionsteil des Kantons St. Gallen und der Stiftsbibliothekskommission, die die Stifts bibliothek tragen und begleiten, und dem Bund, dem Kanton und der Stadt St. Gallen für die finanzielle Unterstützung. Ihnen als Leserinnen und Lesern wünschen wir eine gute Begegnung mit den hier vorgestellten Tieren und ihren Geschichten. Cornel Dora, Stiftsbibliothekar Am Gallustag 2020
Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier St. Gallen, Stiftsbibliothek Sabine Obermaier Cod. Sang. 625, S. 7 Pergament, 340 Seiten 25 × 19.5 cm Gibt es das überhaupt: das «mittelalterliche» Tier? Vielleicht wäre Dürnstein, 1454 doch vorsichtiger zu formulieren: Die Suche, auf die wir uns nun Johann Hartlieb, begeben wollen, gilt dem, was das spezifisch Mittelalterliche ist, Alexanderroman (um 1450) wenn es um Tiere im Mittelalter geht. Als Wegmarken mögen uns drei geläufige mediävistische Beschreibungsschablonen dienen, die damit zugleich auf den Prüfstand kommen. Erste Schablone: Das im mittelalterlichen Alltag omnipräsente Tier Der mittelalterliche Mensch ist, insofern er in einer ständisch organisierten Agrarkultur lebt, stets von Tieren umgeben. Unter- wegs ist man zu Pferd, Lasten werden mit entsprechenden Last- pferden, Maultieren, Eseln oder mit dem Ochsenkarren transpor- tiert. Ochsen, seltener Pferde, helfen bei der Feldarbeit. Kühe grasen auf den Weiden. Hühner, Enten und Gänse laufen frei um- her. Hirten führen Schafe, Ziegen und auch Schweine von Weide zu Weide. Als weitgehend «Outdoor-Tiere» sind mittelalterliche Nutztiere damit nicht nur im Alltag der Bauern präsent. Doch auch die Bedrohung durch wilde Tiere, z. B. durch Wölfe (kaum mehr durch Bären, die im Mittelalter bereits weitgehend ausgerottet sind), dürfte noch unmittelbarer Teil des mittelalterlichen Lebens- gefühls sein – und es spiegelt wohl mehr als Kinderangst, wenn Gottfried von Strassburg seinen jungen Titelhelden Tristan fürch- ten lässt, dass ihn Wölfe und wilde Tiere fressen könnten, als er sich allein ausgesetzt im Wald wiederfindet (Tristan, V. 2511 – 2512). Der Hund ist – als Hirten-, Wach-, Jagd- oder Schosshund – bereits treuer Begleiter des Menschen. Die Jagd auf Niederwild durch die bäuerliche Landbevölkerung dient dem Nahrungserwerb, die Jagd auf Hochwild, insbesondere die Jagd mit Falken durch die dazu privilegierte Aristokratie, ist dagegen eher «als Medium feudaler Identitätsbildung»1 zu sehen. In den mittelalterlichen Städten an Fluss und Meer entwickelt sich bereits ein ausgeprägtes Fischerei- wesen. Und wer im Mittelalter Fisch oder Fleisch isst (und das sind vorzugsweise die Adligen), kann noch gut sehen, dass hier ein Tier auf den Tisch kommt. Ebenso gehören Felle und Pelze noch fraglos zur Garderobe bestimmter Stände. Tiere, insbesondere Nutztiere, sind – so scheint es – dem Menschen im Mittelalter sehr viel näher als uns heute – oder ist dies nur die bukolische Projektion einer an der modernen Massentier- haltung leidenden Gegenwart? Denn: Wie empfindet ein Mensch das stete Umgeben-Sein von Tieren, wenn er es gar nicht anders kennt? Unterläuft nicht gerade die Selbstverständlichkeit dieser »Nähe» zum Tier das «Nähe»-Theorem? Und: Was heisst hier über- haupt «Nähe»? Schliesst «räumliche Nähe» (insofern Mensch und Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier 8|9
Tier den Lebensraum miteinander teilen) «emotionale Nähe» ein? Ist doch auch immer wieder zu lesen, dass es das Haustier – als heiss geliebtes Schmuse- und Knuddeltier und Spielgefährte, ja als Spiel- zeug der Kinder – im Mittelalter so noch gar nicht gibt (wobei dies neuere Forschungen in Frage stellen). Zeugnisse mittelalterlicher «Tierliebe» sind rar – was nicht heissen muss, dass es sie nicht gibt: Klagen um verstorbene Tiere, aber auch Eigennamen für Tiere (vor allem für Pferde und Hunde, aber auch für andere Nutztiere) sprechen dafür, dass Tiere auch geliebt und als «Freunde» wertge- schätzt werden; und Tierheilkunden (wie etwa der hier ausgestellte Palimpsest der Mulomedicina) zeigen, dass man sich um das Wohl zumindest bestimmter Tiere – wenn auch vorrangig im eigenen Interesse – sorgt. Vom Wert einzelner Tiere legen mittelalterliche Rechtsquellen ein beredtes Zeugnis ab, wobei es hier vor allem um den materiellen und rechtlichen Wert des Tieres als Eigentum des Menschen geht (Tiere sind auch im Mittelalter Statussymbol), nicht um eine Wertschätzung, wie sie derzeit das Tier im Zuge des animal turn gewinnt. Was ist daran nun spezifisch mittelalterlich? Man kann wohl sagen: Es sind andere Tiere, nämlich Nutz- und nicht Haustiere, die im Lebensalltag der mittelalterlichen Menschen präsent sind; und ihre konkrete Präsenz ist – wie wir gesehen haben – stark ständisch determiniert. Zu bedenken ist auch, dass sich eine Tierart im Laufe der Geschichte verändern kann; den Blick dafür hat Robert Delort 1984 mit seinem Buch «Les animaux ont une histoire»2 geschärft. Der mittelalterliche Braunbär z. B. hat ein sehr viel dunkleres Fell; auch gibt es deutlich weniger Hunderassen, und das Schwein ist noch kleiner und rundlicher als sein heute auf Fleischeffizienz gezüchtetes Pendant (um nur einige markante Beispiele zu nen- nen). Auch in diesem Sinne sind mittelalterliche Tiere andere Tiere. Überdies sind es andere Räume der Präsenz: Der öffentliche Aussen-Raum ist im Mittelalter deutlich stärker von Tieren besetzt, während es heute vor allem der private Innen-Raum ist. Damit sind andere Grenzen von Bedeutung: Die Haustier-/Nutz- tier-Grenze wird im Mittelalter nicht so scharf gezogen wie die Wild-/Zahm-Grenze, die bereits der Paradies-Darstellung ein geschrieben ist. Die Domestikation wilder Tiere ist nicht von ungefähr ein weit verbreitetes Narrativ der Heiligenlegende, und ein allumfassendes Fleischangebot wird mit der Doppelformel wilt unde zam bezeichnet. Omnipräsent sind Tiere allerdings auch in Form von Bildern und Objekten (z. B. in und an Kirchen sowie an anderen Gebäuden, als Schmuck von Gebrauchsgegenständen, als Wappentiere etc.), aber auch in Form von sprachlichen Zeichen (als Literaturtiere, in Phraseologismen, als Bestandteil von Namen). Das ist im Mittel alter kaum anders als heute bzw. hier sind die Unterschiede sehr subtil: Ich komme darauf zurück. Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier 10 | 11
