Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit
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Positionspapier Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 Erkenntnisse und Implikationen für die Forschung und Praxis aus Sicht der Klinischen Psychologie und Psychotherapie Eva-Lotta Brakemeier1,2, Janine Wirkner1, Christine Knaevelsrud3, Susanne Wurm4, Hanna Christiansen5, Ulrike Lueken6 und Silvia Schneider7 1 Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Greifswald 2 Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg 3 Abteilung für Klinisch-Psychologische Intervention, Freie Universität Berlin 4 Abteilung für Präventionsforschung und Sozialmedizin, Universitätsmedizin Greifswald 5 Abteilung für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Philipps-Universität Marburg 6 Abteilung für Psychotherapie, Humboldt-Universität zu Berlin 7 Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit, Ruhr-Universität Bochum Zusammenfassung: Die COVID-19-Pandemie als multidimensionaler und potenziell toxischer Stressfaktor führt auch in Deutschland zu psychischen Problemen in der Allgemeinbevölkerung und wird voraussichtlich einen Anstieg der Inzidenz- und Prävalenzraten psychischer Störungen bedingen. In diesem Positionspapier erfolgt daher eine wissenschaftlich differenzierte Betrachtung der psychologischen Aus- wirkungen der COVID-19-Pandemie auf verschiedene Altersstufen sowie psychische Vulnerabilitäten und Störungsbilder, wobei auch Chancen für die psychische Gesundheit und psychotherapeutische Versorgung diskutiert werden. Basierend auf den Befunden werden abschließend u. a. folgende gesundheitspolitische Ziele und Maßnahmen abgeleitet: Implementierung von universellen und indizierten mo- dularen Präventionsangeboten sowie Anpassung der evidenzbasierten Richtlinienpsychotherapien hinsichtlich Bedarf, Inhalt und Modalität. Die Klinische Psychologie und Psychotherapie stellt aufgrund ihrer ausgewiesenen Expertise im Bereich der psychischen Gesundheit zen- trales Wissen für die erfolgreiche Bewältigung der COVID-19-Pandemie zur Verfügung und kann in interdisziplinären und interprofessionel- len Kooperationen dazu beitragen, die Herausforderungen für die psychische Gesundheit anzugehen. Schlüsselwörter: Coronavirus, COVID-19, Pandemie, Klinische Psychologie, Psychotherapie, Prävention, Psychische Gesundheit, Behand- lung, Klinische Forschung Findings and implications for research and practice from the perspective of clinical psychology and psychotherapy Abstract: The COVID-19 pandemic as a multidimensional and potentially toxic stress factor is also causing mental problems in the general population in Germany and is expected to lead to an increase in the incidence and prevalence rates of mental disorders. In this position paper, a scientifically differentiated consideration of the psychological effects of the COVID-19 pandemic on different age groups as well as psychological vulnerabilities and disorders is therefore made, whereby opportunities for mental health and psychotherapeutic care are also discussed. Based on the findings, the following health policy goals and measures are derived: Implementation of universal and indicated modular prevention services as well as adaptations of evidence-based psychotherapies in terms of need, content and modality. Due to its proven expertise in the field of mental health, clinical psychology and psychotherapy provides central knowledge for the successful coping of the COVID-19 pandemic and can contribute to tackling the challenges for mental health through interdisciplinary and interprofessional collaboration. Keywords: coronavirus, COVID-19, pandemic, clinical psychology, psychotherapy, prevention, mental health, treatment, clinical research © 2020 Hogrefe Verlag Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020) https://doi.org10.1026/1616-3443/a000574
2 E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit Einführung: Warum die COVID-19- Die derzeitige COVID-19-Pandemie beinhaltet neben der somatischen auch eine wirtschaftlich-finanzielle Be- Pandemie als multidimensionaler drohung, die das seelische Wohlbefinden zusätzlich be- Stressor eine Herausforderung für einträchtigen kann. Entsprechend zeigte eine Studie, wel- die psychische Gesundheit ist che die Auswirkungen der Finanzkrise der Vereinigten Staaten (2007 – 2009) auf die psychische Gesundheit un- tersuchte, dass Personen, die während der Rezession min- Die COVID-19-Pandemie hat im Januar 2020 auch in destens eine finanzielle, arbeits- oder wohnungsbezogene Deutschland Einzug gehalten. Dies gilt es hervorzuheben, Einbuße erlebt hatten, drei bis vier Jahre nach dem Ende https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 da die vorherigen Infektionswellen mit anderen Corona- der Rezession immer noch eine höhere Wahrscheinlichkeit Viren in den Jahren 2002, 2003 und 2012 die deutsche aufwiesen, Symptome von Depression, allgemeiner Angst, Bevölkerung nicht in diesem Ausmaß erreicht haben. Die Panik und problematischem Substanzkonsum zu zeigen jeweils aktuelle Entwicklung lässt sich anhand der Daten (Forbes & Krueger, 2019). der Johns Hopkins University (https://coronavirus.jhu.edu/ Aus unserer Sicht ist die aktuelle COVID-19-Pandemie map.html) und des Robert-Koch-Institutes (RKI) verfolgen1. mit den jeweiligen Sicherheitsmaßnahmen vor dem Hin- Auch wenn Deutschland die sogenannte „erste Welle“ tergrund der Erfahrungen mit früheren Pandemien und im internationalen Vergleich sehr gut gemeistert hat und Krisen als ein neuer, einzigartiger, multidimensiona- es über die Sommermonate zu einer vorübergehenden ler und potentiell toxischer Stressfaktor zu interpretie- Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ren, der die Pandemie als eine besondere Bedrohung für kam, so ist seit September 2020 wieder ein Anstieg der die psychische Gesundheit erscheinen lässt und durch Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland mit zu- fünf spezifische Charakteristika gekennzeichnet ist (vgl. nehmender Beschleunigung der Übertragungen im Okto- Abbildung 1, modifiziert nach Gruber et al., 2020): 1) eine ber zu beobachten, was auch als „zweite Welle“ bezeich- globale weltweite Verbreitung von unvorhersehbarer Dau- net wird. Nach Einschätzung des RKIs handelt es sich er, die Ängste und Unsicherheit auslösen kann; 2) individu- Anfang November 2020 erneut um eine sehr dynamische elle Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche eines und ernst zu nehmende Situation von nicht absehbarer jeden Einzelnen, die psychisch belastend sein können (z. B. Dauer. Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölke- Konflikte in Beziehungen, Trauer um Nahestehende, ge- rung in Deutschland schätzt das RKI als hoch, für Risiko- sundheitsbezogene und finanzielle Sorgen, Arbeitslosig- gruppen als sehr hoch ein (https://www.rki.de). keit); 3) einen damit verbundenen subjektiv unterschied- Wir wissen aus vorangegangenen internationalen Infek- lich gravierend wahrgenommenen Kontrollverlust einher- tionswellen, dass Pandemien und Quarantänemaßnahmen gehend mit Hilflosigkeitsgefühlen; 4) systemische Auswir- neben dem physischen Risiko auch eine nicht zu unter- kungen auf verschiedene Bereiche und Gruppen der Ge- schätzende Gefahr für die psychische Gesundheit dar- sellschaft (z. B. auf die globale Wirtschaft, den internatio- stellen (z. B. Lee et al., 2007; Maunder, 2009). Quarantä- nalen Warenverkehr, den Einzelhandel, das Gastgewerbe, nemaßnahmen im Rahmen früherer Pandemien scheinen die Kultur- und Unterhaltungsbranche); 5) Einschränkun- mit negativen psychischen Auswirkungen wie posttrau- gen bis hin zu zumindest kurzfristigen Blockaden des Zu- matischer, depressiver und Angstsymptomatik sowie Ge- gangs zu Schutzfaktoren (z. B. Freizeitbeschäftigungen, reiztheit und Ärger assoziiert zu sein (Rapid Review über sportliche Aktivität) und Hilfesystemen (z. B. strenge In- 24 Studien: Brooks et al., 2020). Als Stressoren, welche dikationsstellung für persönliche Kontakte in der ambu- diese negativen Effekte begünstigen, wurden längere Qua- lanten Versorgung, Einschränkungen beim Aufnahme- rantänedauer, Infektionsängste, Frustration, Langeweile, management in psychiatrischen Kliniken sowie der Stati- unzureichende Informationen, finanzielle Einbußen und ons- und Therapieorganisation). wahrgenommene Stigmatisierung identifiziert. Es fanden Dieser besondere Stressfaktor erfordert von jeder und sich zudem Hinweise, dass negative Effekte länger an- jedem Einzelnen eine individuelle Anpassungsleistung an dauern können (Brooks et al., 2020). Eine vergleichbare die kurz- und langfristigen Folgen, weshalb unsere psy- Überblicksarbeit zu vergangenen Pandemien fand ähn- chische Flexibilität hier im besonderen Maße gefordert liche negative psychische Folgen und Stressoren, wobei ist (vgl. auch Hayes et al., 2020; Presti et al., 2020). Wenn hier zudem betont wurde, dass im Gesundheitswesen täti- die tatsächlichen oder wahrgenommenen Ressourcen je- ge Personen eine besonders vulnerable Gruppe darstellten doch nicht ausreichen, um auf diese Stressfaktoren flexi- (Röhr et al., 2020). bel zu reagieren und die belastende Situation erfolgreich 1 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020) © 2020 Hogrefe Verlag
E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit 3 https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 Abbildung 1: Die Covid-19-Pandemie als einzigarti- ger multidimensionaler und potenziell toxischer Stressfaktor für die psychische Gesundheit, ge- kennzeichnet durch fünf Charakteristika (modifiziert nach Gruber et al. 2020). zu bewältigen, steigt das Risiko für negative psychische wir basierend auf diesen Überlegungen, internationalen Folgen (Lazarus & Folkman, 1984). Eine kurzzeitige Mo- Studien sowie den ersten Ergebnissen aus Deutschland, bilisierung der Ressourcen, vermittelt durch die Stress- Erkenntnisse und Implikationen der Corona-Pandemie hormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ist durch- für die Forschung und Praxis sowie die Gesundheitspolitik aus adaptiv. Aus der neurobiologischen Stressforschung ist aus Sicht der Klinischen Psychologie und Psychotherapie jedoch bekannt, dass die psychische Gesundheit insbeson- für Deutschland darstellen. Abgesehen von den negativen dere bei zu häufiger, zu langer oder massiver Aktivierung psychischen Nebenwirkungen dieser Pandemie möchten der biologischen Stresssysteme und einem gleichzeitigem wir in den folgenden Kapiteln jedoch auch die positi- Erleben von Unkontrollierbarkeit bedroht wird (McEwen & ven Nebenwirkungen und Chancen für die psychische Stellar, 1993), so wie es aktuell im Rahmen der Corona- Gesundheit adressieren, die aus der COVID-19-Pande- Pandemie vorliegt (Gruber et al., 2020). mie resultieren können (für eine Einbettung der Begriffe In den letzten Monaten prognostizierten internationale positive und negative Nebenwirkungen s. Herzog et al., Forscherinnen und Forscher daher erhebliche Schwierig- 2019). keiten, den akuten Bedarf an psychologischer Versorgung während und nach dem COVID-19-Ausbruch auch nur annähernd decken zu können (Duan & Zhu, 2020; Rogers et al., 2020). Angesichts der ersten Studien und Entwick- Erste Erkenntnisse übe die lungen der Auswirkungen der aktuellen Pandemie auf Auswirkungen der COVID-19- die psychische Gesundheit (vgl. Kap. 2) appellierten bei- spielsweise Xiang und Kollegen in China: „Timely men- Pandemie auf die psychische tal health care for the novel coronavirus outbreak is ur- Gesundheit gently needed“ (Titel des Papers) in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet Psychiatry (Xiang et al., 2020). Die Mehrheit der ersten internationalen Studien zur ak- Ähnliche Statements finden sich auch bei der Weltge- tuellen Pandemie weist auf eine deutliche Zunahme psy- sundheitsorganisation2 und den Vereinten Nationen3. chischer Probleme und Symptome in der Akutphase, z. B. Diese Appelle haben Kolleginnen und Kollegen der während des Lockdowns, hin (American Psychiatric As- Klinischen Psychologie und Psychotherapie aus den USA sociation, 2020; Wang et al., 2020; Sønderskov et al., (Gruber et al., 2020; Galea et al., 2020) und dem Verei- 2020; Xiong et al., 2020). Ein aktuelles narratives Re- nigten Königreich (Holmes et al., 2020) durch umfassen- view, welches Studien aus China, Spanien, Italien, Iran, de Positionspapiere aufgegriffen. Im Folgenden möchten den USA, der Türkei, Nepal und Dänemark zusammen- 2 https://www.who.int/teams/mental-health-and-substance-use/covid-19 3 https://unsdg.un.org/sites/default/files/2020-05/UN-Policy-Brief-COVID-19-and-mental-health.pdf © 2020 Hogrefe Verlag Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020)
4 E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit fasste, die während der COVID-19-Pandemie bis zum Schließlich weisen Berichte aus China auf eine Zunahme 17. 05. 2020 publiziert worden sind, berichtete relativ ho- häuslicher Gewalt während der COVID-19-Pandemie hin he Raten von Angstsymptomen (6 % bis 51 %), Depres- (Kofman & Garfin, 2020). sionen (15 % bis 48 %), posttraumatischen Belastungsstö- Auch wenn die Befunde nicht direkt auf Deutschland rungen (7 % bis 54 %), psychischem Stress (34 % bis 38 %) übertragbar sind, handelt es sich größtenteils um alarmie- und Stress (8 % bis 82 %) in der Allgemeinbevölkerung rende Zahlen, die aufgrund der in Abbildung 1 benann- (Xiong et al., 2020). Entsprechend hat eine Studie, welche ten fünf Charakteristika des multidimensionalen Stres- die unter Quarantäne gestellte chinesische Allgemeinbe- sors jedoch nicht überraschen dürften. Erste Hinweise zu völkerung untersuchte, resümiert dass etwa 48 % der Be- den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psy- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 troffenen Symptome einer Depression und 23 % klinisch chische Gesundheit der deutschen Bevölkerung liefern relevante Ängste zeigten (Gao et al., 2020). Eine Längs- Studien, deren