Weltweit - Alter: Lebenszuversicht im Osterglaube
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
weltweit ENTWICKLUNGSPARTNERSCHAFT GLOBALEGERECHTIGKEIT Alter: Lebenszuversicht im Osterglaube SEITE 10 Synergie statt Elend durch UNO-Migrationspakt SEITE 4 2/2019
2 weltweit VORWORT Überhaupt: «Ist mein Denken frei?» Haben Sie sich das auch schon gefragt? Im Grunde ist unser Hirn eine unglaubliche Denkmaschine, die wie eine nie endende Filmrolle andauernd wei- terspult. Können Sie das Denken oder negative Gedanken abschalten? Vermutlich geht das beim Schlafen – aber Einschlafenkönnen ist ja ein Geschenk, wie es alle erfahren, die diesbe- züglich immer wieder Schwierigkeiten haben. Aber wie uns reges Träumen kündet, haben wir nachts unsere «geistige Freiheit» auch nicht im Griff. Dennoch ermöglicht uns der Standby- Betrieb beim Schlafen die Erholung, ohne die wir gar nicht leben könnten. Und wie wir von östlichen Meditationspraktiken wissen, führt das geübte Anhalten des Denkens in eine Ruhe und Innerlichkeit und ermöglicht Gefühle von Eins- sein und Frieden. Tatsächlich: Ich persönlich Kinder und Clowns ergeben oft «herrliche Denkgelegenheiten». mache immer wieder die Erfahrung, wie wohl es (Bild: Ulrich Töpfer) tut, «meine Denkmaschine» runterzufahren. Beobachten Sie mal Gespräche, die ziellos von Denkensanregung einem unbesonnenen Stichwort zum andern «irren» – oder solche, die vor allem den Zweck verfolgen, Recht zu bekommen. Was es eigent- Was unterscheidet Menschen am stärksten von lich bringt, fragen wir selten. Welchen Sinn ver- ihren Mitgeschöpfen? folgt unser Reden? Zuwendung, Anteilnahme, Die Leistung ihres Gehirns, haben Sie jetzt viel- Mitgefühl – oder fachliche Information, Kontrolle, leicht mit mir gedacht, sinnende Leserin, nach- Beeinflussung? Wir sollten dies mehr überlegen denklicher Leser. Tatsächlich: Wir vermögen – auch beim Fernsehen, Zeitunglesen oder am über vieles hinauszudenken. Das macht uns Natel. Es tut gut, mehr Freiheit zu bekommen, überlegen – aber auch anfällig für Täuschungen. bewusster etwas vermehrt zu tun (vielleicht mal Menschliche Instinkte sind denjenigen von Tie- jemandem zuzuhören) oder zu lassen («eigent- ren unterlegen. Wir hören, sehen und riechen lich wirkt der Klatsch-Tratsch nicht aufbauend!»). schlechter als viele von ihnen. Wir nehmen das Unmittelbare, Gegenwärtige oft nicht genügend Der menschliche Geist ist zu Unglaublichem wahr, bemerken nicht die Qualität der Luft, die fähig – im Positiven wie Negativen. Machen wir wir einatmen, nehmen Veränderungen der Natur, doch kleinste Lernschritte, unsere «geistige Frei- von der wir leben, zu wenig wahr. heit» mehr zu gestalten: in die Richtung, welche Wir sind in vielen Lebensbezügen auf Wissen uns guttut. und Erklärungen angewiesen. Je weiter die zivili- satorische Entwicklung schreitet, desto weniger Theo Bühlmann ist sie begreifbar – und umso mehr sind wir auf gut gesinnte Vermittlungen angewiesen. Die Dinge sind oft nicht, was sie scheinen. Darum müssen wir Menschen – zu unserem eigenen Wohl und für dasjenige aller – kritisch bleiben und selber denken, um möglichst nicht von fal- schen Autoritäten hinters Licht geführt zu wer- den.
3 weltweitAUFTAKT Besuchen Sie uns unter: www.weltweit.ch und im Facebook: http://www.facebook.com/ZeitschriftWeltWeit INHALT H!NTERGRUND 04 UNO-Migrationspakt: ergriffene Chance? STANDPUNKT 07 Aus Menschenhandel Rettende MERKWÜRD!G 08 Schweizer Politik im Nachhaltigkeitstest ALLEWELT 09 Nachrichten aus aller Welt 04 UNO-Migrationspakt: zum Nutzen aller AUFERSTEHUNG Weil die globalen Wanderbewegungen von einzelnen Ländern 10 Osterglaube am Lebensabend nicht mehr alleine zu meistern sind, gab die UNO-Generalver- sammlung 2016 ein globales Vereinbarungswerk in Auftrag: WEGWEISERIN den Migrationspakt. Denn eine dauerhafte und vertrauens- 14 Krankenpflegepionierin Sr. Liliane Juchli volle Zusammenarbeit zwischen Herkunfts-, Transit- und Aufnahmestaaten ist im Interesse aller. Wurde diese Chance, THEMENSEITEN Migration menschenrechtskonfrom zu gestalten, genügend 16 Christliche Gottesmutter genutzt? in neuem Verständnis 23 KREUZQUER GESELLSCHAFTWELT 24 50 Jahre Fastenkampagne: starke Frauen ANGEBOTE 26 Veranstaltungen von Herausgebergemeinschaften AUSGEFALLEN 27 «Kunstfleisch»: Beitrag gegen Hunger? VOYAGEPARTAGE 16 Maria – und unser Weiblichkeitsverständnis 28 Ein halbes Jahr in Südindien zu Hause Der Mai gilt als Muttergottesmonat. Was hat die Marien- gestalt der Altäre und Andachtsbilder mit der selbstbestimm- PROJEKTHILFE ten Frau von heute zu tun? Was haben «ihre» Dogmen zur 29 Eine Existenz für 20 Frauen aus Nordostindien Frauen- und Männeremanzipation zu sagen? WeltWeit- THEMENSEITEN auf den Spuren Marias in ihrer universalen BRÜCKENSCHLAG Bedeutung und tief menschlichen Wirkkraft – auch inter- 30 Heilende Sandspieltherapie in Korea religiös. PROJEKTHILFE 32 Kinderheilkunde-Station in Kongo-Kinshasa PROJEKTHILFE 33 Ausbildungen in Solarenergie in Westafrika PROJEKTHILFE 37 Hilfe für sudanesische Flüchtlinge in Ägypten 38 LESERBRIEFE 2/2019 Titelbild: Aufstellende Begegnungen – AUFHEITERND auch eine Chance für die Glaubensstärkung. 40 Kasachstan erhält ein erneuertes Alphabet (Bild: wohnen-im-alter.de)