Zweite Schablone: Das im Mittelalter (noch) unbekannte Tier Es gibt Tiere, die dem Mittelalter noch gänzlich unbekannt sind – und das sind nicht nur Tiere, die auf Kontinenten oder in Lebensberei- chen (z. B. Tiefsee, Darmflora) zuhause sind, die man noch nicht hat «entdecken» können. Der Zoo, in dem heute jede/r Tiere aus fernen Ländern bestaunen kann, ist im Mittelalter in dieser Form noch nicht erfunden; doch gehören insbesondere exotische Tiere wie Elefanten, Löwen, Eisbären u. a. als gern ausgetauschte Geschenke im Rahmen königlicher Diplomatie zum festen Bestand fürstlicher Menagerien, die allerdings nicht allgemein zugänglich sind. Pilger, Kreuzfahrer und Kaufleute dürften aber auf ihren Fernreisen die Gelegenheit ge- habt haben, fremde Tiere zu sehen – davon legen spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Reisebeschreibungen gelegentlich Zeugnis ab. Die Biologie ist noch keine Wissenschaft im heutigen Sinne. An Klosterschulen und mittelalterlichen Universitäten gibt es die- ses Fach deshalb auch noch nicht. Die grossen lateinischen mittel- alterlichen Naturenzyklopädien des 13. Jahrhunderts – wie der Liber de naturis rerum des Thomas von Cantimpré (ca. 1225/26 – 1241), das Speculum naturale des Vinzenz von Beauvais (ca. 1256 – 1259), De pro- prietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus (ca. 1240) oder De animalibus von Albertus Magnus (ca. 1256 – 1260) – sind geschrieben von gelehrten Kirchenmännern. Diese Bücher dienen als «Predigt- hilfe»3 und haben das Ziel, ein Instrumentarium zur Deutung der göttlichen Schöpfung bereitzustellen sowie – in ihren späteren Aus prägungen – Orientierungshilfen für moralisch wertvolles Handeln zu geben. Das hier verhandelte Wissen vom Tier beruht allerdings nicht auf eigenen Naturbeobachtungen. Vielmehr wird hier das Tierwissen aus antiken und spätantiken Quellen geschöpft: aus der Historia animalium des Aristoteles (334 – 323 v. Chr., vermittelt über die lateinische Übersetzung durch Michael Scotus aus dem Arabi- schen), der Naturalis Historia des Plinius (um 79 n. Chr.), dem Hexa- emeron des Ambrosius (339 – 397 n. Chr.), den Etymologiae des Isidor von Sevilla (um 623/30) u. a. m. Dabei bleibt bisweilen – aus Ehr- furcht vor den altehrwürdigen Quellen – Widersprüchliches unge- glättet stehen; nur Albertus Magnus überprüft das Gelesene bis- weilen quellenkritisch anhand eigener Erfahrungen. Mittelalterli- ches Tierwissen ist also wesentlich Buchwissen; und insofern sind auch die Fabeltiere genauso «real» wie die realen, z. T. ähnlich frem- den Tiere. Nur dort, wo man auf Tiere unmittelbar angewiesen ist wie etwa bei der Falknerei oder in der Pferdeheilkunde, findet sich empirisches Wissen, also Wissen, wie es aus dem täglichen Umgang mit Tieren erwächst – die Quellen dafür sind rar und wertvoll. Das bedeutet aber auch: Die in den Enzyklopädien verhan- delte Tierwelt ist eigentlich die Tierwelt der Antike, nicht die des Mittelalters. Bemerkbar wird dies dort, wo man die beschriebenen Tiere offenbar gar nicht mehr zu identifizieren vermag: So gibt es
z. B. bei Thomas von Cantimpré gleich drei Einträge zum Fluss- St. Gallen, Stiftsbibliothek pferd: De ipothamo (nach Plinius), De equo fluminis (nach Aristoteles) Cod. Sang. 77, S. 11 Pergament, 482 Seiten und De equo Nili fluminis (aus unbekannter Quelle, angeblich nach 46.5 × 35 cm Michael Scotus). Gängige Flusspferd-Attribute finden sich dabei Kloster St. Gallen, auf drei verschiedene Tiere verteilt, ohne dass auffiele, dass es sich um 850/860 eigentlich um ein und dasselbe Tier handelt. Die in der Würzburger Die Erschaffung der Tiere Handschrift zum Stichwort Ipothamus beigegebene Illustration, die im ersten Band der Grossen ein Hybridwesen aus Fischkörper mit Pferdekopf zeigt (Würzburg, Hartmut-Bibel (linke Spalte, Universitätsbibliothek, M. ch. f. 150, fol. 143va), macht unverkennbar Z. 13 – 17; rechte Spalte, Z. 3 – 8): Dixit etiam Deus: deutlich, dass man Flusspferde nicht kennt (andere Illustrationen Producant aquae reptile zeigen die «Wasserpferde» als Pferde im Wasser oder als Monster- animae viventis et volatile wesen). Wir sind heute leicht dabei, solche Missverständnisse und super terram sub firmamento caeli. […] Dixit quoque Irrtümer milde zu belächeln – dabei sollten uns die regelmässigen Deus: Producat terra Falsifizierungen von Hypothesen, wie sie in der modernen Wissen- animam viventem in genere schaft an der Tagesordnung sind, eines Besseren belehren: Wissen suo, iumenta et reptilia et bestias terrae secundum ist stets nach dem jeweiligen Wissensstand zu bewerten. species suas («Dann sprach Nicht unbedingt genuin mittelalterlich, da zum Teil aus Antike Gott: Das Wasser wimmle und Spätantike ererbt, aber doch radikal anders als in der Zeit nach von Schwärmen lebendiger Wesen und Vögel sollen Linné und Darwin sind die Kriterien zur Einteilung der Tierwelt. über der Erde am Himmels- Grosse Autorität hat für das Mittelalter der biblische Schöpfungs gewölbe fliegen. […] Dann bericht (Gen 1,20 – 25), der die Tierwelt in Tiere des Wassers (ohne sprach Gott: Die Erde bringe Lebewesen aller Art hervor, eigenes Wort), geflügelte Tiere (volatile), Vieh (iumenta), Kriechtiere von Vieh, von Kriechtieren (reptilia, einschliesslich Insekten) und wilde Landtiere (bestias terrae) und von Wildtieren der einteilt (leicht abweichende Einteilungen finden sich in Dtn 4,17 – 18; Erde nach ihrer Art», Gen 1,20 und 24). 