Daten zwischen März und Anfang No- schnittstsudie aus dem Vereinigten Königreich bestätigte vember 2020 gesammelt wurden, während längerfristige die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit (v. a. Effekte bisher nur antizipiert werden können. Allein auf Depression und Angstsymptomatik) insbesondere in den der Website des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten ersten Wochen des März 2020, fand jedoch interessanter- (https://www.ratswd.de/studies) sind Anfang November weise einen Rückgang der psychischen Belastungen wäh- 2020 über 200 Studien zur Corona-Pandemie dokumen- rend der ersten 20 Wochen nach Einführung des Lock- tiert, bei über 85 davon handelt es sich um psychologi- downs (Fancourt, Steptoe & Bu, 2020). Zudem weist eine sche Studien. In der Zusammenschau weisen die bishe- chinesische Studie auf die Vulnerabilität der im Gesund- rigen Untersuchungen darauf hin, dass die wenigsten heitswesen tätigen Personen für Posttraumatische Belas- Menschen in Deutschland von der Pandemie emotional tungsstörungen (PTBS) hin (Liu et al., 2020). Ein Anstieg unberührt und unbelastet bleiben. So zeigten beispiels- von Symptomen der PTBS und Depressivität wurde auch weise die bundesweiten deutschen beiden Umfragen zur bei an COVID-19 erkrankten Patientinnen und Patien- Corona-Pandemie (Politikpanel Deutschland, PPD4), an ten beobachtet (für ein Review, siehe Vindegaard & Ben- der sich zwischen dem 07. und 17. Mai 2020 über 10.000 ros, 2020). Entsprechend schätzten Rogers et al. (2020) Personen und zwischen dem 29. Oktober und 09. No- in ihrer Metaanalyse die Punktprävalenz bei auf einer In- vember über 7.800 Personen beteiligt hatten, dass zu tensivstation behandelten Patientinnen und Patienten, die beiden Zeitpunkten nahezu jede und jeder Befragte von an COVID-19 erkrankt sind, auf 32 % für eine PTBS, 15 % der Pandemie in gewisser Weise betroffen war. Nur drei für Depressionen und 15 % für Angststörungen. Außerdem bis fünf Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichteten einige Betroffene auch noch Wochen und Mo- sahen sich durch die Einschränkungen und Maßnahmen nate nach COVID-19-Erkrankungen über die Persistenz nicht beeinflusst. Knapp jede bzw. jeder dritte Befragte von Fatigue, Dyspnoe und neuropsychologischen Sympto- fühlte sich stark oder sogar sehr stark belastet, Frauen ins- men, was auch als Post-COVID-Syndrom diskutiert wird gesamt stärker als Männer. Der Vergleich der beiden Um- (Islam, Cotler & Jason, 2020; Lamprecht, 2020; vgl. S. 13), fragen im Mai und im November ergab nur sehr gerin- sowie psychische Belastungen wie Depressivität, Ängste ge Änderungen in der Wahrnehmung der Belastung, die und posttraumatische Belastungsreaktionen (Yang et al., jedoch eher auf einen Anstieg der Belastung im Novem- 2020). Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf vor- ber hindeuten. Die CorDis (Corona Distancing) Onlinestu- bestehende psychische Erkrankungen sind bislang kaum die (N = 817; Befragung 27. 03. – 14. 05. 2020) zeigte sich publiziert worden (Vindegaard & Benros, 2020). Vorläu- durchschnittlich eine mild ausgeprtägte depressive Symp- fige Daten deuten allerdings darauf hin, dass die Pande- tomatik (PHQ-9) sowie eine mild ausgeprägte Angstsymp- mie eine bereits zuvor bestehende psychische Störung tomatik (GAD-7; Kaiser et al., 2020), wobei beide durch- verschlimmern kann (Ghebreyesus, 2020). In einer chi- schnittlichen Summenwerte jeweils höher ausfielen als nesischen Studie berichteten in etwa 20 % der Patientin- die in repräsentativen Bevölkerungsstichproben erhobe- nen und Patienten mit einer vorbestehenden psychischen nen Normwerte (Rief et al., 2004; Löwe et al. 2008). Bei Störung eine Verschlechterung ihrer Symptomatik im Zu- der Interpretation der Ergebnisse muss einschränkend sammenhang mit der Pandemie und ein Viertel neuer- auf das querschriftliche Design der nicht repräsentativen krankter Patientinnen und Patienten mit u. a. Depressio- Online-Stichprobe hingewiesen werden. nen, Angst- und Schlafstörungen erhielt keine rechtzeiti- In der Studie COSMO (COVID-19 Snapshot Monito- ge psychotherapeutische Versorgung (Zhou et al., 2020). ring5), in der wiederholt ein querschnittliches Monitoring 4 https://www.politikpanel.uni-freiburg.de 5 https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/cosmo-analysis.html Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020) © 2020 Hogrefe Verlag
E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit 5 von Wissen, Risikowahrnehmung, Schutzverhalten und aus unserer Sicht Folgendes bei der Interpretation der Vertrauen während des aktuellen COVID-19-Ausbruchs- Ergebnisse beachtet werden: Die Datenerfassung fand geschehens in Deutschland erfolgt, werden verschiedene während der ersten akuten Maßnahmen (Mitte April bis emotionale Aspekte des Themas und deren Entwicklung Mitte Mai 2020) statt, weshalb die Neuinzidenzen we- über den Verlauf der Erhebungen erfasst. Nach einem gen der vermuteten längeren Inkubationszeit psychischer stetigen Anstieg der Werte für „Dominanz des Themas Probleme und aufgrund von diagnostischen Zeitkriterien Corona“, „Angst“ und „Besorgnis“ bis Ende März, sind für psychische Störungen noch gar nicht enthalten sein diese langsam, aber durchgängig zurückgegangen und im können. Zudem betrug die Rücklaufrate 2020 nur 37 % Juni und Juli auf relativ konstantem Niveau geblieben. und ältere Menschen ab 65 Jahren wurden nicht einbezo- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 Das Belastungserleben ist seit September in allen Alters- gen. gruppen deutlich gestiegen. In der 25. Datenerhebung Die zitierten Studien weisen jedoch auch darauf hin, (N = 1013; 03. – 04. 11. 2020), die kurz nach dem Beginn dass ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung (z. B. 20 des sogenannten Teil-Lockdowns in Deutschland erfolg- bis 30 % in COSMO6) nur sehr geringe oder keine nega- te, fühlten sich über 50 % der Befragten in den Alters- tiven psychischen Auswirkungen der Pandemie spürten. gruppen unter 65 Jahren belastet. In der Altersgruppe In einer im Juli und August 2020 durchgeführten Civey- über 65 Jahre fühlten sich 38 % belastet. Umfrage gaben nur 27 % der Befragten an, keine positiven Zwei weitere Studien ermöglichen den direkten Ver- Erfahrungen aus der Zeit der Corona-Einschränkungen gleich des psychischen Befindens in der deutschen Be- mitzunehmen, alle anderen berichteten über positive Er- völkerung vor und nach dem Pandemie-Ausbruch. In der fahrungen wie Entschleunigung des Alltags (47 %) und längsschnittlich angelegten „Bochum Optimism und Men- Konzentration auf das Wichtige im Leben (31 %) (Civey tal Health Study, (BOOM)“ mit Studierenden der Ruhr- Umfrage vom 20. 07. bis 31. 08. 