4 Globaler Migrationspakt Migration und Flucht sind eine Chance zu mehr Multilateralismus und Kooperation.
5 weltweit H!NTERGRUND Junge Rohingya-Flüchtlinge blicken über das Flüchtlingscamp Palong Khali in Bangladesch nahe der Grenze zu Myanmar. (Bild: Andrew McConnell, UNHCR) Schweizer Migrationsgeschichte Die junge Familie meiner Grossmutter väterlicherseits war arm, Grossvater meistens arbeitslos. Denn auch nach der ROSMARIE BÄR ersten Juragewässerkorrektion wuchsen auf dem halbwegs entsumpften Boden des Berner Seelandes Not und Armut. Ein historischer Moment, freute sich der Präsident der General- Um ihre armengenössigen Familien loszuwerden und die versammlung am 10. Dezember 2018, als 164 UNO-Mitglied- Belastung der Gemeindekasse zu verringern, griffen zahlrei- staaten in Marrakesch den Globalen Migrationspakt unterzeich- che Gemeinden zum Mittel der «Zwangsmigration». Mit fi- neten. Mehr noch, es war ein historischer Tag: 70 Jahre zuvor nanziellen Anreizen wurden die Armen zur Auswanderung wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEM) pro- bewegt. So verzichteten mittellose Emigranten meiner Hei- klamiert – als zivilisatorische Antwort auf die Gräuel des Zweiten matgemeinde auf den ihnen zustehenden Burgernutzen: Weltkrieges. Der Migrationspakt basiert auf der AEM und verein- Holz, Allmend. Gegenleistung der Gemeinde war ein Reise- bart erstmals einheitliche Migrationsleitlinien. Justitia und Pax kostenzustupf. Die Grenzen zwischen staatlich unterstützter nennt sie einen Meilenstein der internationalen Zusammenarbeit. Auswanderung und Abschiebung waren fliessend. Von Marrakesch gingen Gezänk und schrille Debatten voraus. Wider- Historikern wird die bernische Auswanderung des späten stand gegen die Unterzeichnung formierte sich in fast allen euro- 19. und frühen 20. Jahrhunderts als ökonomisch bedingte päischen Staaten. Massenbewegung, SchweizerInnen als Wirtschaftsflücht- linge bezeichnet. Hauptauswanderungsziel waren die Ziel: Vertrauenszusammenarbeit (heutigen) Vereinigten Staaten. Amerikanische Behörden Der Pakt ist nicht aus heiterem Himmel entstanden. Die «New beklagten sich häufig über die schweizerische Praxis der Yorker Erklärung» der UNO-Generalversammlung vom Septem- «Abschiebung» missliebiger Personen. ber 2016 hatte den Auftrag gegeben, zwei globale Vereinbarun- Die Behörde meiner Heimatgemeinde klopften damals auch gen auszuarbeiten, einen «Flüchtlingspakt» und einen zu Migra- bei meinen Grosseltern an und machten ihnen das «Glück» tion. Es ist die Erkenntnis auf die «unkontrollierbare» Migrations- in Amerika schmackhaft. Bei meiner Grossmutter bissen sie und Flüchtlingskrise 2015, dass die globalen Wanderbewegun- auf Granit. Sie weigerte sich und blieb mit ihrer Familie zeit- gen von den einzelnen Ländern nicht mehr alleine zu meistern lebens in der Gemeinde. So wuchs mein Vater statt im fer- sind. Notwendig ist eine dauerhafte und auf Vertrauen basie- nen «New Berne» im Berner Seeland auf. Und ich verdanke rende Zusammenarbeit zwischen Herkunfts-, Transit- und Auf- mein Hiersein und den Schweizerpass der Standhaftigkeit nahmestaaten: «Dieser Globale Pakt ist Ausdruck unserer ge- meiner Grossmutter. meinsamen Verantwortung in der Frage der Migration, mit dem Rosmarie Bär Ziel, sie zum Nutzen aller zu gestalten.» Mit dabei im Verhand- lungsprozess waren auch jene Staaten, die heute dagegen Stimmung machen. MigrantInnen-, Menschenrechts- und Ent- wicklungsorganisationen, das IKRK, ebenso die Privatwirtschaft gefangen, als Hausangestellte, auf dem Bau, in der Landwirt- und die Wissenschaft sassen mit am Tisch. schaft. Die Gemüseplantagen in Südeuropa gedeihen nur durch Eine «sichere, geordnete und reguläre Migration» ist Ziel des Ausbeutung Tausender MigrantInnen. Migrationspakts. Den Menschenrechten verpflichtet, zeigt er Heute fehlen legale Zuwanderungsmöglichkeiten. MigrantInnen pragmatische Lösungsstrategien auf. Völkerrechtlich bindend ist sind auf irreguläre Routen mit lebensbedrohlichen Gefahren ver- er nicht, aber mit politischer und moralischer Verpflichtung. An wiesen. Als «Wirtschaftsflüchtlinge» diffamiert oder als «illegale seinen Standards müssen sich die Staaten künftig messen las- Einwanderer» kriminalisiert, drohen Abschiebung und Rückfüh- sen. Die 23 Ziele lassen unschwer erkennen: Der Migrationspakt rung. Wie hoffnungslos müssen die Lebensperspektiven sein, schützt die Rechte von MigrantInnen, stärkt Menschenwürde, dass Menschen aufbrechen, auch wenn sie um die Gefahren Sicherheit und Schutz. Es geht um die Bekämpfung von Men- und Widrigkeiten wissen? Die Menschenkarawanen, die von schenhandel, Ausbeutung und Diskriminierung, es geht auch Zentralamerika nach Mexiko und Richtung USA ziehen, sind um die Bekämpfung negativer Migrationsursachen in den Her- traurige Zeugen davon. kunftsländern. ArbeitsmigrantInnen können – so der Pakt – ein erheblicher Ent- wicklungsfaktor sein, im Zielland wie zu Hause. Beispiel: Die Ausgenutzte und Profitierende Rücküberweisungen der Diaspora sind wichtig zum Überleben Über 250 Millionen Menschen leben weltweit ausserhalb ihrer der Familie. Sie übertreffen bei Weitem die staatlichen Entwick- Heimatländer. Der Pakt will «faire und ethisch vertretbare Bedin- lungsmittel internationaler Geber. Ohne dieses Geld wäre der 2/2019 gungen schaffen für menschenwürdige Arbeit». Vor allem Wan- Migrationsdruck noch grösser. Aber die Überweisungen sind der- und Saisonarbeiter werden in vielen Ländern ausgenützt viel zu teuer. Das trifft besonders Frauen, die häufiger kleinere und ausgebeutet. Millionen Menschen sind in Zwangsarbeit Beträge schicken. Diese Kosten zu senken, ist erklärtes Ziel
6 weltweit H!NTERGRUND Max Frisch die chinesische Mauer bauen. Dieser Doktrin huldi- gen heute zu viele politisch Verantwortliche auf der Welt, von den USA über Australien bis zu den meisten Ländern der EU. Löbliche Ausnahme ist Deutschland. Bundeskanzlerin Merkel mahnte in Marrakesch: «Es lohnt sich, um den Pakt zu kämpfen, wegen der vielen Menschen, die dadurch ein besseres Leben bekommen könnten, aber auch wegen des klaren Bekenntnisses zum Multilateralismus. Nur durch den werden wir unseren Plane- ten besser machen können.» Kein Zweifel, der Migrationspakt ist zum Einfallstor gegen den Multilateralismus geworden. Bor- nierter Nationalismus feiert Urständ. Völker- und Menschen- rechte werden infrage gestellt. Medien jubeln gar, die Ära der Werte sei vorbei. Zivilisatorische Errungenschaften wie das fried- liche Miteinander verlieren an Gewicht. Es geht an die Substanz der Demokratie. Globale Wanderbewegungen sind nicht mehr von einzelnen Ländern zu meistern. Quo vadis Schweiz? Eine solche Welt wollen wir Vor Marrakesch wurde in der Schweiz eine politische Lawine alle nicht. (Bild: UNHCR) gegen den Pakt losgetreten, der Untergang der souveränen Schweiz verkündet. Es sei ein «verstecktes Umsiedlungspro- gramm für Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge». Wir könnten Paktes. Industriestaaten auf der