1 Kön 5,13; Ez 38,20 sowie Gen 6,1 – 8,22). Diese von den Schöpfungs- tagen ausgehende Klassifikation lässt sich gut mit Plinius’ Einteilung in Landtiere, Wassertiere, Vögel und Insekten harmonisieren, indem man die Kriterien Lebensbereiche/Elemente (Luft, Wasser, Erde) und Fortbewegungsart (Fliegen, Kriechen, Gehen, Schwimmen) kombiniert. Wie populär solche Einteilungen sind, zeigt die Selbst- verständlichkeit, mit der sie der zweite Reichston-Spruch Walthers von der Vogelweide (1198) rekapituliert: Ich hôrte ein wazzer diezen / unde sach die vische vliezen, […] / swaz kriuchet unde vliuget / und bein zer erden biuget, / daz sach ich […]4 («Ich hörte das Wasser rauschen und sah die Fische schwimmen […]. Alles, was kriecht und fliegt und das Bein auf die Erde beugt [= geht], das sah ich […]»). Eine Klassifikation dieser Art lässt sich auch gut in die Vor- stellung einer der göttlichen Ordnung entstammenden «Stufen leiter der Natur» einpassen, die streng hierarchisch vom Vollkom- meneren zum weniger Vollkommenen herab reicht: Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Metalle. Innerhalb der Tierwelt gilt nach Thomas von Cantimpré, der seine Enzyklopädie nach Seinsstufen gliedert, die folgende Stufenfolge: vierfüssige Tiere, Vögel, Meer- wunder (mit eigenem Kapitel!) und Fische (= Wassertiere), Schlan- gen (= Kriechtiere) und Insekten. Eine Vorstufe zu Darwins Evolutionstheorie bildet diese Scala naturae genauso wenig wie das aristotelische Konzept der Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier 12 | 13
«Lebensleiter». Zwar sehen mittelalterliche Gelehrte die Nähe zwi- schen Mensch und Affe durchaus, aber an eine genetische Abstam- mung denkt noch niemand. Bei der mit grossem Ernst geführten Diskussion, ob monstra mehr beim Tier oder mehr beim Menschen anzusiedeln sind, ordnet Albertus Magnus die Pygmäen über den Affen, aber eine Stufe unter dem Menschen ein;5 im nächsten Kapi- tel zählt er sie allerdings wieder zu den Affen – «Animalisierung» ist auch im Mittelalter ein traditioneller Topos im Diskurs über das Fremde. Und obgleich die Tier-Mensch-Grenze noch unantastbar erscheint, greifen auch die Gelehrten des Mittelalters den alten Streit auf, ob die Tiere eine Ratio, ja eine Seele haben. Halten wir fest: Das Wissen vom Tier, wie es sich in den gelehrten Naturkunden des Mittelalters präsentiert, ist elitär (inso- fern es vor allem die Domäne der Gelehrten ist), literarisch (insofern es Buchwissen ist), konservativ (insofern es antike Quellen repro- duziert) und theologisch motiviert (insofern es Predigthilfe sein will). Damit entspricht die mittelalterliche Tierkunde mitnichten unse- ren Vorstellungen einer Naturwissenschaft. Von daher verbietet es sich auch, Konrads von Megenberg Buch der Natur (1348/50), die deutsche Übersetzung einer Kurzversion des Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré, als «erste Naturgeschichte in deut- scher Sprache» zu bezeichnen, wie es sein erster Herausgeber Franz Pfeiffer noch unbekümmert tat. Von heutiger Warte aus wirkt mittelalterliches Tierwissen rudimentär und erratisch: Das Tier erscheint als (noch) unbekanntes Tier. Wir lächeln, wenn die Fledermaus, die bereits Aristoteles als Säugetier bestimmt und die selbst von den mittelalterlichen Enzy- klopädisten als «gebärendes» und «säugendes» Tier erkannt wird, zu den Vögeln gezählt wird und der Wal zu den Fischen, obwohl er, wie Konrad von Megenberg sagt, vnchaeuscht, d. h. säugetiergemäs- sen Geschlechtsverkehr hat. Denkt man aber vom Massstab des Mittelalters aus, ist diese Zuordnung gar nicht mehr so falsch: Vögel sind Lufttiere, die fliegen; Fische sind Wassertiere, die schwim- men. Und wenn Krokodil, Delfin und Flusspferd neben Meer- mönch und Meerjungfrau bei den Meerwundern zu finden sind, zeigt dies, dass die Grenze Fabeltier/reales Tier für die Naturkunde des Mittelalters wie noch der frühen Neuzeit so gar nicht existiert; noch Conrad Gessner integriert das ein oder andere Fabelwesen (z. B. das Einhorn) in seine Historia animalium (1551 – 1558). Dritte Schablone: Das als allegorisches Zeichen zu lesende Tier Wer im Mittelalter Naturkunde betreibt, tut dies nicht um der Natur willen: Als göttliche Schöpfung ist das «Buch der Natur» ein – zur Bibellektüre gleichberechtigter – Weg zur Erkenntnis Gottes und der Welt, wie es Alanus ab Insulis († um 1202), ein französischer Zisterziensermönch aus der Schule von Chartres, so einprägsam Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier 14 | 15
formuliert hat: Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum, / nostrae vitae, nostrae mortis, / nostri status, nostrae sortis / fidele signaculum6 («Die gesamte Schöpfung der Welt ist für uns gleichsam ein Buch und ein Bild und ein Spiegel, ist ein getreues Zeichen unseres Lebens, unseres Todes, unseres Zustandes [und] unseres Schicksals»). Die «natürlichen Dinge», zu denen auch die Tiere gehören, werden also sämtlich als Zeichen verstanden, die auf Gott, Welt und Mensch verweisen. Prominentestes Zeugnis dieses Denkens ist der Physiologus, eine im 2. Jahrhundert n. Chr. innerhalb der frühchristlichen Gemein- den Alexandrias entstandene, ursprünglich griechische «Natur- lehre», die das christliche Mittelalter in lateinischen und volksspra- chigen Übersetzungen intensiv rezipiert. Beschrieben werden darin zunächst die natürlichen Eigenschaften, die sog. proprietates der Tiere, ursprünglich auch noch der Pflanzen und Steine, welche in der Bibel vorkommen, um sie dann Punkt für Punkt theologisch auszu legen. So etwa steht der Adler, der – alt und blind geworden – eine Quelle sucht, von dort zur Sonne fliegt, dort sein Gefieder verbrennt und sich danach in die Quelle zurück fallen lässt, wodurch er wieder jung und sehend wird, für den Menschen der alten Sünde (einen Juden oder einen Heiden), der durch die Taufe geistlich wiedergebo- ren wird (Physiologus, Millstätter Reimfassung, V. 130,3 – 131,6). Die Pro- prietäten-Beschreibungen orientieren sich dabei am tradierten natur- kundlichen Buchwissen. Eine weitere Besonderheit dieser spezifisch mittelalterlichen Art, über Tiere zu denken und Tiere auszulegen, ist, dass man kein Problem damit hat, ein und dasselbe Tier sowohl in bonam partem (zum Guten) als auch in malam partem (zum Schlechten) zu deuten: Der Adlervater, der seine Jungen zwingt, direkt in die Sonne zu sehen, und der das Küken, das blinzelt oder dessen Auge tränt, aus dem Nest wirft, steht für den Christen, der seine Werke prüft. Diese Proprietät der «Jungenprobe» des Adlers ist allerdings nicht in den überlieferten Physiologus-Texten zu finden, sondern in den – das Physiologus-Wissen anreichernden und vulgarisierenden – mittelalterlichen Bestiarien, z. B. in De bestiis et aliis rebus des Ps.