2020 mit 5006 Befrag- Universität Bochum zeigte sich ein moderater bis starker ten7). Allerdings sollte bei der Interpretation der Ergeb- Anstieg an psychischer Belastung in der Phase des teil- nisse dieser Online-Studie ein möglicher Selektionsbias weisen Lockdowns, der durch Stressymptome, nicht aber beachtet werden. Dennoch gibt die Zusammenschau der durch Angst- oder Depressionssymptome vor der Pande- Studien Hinweise, dass die Pandemie für einige Menschen mie vorhergesagt werden konnte (Brailovskaia & Margraf, auch mittel- bzw. langfristig mit positiven Nebenwirkun- 2020). Gleichzeitig erwies sich das Ausmaß psychischer gen einhergehen kann, die sich insbesondere durch das Gesundheit vor der Pandemie als Prädiktor für eine ge- Arbeiten im Home-Office zu ergeben scheinen (Bloom ringere Belastung während des partiellen Lockdowns. Der et al., 2015; Reuschke, 2019). protektive Effekt positiver Gesundheit und die negati- In der Zusammenschau legen diese ersten nationalen ven Auswirkungen der Stresssymptome wurden durch das und internationalen Untersuchungen sowie die Befunde wahrgenommene Gefühl von Kontrolle vermittelt (Bra- früherer Krisen und Epidemien nahe, dass die Pandemie ilovskaia & Margraf, 2020). vermutlich auch in Deutschland zu einer Zunahme psy- In einer anderen Studie wurden zwei bevölkerungsre- chischer Probleme in der Bevölkerung führen wird. präsentative Stichproben der Stadt Mannheim aus den Aufgrund der längeren Inkubationszeit psychischer Stö- Jahren 2018 und 2020 hinsichtlich des psychischen Be- rungen bedingt durch diagnostische Zeitkriterien und er- findens miteinander verglichen (Kuehner et al., 2020). In folglose Anpassungsversuche über die Zeit erwarten wir dieser Studie zeigte sich ein geringer und statistisch nicht in Zukunft einen nachweisbaren Anstieg der Prävalenz- signifikanter Anstieg psychischer Auffälligkeiten. Angst um und Inzidenzraten psychischer Störungen (insbesonde- die Gesundheit Nahestehender, Belastungen durch Aus- re von Depressionen, Anpassungsstörungen, Angsterkran- gangsbeschränkungen und vermehrter Substanzkonsum, kungen und Traumafolgestörungen; vgl. auch Zielasek & sowie psychische Risiko- aber auch Resilienzfaktoren wa- Gouzoulis-Mayfrank, 2020). ren mit dem psychischen Befinden assoziiert. Die Stär- Bezüglich des beschriebenen Anstiegs psychischer Be- ken dieser Studie liegen in den beiden bevölkerungsbe- lastungen in der Allgemeinbevölkerung stellt sich die Fra- zogenen Zufallsstichproben, welche den direkten Ver- ge, inwieweit bestimmte Personengruppen unserer Gesell- gleich der psychischen Symptomatik in der Bevölkerung schaft in spezifischer Weise durch die Pandemie betroffen während der COVID-19 Pandemie und einer präpande- sind. Daher erfolgt in den folgenden Kapiteln eine diffe- mischen Referenzstichprobe ermöglicht. Dennoch sollte renzierte Betrachtung der psychologischen Auswirkungen 6 https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/cosmo-analysis.html 7 https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-zeitenwende-wie-wir-in-zukunft-leben-und-arbeiten-werden-a-00000000-0002-0001-0000- 000172863200 © 2020 Hogrefe Verlag Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020)
6 E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit der COVID-19-Pandemie auf verschiedene Altersstufen Neben der elterlichen psychischen Befindlichkeit und sowie psychische Vulnerabilitäten und Störungsbilder. Belastung gehören emotionale und körperliche Vernach- lässigung sowie emotionaler, sexueller und körperlicher Missbrauch zu den wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen (z. B. Infurna et al., 2016; Nelson et al., 2017; Struck et al., 2020). Auswirkungen der COVID-19- Kinder und Jugendliche erscheinen aufgrund der mit Pandemie über die Lebensspanne der COVID-19-Pandemie verbundenen Belastungen und Einschränkungen besonders gefährdet, psychische Pro- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 Aus klinischer Sicht erscheint es hoch relevant, die Aus- bleme und Störungen zu entwickeln, was im Folgenden wirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische differenziert nach verschiedenen Lebensbereichen be- Gesundheit nicht nur allgemein zu beschreiben, sondern leuchtet wird (Familie und Eltern siehe 9.8): differenziert bezüglich der Altersgruppen, welche vom · Kindertagesstätten und Schulen. Die Corona-Pan- Infektionsgeschehen auch unterschiedlich betroffen sind demie hat aus Sicht der Vereinten Nationen zu den (vgl. https://corona.rki.de). Analog zu Gruber et al. (2020) größten Verwerfungen von Bildungssystemen in der erwarten wir, dass auch in Deutschland die COVID-19- Geschichte geführt. Mehr als 1,6 Milliarden Kinder und Pandemie psychosoziale Entwicklungsprozesse stören bzw. Jugendliche in über 190 Ländern auf allen Kontinen- sogar unterbrechen und somit altersspezifische Risiken für ten seien durch die Pandemie beim Lernen beeinflusst Menschen in verschiedenen Entwicklungsstadien mit sich worden. Auch in Deutschland waren Kindertagesstätten bringen wird. Im Folgenden fassen wir daher die Auswir- (siehe auch https://corona-kita-studie.de) und Schulen kungen der COVID-19-Pandemie getrennt für Kindheit zunächst geschlossen, und ein geregelter Schulbetrieb und Jugend sowie verschiedenen Gruppen im Erwachse- oder eine regelhafte Betreuung fand bis zu den Som- nenalter zusammen und beleuchten den Einfluss der merferien gar nicht statt. Diesen Zustand hatte unsere Pandemie auf verschiedene Risikogruppen und -konstel- Fachgruppe der Deutschen Gesellschaft für Psychologie lationen. (DGPs) in Stellungnahmen mit Sorge betrachtet8 und gefordert, dass die Notbetreuung in Kitas und Schulen für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche und für Kindheit und Jugend Kinder psychisch erkrankter Eltern dringend erfolgen solle9. Seit den Sommerferien findet der Unterricht un- Das Kindes- und Jugendalter ist, bezogen auf die gesamte ter Einhaltung der sogenannten AHA-Regeln + L (Ab- Lebensspanne, ein besonders vulnerabler Zeitabschnitt stand, Hygiene, Alltagsmaske plus Lüftung) im Regel- für die Entwicklung psychischer Störungen. In einer re- betrieb (jedoch in festen Gruppen) statt. Zudem ver- präsentativen Befragung zur psychischen Gesundheit von folgt die Bundesregierung bei den am 28. 10. 2020 er- Kindern und Jugendlichen in Deutschland zeigten bei- lassenen Beschränkungen für die Bevölkerung das Ziel, spielsweise 15 % der 7- bis 17-Jährigen eine klinisch be- die Schulen und Kindergärten verlässlich geöffnet zu deutsame psychische Problematik (Ravens-Sieberer et al., lassen, was aus unserer Sicht eine extrem wichtige prä- 2008). In der Studie zur Gesundheit von Kindern und Ju- ventive Maßnahme bezüglich der psychosozialen Aus- gendlichen in Deutschland waren in der ersten Erhe- wirkungen darstellt. bungswelle (2003 – 2006) 20 % und in der zweiten Erhe- · Soziale Kontakte. Soziale Kontakte, die über die bungswelle (2014 – 2017) 17 % der Kinder und Jugendli- Kernfamilie hinausgehen, mussten über Monate einge- chen zwischen 3 und 17 Jahren psychisch auffällig (Klipker schränkt werden. Damit fielen für Kinder und Jugend- et al., 2018). Etwa 50 % der Menschen, die im Laufe ih- liche vielfältige Bildungsangebote sowie die bisherigen res Lebens eine psychische Störung entwickeln, weisen sozialen Strukturen außerhalb des Elternhauses nahe- die erste psychische Störung bereits vor dem 14. und wei- zu vollständig weg. Dieser Wegfall ist vermutlich mit tere 25 % vor dem 24. Lebensjahr auf (Kessler et al., massiven Auswirkungen für Kinder und Jugendliche 2005). Wer psychisch gesund das Kindes- und Jugendal- verbunden, da soziale Kontakte für sie entwicklungs- ter durchlebt, hat somit ein deutlich niedrigeres Risiko, relevant sind (Bzdok & Dunbar, 2020). Virtuelle Kon- als Erwachsener eine psychische Störung zu entwickeln. takte über soziale Medien können persönliche Tref- 8 https://psychologische-coronahilfe.de/beitrag/zur-situation-der-kinder-und-jugendlichen-waehrend-der-coronakrise/ 9 https://psychologische-coronahilfe.de/beitrag/notwendigkeit-der-notbetreuung-von-psychisch-kranken-kindern-und-kindern-von-psychisch- kranken-eltern/ Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020) © 2020 Hogrefe Verlag