anderen Seite profitieren in nicht alle aufnehmen, seien nicht das Sozialamt der Welt. Fakt erheblichem Masse vom Zuzug qualifizierter Fachkräfte aus ist: Im Pakt steht schwarz auf weiss, dass jeder Staat seine ärmeren Ländern. Die Abwanderung von ÄrztInnen, IT-Experten eigene Migrationspolitik bestimmen und selbstständig regeln und Ingenieuren stellt für sie ein gravierendes Problem dar: kann. Die Verantwortung für ihre Einwanderungspolitik, den «Brain-Drain» macht Investitionen im Ausbildungssektor zu- Zugang zum Arbeitsmarkt und den Schutz der Grenzen liegt nichte. bei ihm. Wer in der Schweiz für Abschottung plädiert, verweigert sich der Gemeinschaftsdenken tut not Realität. Weder migriert die ganze Welt, noch wollen alle Men- Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, fehlende Zukunftsperspektiven, schen zu uns. 83 Prozent der Eingewanderten kommen aus Gewalt und Korruption sind starke Triebfedern, zu migrieren. europäischen Ländern. Die Wirtschaft ruft weiterhin nach auslän- Und die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weltweit dischen Arbeits- und Fachkräften. Aus ganz Afrika wanderten immer mehr. Um die unfreiwillige Migration an der Wurzel zu 2017 gerade mal 4307 Personen ein. Der Bundesrat sah sich packen, braucht es nachhaltige Entwicklung in den Herkunfts- genötigt, vorläufig auf eine Unterzeichnung des Paktes zu ver- ländern. Und politische Änderungen, vor allem gerechtere zichten. Allerdings schreibt er dazu: «Die Leitprinzipien und Ziele Weltwirtschaftsregeln, um extreme soziale Ungleichheiten zu entsprechen voll und ganz der Migrationspolitik der Schweiz.» redu-zieren. Anleitung dazu gibt die Agenda 2030. Es wäre ein Es wäre unverständlich und beschämend, wenn unser Land «ethisches Unrecht», würde eine Reform des internationalen weiterhin zu den Verweigerer-Staaten gehören würde. Handels- und des Steuerrechtes ausgeklammert. Dort liegt ein Kein Finale, sondern einen Auftakt markiert die Annahme des Schlüssel, um Migrationsursachen zu bekämpfen. Migrationspakts. Staat, Kirche und Zivilgesellschaft sind gemein- Die Klimaveränderung macht immer mehr Menschen in immer sam gefordert, ihn mit Leben zu füllen. In dieser Hinsicht macht mehr Ländern zu «KlimamigrantInnen». Ihre Lebensgrundlagen Marrakesch Mut. Nur gemeinsames internationales Handeln sind bedroht. Der kausale Zusammenhang zwischen Klimawan- kann zu guten und fairen Lösungen führen. Grenzen im Denken del, Konflikten und Migration ist wissenschaftlich belegt. Das überwinden ist das Gebot. Oder wie Seneca mahnte: «Es kann IKRK zeigt sich alarmiert über den Zusammenhang von Klima- niemand ethisch verantwortungsvoll leben, der nur an sich denkt veränderung und Gewalt in der Sahel-Zone. Alte Spannungen und alles seinem persönlichen Vorteil unterstellt. Du musst für in Niger und Mali verschärfen sich. Fazit: Nur die Umsetzung den anderen leben, wenn du für dich selbst leben willst.» der Klimaschutzziele im Pariser Übereinkommen verminderte den Migrationsdruck. Rosmarie Bär, alt Nationalrätin, war bis Ende 2010 Koordinatorin für «Um die Zukunft zu verhindern» und sein Weltbild nicht infrage Entwicklungspolitik bei Alliance Sud und verantwortlich für das Dossier stellen zu müssen, lässt der Kaiser im gleichnamigen Stück von «Nachhaltige Entwicklung».
7 weltweit STANDPUNKT Sr. Anna Affolter ist Generalrätin der Ingenbohler Schwestern und im Vorstand der Herausgeber- gemeinschaft von WeltWeit. Menschenrettende SR. ANNA AFFOLTER Letzten Dezember hatte ich die Gelegenheit, unsere zwei Zen- Der Befreiungsschlag muss jeweils sehr schnell gehen. Jede tren gegen Menschenhandel in Indien zu besuchen. Was ich sah, Aktion ist gefährlich und riskant. Die Polizei nimmt die Aufsichts- hörte und erlebte, hat tiefe Eindrücke in mir hinterlassen. Unsere personen mit und übergibt sie der Justiz. Und bringt die Kinder indischen Schwestern haben in den vergangenen Jahren ihr an einen sicheren Ort, wo sie zuerst menschlich betreut und Engagement gegen Menschenhandel verstärkt. Eine Begeben- medizinisch untersucht werden. Danach werden sie – wenn mög- heit in Delhi, wo unsere Schwestern sich mit verschiedenen Akti- lich – zu ihren Eltern zurückgebracht, die meist weit weg wohnen. vitäten gegen Menschenhandel einsetzen, hat mich besonders Oder es wird für eine sichere Unterkunft gesorgt. Mit jedem einzelnen Opfer wird dann vor Ort in einem längeren Prozess eine gute Zukunft in Bezug auf Schule, Aus- bildung oder Arbeit vorbereitet; die Kinder und die Familie werden begleitet. Bis Weihnachten plante die Organisation noch weitere Rettungsaktionen, um rund 200 Kinder und auch Erwachsene zu befreien. Ich vernahm von den Schwestern, dass Schätzungen zufolge ungefähr 15 Millionen Inderinnen und Inder in «Schuldknechtschaft» gefangen sind und so in sklavenähnlicher Abhängigkeit ausgebeutet werden. Diese Personen stammen aus armen Landgegenden. Sie nehmen in der Not ums Überleben bei unseriösen Geldverleihern Kredite auf, etwa um Saatgut oder andere lebensnotwendige Dinge zu kaufen. Die Schulden sind mit horrenden Zinsen belegt. Als Ge- genleistung verlangen die Geldgeber, dass Familien- mitglieder, vor allem Kinder, die Schulden abarbeiten müssen. Es wird geschätzt, dass etwa 5,7 Millionen indischer Kinder als Schuldknechte arbeiten, oft 14 bis 16 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Sie haben keine Chance auf Schulbildung und wer- den nicht selten missbraucht. Immer wieder, wenn ich an diese Realität und ihr Aus- Besprechung von Schwestern und mass denke, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Mitarbeitenden einer NGO über Da ich dieses Erlebnis im Dezember hatte, brachte Aktivitäten gegen Menschenhandel. ich es mit dem Sinn des Advents in Zusammenhang. (Bilder: Ingenbohler Schwestern) In dieser Zeit wird viel um das rettende und befrei- ende Kommen Gottes gebetet. Hier in Delhi durfte ich erleben, wie der «Rettergott» Nachfolgerinnen und betroffen gemacht. An einem der Abende wurden zwei der Nachfolger gefunden hat. Sie schotten sich nicht ab und lassen Schwestern von einer Organisation, mit der unsere Schwestern sich nicht abschrecken von Risiken. Ohne Furcht um das eigene intensiv zusammenarbeiten, für eine Rettungsaktion aufgeboten. Leben setzen sie sich für die Würde und Rettung ausgebeuteter Dabei handelt es sich um die Befreiung von Kindern, die Opfer und versklavter Kinder und Erwachsener ein. Sie überlassen sich von «Bonded Child Labour» (Kinderschuldknechtschaft) sind. nicht der Hoffnungslosigkeit und dem Gedanken, dass sie im Am andern Tag erfuhren wir, dass in einer lange vorbereiteten Vergleich zu der Zahl der Betroffenen «nur wenige» retten kön- Aktion elf Kinder im Alter von neun bis siebzehn Jahren befreit nen. Im Glauben an den besonderen Schutz Gottes wissen sie, 2/2019 werden konnten. Die Kinder waren in einem Haus gefangen dass jede Rettung ein Beitrag ist zu einer besseren und gerech- gehalten und mussten unter strenger Beobachtung Taschen teren Welt. herstellen.