-Hugo von St. Victor. Die naturkundliche Grundlage für diese Pro- prietät ist bereits in der Naturalis Historia des Plinius nachzulesen. Das Tier ist hier also ein Bedeutungsträger ganz besonderer Art: Es ist nicht der Mensch, der das Tier als Zeichen benutzt, son- dern das Tier ist Zeichen, insofern es Teil der göttlichen Schöpfung ist. Dies macht verständlich, warum der Meissner, ein theologisch versierter Sangspruchdichter des 13. Jahrhunderts, seinen Sanges- kollegen Marner harsch angeht, weil dieser in seinem Physiologus- Spruch7 nach Ansicht des Meissners seine «wissenschaftliche Sorg- faltspflicht» verletzt: her lese baz die buoch8 («er möge die Bücher genauer lesen»). Der Meissner kritisiert hier eine fehlerhafte Wieder- gabe der Proprietäten von Strauss, Phönix und Pelikan, weil diese eben nicht im willkürlichen Ermessen des Autors liegt, sondern
einer höheren Wahrheit zu folgen hat. Der Marner verstösst – dem Meissner zufolge – also gegen die Sinnfindungsregel der christlichen Hermeneutik, wie sie Friedrich Ohly in seinem mass- geblichen Aufsatz «Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter» (1958/59) freigelegt und beschrieben hat: Jedes von Gott geschaf- fene Ding, welches durch das Wort benannt wird, «deutet auf einen höheren Sinn, ist Zeichen von etwas Geistigem, hat eine significa- tio, eine be-zeichenunge [sic!], eine Be-deutung [sic!]».9 Die Erschlies- sung dieser Bedeutung geschieht aufgrund der Eigenschaften (lat. proprietates) des Dings, welche zugleich Eigenschaften oder Merk- male des Bezeichnenden (der res significans) wie des Bezeichneten (des significatum) sind. Die Proprietäten sind also wahr im Sinne ihrer Bedeutung und insofern korrekt wiederzugeben. Wer nun aber glaubt, damit auch den Schlüssel zum Verstehen literarischer Tier-Bilder des Mittelalters in der Hand zu halten, wird enttäuscht: Enites Pferde im Erec Hartmanns von Aue, der Löwe in Hartmanns Iwein, das Wunderhündchen Petitcreiu und der Minne- grotten-Hirsch in Gottfrieds Tristan, der Drache, den Herzeloyde im Parzival Wolframs von Eschenbach zu gebären träumt, oder der Drache, in dessen Blut Siegfried im Nibelungenlied badet, wie auch der Fuchs Reinhart und der Wolf Isengrim aus dem Tierepos oder gar die Nachtigallen im Minnesang (um nur ein paar prominente Bei- spiele zu nennen) – sie alle sind über die christliche Tierallegorese im Grunde nicht oder zumindest nicht allein zu erschliessen. Ob als Ver- gleich, Metapher, Teil des Namens oder Wappens oder als Traum- symbol, ob als Geschenk, Reittier, Gefährte, Kampfgegner oder Jagdbeute – literarische Tiere übernehmen ganz eigene Funktionen für das Werk, in dem sie anzutreffen sind: Beispielsweise markieren sie den sozialen Status oder beschreiben die Qualität(en) einer Figur, sie machen die Figur identifizierbar, sie verknüpfen Figuren und Szenen, sie kommentieren implizit Figur oder Geschehen usw. Es sind hier die jeweiligen mittelalterlichen Autoren und/oder ihre Leserinnen und Leser, die für das konkrete Tier innerhalb des kon kreten Werkkontextes die Bedeutung setzen, die also das Tier erst zum Zeichen machen. Und in diese Bedeutungssetzungen können sich traditionelle (auch: naturallegoretische) Deutungen sowie andere zeitgenössische Wissensbestände vom Tier einschreiben. Dass das Tier als literarisches Zeichen Teil hat an den spezi- fischen Wissens-, Denk- und Deutungstraditionen des Mittel alters, macht auch das literarische Tier des Mittelalters zu einem «mittelalterlichen» Tier. Darüber hinaus lassen sich auch einige Unterschiede zum neuzeitlichen literarischen Tier benennen: In der mittelalterlichen Literatur kommt – zumindest, was die promi- nenteren Tierfiguren angeht – ein begrenztes Tierrepetoire zum Ein- satz: Es sind vor allem Tiere aus der adligen Lebenswelt (Pferde, Hunde, Jagdtiere usw., aber auch: Löwen), bestimmte Fabeltiere (Drache, Einhorn usw.) oder eben das feste Tierpersonal aus der Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier 16 | 17
antiken Fabeltradition (Fuchs, Wolf usw.), welche eine grössere Rolle spielen. Auffällig ist auch, dass in der Literatur des Mittelalters Tiere zwar den Status einer literarischen Figur erhalten können, prominent etwa der Löwe in Hartmanns Iwein, man aber in der Rolle des Protagonisten, der Reflektorfigur oder gar des (Ich-) Erzählers Tiere vergebens sucht, sieht man von den Tieren der Fabel und des Tierepos, die jedoch als Tiere verkleidete Menschen sind, ab. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der Eisbär im Märe Schrätel und Wasserbär (spätes 13. Jahrhundert), der zumindest im Mittelstück der Erzählung Mit-Protagonisten-Status erhält; auch der Hengst Beiart spielt im Reinolt von Montelban bzw. den Haimons- kindern (15. Jahrhundert) die Rolle eines Mit-Protagonisten, wenn auch den menschlichen Protagonisten dieses Erzähltextes nicht ganz gleichgestellt. Dass versucht würde, sich erzählend in die Tierheit von Tieren hineinzuversetzen, ist mir in der mittelalterli- chen Literatur nicht begegnet: Das Tier tritt als literarische Figur nur reduziert auf, es bleibt Zeichen. Ein Beispiel als Resümee: Alexander und Pucival Die mittelalterlichen Alexanderromane, die auch Alexanders Ver- hältnis zu seinem fabulösen Hengst Bukephalos aufgreifen, geben uns die Gelegenheit, unsere Überlegungen zum «mittelalterli- chen» Tier abzurunden. Wir schauen auf den Alexander Ulrichs von Etzenbach (um 1284),10 weil dieser in der Tradition der Alexandreis Walthers von Châtillon stehende Alexanderroman nicht nur von der Bezwingung Pucivals, wie das Pferd hier heisst, durch den Knaben Alexander erzählt, sondern auch von Pucivals Tod. Bei ihrer ersten Begegnung fällt dieses unbezwingbare, Menschen tötende Fabel-Pferd vor dem Knaben Alexander auf die Knie und lässt sich von ihm mühelos das Zaumzeug anlegen, satteln und reiten (V. 1660 – 1720):11 Dem Ausnahme-Herrscher Alexander gebührt das Ausnahme-Pferd Pucival, Ross und Reiter bilden künftig eine sieg- reiche Kampfeinheit. In der Schlacht gegen Porus findet Pucival den Tod, was Alexander ausdrücklich beklagt, indem er an die vielen Feinde erinnert, die er auf Pucival bezwungen hat und die er auf ihm noch hätte bezwingen wollen (V. 20044 – 20056). Daraufhin führt er die Schlacht auf einem sofort bereit gestellten Ersatzpferd (V. 20057) zu Ende.12 Auf seiner Orientfahrt kehrt Alexander erneut an diesen Ort zurück und lässt Pucivals Gebeine in seidene Tücher einschlagen und in ein aufwändig ausgestattetes Grabmal legen; und auf dem Grabstein lässt er eine Inschrift anbringen, auf der man von den Taten lesen kann, die er auf Pucival vollbracht hat (V. 23539 – 23552). Überdies lässt Alexander an dieser Stelle eine Stadt mit Namen Pucival (griech. Bukephala, heute wohl Jalepur) errichten (V. 23553 – 23555).13 Die hier beschriebene Ritter-Pferd-Symbiose ist typisch für das Mittelalter und weist zugleich über den Normalfall hinaus: Als