E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit 7 fen, gemeinsamen Sport und andere Freizeitaktivitä- schließend das junge bis mittlere Erwachsenenalter und ten nicht ausreichend ausgleichen. Es ist zu erwarten, abschließend die Lebensphase Alter betrachtet. dass die Kontaktunterbrechung Konsequenzen auf die soziale Entwicklung haben wird. Dies betrifft vermut- lich in besonderem Maße sehr junge Kinder, die gerade beginnen, außerfamiliäre Bindungen aufzubauen, aber Transitionsalter auch Jugendliche, deren zentrale Entwicklungsaufga- be die Ablösung aus der Familie darstellt (vgl. Abschnitt Das Transitionsalter (im Englischen Emerging Adulthood) zum Transitionsalter). Betroffen scheinen insbesondere beginnt mit etwa 18 Jahren nach der Phase der Adoles- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 auch Kinder mit Behinderungen zu sein, die den An- zenz und geht mit etwa 25 Jahren in das junge Erwach- schluss an ihre sozialen Bezugsgruppen oft viel schnel- senenalter über. Emerging Adulthood steht fu ̈r ein Ent- ler verlieren und in der Folge viel größere Hürden beim wicklungsstadium des psychosozialen Umbruchs mit in- Wiederaufbau ihrer Beziehungen in Kauf nehmen müs- stabilen Lebens-, Bildungs- und Arbeitsverhältnissen und sen. hoher demografischer Diversität (Arnett, 2000). Befun- de zur Prävalenz psychischer Störungen zeigen, dass in Aufgrund dieser dargestellten prekären Einschnitte in dieser Transitionsphase, unabhängig von Pandemien, ge- die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen und ih- häuft psychische Erkrankungen wie Essstörungen, Angst- rer Familien überrascht es nicht, dass die Zusammen- und Abhängigkeitserkrankungen, Schizophrenie, aber auch schau der bisherigen Studien zur aktuellen Pandemie Delinquenz und selbstverletzendes Verhalten auftreten darauf hinweist, dass Kinder und Jugendliche psychisch (Mayr et al., 2015). Daher stellt die aktuelle Pandemie die- von der COVID-19-Pandemie stärker belastet zu sein se sich ohnehin schon in instabilen Verhältnissen befin- scheinen als ältere Menschen (vgl. auch Singh et al., dende „Dazwischensein“-Kohorte, deren Entwicklungs- 2020). An der Corona und Psyche (COPSY) Online-Studie aufgabe es ist, eine Grundlage für ein gesundes Erwachse- des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (Ravens- nenleben zu schaffen, vor große Herausforderungen (z. B. Sieberer et al., 2020) nahmen 1040 Kinder und Jugend- Arnett, 2004). Folgende Aspekte sollten dabei insbeson- liche im Alter von 11 bis 17 Jahren per Selbsteinschätzung dere betrachtet werden: und deren Eltern per Fremdeinschätzung sowie weitere Rollenkonflikte und Rollenkonfusionen, die bei- 546 Eltern in Fremdeinschätzung für ihre 7- bis 10-jäh- spielsweise daraus resultieren können, nach einer Zeit rigen Kinder vom 26. 05. bis 10. 06. 2020 teil. Als ein der Unabhängigkeit aufgrund von der COVID-19-Pande- Hauptergebnis wird berichtet, dass das Risiko für psy- mie wieder bei der Familie zu leben oder – ganz im Ge- chische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen genteil – unvermittelt und unvorbereitet eine sehr er- von rund 18 % vor Beginn der COVID-19-Pandemie auf wachsene Rolle einnehmen zu müssen (z. B. durch Isola- 31 % während der Krise stieg. Zudem weisen die Ergeb- tion von der Familie). nisse darauf hin, dass Kinder und Jugendliche häufiger Gravierende Einschränkungen im Sozialleben, z. B. Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, emotionale Probleme, resultierend aus eingeschränkten Möglichkeiten der Part- Verhaltensprobleme und psychosomatische Beschwerden nersuche und sexueller Aktivität, abgesagten Initiations- zeigten. Als Risikogruppen wurden Kinder identifiziert, riten (wie der Feier der Volljährigkeit, des Abiturs oder ei- deren Eltern eine niedrige Bildung beziehungsweise einen nes anderen beruflichen Abschlusses) sowie der Verzicht Migrationshintergrund hatten. auf Partys und Kulturveranstaltungen. Die Umstellung der Eine Online-Befragung des Deutschen Jugendinstitutes Universitäten auf digitale Lehrformate erschweren soziale (Langmeyer et al., 2020) berichtet interessanterweise auch Kontakte (insb. für Studierende im ersten Semester) und über positive Effekte für bestimmte Kinder und Famili- könnten auch zu Schwierigkeiten in der Tagesstrukturie- enkonstellationen (z. B. verbesserte Kommunikation zwi- rung, vermehrter Prokrastination und Prüfungsängsten schen Geschwisterkindern, Erleichterung durch Schul- führen. Im Vergleich zu Erwachsenen und älteren Men- schließungen bei Kindern mit Leistungsängsten). schen haben 18- bis 30-Jährige entsprechend über die stärksten Einsamkeitsgefühle berichtet und angegeben, besonders stark unter den mit den COVID-19 verbun- Erwachsenenalter denen Verhaltensmaßnahmen zu leiden (Buecker et al. 2020). Eine weitere Online-Studie fand zudem, dass Das Erwachsenenalter umfasst die längste Zeitspanne die ‚Stay-at-home‘-Regeln oder Empfehlungen für jünge- unseres Lebens, in der wir mit unterschiedlichsten Ent- re Menschen (18 – 34 Jahre) mit vermehrter Depression wicklungsaufgaben konfrontiert sind. Daher werden im und Ängsten verbunden waren, was auf ältere Menschen Folgenden zunächst das sogenannte Transitionsalter, an- (35 und älter) nicht zutraf (Benke et al., 2020). © 2020 Hogrefe Verlag Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020)