8 weltweit MERKWÜRDIG Unter dieser Rubrik erklärt WeltWeit einen «merkens-würdigen» entwicklungspolitischen Begriff oder beantwortet eine spannende Frage aus dem Entwicklungszusammenhang. Wenn Sie als Lesende(r) einen Begriff behandelt haben möchten oder falls Sie eine Frage beschäftigt, so schreiben Sie an die Redaktion: at.buehlmann@bluewin.ch Martin Fässler war bis 2014 Stabschef und Direktionsmitglied der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Er arbeitet heute als Berater für internationale Zusammen- arbeit und Fachdozent: «Nach dem Studium der Sozialwissenschaften, Lehr- und Wander- jahren als Hirt, Senn und Handwerker sowie der Arbeit mit randständigen Jugendlichen war ich in der humanitären Hilfe in Ex-Jugoslawien und im Horn von Afrika tätig. Ich war verant- wortlich für Entwicklungsprogramme in der Region der Grossen Seen und in Mozambique und nachfolgend für die Ausgestaltung der Entwicklungspolitik der Schweiz.» Martin Fässler Nachhaltigkeitspolitik der Schweiz MARTIN FÄSSLER tung der jetzigen Generationen, um einen gefährlichen Wandel des Erdsystems zu vermeiden; Verknüpfung von nationalem und Die Staatengemeinschaft hat im Pariser Klimaabkommen eine globalem Gemeinwohl; Übernahme der Verantwortung für die Fol- Obergrenze von weniger als 2 Grad Celsius vereinbart. Trotzdem gen gegenwärtigen Handelns; Entwicklung einer internationalen geht’s weiter auf einem Kurs, der zu einer globalen Erwärmung Zusammenarbeit, die es erlaubt, die Vielfalt der Gesellschaften als von 3 oder 4 Grad im Verlauf des 21. Jahrhunderts führen wird. Ressourcen für Problemlösungen zu nutzen. Die Schweiz ist – wie Schon heute lassen sich viele Veränderungen im globalen und andere Länder auch – gefordert, zu zeigen, wie ein Umsteuern in regionalen Klima beobachten: Hitzewellen werden häufiger, Richtung nachhaltige Entwicklung gelingen kann. Dürren intensiver, Niederschläge stärker, tropische Wirbelstürme Der Übergang fällt mit zwei weiteren Veränderungsprozessen zu- zerstörerischer. Unter den Auswirkungen solcher Extremwetter- sammen: nationalistische, oft autoritäre, klimaskeptische, wissen- ereignisse leiden besonders Entwicklungsländer. Dazu kommen schaftsfeindliche und «Our country first»-orientierte Bewegungen; graduelle Veränderungen: Die mittlere Wasserverfügbarkeit wird die Gestaltung der digitalen Umbrüche. Auch hierzulande meinen im Mittelmeerraum, im Nahen Osten sowie in Mittelamerika deut- etliche, Zukunftsaufgaben seien eher mit Abschottung zu bewäl- lich abnehmen; ebenso die Erträge wichtiger Feldfrüchte, beson- tigen. ders in den Tropen und Subtropen. Stark betroffen sind die Län- der Afrikas. Das Risiko für Vertreibung durch Naturkatastrophen Nachhaltige Entwicklung ist machbar und bezahlbar. Die Umset- wird vielerorts weiter steigen. zung der Agenda 2030 eröffnet enorme Chancen. Im Jahr 2019 gibt es Gelegenheit zuhauf für mutige Weichenstellungen: ein neuer Anlauf im Ständerat für ein griffiges Klimagesetz; die neue Botschaft des Bundesrates für die internationale Zusammenarbeit Die Umsetzung der Agenda 2030 und diejenige für Wissenschaft und Forschung 2021 bis 2024; eröffnet enorme Chancen. die Überarbeitung der Strategie Nachhaltige Entwicklung der Schweiz. Wenn die Schweiz die Weichen für eine ambitionierte Umsetzung Vor gut drei Jahren hat die Staatengemeinschaft die Agenda 2030 der Agenda 2030 mit griffigen Massnahmen stellt, aus «wohlver- mit 17 Nachhaltigkeitszielen verabschiedet. Eine Landkarte für standenem Eigeninteresse» eine starke internationale Zusammen- global gerechte Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen auf arbeit ausbaut und öffentliche Mittel mit Blick auf das nationale einem ökologisch begrenzten Planeten, heute und in Zukunft. und globale Gemeinwohl einsetzt, kann ein solches Zeichen der Die Welt ist von einer solchen Vision noch weit entfernt: in ökolo- Weitsicht unsere Kinder stolz machen. gischer Hinsicht, mit Blick auf soziale Gerechtigkeit und in der Kirchen können Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit voran- Art des Wirtschaftens. Die Landkarte skizziert die notwendigen bringen helfen. Die päpstliche Enzyklika «Laudato si» und das Wenden in Wirtschaft und Gesellschaft. Gefordert sind von Politik, Impulspapier der DEK «Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben – Zivilgesellschaft, Unternehmen, Wissenschaft und allen Pionieren Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen» unter- des Wandels umfassende Innovationen bei der Energieversor- scheiden sich wohltuend von der technischen Sprache einer inge- gung, der Mobilität, der Zukunft unserer Städte und unseren nieursmässigen Bewältigung der Herausforderung. Beide spre- ebensstilen. chen über Werte, eine Art von Anti-Utilitarismus, die Integrität der Die Kernelemente für den Übergang zur Nachhaltigkeit finden sich natürlichen und menschlichen Mitwelt – und lassen attraktive Per- in der Agenda 2030 und im Pariser Klimaabkommen: Verantwor- spektiven entstehen.
9 weltweit ALLEWELT dische Vermögen von rund 3000 Milliarden Franken verwaltet. Das Risiko ist gross, dass Konzerne ihre Schweizer Firmensitze Extreme Armut hat für Gewinnverschiebungen von Süd nach Nord und entsprechende Steuervermeidung auf Kosten von Entwicklungsländern nutzen. abgenommen Gemäss Schätzungen des IWF verlieren Länder des Südens dadurch jährlich bis zu 200 Milliarden Dollar an Steuersubstrat. Dominik Gross, Alliance Sud Seit dem Jahr 2000 sind mehr als eine Milliarde Menschen der extremen Armut entkommen. Zwar gibt es auch arme Menschen oberhalb der Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag, doch können sie sich auf mehr als das blosse Überleben konzentrie- ren und in die Zukunft schauen. Der Fortschritt kam mit einer ersten Welle in China und einer zweiten in Indien. Extreme Armut konzentriert sich nun zunehmend in Subsahara-Afrika – allerdings nur auf eine Handvoll Länder wie die Republik Kongo oder Nigeria – wo 2050 voraussichtlich 86 Prozent aller Betroffenen leben werden. Eine grosse Herausforderung ist das starke Be- völkerungswachstum. Goalkeepers Bericht der Gates Stiftung Angriffe auf Pressefreiheit Laut der jährlichen Rangliste von Reporter ohne Grenzen hat sich 2018 in keiner anderen Weltregion die Situation der Medien so sehr verschlechtert wie in Osteuropa. Verbale Angriffe auf Journalisten durch Regierungen und Politiker, ein feindseliges Berichterstattungsklima, Drohungen und gewalttätige Übergriffe, juristische Verfolgung Medienschaffender und regierungsnahe Oligarchen als Medieneigentümer sind dabei Elemente, die der Pressefreiheit schaden. Aufsehenerregende Fälle wie die Ermordung des slowakischen Journalisten Ján Kuciak oder die Verurteilung Jovo Martinovićs in Montenegro aufgrund von Eine Bäuerin bei der Hirseernte in Burkina Faso. berufsbedingten Kontakten in die Unterwelt weisen auf diese (Bild: Annette Boutellier, Fastenopfer) beunruhigende Entwicklung hin. Ökumenisches Forum G2W UNO-Menschenrechtsrat Geldabfluss aus stärkt Bauern Entwicklungsländern Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stärkt die Rechte von Bauernfamilien, Fischergemeinden und auch Nomadenvöl- Der Washingtoner Think-Tank Global Financial Integrity schätzt, kern durch eine Deklaration. Am 17. Dezember hat auch die dass Entwicklungs- und Schwellenländern jährlich eine Billion UNO-Generalversammlung die Erklärung verabschiedet. Sie Dollar durch unlautere Finanzflüsse verloren geht. Dazu gehören anerkennt das Recht auf Land und Saatgut, das von zentraler nicht nur Gelder aus Geldwäscherei und Korruption, sondern Bedeutung ist. Und gibt den Staaten Richtlinien für eine Politik auch «legale» aus der Steuerhinterziehung. Für die Nachhaltig- an die Hand, die Hunger und Armut effizient bekämpft. Denn keitsziele der UN-Agenda 2030 bräuchte es weltweit mindestens hierzu muss die Landwirtschaft besser unterstützt werden. Die 5000 Milliarden Dollar jährlich. Zum Vergleich: Die weltweite Ent- Anerkennung und Stärkung der Bauernrechte ist dafür zentral. wicklungszusammenarbeit liegt aktuell bei etwa 160 Milliarden In Afrika, Asien und Lateinamerika werden täglich Bauern und Dollar pro Jahr. Bäuerinnen bedroht oder gar ermordet. Die Schweizer Regierung Als eines der grössten Finanzzentren der Welt mit der höchsten hat für die Deklaration gestimmt. Auch in der Schweiz arbeiten 2/2019 Pro-Kopf-Dichte an Konzernsitzen spielt die Schweiz in der Bauernfamilien oft unter schweren Bedingungen. Täglich ver- Bekämpfung der entwicklungsschädigenden unlauteren Finanz- schwinden hierzulande zwei bis drei Bauernhöfe. flüsse eine sehr wichtige Rolle. 