Spiegel seines Reiters, als Standesattribut, ja als Herrschaftssignum St. Gallen, Stiftsbibliothek wird das Pferd «zur komplexen Einschreibefläche für das ‹kultu- Cod. Sang. 625, S. 313 Pergament, 340 Seiten relle› Selbstverständnis des [mittelalterlichen] Adels».14 Im Akt der 25 × 19.5 cm Zähmung beweist sich Alexander als künftiger Herrscher, das Dürnstein, 1454 Bezwingen des unbezwingbaren Pferdes lässt sich als eine Herr- Johann Hartlieb, schaftsprobe par excellence lesen. Das Verhältnis zwischen Mensch Alexanderroman (um 1450). und Tier ist funktional, das verdeutlicht insbesondere der Einsatz Alexander erbaut eine Stadt eines Ersatzpferdes: Das Tier dient dem Menschen, der Mensch ist namens Alexandria dort, wo sein Pferd Buffaly auf das Tier angewiesen – und insofern wird verständlich, warum (Bukephalos) begraben ist gerade eine Aussage zum materiellen (!) Wert des Pferdes, der, (Z. 12 – 15). hätte das Pferd Alexander in seinen Schlachten weiter unterstützen können, mit drîzig lande (V. 20056, «dreissig Länder»)15 sehr hoch angesetzt wird, Alexanders Totenklage beschliesst. Auf eine emo- tionale Bindung mag der Umstand hindeuten, dass das Tier – wie es für Pferde recht üblich ist – einen Eigennamen trägt. Grabmal und Städtegründung scheinen darüber hinaus ein eindrückliches Zeugnis von «Tierliebe» zu bieten. Zuvor schon schildert Ulrich, wie sich Alexander liebevoll um sein ermattetes Streitross küm- mert, indem er es vom Kopfschutz befreit und ihm den Schweiss von den Augen wischt (V. 13341 – 13346).16 Allerdings: Klage und Grabstein erinnern vorrangig an die Taten, die Alexander (!) auf Pucival vollbracht hat, nicht an Pucival selbst – das Pferd wird zum Memorial für Alexanders Leistung. Im hier ausgestellten Alexander Johann Hartliebs (um 1450), der zwar den Tod des Pferdes nicht eigens erzählt, aber an späterer Stelle erwähnt, erhält die Stadt, die Alexander an der statt, da sein wunderleich rozz Buffaly begraben wardt (Z. 7345, Übers.: Stelle, wo sein erstaunliches Streitross Bukephalos begraben wurde) erbauen lässt, daher sehr folgerichtig den Namen Alexandria (Z. 7344) und nicht Bukephala (sie ist hier die erste der zwölf Städte, die Alexander nach Hartlieb gegründet hat und die seinen Namen tragen).17 Um nun unsere Spurensuche zu einem Ende zu führen (und mir ist bewusst, dass ich damit sehr holzschnittartig vereinfache), könnte man sagen, dass Alexanders Pferd Pucival in gewisser Weise all das verkörpert, was das «mittelalterliche» Tier ausmacht: Es ist ein Tier für den Menschen, um des Menschen willen, ein Nutz- und Gebrauchstier, ein Standestier, ein Symboltier, ein Zeichen. Es ist aber auch ein Buchtier, ein Tier aus antiker Quelle, ein – um dieses Oxymoron zu bemühen – «reales Fabeltier». Anfangs noch ein fremdes Tier, ein unbekanntes Tier, wird es für Alexander zu einem nahen Tier, einem geliebten Tier. Vieles davon liesse sich gewiss auch über Tiere anderer Epochen sagen – was das Tier zum «mittel- alterlichen» Tier macht, sind die spezifischen Gegebenheiten des Mittelalters (wie hier: Rittertum und Herrschaft, in anderen Kontexten: das Christentum), die die Vorstellung vom Tier im Mittelalter massgeblich bestimmen. Auf der Suche nach dem «mittelalterlichen» Tier 18 | 19
1 Tiere als Freunde Franziska Schnoor
Gab es schon in der Antike und im Mittelalter freundschaftliche Beziehungen von Menschen zu Tieren oder ist die emotionale Bin- dung zum Haustier eine «Erfindung» der Neuzeit? Sabine Ober- maier legt in ihrer Einleitung zu diesem Katalog dar, dass die Mensch-Tier-Beziehung im Mittelalter zwar anders geartet war, als sie heute ist, aber dass es doch Zeugnisse für die Freundschaft zu Tieren gibt (vgl. S. 10).18 Im Folgenden werden drei Texte vorgestellt, in denen wir solchen Freundschaften begegnen. Der erste – Ovids Amores 2, 6 über den Papagei der Corinna – ist eine antike Liebeselegie, die übrigen zwei sind mittelalterliche Heiligenleben. Es werden also Quellen unterschiedlicher Art herangezogen, die aber gemeinsam haben, dass sie literarische Texte sind. Eine mehr oder weniger starke Stilisierung ist daher anzunehmen, und man muss kritisch fragen, ob die Texte überhaupt als Belege für ein bestimmtes Verhal- ten von Menschen gegenüber Tieren genommen werden können. Während die ältere Forschung Ovids Liebeselegien autobio- graphisch gelesen hat, unterscheidet die jüngere Forschung zwi- schen dem Autor Ovid und seiner persona (dem elegischen Ich), die in den Gedichten als Dichter und Liebhaber auftritt. Die Beziehung zu Corinna, der Geliebten, wird vielfach als fiktiv angesehen. Wenn es aber keine reale Corinna gab, so existierte folglich auch kein Papagei, der ihr gehörte und den sie mochte. Der Papagei wird in neueren Aufsätzen stattdessen etwa als Sinnbild für den Dichter Ovid gelesen.19 Dass er kein reales Tier repräsentiert, heisst jedoch nicht, dass eine freundschaftliche Beziehung zwischen einem Papagei und seiner Besitzerin zu Ovids Zeiten undenkbar war. Viel- mehr kann das Tier nur dann metaphorisch gedeutet werden, wenn das dahinterstehende Verhalten plausibel ist. Dass in Rom Papa- geien gehalten wurden, ist auch aus anderen Quellen belegt.20 In mittelalterlichen Heiligenleben muss man stets damit rechnen, dass das, was über einen Heiligen oder eine Heilige geschrieben wird, teilweise auf einer literarischen Tradition beruht und nicht unbedingt der Wahrheit entspricht. In den vorgestellten Texten lassen die Tierepisoden aber wohl auf eine grundsätzliche Realität schliessen. In der Geschichte vom Eremiten und der Katze in der Vita Gregorii magni wird das tierfreundliche Verhalten des Einsiedlers gerade dadurch glaubwürdiger, dass es kritisiert wird. Und in den Viten des Franz von Assisi lässt die Häufung von tierbe- zogenen Episoden auf ein besonderes, von Geschwisterlichkeit geprägtes Verhältnis von Franziskus zu Tieren schliessen. Ein Ver- gleich mit authentischen Äusserungen des Heiligen bestätigt das. 20 | 21