8 E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit Instabile Wirtschaft und drohende Arbeitslosigkeit, ten miteinander zu verbringen, vermehrt Konflikte auf- die sich unmittelbar (z. B. Wegfall von Nebenjobs und be- treten – insbesondere bei räumlicher Enge und fehlenden stimmten Ausbildungsplätzen) oder langfristig (fehlende Rückzugsmöglichkeiten. Unterschieden werden muss Ausbildung, Langzeitarbeitslosigkeit) auf die berufliche hier zwischen den konstruktiven Konflikten, die normal Entwicklung der jungen Menschen auswirken. Auch wenn und zentral sind für das Funktionieren von Beziehungen, die Bundesregierung entsprechende Hilfspakete (wie die und den nicht-konstruktiven Konflikten, die in Krisenzei- Ausbildungsprämie „Ausbildungsplatz statt Ausbildung ten häufiger auftreten können und die Gefahr bergen, zu platzt“ oder den Zuschuss für Studierende) bereits initi- eskalieren (vgl. Exkurs häusliche Gewalt). iert hat oder plant, so hatten im Juni 2020 beispielsweise In Studien wurden jedoch auch die positiven Neben- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 Studierende in einem offenen Brief an Bundes- und Lan- wirkungen deutlich: beispielsweise berichteten 22 % der despolitiker und durch Protestaktionen in mehreren Städ- Befragten einer Online-Studie in verbindlichen Partner- ten auf ihre Notsituation aufmerksam gemacht10. schaften oder Ehen von vertieften intimen Beziehungen Vor diesem Hintergrund und den ansteigenden Zahlen und 84 % stimmten der Aussage zu, dass für die Isolation Infizierter überrascht es nicht, dass in der Befragung An- die Partnerin bzw. der Partner die beste Person sei (Roth- fang November der oben erwähnten COSMO Studie11 die mueller, 2020). höchste Steigerung bezüglich der allgemein wahrgenom- Familien. In Familien kann es durch Überforderung menen psychischen Belastung in der Gruppe der jüngsten und das Fehlen von Schutzräumen, Unterstützungs- und Teilnehmenden (18 – 29 Jahre) zu verzeichnen war. Statt Überwachungsstrukturen verstärkt zu Vernachlässigung 35 % Anfang September 2020 gaben Anfang November und Konflikten bis hin zu Gewalt kommen. Diese Gefahr 2020 nun 59 % an, dass sie sich aktuell belastet fühlen. scheint mit zunehmender Dauer und steigenden wirt- schaftlichen bzw. sozialen Folgeproblemen der Pandemie zu wachsen. Insbesondere durch den Fernunterreicht ent- Junges und mittleres Erwachsenenalter stehen Konflikte, die durch die Hashtags #elterninderkrise und #coronaeltern unterstrichen werden. Eltern leisteten Die Altersgruppe zwischen 30 und 65 Jahren ist in Nicht- während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 neben Krisenzeiten bereits mit vielfältigen Entwicklungsaufga- der Erwerbsarbeit mehrere Stunden schulische Unter- ben beschäftigt, die je nach Individuum in unterschied- stützung am Tag (Langmeyer et al., 2020), woraus Kon- lichem Maße von der COVID-19-Pandemie beeinflusst flikte und Belastungen resultieren können (Wildemann werden können. Im Folgenden werden mögliche negative & Hosenfeld, 2020). Alleinerziehende scheinen durch – aber auch positive – psychologische Auswirkungen auf die alleinige Verantwortung besonders betroffen zu sein. relevante Rollen und exemplarische Lebensbereiche von Auch Eltern von Kindern mit Behinderungen, chronischen Erwachsenen skizziert. Erkrankungen und psychischen Störungen, aber auch so- Alleinstehende. Für einige Alleinstehende besteht die zial schwache Familien, erhielten ebenfalls keine bzw. Gefahr einer Zunahme der objektivierbaren Isolation so- kaum Unterstützung und mussten den Mehrbedarf, der wie der subjektiv empfundenen Einsamkeit (Buecker et al., über die fehlende externe Betreuung entstand, allein be- 2020), was – je nach beruflicher Situation – durch einen wältigen (Fickermann & Edelstein, 2020). Die Teilhabe Verlust der Tagesstruktur verstärkt werden könnte. Die sowie die Chancengleichheit der Kinder im Bildungssys- bisherigen Kontaktbeschränkungen betrafen sie im be- tem aus diesen Familien wurde dadurch erschwert, sogar sonderen Maße, da Alleinstehende bedingt durch Kon- zum Teil unmöglich gemacht. Neben der Sorge um die taktbeschränkungen häufig nur wenige oder lange Zeit Kinder scheinen Erwachsene auch mit besonders schwe- keine Freundinnen und Freunde sehen können. Aus zahl- ren und neuen Herausforderungen konfrontiert zu sein, reichen Studien ist bekannt, dass sowohl Isolation als wenn sie Angehörige pflegen oder mitversorgen müssen. auch Einsamkeit dramatische Auswirkungen auf die phy- Auch wenn Eltern in Alten- oder Pflegeheimen leben, kön- sische und psychische Gesundheit haben können (Caciop- nen Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit der CO- po & Patrick, 2008; Cacioppo & Cacioppo, 2018; Bzdok & VID-19-Pandemie zunehmen. Dunbar, 2020). Exkurs Häusliche Gewalt. Es wird gewarnt, dass Partnerschaften. In Partnerschaften können durch die aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen (potenzielle) Opfer plötzliche Notwendigkeit, sehr viel Zeit bei gleichzeiti- häuslicher Gewalt, die nun mit den (potenziellen) Tätern ger Reduktion anderer sozialer und beruflicher Aktivitä- isolierter leben könnten, eskalierende (oder erstmals) Ge- 10 https://www.fzs.de/2020/05/19/offener-brief-studieren-in-zeiten-von-corona-soziale-notlage-gemeinsam-bewaeltigen/ 11 https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/cosmo-analysis.html Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020) © 2020 Hogrefe Verlag
E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit 9 walt erleiden (Campbell, 2020; Galea et al., 2020; Kof- Personen in systemrelevanten Berufen. Wie bereits man & Garfin, 2020). Nach ersten Berichten der WHO einleitend beschrieben, sind Personen in sogenannten sys- aus China, Großbritannien und den Vereinigten Staaten temrelevanten Berufen, insbesondere pflegerisches, medi- scheint die häusliche Gewalt gegen Frauen seit Beginn zinisches und therapeutisches Personal, besonders durch der Pandemie zuzunehmen (WHO, 2020). Für Deutsch- die Pandemie gefordert und gefährdet. Dies betrifft ne- land sind erste Online-Umfragen publiziert worden (MHH, ben einer gestiegenen Arbeitsbelastung und einem er- 2020; Steinert & Ebert, 2020), welche aufgrund der nicht- höhten Infektionsrisiko auch das Risiko, an einer Stress- repräsentativen Stichproben, teilweise unterschiedlichen folgestörung zu erkranken (Liu et al., 2020). Eine aktuel- Ergebnissen als offiziell gemeldete Zahlen der Polizei in le Übersichtsarbeit zeigte, dass die Mitarbeiterinnen und https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 Deutschland12 und mangelnden Vergleichsgruppen schwer Mitarbeiter im Gesundheitswesen unter erheblicher psy- zu interpretieren sind. In jedem Fall sollte ein extrem eng- chischer Belastung litten (Bohlken et al., 2020). Insbe- maschiges Monitoring von gefährdeten Familien stattfin- sondere sollten die in der ambulanten und stationären den sowie präventive Maßnahmen gegen häusliche Ge- Altenpflege arbeitenden Personen beachtet werden, da walt intensiviert werden. die Pandemie die bereits grundsätzlich hohe Belastung zu Erwerbstätige. Die COVID-19-Pandemie hat ein bun- verstärken scheint (Wolf-Ostermann et al., 2020; Coach desweites Experiment der Digitalisierung von Erwerbs- for Care, 2020; vgl. auch Petzold et al., 2020 zu präven- tätigkeit angestoßen. Wenn möglich, wurden im Frühjahr tiven Maßnahmen und s. S. 16 f.). Ärztinnen und Ärzte 2020 Tätigkeiten ins Homeoffice verlegt, mit negativen müssten bei einer Überlastung des Gesundheitssystems- (z. B. Verlust der Tagesstruktur) und positiven (z. B. Weg- gegebenfalls Entscheidungen u ̈ber eine stationäre Auf- fall