2017 wurden hierzulande auslän- Fastenopfer
10 Auferstehen ins Leben Ostern ist für ChristInnen das Fest des Auferstehens. Wie ist es zu verstehen – auch im Älterwerden und Betagtsein? Bild: Theo Bühlmann
11 weltweit AUFERSTEHUNG CHRISTIANE FASCHON «Christus ist auferstanden»: Der Ostergruss wird wieder in unzäh- dafür. Rüegger betont, Leid sei keine Reifeprüfung. Wer das ligen Kirchen weltweit ertönen. Feierlich, jubelnd. Die Bestätigung behaupte, werte die Erfahrung der Betroffenen ab. Da gebe es aus dem Glaubensbekenntnis «Ich glaube an die Auferstehung vieles auszuhalten, ohne schnelle Tröstung! Vieles bleibe unge- der Toten». Was bedeutet Ihnen das? Besonders, wenn das Alter löst. Er verweist auf Dietrich Bonhoeffers Aussage, das Letzte näher rückt und der zweite Satz eine sehr persönliche Note er- sei in Gottes Hand, das Vorletzte aber, also auch Leid und Alter, hält. gehöre in unser Leben. Viele ChristInnen glauben, dass es erst im Neuen Testament um die Auferstehung geht. Doch bereits in der hebräischen Bibel Standhalten üben wird darüber berichtet. In einem rabbinischen Kommentar heisst Für den Glauben gibt es nur zwei Wege: Ausweichen oder An- es sogar: «Es gibt keine Stelle, in der die Schrift nicht über Auf- nehmen. Integrität werde im letzten Reifeprozess unseres Lebens erstehung spricht.» Die Bibel ist also damit angefüllt. Nicht nur der Verzweiflung, Todesfurcht und dem Lebensekel gegenüber der Prophet Ezechiel (37,1–14) berichtet in einer dramatischen gestellt, schrieb Erik H. Erikson. Schlichter gesagt: Alter ist Vision über die Belebung der Toten. Bis heute beten JüdInnen nichts für Feiglinge. Im Alter flüchten manche in den Konsum, täglich im Schmone-Esre, dem wichtigsten jüdischen Gebet: andere wachsen tiefer in den Glauben. Religion und Spiritualität «Gelobt seist du Ewiger, der die Toten wieder belebt.» wird für viele wichtiger. Der eigene Tod, der Tod Nahestehender ist unausweichlich. Der Umzug in ein Heim steht an, es kommen Krankheiten und Einschränkungen; andere bestimmen immer mehr über das eigene Leben. Mit einer vertrauensvollen Gottes- Jesus ist von den Toten auferweckt – beziehung fällt vieles leichter. Glaube ist nachweislich gesund- wir werden ihm folgen. heitsfördernd; er baut Stress ab. Glaube hilft auch, mit dem eigenen Leben Frieden zu machen. Glaube ist in der jetzigen Generation der Betagten (noch) ein Ob man vom Stuhl aufsteht oder aus dem Tod aufersteht; es gibt Thema. Auch die Kirche, selbst wenn sie infrage gestellt wird. dafür im Neuen Testament nur ein griechisches Wort, das aus Glaube ist oft nicht mehr die Kirchenfrömmigkeit von früher, son- der Alltagssprache stammt: anhistemi. Im Deutschen dagegen dern eher das Einssein mit Gott im Gebet, die Verbundenheit mit unterscheiden sich die verschiedenen Bedeutungen nur durch Menschen im Gottesdienst, mit der Natur oder auch in der Medi- eine Silbe. Das Aufstehen im Leben ist Welten vom Auferstehen tation. Glaube kann helfen, selbst in negativen Erfahrungen Hoff- nach dem Tod entfernt – Aufstand noch mehr. Ein weiteres Wort nung zu finden. Und den Tod in einem anderen Licht zu sehen. in diesem Zusammenhang ist «auferwecken»: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Griechisch heisst es «egeiro»: auf- wecken. Als ginge es ganz leicht, wie von einem Mittagsschlaf. Die gute Botschaft heisst: Gott hat Jesus von den Toten aufer- weckt, aufgeweckt. Er ist auferstanden, aufgestanden. Wir wis- Reich Gottes sen nicht, wie das genau vonstattengeht; doch wir werden ihm Dein Leiden wird nicht ewig anhalten. Das Licht ist da und wird folgen. eines Tages auch für dich wieder sichtbar. Darauf können wir vertrauen. Niemand kann die Dunkelheit, die ganz persönliche Das Leben siegt Trauerarbeit überspringen, die Verzweiflungsarbeit auslassen. «Ich glaube an die Auferstehung»: Wie steht es damit im Alter? Ein Teil von uns muss sterben, die alte Welt auseinanderbre- Sr. Ingrid Grave, fast 80 Jahre alt, hat letztes Jahr in einem Inter- chen, damit wir unser eigenes Menschsein verzeihend anneh- view erklärt, wie sie Auferstehung im Hier und Jetzt erlebt. Und men und uns daran wieder erfreuen können. Bitten wir um die dass sie auf eine Auferstehung nach dem Tode hofft. Doch «der Gabe des Verstehens oder der Versöhnung, der Wiederentde- Glaube an die Auferstehung lässt sich nicht befehlen», sagt die ckung des Sinn. Nonne. Auch die berühmte Theologin Dorothee Sölle betonte, Es sind Zeiten der Wandlung, in denen du die Kontrolle ver- es brauche Mut zu sagen, dass das Leben stärker sei als der lierst, die dich letztlich von Angst und Mühen frei machen. Tod. Gerade im Alter mit seinen Belastungen ist das eine Her- Die dich dem Fluss von Gottes fürsorglicher Liebe anvertrauen ausforderung. Früher wurden ChristInnen oft auf die jenseitige lassen, in der du alles empfangen kannst. Der Tod wird etwas Welt vertröstet: Krankheit, Schmerz und Tod sollten die Gläubi- Heiliges, offenbart ein viel grösseres Geheimnis. Er führt dich gen als Gottes Fügung und Willen annehmen, eine Prüfung, in einem heiligen Raum, in dem du die Wirklichkeit der Güte damit sie dann dem Reich Gottes würdig werden. Oder sie soll- und Liebe berührst als grosses Mysterium, welches die ten sie als Strafe für vergangene Sünden sehen. Gegensätze aufnimmt und in welchem das Leben von Grund Dagegen verwahren sich heute viele TheologInnen. Heinz Rüeg- auf in Ordnung ist: im Reich Gottes. ger betont, dass selbst ein so berühmter Theologe wie Kurt Marti 2/2019 sein Leben im hohen Alter als «Leerlauf» bezeichnete! Bereits im Nach Richard Rohr Buch Hiob wird diese Idee abgelehnt. Die Freunde Hiobs wollen, «Wer loslässt, wird gehalten», Claudius Verlag dass er in seinem Leiden einen Sinn sieht; Gott kritisiert sie