St. Gallen, Stiftsbibliothek Corinnas Papagei Cod. Sang. 864, S. 369 Ein Papagei – ein Vogel, der aus Indien stammt und Stimmen nach- Pergament, 406 Seiten 21 – 22.5 × 13 – 14.5 cm ahmen kann – ist gestorben und alle anderen Vögel sollen um ihn 11./12. Jahrhundert trauern: So beginnt das sechste Gedicht im zweiten Buch der Liebeselegien (Amores) des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – Die Elegie beginnt in Z. 19, die P-Initiale ist nicht ausge- 17 n. Chr.).21 Die Vögel werden aufgefordert, mit menschlichen führt worden: Psittacus, Trauergesten ihren Schmerz zum Ausdruck zu bringen, sie sollen Eois imitatrix ales ab Indis / sich mit den Flügeln an die Brust schlagen, ihre Wangen mit den occidit […] («Der Papagei, der Nachahmer unter den scharfen Krallen zerkratzen und sich die Flaumfedern auf dem Kopf Vögeln aus dem indischen zerraufen. Viel zu früh musste der Papagei sterben, während an- Morgenland, ist gestorben dere, viel schlechtere Vögel länger leben. Weder seine Treue noch […]»). seine Sprachbegabung oder seine Schönheit22 bewahrten ihn vor dem Tod. Einen Trost gibt es immerhin: Er wird ins Vogel-Elysium kommen. Was hat ein Gedicht, das vordergründig als Totenklage auf ein Tier erscheint, in einer Sammlung von Liebeselegien zu suchen? Die Antwort liegt in Corinna, der Geliebten des elegischen Ichs in Ovids Amores. Ihr gehörte der Papagei, sie sorgte sich um ihn, als er krank war, beobachtete die Entwicklung seiner Krankheit genau, legte sogar Gelübde für seine Genesung ab und konnte doch nicht verhindern, dass der Vogel am siebten Tag starb. Noch im Sterben rief er ihren Namen: Corinna, vale («Corinna, leb wohl», V. 48). Ovid zeichnet das Bild einer von Zuneigung geprägten Beziehung zwischen Corinna und ihrem Papagei, der ihr von dem Moment an gefiel, als sie ihn geschenkt bekam (V. 19). Das steht auch auf der Grabinschrift, die Ovid dem Vogel selbst in den Schna- bel legt: Colligor ex ipso dominae placuisse sepulcro («An diesem Grab kann man erkennen, dass ich meiner Herrin gefiel», V. 61). Der zweite Vers der Grabinschrift geht auf die typischste Eigenschaft des Papageis ein, seine Sprachfähigkeit: Ora fuere mihi plus ave docta loqui. Wegen des Wortspiels mit ave ist dieser Vers zweideutig: «Mein Schnabel konnte mehr sprechen als jeder andere Vogel» oder «Mein Schnabel konnte mehr als nur ‹Ave› sagen». Dass Papageien Ave («sei gegrüsst») sagen, berichtet schon Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte. Corinnas Papagei konnte noch mehr: Wenn Ovid dem Vogel nachsagt, er habe sich sterbend von Corinna verabschiedet, so spricht er ihm indirekt menschlichen Verstand zu. Die Handschrift, in der diese Elegie überliefert ist, besteht aus vier unabhängig voneinander im 11. und 12. Jahrhundert ent- standenen Teilen mit Werken der antiken Autoren Horaz, Lukan, Sallust und Ovid. Der Teil mit Ovids Amores ist zwischen den Zei- len und am Rand intensiv kommentiert worden. Wir wissen aller- dings nicht, ob der Text und die Kommentierung in St. Gallen ent- standen sind. Für den Unterricht an der Klosterschule eigneten sich die Liebesgedichte eher nicht. 1 Tiere als Freunde 22 | 23
Der Einsiedler und seine Katze St. Gallen, Stiftsbibliothek Johannes Diaconus († 880/882)23 erzählt in seiner zwischen 873 und Cod. Sang. 578, S. 105 Pergament, 294 Seiten 876 verfassten Lebensbeschreibung Papst Gregors des Grossen 34 – 35 × 25 – 26 cm († 604) von einem Eremiten und seiner Katze: St. Gallen, um 900 Ein Einsiedler besitzt nichts auf der Welt ausser einer Katze, mit der er zusammenlebt. Gerne lässt er sie auf seinem Schoss sit- zen und streichelt sie. Er möchte nun wissen, wie es ihm nach sei- nem Tod ergehen wird. Als ihm in einer nächtlichen Vision offen- bart wird, dass er im Jenseits bei Papst Gregor dem Grossen leben wird, ist der Einsiedler schockiert. Er soll nach dem Tod mit einem so reichen Mann zusammenleben? Haben etwa sein Leben in frei- williger Armut, sein Fasten und seine Abkehr von der Welt ihm gar nichts genützt? Wieder und wieder vergleicht er seine eigene Armut mit Gregors grossem Reichtum und beklagt sich bitterlich. Da sagt ihm Christus in einer weiteren Traumvision: «Reich ist nicht, wer viel besitzt, sondern wer viel begehrt. Wie kannst du dich für arm halten, obwohl du deine Katze, die du täglich streichelst und niemandem überlassen würdest, mehr liebst als Gregor alle seine Reichtümer, die er nicht liebte, sondern verachtete und frei- gebig an alle verschenkte?» Daraufhin sieht der Eremit ein, welch grosse Ehre es ist, nach dem Tod mit Gregor dem Grossen zusam- menleben zu dürfen, und betet inständig darum, dass ihm das zuteilwerden möge.24 Rainer Kampling bezeichnet das Motiv des Eremiten und seiner Katze als «literarisches Wandermotiv».25 Es ist in der mittel- alterlichen Literatur immer wieder anzutreffen, verweist aber trotz literarischer Abhängigkeiten wohl auf einen wahren Kern: Eremi- ten haben manchmal Katzen gehalten und ihre Gesellschaft zu schätzen gewusst. Vom Nutzen der Katze als Mäusefängerin ist hier nicht die Rede, die Beziehung ist vielmehr emotional geprägt. Sie stösst aber auf Missbilligung, weil der Eremit mit ihr gegen sein Armutsgelübde verstösst: Reichtum ist das, woran das Herz hängt, unabhängig vom materiellen Wert. Das Herz eines Einsiedlers sollte aber allein an Gott hängen, nicht an weltlichem Besitz, ande- ren Menschen oder Tieren. Interessanterweise ist mit keinem Wort die Rede davon, dass der Einsiedler sich nach der zweiten Vision von der Katze trennte. Ob er das tat oder nicht, ist aber im Kontext der Vita Gregors des Grossen auch gar nicht wichtig. Die Erzählung erfüllt vielmehr eine andere Funktion: Sie entschuldigt den Reichtum des Papstes, der einem Heiligen eigentlich nicht angemessen ist. Entscheidend ist aber der Umgang mit dem Reichtum, und hier erweist sich Gregor als der bessere Christ, da er seinen Besitz verachtete und an die Armen verteilte. 1 Tiere als Freunde 24 | 25