des Arbeitswegs) Auswirkungen für die Berufstätigen. nahme oder Behandlungsintensität treffen, was ein Ab- Darüber hinaus hat die COVID-19-Pandemie zahlreiche wägen zwischen eigener Moral, beruflicher Ethik und Wirtschaftsbereiche in große Schwierigkeiten gebracht, verfügbaren Ressourcen bedeutet. Es wird berichtet, dass wodurch Berufstätige um ihren Arbeitsplatz fürchten eine derartige Triage psychischen Stress auslösen, Scham- müssen, in Kurzarbeit geraten sind oder ihren Job verlo- und Schuldgefu ̈hle hervorrufen und zur Entwicklung psy- ren haben. Neben den generellen Belastungen während chischer Störungen und sogar zu Suizidalität führen kann der Pandemie können diese Existenzsorgen zu zusätzli- (Greenberg et al., 2020). chem massiven Stress für Berufstätige und ihre Familien Diese nicht vollständige Aufzählung unterstreicht, dass führen. Studien weisen darauf hin, dass sowohl Angst es in der großen Personengruppe von Menschen zwi- vor dem Arbeitsplatzverlust (Albani et al., 2008) als auch schen 30 und 65 Jahren spezifische Risikogruppen gibt, Arbeitslosigkeit (Berth et al., 2008; McKee-Ryan et al., die vermutlich in besonderem Maße gefährdet sind, psy- 2005; Kaspersen et al., 2016) mit erheblichen psychi- chische Probleme und Störungen im Rahmen der COVID- schen Belastungen einhergehen können (vgl. auch Forbes 19-Pandemie zu entwickeln, während andere Gruppen & Krüger, 2019). Gleichzeitig fordert die Pandemie be- von der verstärkten Flexibilisierung und Digitalisierung sonderes Engagement, Flexibilität und Kreativität, um mit ihrer Arbeit, einer wahrgenommenen Entschleunigung den neuen Herausforderungen umzugehen. So müssen des Alltags, dem Verbringen von mehr Zeit mit der Fami- viele Selbstständige, Handwerksbetriebe oder kleinere lie etc. auch profitieren können. Startups ihr Geschäftsmodell an die neuen Bedingungen anpassen, beispielsweise an notwendige Versammlungs- und Kontakteinschränkungen (vgl. Rudolph et al., 2020). Höheres Lebensalter Auch hier sei ergänzend auf positive Nebenwirkungen hingewiesen: Beispielsweise beabsichtigen laut einer Um- Derzeit ist jede fünfte in Deutschland lebende Person äl- frage13 73 % der Unternehmen, die während der Pandemie ter als 66 Jahre und damit im gesetzlichen Ruhestands- verstärkt Homeoffice genutzt haben, dies auch in Zukunft alter. Da bereits ab einem Alter von 50 bis 60 Jahren die zu tun. Dies kann sich – bedingt durch positive Konse- Gefahr steigt, schwer an COVID-19 zu erkranken, zählt quenzen für die Organisation von Familie und Beruf, die das RKI ältere Menschen zu den Personengruppen, die Work-Life-Balance und flexible Lebensmodelle – auch nach bisherigen Erkenntnissen ein höheres Risiko für positiv auf die psychische Gesundheit auswirken (Bloom einen schweren Krankheitsverlauf haben14. Daher werden et al., 2015; Reuschke, 2019). im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen insbesondere 12 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/missbrauchszahlen-1752038 13 https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-zeitenwende-wie-wir-in-zukunft-leben-und-arbeiten-werden-a-00000000-0002-0001-0000- 000172863200 14 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html © 2020 Hogrefe Verlag Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020)
10 E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit älteren Menschen erhebliche und vor allem langfristi- · Sozioemotionale Selektivität: Ältere Menschen haben ge Kontaktbeschränkungen empfohlen, wie beispielswei- zwar oftmals kleinere soziale Netzwerke als jüngere se den Kontakt zu den Enkelkindern zu vermeiden. Zu- Menschen, sind aber nicht häufiger einsam als jüngere dem erlebten ältere Menschen im Frühjahr 2020 eine Menschen. Sie neigen vielmehr dazu, ihre Kontakte ausgrenzende gesundheitspolitische Debatte, in welcher auf wenige, dafür enge und emotional wichtige Bezie- diskutiert wurde, ob das Alter per se ein Kriterium für das hungen zu konzentrieren, wie Forschung im Rahmen Erteilen medizinischer Hilfe sein könne. der Sozioemotionalen Selektivitätstheorie zeigen konn- Interessanterweise weisen trotz all der aufgezeigten te (Carstensen, Isaacowitz & Charles, 1999). Eine Ein- Einschränkungen und Belastungen die dato publizier- schränkung auf diese engen Kontakte, z. B. den Partner https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 ten Studien aus Deutschland darauf hin, dass ältere Men- bzw. die Partnerin, geht deshalb mit einem geringeren schen im bisher untersuchten Zeitraum weniger Stress Anstieg an Einsamkeit einher als bei jüngeren Men- und Einsamkeit als jüngere Menschen erleben (Buecker schen, für die die Größe des sozialen Netzwerkes eine et al., 2020; Schäfer et al., 2020) und das Risiko, selbst an zentralere Rolle spielt. COVID-19 zu erkranken, geringer einschätzen als jüngere Altersgruppen (Gerhold, 2020). Diese insgesamt positiven Befunde bei älteren Perso- Folgende Gründe können für das geringere Belastungs- nen entsprechen dem „Paradox des subjektiven Wohl- und Risikoerleben im Vergleich mit jüngeren Altersgrup- befindens“ im Alter und damit dem aus zahlreichen Stu- pen eine Rolle spielen: dien bekannten Befund, dass ältere Menschen oftmals · Eingeschränkte Generalisierbarkeit: Bei diesen Studien trotz gesundheitlicher Einschränkungen ein hohes Wohl- handelt es sich zumeist um Online-Studien, teilweise befinden aufrechterhalten können (z. B. Kunzmann, Little auch um telefonische Befragungen, weshalb die Gene- & Smith, 2000). ralisierbarkeit der Befunde gerade bei der Gruppe der Auch wenn die Befunde Hoffnung machen, dass viele älteren Menschen eingeschränkt ist. Nur rund zwei ältere Menschen in der Lage waren, die „erste Welle“ im Drittel aller 65-Jährigen und Älteren in Deutschland Frühjahr sowie die weiteren Folgen psychisch gut zu be- nutzen das Internet, während im Vergleich dazu die wältigen, sollte nicht aus dem Blick geraten, dass diese Internetnutzung bei den 10- bis 44-Jährigen bei 99 % empirischen Befunde vor allem jene Ältere repräsentie- und bei den 45- bis 64-Jährigen bei 96 % liegt (Statisti- ren, die zu den jüngeren Alten zählen, die gebildeter, oft- sches Bundesamt, 2020). mals auch gesünder sind und das Internet nutzen. Wie · Zeitpunkt der Befragung: Die meisten Befragungen er- auch andere Altersgruppen sind ältere Menschen durch folgten nach der offiziellen Empfehlung, dass gerade äl- den Wegfall sozialer Kontakte betroffen. Im Vergleich mit tere Menschen als Risikogruppe ihre Kontakte weitge- den jüngeren Menschen verfügen jedoch ältere Perso- hend einschränken sollten. Ältere Menschen könnten nen häufig nicht über vergleichbare digitale Kompen- deshalb weniger Sorge vor Ansteckung berichtet ha- sationsmöglichkeiten. Die empfohlene Kontaktbeschrän- ben, weil sie sich bereits durch Kontakteinschränkun- kung hat daher voraussichtlich weitere verhaltensbezo- gen geschützt haben und beschützt fühlten. gene Konsequenzen (z. B. Bewegungsmangel), die sich · Psychische Ressourchen und Resilienz: Ältere Men- langfristig negativ auf die psychische Gesundheit auswir- schen können oftmals stärker als jüngere Menschen auf ken könnten. Anders als jüngere Altersgruppen wurden psychische Ressourcen zurückgreifen, die auch auf Le- älteren Menschen zudem die Rolle als „zu schützende benserfahrungen und in der Vergangenheit bewältig- Risikogruppe bei vorbestehenden körperlichen Erkran- ten Krisen beruhen und sie resilienter erscheinen las- kungen“ zugeschrieben, was zusätzliche, nachhaltige Ef- sen: Erfolgreich bewältigte frühere Krisen (z. B. einer fekte auf die psychische Gesundheit haben könnte (z. B. schweren Krankheit, Verlust des Partners) tragen dazu vermehrte Ängste). bei, dass Menschen eine aktuelle Krise daran relativie- Es ist zudem zu vermuten, dass die Angaben von ren können und Vertrauen ins sich haben, auch die ak- Menschen ab 75 Jahren im Durchschnitt weniger positiv tuelle Krise zu bewältigen. ausfallen, insbesondere von jenen pflegebedürftigen · Positivitätseffekt: Ältere Menschen zeigen im Gegen- Personen, die zuhause oder in Pflegeeinrichtungen le- satz zu jüngeren eine stärkere Fokussierung der Auf- ben. Dies betrifft im Alter ab 75 Jahren rund jede vierte merksamkeit auf kurzfristig erreichbare Ziele, die mit Person in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2018). positiven Gefühlen einhergehen. Dieser sogenannte Entsprechend dieser Überlegungen schätzte in einer Stu- Positivitätseffekt bei älteren Menschen scheint dabei die mit pflegenden Angehörigen in etwa die Hälfte der nicht nur die aktuelle Aufmerksamkeit, sondern auch Befragten, dass sich durch die Pandemie sowohl die Pfle- die Erinnerung zu prägen (z. B. Mather & Carstensen, gesituation als auch der Gesundheitszustand der Pflege- 2003; Reed, Chan & Mikels, 2014). bedürftigen verschlechtert hätte. So berichteten die pfle- Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020) © 2020 Hogrefe Verlag
E.-L. Brakemeier et al., Die COVID-19-Pandemie als Herausforderung für die psychische Gesundheit 11 genden Angehörigen unter anderem, dass sie eine erhöh- schen Probleme auf die verschiedenen Lebensbereiche te Einsamkeit und Depressivität bei den von ihnen ge- der Betroffenen einzubeziehen, um über die Indikation pflegten Personen wahrgenommen hätten15. Auch ist zu zur indizierten Prävention oder Intervention zu entschei- erwarten, dass dabei gerade Menschen mit Demenz ver- den. Zudem sollten auch protektive Faktoren (z. B. Resi- unsichert und durch die starken Veränderungen in ihrem lienz) in die Überlegungen einbezogen werden. Alltag belastet sind, da sie diese Veränderungen aufgrund Im Folgenden werden die psychischen Störungen und ihrer kognitiven Einschränkungen oftmals nicht ausrei- Probleme ausführlicher dargestellt, welche im besonderen chend verstehen können (Hope et al., 2020). Maße mit der COVID-19-Pandemie bzw. einer COVID- Zusammenfassend ist zu befürchten, dass sich der Um- 19-Infektion in einem Zusammenhang zu stehen schei- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574 - Sunday, January 17, 2021 7:05:02 AM - IP Address:79.239.71.98 fang von Folgen der COVID-19-Pandemie insbesondere nen (Angststörungen, Anpassungsstörungen, Traumafol- fu ̈r die psychische Gesundheit älterer Menschen erst ver- gestörungen, Depressionen, Suizidalität). Natürlich kön- zögert zeigen wird. Es gilt deshalb, Präventions- und In- nen auch alle weiteren psychischen Störungen durch die terventionsstrategien zu entwickeln, die diese potentiel- COVID-19-Pandemie dynamisiert werden. Beispielswei- len Risiken adressieren. Entsprechend betonte die DGPs se scheinen Personen mit Substanzabhängigkeit während in ihrer Stellungnahme vom 15. Juni 2020 die Notwen- des Pandemiegeschehens besonders gefährdet zu sein, digkeit, einer Altersdiskriminierung im Rahmen der Co- sich mit dem Coronavirus anzustecken (O’Sullivan & rona-Pandemie entschieden entgegenzutreten und ältere Bourgoin, 2010; Volkow, 2020). Auch können vermehrte Menschen besonders zu unterstützen, beispielsweise durch Rückfälle bei Abhängigkeitserkrankungen als Folge der digitale Angebote in Pflegeeinrichtungen, vermehrte Tele- Pandemie-Situation auftreten (Sharp, 2017). Ein Anstieg fonkontakte oder Nachbarschaftshilfe16. der Prävalenz- und Inzidenzraten für Substanzgebrauchs- störungen wäre daher nicht überraschend. Eine aktuelle Übersichtsarbeit befürchtet auch einen Anstieg von psych- otischen Erkrankungen (Brown et al., 2020). Patientinnen und Patienten mit schwerer Psychopathologie wie der Auswirkungen der COVID-19- Borderline-Persönlichkeitsstörung erscheinen zudem be- Pandemie auf die psychische sonders anfällig für eine Verschlechterung der Symptome, Gesundheit: Psychische da Unsicherheit und ein subjektiv empfundener Mangel an Kontrolle die Schwierigkeiten bei der Gefühlsregulati- Vulnerabilitäten und on sowie impulsives und risikobereites Verhalten verstär- Vorerkrankungen ken könnten (Pakpour & Griffiths, 2020; Wurmann et al., 2020). Bereits vor der aktuellen COVID-19-Pandemie waren psy- chische Störungen in Deutschland weit verbreitet: Mehr als jede vierte Person in Deutschland litt im Zeitraum ei- Angststörungen einschließlich Zwangs- nes Jahres unter mindestens einer psychischen Erkran- und Anpassungsstörungen sowie kung (1-Jahres-Prävalenz: 28 %; Jacobi et al., 2014). Ge- trauma-assoziierte Störungen mäß des Vulnerabilitäts-Stress-Modells ist davon auszu- gehen, dass sich COVID-19 als multidimensionaler toxi- Anders als bei vergleichbaren Stressoren wie z. B. Natur- scher Stressor bei gleichzeitigem Verlust von Schutzfak- katastrophen, bei denen betroffene Personen direkt mit toren (vgl. Abb. 1) insbesondere bei den Menschen, die einer unmittelbaren Gefahr konfrontiert sind, zeichnet Vulnerabilitäten für psychische Störungen aufweisen oder sich die COVID-19-Pandemie dadurch aus, dass die sub- bereits unter psychischen Störungen leiden, negativ auf jektiv wahrgenommene Entfernung zur Bedrohung im die psychische Gesundheit auswirkt. Verlauf der Krise variiert. Zu den am häufigsten berich- Zunächst kann festgehalten werden, dass viele psychi- teten frühen Symptomen gehörten Ängste und Schlaf- sche Reaktionen (wie Angst und Traurigkeit) sehr nor- probleme, die eine erhöhte Vigilanz gegenüber einer un- male, menschliche und initial funktionale und adaptive klaren, noch diffusen Bedrohungssituation widerspiegeln Reaktionen sind (z. B. Schutzfunktion der Angst). Wie bei (Liu et al., 2020). Insgesamt waren gesamtgesellschaft- allen psychischen Störungen gilt es, den subjektiven Lei- lich verbreitete typische Muster defensiver Reaktivität densdruck, die Dauer und die Auswirkungen der psychi- (z. B. „Hamsterkäufe“) zu beobachten, die als Antwort 15 https://www.uni-mainz.de/presse/aktuell/11844_DEU_HTML.php 16 https://www.dgps.de/uploads/media/DGPs_Stellungnahme_Corona_KlinischeGerontopsychologie_20200615.pdf © 2020 Hogrefe Verlag Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2020)
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