12 weltweit AUFERSTEHUNG Eine gute Begleitung von Kranken und Pflege- bedürftigen beinhaltet auch das Spirituelle. (Bild: Techniker Kranken- kasse Hamburg) Dabei sei nochmals betont: Es kann nicht darum gehen, in De- zufriedener als früher; dies zeigt eine Studie der Universität Ro- menz, Lebensmüdigkeit und Schmerz immer Gottes Wille hinein- stock: Mehr Kreativität und Sensibilität können das Liebesleben zuinterpretieren. Besteht darin womöglich ein vorbereitender bis ins hohe Alter sehr beglückend erhalten, weil Zärtlichkeit einen Weg des Loslassens? breiten Raum bekommt. Verdorrtes kann wieder erwachen, un- Für manche wird der Glaube in der Erinnerung an die Kindheit abhängig vom Lebensalter! Das Alter hat auch seinen Reichtum. und Jugend zur Last. Ein drohender Gott, wie die Kirchen ihn lange gepredigt haben, kann Angst vor seiner Strafe nach dem Spiritual Care Tod auslösen. Seelsorge ist daher im Alter besonders wichtig, Heute kommt neben der Seelsorge auch die Spiritual Care ge- um das eigene Gottesbild zu prüfen. Vielleicht geht es jetzt rade auch im Alter in Heimen und Spitälern hinzu. Seit 2015 exi- darum, sich vom «furchtbaren Glauben» lösen zu können. stiert es als neues Lehrfach an der Universität Zürich. Der Lehr- stuhl wird von beiden Landeskirchen finanziert. Professor Simon 30 «geschenkte» Jahre Peng-Keller erklärt, dass Palliative Care «neben der Sorge um In den letzten 150 Jahren haben wir 30 Jahre an Lebenserwar- die physischen Nöte und Bedürfnisse von schwer erkrankten tung gewonnen. Professor Peter Gross, Fachmann zum Thema Menschen auch die psychische, soziale und spirituelle Dimen- Alter, betont, dass man heute im Alter Zeit geschenkt erhalte, sion» umfasst. Spiritual Care ist darum eine Vertiefung. Es geht über sich und sein Leben nachzudenken. Im Alter können Türen darum, genau hinzuhören, was die Person umtreibt. «Erzählen aufgehen. Männer und Frauen gehen wieder zur Schule, sie neh- kann helfen, sich von bedrängenden Erlebnissen zu distanzieren, men an Kursen an Volkshochschulen, bei Pro Senectute oder sie zu ordnen und verschüttete Ressourcen zugänglich zu ma- der kirchlichen Erwachsenenbildung teil. Sie entdecken Hobbys chen», betont Peng. Die professionellen Begleitpersonen müs- und neue Interessen. Es ist nun möglich, spätabends Dokumen- sen spirituelle Fragen ernst nehmen. Es ist nicht nötig, dass sie tationen und Filme anzuschauen, Nächte durchzulesen, weil selbst einer Glaubensgemeinschaft angehören. Denn es geht man ja nicht früh aufstehen muss. Andere treffen sich häufiger nicht um die beratende Person, sondern um die anvertrauten mit FreundInnen oder Familienangehörigen, besuchen kulturelle PatientInnen. Ihre Überzeugungen in Bezug auf Leiden, Sterben, Anlässe oder reisen. Seniorentarife machen vieles auch finanziell das Leben nach dem Tod, sie brauchen Raum und müssen ernst eher möglich. Studien zeigen, dass ältere Menschen weniger als genommen werden! Die eigene Glaubenspraxis kann jedoch eine früher von der Meinung anderer abhängig sind. Kreativität ist bis wichtige Quelle für diese Aufgabe sein. ins hohe Alter möglich: Johann Wolfgang von Goethe vollendete Gott hilft in jeder Situation, sagt die Bibel: «Ich bin für dich da, seinen Faust mit 80, Michelangelo die Sixtinische Kapelle mit bin mit dir» (So hat er sich Mose im Dornbusch gezeigt). «Bis in 71 Jahren. Kannten vor einigen Generationen Enkel ihre Gross- euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau eltern oft nicht, so sind diese heute intensiv im Einsatz. Zudem werdet. Ich habe es getan; ich will heben und tragen und erret- ist es heute dank der neuen Medien via Mail, Skype oder What- ten» (Jesaja 46, 4). Oder wie Ingrid Grave es sagt: «Das Vertrauen sapp leichter, in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Dazu enga- auf Gott hilft. Gott hat Leben geschenkt. Er ist Leben. Und er will gieren sich SeniorInnen ehrenamtlich. Gerade Kirchgemeinden auch, dass wir leben. Das Neue Testament hilft mir ganz stark, bieten viele Möglichkeiten. Auch mit dem Liebesleben sind viele zu diesem Vertrauen zu gelangen.»
13 weltweit INNEHALT Es interessiert mich nicht, wie alt du bist. Ich möchte wissen, ob du es riskieren wirst, verrückt vor Liebe zu sein, vernarrt in deine Träume, in das Abenteuer, lebendig zu sein. Es interessiert mich nicht, welche Planeten in welcher Konstellation zu deinem Mond stehen. Ich möchte wissen, ob du die Mitte deines Leids berührt hast, ob du durch Verrat, den du im Leben erfahren hast, aufgebrochen und offen geworden oder geschrumpft bist und dich verschlossen hast vor Angst und weiterem Schmerz. Es interessiert mich nicht, ob die Geschichte, die du mir erzählst, wahr ist. Ich möchte wissen, ob du jemanden enttäuschen kannst, um zu dir selbst ehrlich zu sein, ob du es erträgst, dass dir deshalb jemand Vorwürfe macht und du trotzdem deine eigene Seele nicht verrätst. Ich möchte wissen, ob du treu sein kannst und zuverlässig. Ich möchte wissen, ob du Schönheit sehen kannst, auch dann, wenn es nicht jeden Tag schön ist und ob du in deinem Leben einen göttlichen Funken spürst. Ich möchte wissen, ob du mit Misserfolg leben kannst– mit deinem und meinem – und immer noch am Ufer eines Sees stehen und «Ja» zum Vollmond rufen kannst. Oriah Mountain Dreamer Bild: punkrowski 2/2019
14 Reisende in Sachen Pflege und Sinn Die Ingenbohler Schwester Liliane Juchli wollte in die weite Welt. Stattdessen wurde sie Kranken- schwester und schrieb ein Werk, welches das Leben in Heimen und Spitälern veränderte. Armut und harte Arbeit Ihre Kindheit im Schweizer Nussbaumen bei Baden im Aargau, wo sie 1933 als Klara Juchli geboren wurde, war durch Armut und harte Arbeit geprägt. Vielleicht gerade deshalb erwachte in ihr der Wunsch, anderen Menschen zu helfen – möglichst als Entwicklungshelferin. Da die Ingenbohler Schwestern auch in Missionsgebieten tätig waren, fasste sie als junge Frau den Ent- schluss, diesem Orden beizutreten. Nur sah ihr Orden andere Aufgaben für sie vor. Nach einigen Jahren umfangreicher Arbeit und einer weiteren Ausbildung zur Schulschwester übernahm sie Aufgaben in der Pflegeschule und entdeckte ihr Talent, von ihr selbst didaktisch gut aufbereitetes Wissen zu vermitteln. Da es aber in jener Zeit keine Lehrbücher gab, musste sie sich ihr Lehrmaterial, das sämtliche Inhalte der Pflege umfasste, selbst zusammenstellen. Am Ende kam ein 500-seitiges Manuskript heraus, das der Georg Thieme Verlag in Stuttgart 1973 erstmals veröffentlichte und bis heute (als «Lehrbuch für Pflegende in Ausbildung» bereits in der 13. Auflage) herausgibt. Jedes Modell bleibt leer, rückt es nicht das Leben ins Zentrum. Schmerz, Angst, Verzweiflung Sr. Liliane Juchli. Aber diese harte Arbeit über viele Jahre hinweg hatte einen hohen (Bild: Stefan Knobel, Preis: Liliane Juchlis persönliche Erfahrungen mit Erschöpfung Bibliomedpflege) und Depression, die sie ihrem Tagebuch anvertraute: «Nein – da ist nichts mehr – nichts mehr als trostlose Leere – erschöpft, THOMAS SCHNELLING ausgebrannt und gehetzt warte ich auf den Schlaf, der nie kommt. Auch die Tabletten helfen nicht mehr – wozu noch wei- Liliane Juchli ist wohl eine der bekanntesten Krankenschwestern terkämpfen? Wozu? Schmerz, Angst und Verzweiflung prägten der Gegenwart. Durch ihre berufliche Praxis und ihre zahlreichen mein Dasein. Lebensgefühle, die eine menschliche Existenz bis Publikationen hat sie das Denken und Handeln in der Gesund- zur letzten Faser durchdringen.» Sie nahm sich eine Auszeit heits- und Krankenpflege wesentlich beeinflusst. Insbesondere und liess sich mit dem Psychoanalytiker Stephan Blarer – und durch ihr Hauptwerk «Allgemeine und spezielle Krankenpflege», später bei Karlfried Graf Dürckheim und seiner «Initiatischen das bis heute als das umfassendste Lehrbuch im deutschspra- Therapie» – auf einen langen, schmerzhaften, aber schliesslich chigen Raum und weit darüber hinaus gilt, hat sie Generationen auch äusserst heilvollen Prozess ein: «Es begann eine eigent- von Krankenschwestern und -pflegern geprägt. Aber bis dahin liche Entdeckungsreise meines Lebens und schliesslich das war es ein weiter Weg. Erwachen im Geiste und im innersten Herzen.»