St. Gallen, Stiftsbibliothek Franz von Assisi und die Tiere Cod. Sang. 582, S. 553 Die Lebensbeschreibungen des Franz von Assisi († 1226) sind voll Pergament, 699 Seiten 21.5 × 15.5 cm von Geschichten über Begegnungen des Heiligen mit Tieren.26 Die Bodenseeraum (?), bekannteste darunter ist wohl die Vogelpredigt.27 Sie ist in der 14. Jahrhundert Kunst häufig dargestellt worden, zum Beispiel in dem berühmten Franz von Assisi nennt Fresko von Giotto di Bondone in der Basilika San Francesco in Assisi eine Grille «Schwester» (um 1295). Die Vogelpredigt ist auch in die Legenda aurea, eine Samm- (linke Spalte, Z. 1 – 3): lung von Heiligenviten des Dominikaners Jacobus de Voragine […] cicada in ficu residens frequenter canebat. Quam († 1298) aufgenommen worden, die hier in einer Handschrift des vir dei manum extendens 14. Jahrhunderts, vielleicht aus dem Bodenseeraum, zu sehen ist:28 vocavit dicens: Soror «Einmal begegnete er einer grossen Schar Vögel. Er grüsste mea cicada, veni ad me («Eine Grille, die in einem sie, als hätten sie Verstand, und sagte: ‹Meine Brüder Vögel, ihr Feigenbaum sass, zirpte oft. müsst euren Schöpfer fleissig loben, denn er hat euch in Federn Der Mann Gottes streckte gekleidet, euch Flügel zum Fliegen gegeben, die reine Luft die Hand aus und rief sie mit den Worten: ‹Meine geschenkt und lenkt euch ohne euer Zutun.› Da begannen die Vögel Schwester Grille, komm zu ihre Hälse ihm entgegenzurecken, ihre Flügel auszustrecken, ihre mir.›») Schnäbel zu öffnen und ihn aufmerksam anzuschauen. Er aber ging durch ihre Mitte, und obwohl er sie mit seiner Tunika berührte, bewegte sich keiner von ihnen vom Fleck, bis er es ihnen erlaubte. Da flogen sie alle auf einmal davon.»29 Franziskus behandelt die Vögel als Wesen mit Verstand und spricht zu ihnen auf Augenhöhe. Die Vögel danken es ihm mit Ver- trauen, indem sie ihn ganz nah herankommen lassen und selbst dann, wenn er sie mit seinem Gewand berührt, nicht davonfliegen. Das Kapitel über Franziskus in der Legenda aurea enthält noch weitere Tierepisoden. Manchmal fordert Franziskus Vögel auf zu schweigen, dann nämlich, wenn sie so laut zwitschern, dass man seine Predigt nicht mehr verstehen kann oder er und sein Begleiter sich beim Singen des Stundengebets gegenseitig nicht mehr hören können.30 Besonders aufschlussreich sind die Episoden, in denen sich Franziskus’ Verbundenheit mit den kleinsten Tieren zeigt: Er sammelt Würmer vom Weg auf, damit sie nicht von den Vorbei gehenden zertreten werden. Damit die Bienen in der Kälte des Winters nicht verhungern, lässt er ihnen Honig und den besten Wein vorsetzen. Eine Grille, die in der Nähe seiner Zelle zirpt, fordert er auf, auf seine Hand zu springen und Gott zu preisen. Er spricht sie mit «Schwester Grille an», wie er überhaupt alle Tiere mit «Schwester» oder «Bruder» anredet.31 Dieses geschwisterliche Verhältnis des Franz von Assisi zu Tieren wird durch seine eigenen Schriften bestätigt. In ihnen bringt er seine Verbundenheit mit allen Geschöpfen, selbst mit der unbe- lebten Natur, zum Ausdruck. So bezeichnet er im Sonnengesang auch Sonne und Mond, Wind, Wasser und Feuer als Brüder und Schwestern.32 1 Tiere als Freunde 26 | 27
2 Nutztiere Cornel Dora
Das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ist in den meisten Kulturen klar hierarchisch. Das Tier gehört demnach einer tieferen Ordnung an und wird von den Menschen deshalb fast überall als Nutztier eingesetzt. Diese Haltung kommt auch im biblischen Schöpfungsbericht zum Ausdruck, indem Gott den Menschen den Auftrag gibt: «Waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!» (Gen 1,28) Man muss wohl sagen, dass die Menschen praktisch überall tat- sächlich über die Tiere herrschen und sie in vieler Hinsicht nutzen. Seit Urzeiten wurden Tiere in spirituellen Ritualen getötet, eine Praxis, die heute glücklicherweise weitgehend verschwunden ist.33 Dagegen sind Tiere bis heute ein wichtiger Teil des mensch- lichen Speisezettels. Sie wurden auf der Jagd erlegt und im Verlauf der Geschichte zunehmend auch eigens dazu gezüchtet, gemästet, planmässig geschlachtet und zu Essen verarbeitet. Fast rund um die Welt bilden Tiere einen festen Teil der Kochkultur und -literatur. Dazu gehören auch tierische Erzeugnisse wie Milch oder Eier. Freilich war der Anteil des Fleischkonsums am gesamten Konsum von Lebensmitteln früher viel geringer als heute. Fleisch war rar und viele Menschen konnten es sich nicht leisten. Es war eine Speise für Feste und für die Oberschicht. So betrachtet ist die heutige Hinwendung zum Vegetarismus und Veganismus ein Stück weit auch eine gewisse Normalisierung. In der christlichen Kirche gab es – wie in manchen anderen Religionen – Vorbehalte gegenüber dem Fleischgenuss, die sich in strengen Fastengeboten ausdrückten. In der Benediktsregel heisst es: «Auf das Fleisch vierfüssiger Tiere sollen alle verzichten, ausser die ganz schwachen Kranken» (Kapitel 39).34 Daraus wurde aller- dings vielerorts abgeleitet, dass der Verzehr von Geflügel und natür- lich auch von Fischen erlaubt sei, weil sie ja nicht vier Füsse hätten. Im Folgenden werden nun aber nicht Kochrezepte vorge- stellt, sondern wir wenden uns anderen Bereichen zu, in denen Tiere vom Menschen genutzt wurden: Damit etwa Maultiere Lasten transportieren konnten, mussten die Tierhalter sie gesund erhal- ten. Auch benötigte die Arbeit mit Tieren einen Rechtsrahmen. Und schliesslich zeigt das Beispiel des St. Galler Bestiarius, welch wichtige Rolle die Magie in der medizinischen Nutzung der Tiere spielte. 28 | 29