15 weltweit WEGWEISERIN Diese einschneidenden Erfahrungen veränderten in den Sieb- sich sicher fühlen und verhalten, Raum und Zeit gestalten, arbei- zigerjahren Liliane Juchlis Menschenbild und damit auch ihren ten und spielen. Und sie schliesst die geistige Ebene, wo das Blick auf die Pflege nachhaltig. Pflege sollte auf einem ganzheit- Kommunizieren, Kind-, Frau-, Mannsein, Sinnfinden im Werden, lichen Denken und Handeln beruhen und wesentlich enger als Sein, Vergehen wichtig sind, mit ein. Die ATL sind aber nur dann bisher an den körperlichen und seelischen Bedürfnissen des ein erfolgversprechendes Instrument, ja Lebensmodell, «wenn Menschen in seiner Gesamtheit orientiert sein – und zwar so- wir die Fakten in Bezug zum Menschen als ganzheitliches Wesen wohl der Pflegebedürftigen als auch der Pflegenden: «Den Men- sehen: im Blick auf alle seine Beziehungen und in Bezug zu schen so zu sehen, wie er ist, nicht oberflächlich, einseitig oder seiner individuellen Geschichte respektive Biografie, welche die durch Wunschbilder verzerrt. Ihn in der Tiefe seines Seins erfas- aktuelle Situation beeinflusst und mitbestimmt hat. Jedes Modell sen und respektieren. Aus dieser Tiefensicht, da er mehr ist als bleibt eine leere Hülle, wenn es nicht das Leben und die Leben- eine Summe von Zellen und Organen, die besser oder schlechter digkeit ins Zentrum rückt.» arbeiten, die gesund sind, wenn sie funktionieren, und repariert werden müssen, wenn sie gestört sind.» Menschlichkeit und Würde Liliane Juchli sieht in der Pflege auch eine wichtige moralische ATL-Modell: Mensch im Zentrum Herausforderung. Hier müsse es – so die Pflegewissenschaftlerin Wichtig ist daher in der Begleitung und Pflege von Menschen Marianne Arndt – darum gehen, «die menschliche Wirklichkeit in erster Linie das Wie: «Wie wir etwas tun, dass wir uns in so zu sehen, dass auch für das Nicht-Wiederherstellbare, auch Anspruch nehmen lassen», so Liliane Juchli in einem Vortrag: und gerade für den ‹hoffnungslosen Pflegefall› ein ernst zu neh- mender Anspruch geltend gemacht wird». Das unterstreicht auf sehr eindrückliche Weise Juchlis lebenslangen Einsatz für die Würde des Menschen als höchsten menschlichen Wert wie auch als Gegenkraft zu einer Leistungsgesellschaft, die mit einer grundlegenden, umstürzenden Veränderung, in der Menschen immer älter und kränker werden, konfrontiert ist. Die Wahrung der Menschlichkeit und der Menschenwürde in unseren Spitälern und Heimen darf aber nicht den Pflegenden allein über- lassen werden. Eine humane Gestaltung der Pflege braucht das Zusammenspiel aller Kräfte, der poli- tisch-gesellschaftlichen Kräfte wie der ethisch- moralischen Verantwortlichkeit. Auch in diesem Sinne versteht Liliane Juchli die Pflegenden eher als «Pädagogen», gehört es doch zu ihren Aufgaben, «den Kranken nicht nur während seines Krankseins zu pflegen und zu begleiten, sondern ihn auch auf das Gesundsein vorzuberei- ten, ihn zu begleiten auf dem Weg zur Selbstpflege. Dazu gehört ein anthropologisches und ethisches Grundwissen. Pflege ist sehr oft auch Seelsorge.» Bei der Begleitung und Pflege kommt es sehr darauf an, wie es gemacht wird. Was bringe ich von mir ein? (Bild: charlottenhof) Nicht von ungefähr sieht die engagierte Pflegeleh- rerin und Ordensfrau Juchli daher die menschliche «Zeit finden für die unausgesprochenen Fragen und Ängste des Begegnung als das Zentrum aller Pflege. Sie fordert, dass die Gegenübers. Wer so auf dem Weg ist, wird erfahren, dass die Pflegenden sich selbst immer wieder Rechenschaft abgeben Sinnerfahrung ein Geschenk ist.» müssen zu der Frage, wie sie den Menschen sehen, wie sie auf Diese neue, damals revolutionäre Herangehensweise führte zu den anderen Menschen zugehen. Ihr Leitsatz «Ich pflege als die, einer weiteren Professionalisierung und Aufwertung der Pflege- die ich bin» schliesst auch den Gesundheitszustand der Pflegen- berufe. Der vierten Auflage ihres Lehrbuches, die 1983 erschien, den mit ein: «Sie bringen sich selber immer mit ein, sowohl ihre legte sie ihr neues, ganzheitliches Menschenbild zugrunde. Hier gute wie ihre schlechte Laune. Hier gilt es, die eigenen Grenzen beschreibt sie auch erstmals die «Aktivitäten des täglichen Le- offen zu kommunizieren. Deshalb muss man auch zu den Pfle- bens» (ATL), nach denen sie die grundlegenden und in der Pflege genden Sorge tragen. Eine starke Persönlichkeit wehrt sich am zu berücksichtigenden Lebensbereiche in ihrer Wechselwirkung Ende auch gegen wirtschaftliche und politische Zwänge, die strukturierte: «Dabei sehe ich den Menschen in seinen Bezügen ihrem Berufsethos widersprechen; sie macht sich für ihre berufs- zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Natur sowie zum ganz eigenen Anliegen stark.» 2/2019 anderen, dem Göttlichen.» Konkret ergänzt sie die «physiolo- gische Ebene» – wach sein, schlafen, sich waschen, kleiden, Buchtipp: Trudi von Fellenberg-Bitzi: «Liliane Juchli – ein Leben für die essen, trinken, sich bewegen, atmen – mit Personal-Sozialem: Pflege», Georg Thieme Verlag, Stuttgart/New York 2013.