Die Pflege von Maultieren und Pferden in der Antike St. Gallen, Stiftsbibliothek Zu den ältesten bekannten Nutztieren der Menschen gehören Cod. Sang. 908, S. 277 – 292 (S. 283) Pferde, Esel und Maultiere. Anders als heute galt in der Antike das Pergament, 412 Seiten Maultier, die Kreuzung einer Pferdestute mit einem Eselhengst, als 20.5 × 13.5 cm besonders edles Tier, denn es vereinigt die physischen Vorzüge des Italien, spätes 6. Jahrhun- dert (untere Schrift) Pferds, etwa Kraft und Schnelligkeit, mit den charakterlichen Vor- zügen des Esels wie Geduld und Gleichmut.35 Aufgrund der besonderen Wertschätzung für die Maultiere wird die Pferdemedizin von den Autoren des Altertums mulomedi- cina («Maultierheilkunde») genannt. So auch in den umfangreichen Digesta artis mulomedicinalis von Publius Flavius Renatus Vegetius (um 383 – um 450), der sonst vor allem für seine Militärlehre De re militari bekannt ist.36 Bei seiner Maultierheilkunde stützte er sich auf bestehende Werke, insbesondere von Chiron Centaurus (4. Jahrhundert) und Pelagonius Saloninus (um 300 n. Chr.), die er neu ordnete und mit seinem umfangreichen eigenen Wissen ergänzte, das er sich im Verlauf von Reisen und bei der Arbeit im eigenen Gestüt erworben hatte.37 Buch 1 befasst sich mit verschie- denen Krankheiten, Buch 2 mit den einzelnen Körperteilen und Buch 3 mit Arzneirezepten. In der Überlieferung wurde ein eben- falls von Vegetius verfasstes Buch 4 De curis boum epitoma angefügt, das sich mit dem Braunvieh befasst.38 Gemäss Vincenzo Ortoleva gibt es 20 Textzeugen des Werks, von denen die Fragmente in Cod. Sang. 908 (S. 277 – 292) die mit Abstand ältesten sind.39 Es handelt sich um 16 Seiten im sogenann- ten «König der Palimpseste» der Stiftsbibliothek. Diese ausserge- wöhnliche Handschrift besteht aus 412 palimpsestierten Seiten, die zwei Mal oder – wie bei der Mulomedicina – gar drei Mal beschrieben wurden. Die älteren Schriftebenen stammen dabei durchgängig aus der Spätantike und überliefern sehr seltene und entsprechend bedeutende Text-Bruchstücke. Thematisch spannen diese einen weiten Bogen von der Bibel bis zur Mulomedicina von Vegetius. Der Vegetius-Text findet sich auf der nebenstehenden Abbil- dung als untere Schrift quer zur Seite verlaufend. Die schöne Unziale ist wohl ins späte 6. Jahrhundert zu datieren und nach Italien zu ver- orten. Erhalten sind Passagen aus den Kapiteln 11 bis 17 von Buch 1. Der abgebildete Abschnitt (Buch 1, Kapitel 17, Absatz 11 – 13) handelt von der bis heute vorkommenden Pferdekrankheit Rotz (lat. morbus mallei), die auch als Seuche auftreten kann.40 Als Gegen- mittel werden eine ganze Reihe verschiedener Arzneien empfoh- len, darunter hier ein Trank mit einem Pfund Stink-Wacholder, drei Unzen Edel-Gamander, zwei Unzen Flockenblumen und je vier Unzen Pfeifenblumen, Lorbeer und Myrrhe. Dies alles soll zerstos- sen und zu Pulver verarbeitet werden. Bei Bedarf ist dieses Pulver dann in einem grossen Kochlöffel mit einem halben Liter warmem Wein aufzulösen und dem Tier in den Rachen zu schütten.41 2 Nutztiere 30 | 31
Tiere als Eigentum St. Gallen, Stiftsbibliothek In der agrarischen Welt der Germanen bildeten die Haustiere auf Cod. Sang. 731, S. 234 – 292 (S. 242 – 243) dem Bauernhof ein wichtiges Element des bäuerlichen Eigen- Pergament, 342 Seiten tums. Sie mussten vor Verlust und insbesondere auch vor Dieb- 22.5 × 13 cm stahl gesichert werden. Dafür gab es Gesetze, die sicherstellten, Lyon, Wandalgarius, 793 dass Streitfälle von der Gemeinde in einer Gerichtsversammlung (Thing) unter Vorsitz eines Richters geschlichtet werden konn- ten. Darin wurden auch Bussen festgelegt, die an den Geschädig- ten zu entrichten waren (Kompositionensystem).42 Zur Zeit Karls des Grossen flossen im fränkischen Reich zwei grosse europäische Rechtstraditionen zusammen, nämlich das römische Recht einerseits und die verschiedenen Stammes- rechte der Germanen, die vom 5. bis zum 9. Jahrhundert in den sogenannten Legessammlungen verschriftlicht wurden, ander- seits. Auch wenn die Leges den römischen Einfluss zeigen, so set- zen sie doch andere Schwerpunkte.43 Charakteristisch sind Rei- nigungseide, Gottesurteile, Zweikämpfe und Bussenkataloge.44 Als Beispiel für die Kompensation von Tierdiebstahl dient hier die vom römischen Recht vergleichsweise wenig berührte Lex Salica, die Rechtssammlung der Salfranken.45 Sie ist in Cod. Sang. 731 in einer frühkarolingischen Fassung mit 100 Titeln erhalten. Karl Ubl vermutet, dass diese Version von König Pippin 764 auf der Reichsversammlung von Worms erlassen wurde.46 Der Diebstahl von Tieren wird unter den Titeln 2 bis 7 und unter den Titeln 9 und 63 nach Tierart (Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen, Hunde, Vögel, Bienen und Pferde) geordnet behandelt.47 Die Bussen, die neben der Rückerstattung des Diebesguts zu ent- richten waren, variieren je nach Tier und spiegeln dessen Nutzen und Wert. So betrug die Busse für ein einzelnes Schwein zwi- schen einem Schilling für ein Ferkel und 17½ Schillingen für ein erwachsenes Schwein (Titel 2), für ein Stück Braunvieh zwischen 3 und 45 Schillingen (Titel 3), für einen Hund zwischen 3 und 15 Schillingen (Titel 6) und so weiter. Zum Vergleich: Für die Tötung einer Frau im gebärfähigen Alter betrug die Busse 600 Schillinge, für die Tötung eines Mannes je nach Stand und Tötungsart zwi- schen 70 und 1800 Schillingen (Titel 32 und 69).48 Als Beispiel für die Formulierung sei die Bestimmung zu Kranich und Schwan angeführt: «Wenn einer einen zahmen Kra- nich oder Schwan stiehlt, werde er 3 Schillinge ausser Wert und Weigerungsgeld zu schulden verurteilt.»49 Vielleicht dachte der Schreiber der Handschrift an die Abschnitte zu den Vögeln, als er die Initialen am Anfang des Kapi- tels auf Seite 242 verzierte. Er nennt seinen Namen, Wandalga- rius, an zwei Stellen der Handschrift (S. 234 und 342) und hält auf dem letzten Blatt fest, dass er die Handschrift am 1. November 793 fertiggestellt habe.50 Es handelt sich somit um eine der frühesten eindeutig datierten Handschriften der Schweiz.51 2 Nutztiere 32 | 33
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