16 Maria: Leitbild neuen Menschseins Die Mutter Gottes ist Entwicklungshelferin zu einer gottgewirkten Transformation, in uns und in der Welt.
17 weltweit THEMENSEITEN Maria hilft uns, den Weg zum Göttlichen zu finden. (Bild: pixabay) TBü. Die Situation des Menschen ist geprägt von einer Trennung gabe an das Wirken des Heiligen Geistes, zum Göttlichen in aus der ursprünglichen Schöpfungseinheit. Sie zeigt sich in uns und aller Existenz. So versteht die Buchautorin auch deren einem egozentrischen «Ich»; in der Gier auch, immer mehr haben Jungfräulichkeit als Gotteserfahrung: Sich bedingungslos «in zu wollen. Es wähnt sich autonom, ist aber abgeschnitten vom eine neue Sichtweise und den dazu gehörenden Prozess der eigenen Urgrund. Dies wird zur Bedrohung für die Erde. Von Wandlung» einlassen, auch als Rückbindung gegen die «Ich- grosser Dringlichkeit ist darum die menschliche Entwicklung zu Inflation». einer «allem Leben dienenden Seinsmacht», erklärt Pia Gyger Als mitentscheidend zu dieser Entfaltung stuft Pia Gyger das in ihrem Buch «Maria, Tochter der Erde, Königin des Alls. Vision «Ausrichten der Kräfte» am Beginn des Tages ein, um uns zu der neuen Schöpfung» (Kösel-Verlag 2005). Ziel des Menschen stärken und den Ereignissen Grundlage und Richtung zu geben. als Mitschöpfer der Evolution müsse sein, «unter Beibehaltung Dabei sei die eigene Energie weniger gegen Fehler und Schwä- aller guten Früchte der Individualisierung den Zugang zur Einheit chen, sondern besser für das in uns wachsende Gute zu ver- des Lebens wiederzufinden». Es gehe darum, uns von Maria wenden. Das kann ein Gebet unterstützen: «Ave Maria, in deinen «aus der Stille des Herzens vor allem Tun» leiten zu lassen. Schutz begrüsse ich heute alle für mich notwendigen Kräfte der Transformation, als Freude und Erwecker aus der Getrenntheit.» Das tägliche «Dein Wille geschehe» verankert und löst Ängste vor Veränderung auf. «Dein Wille geschehe» erschliesst Ebenso wichtig sei bei Tagesende Rückblick und «Gewissens- Göttliches in uns und aller Existenz. erforschung», um gleichsam seine Ernte einzusammeln. Fragen «Wie habe ich heute dem Leben und der Liebe gedient? Wo war ich lieblos und egozentrisch?» lösen gemäss Gyger Verspan- nungen und heilen, wo wir verletzt wurden und andere verletzt Aus aller Zerstreuung haben. Diese tägliche Übung, die uns geschenkte Gnade der Pia Gyger zeigt einen von der Gottesmutter inspirierten inneren Vergebung anzunehmen, stärke unser Selbstwertgefühl und Weg der Meditation und Wesensschau auf, damit der in uns ver- erlöse uns aus der Opferrolle: «Auferstandener Christus, Heiliger borgene Schatz ans Licht gehoben und für uns und die Welt Geist, in meinem Herzen und meinem Körper heile, was verwun- wirksam werden kann: «eine kraftvolle Einkehr, Sammlung aus det ist, mache weich, was spröd und hart, wärme, was vom aller Zerstreuung» (nach Johannes Tauler), um sich «in den Frost erstarrt, lenke, was da irregeht.» Abgrund der ineinanderfliessenden Einheit tragen zu lassen» (der Dominikaner Heinrich Seuse). Die christliche Tradition kennt Welterneuerung dazu die Bewusstseinseinigung und -leerung und den Herzens- Unsere Welt brauche «Menschen, die mit Freude, Abenteuergeist weg. Pia Gyger legt säkularisierten Menschen Zazen, das Sitzen und heiligem Ernst jeden Tag als Forschungslabor und Übungs- in Versunkenheit, nahe, welches aus dem Zen-Buddhismus feld benutzen, um herauszufinden, wie wir eine aus mütterlicher kommt. Weder Überhöhung noch Geringschätzung des eigenen Barmherzigkeit geborene Macht entfalten können. Eine aus Selbst sei erstrebenswert, sondern Demut, Liebe, Weisheit und den Kräften der spirituellen Intelligenz geborene Politik, eine Mitgefühl mit allen Lebewesen. Als Würze für unser wachsendes friedliche Gesellschaft, eine Weltfriedensordnung», schreibt Pia Charisma empfiehlt Gyger auch den Gebrauch des Humors als Gyger. Dazu gehört für sie als wichtigste Gegenwartsaufgabe gelassene Heiterkeit, um «über sich selber zu lachen wie auch die Auflösung der Dominanz eines Geschlechts über das andere. in spielerischer Weise über sich selber und die Welt zu seufzen». Das Erarbeiten eines neuen Miteinanders von Mann und Frau, das von Lust und Freude an der Entfaltung des Menschlichen Hingabe ans Göttliche geleitet ist. Die Autorin spricht sich für eine marianische Erfah- Jesus hat uns darauf hingewiesen, zu werden wie die Kinder, rung aus, in der «Heilung und Friede in uns zunehmen, indem wenn wir das Himmelreich erfahren wollen. Sie leben gegenwär- wir die Leiden der Menschheit und der Erde in unser Herz neh- tig, sind dem Leben in unmittelbarer Offenheit zugewandt, den men». 2/2019 Wundern des Alltäglichen. Und er ist der grosse Lehrer der Fein- desliebe, der Kraft zur Transformation der Welt. Aber auch Maria wurde durch ihr «Dein Wille geschehe» ermächtigt zur Ganzhin-
18 Eine Brücke zu sich selbst und anderen. (Bild: presse-image) Maria sagt Ja SR. INGRID GRAVE verklärten Bilder über die ganz reine und wunderschöne Magd des Herrn nicht weiter. Marias Leben kennt keine himmlische Roman- Da gibt es in Nazareth diese ganz junge Maria. Sie wird aufge- tik. Aber für die Art und Weise, wie sie ihren Alltag im Glauben sucht von einem Engel, der sie in Kenntnis setzt von ihrer Schwan- bestanden hat, dafür dürfen wir sie bewundern und verehren. gerschaft. Sie wird einen Sohn gebären. Das übersteigt Marias Begreifen: Wie soll das geschehen? Der Engel antwortet: Heili- Als Zwölfjährigen nehmen die Eltern ihren Sohn mit auf die Wall- ger Geist wird über dich kommen; dein Kind wird Sohn Gottes fahrt nach Jerusalem. Sie verlieren ihn, suchen ihn während drei genannt werden. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Tagen. Als sie ihn endlich im Tempel – diskutierend mit den Maria sagt Ja. Und der letzte Satz dieses Textabschnittes (aus Schriftgelehrten – finden, zeigt er kein Verständnis für ihre Not. Lk 3,38) lautet: Danach verliess sie der Engel. Und es kommt Maria wirkt empört, wenn sie sagt: Kind, wie konntest du uns auch keiner mehr, der ihr in den nächsten Tagen und Wochen das antun? Der Zwölfjährige gibt sich unberührt: Was brauchtet beistehen würde. So ist das Leben. Man sagt Ja zu einer He- ihr mich zu suchen? Wusstet ihr nicht, dass ich bei der Sache rausforderung, jedoch im Augenblick der Krise zeigt sich weder meines Vaters sein muss? Gott noch ein Engel, der konkrete Hilfe anbietet. Fast jeder Maria mag geahnt haben, dass sie etwas zu tun hat mit der Be- Mensch erlebt solche Situationen. Maria bildet keine Ausnahme. ziehung ihres Kindes zu Gott. Trotzdem scheint sie sich voller Sie ist von Gott nicht verwöhnt worden. Da helfen uns all die Fragen auf den Weg gemacht zu haben. Neben ihr ein schwei-
Sie können auch lesen