Früh übt sich, wer ein Meister werden will - Neurobiologie des kindlichen Lernens
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UNTER DREIJÄHRIGE U Anna Katharina Braun Früh übt sich, wer ein Meister werden will – Neurobiologie des kindlichen Lernens Sprachförderung ist eine schwierige Aufgabe für frühpädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Bereits vor der Geburt und während der ersten Lebensjahre bestimmen Umwelteinflüsse maßgeblich die Das Feststellen von Verzögerungen im Sprachverstehen fällt vielen Fachkräften aufgrund fehlender Infor- Entwicklung des Gehirns. Ein entscheidender Faktor ist die vorschulische Bildung. Neurowissenschaftliche mationen schwer. Die Autorin der Expertise beschreibt, wie Verhaltensauffälligkeiten mit Problemen in der Erkenntnisse darüber, wie sich das Gehirn unter verschiedenen Bedingungen entwickelt und welche Auswir- sprachlichen Entwicklung zusammenhängen können. Mit der Expertise soll frühpädagogischen Fachkräften kungen dies auf das Lernverhalten der Kinder hat, ist daher für die Elementarpädagogik und für die Gestaltung eine Orientierung gegeben werden, wann externe Expertinnen oder Experten bei Sprachauffälligkeiten hin- und Begleitung der Bildungsprozesse wichtig. Die Autorin zeigt neurobiologische Grundlagen der Gehirn- und zugezogen werden sollten. Verhaltensentwicklung auf. Sie vermittelt Weiterbildnern und pädagogischen Fachkräften grundlegendes Fachwissen zur Funktionsweise des Gehirns. WIFF WiFFExpertisen Expertisen | | 000 26 ISBN 978-3-935701-79-2 978-3-86379-039-4
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) stellt alle Ergebnisse in Form von Print- und Online-Publikationen zur Verfügung. Alle Publikationen sind erhältlich unter: www.weiterbildungsinitiative.de WiFF Expertisen WiFF Studien WiFF Wegweiser WiFF Kooperationen Weiterbildung Wissenschaftliche Analy- Ergebnisberichte der Exemplarisches Praxis- Produkte und Ergebnis- sen und Berichte zu aktu- WiFF-eigenen Forschun- material als Orientierungs- berichte aus der Zu- ellen Fachdiskussionen, gen und Erhebungen zur hilfe für die Konzeption sammenarbeit mit unter- Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) ist ein Projekt des Bundesmi- offenen Fragestellungen Vermessung der Aus- und und den Vergleich von schiedlichen Partnern nisteriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit und verwandten Themen Weiterbildungslandschaft kompetenzorientierten und Initiativen im Feld mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI). Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpäd- von WiFF in der Frühpädagogik Weiterbildungsangeboten der Frühpädagogik agogischen Weiterbildungssystem in Deutschland mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern. Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen AUSBILDUNG ELTERN WEITERBILDUNG ELEMENTARDIDAKTIK E A W Expertengruppe Berufsbegleitende Weiterbildung Qualität in der Fort- und Weiterbildung Inés Brock Jan Leygraf von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen Frühpädagogische Fachkräfte und Eltern – Struktur und Organisation der Ausbildung Psychodynamische Aspekte der Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Erziehern Standards für Anbieter Eine bundesweite Befragung von Fachschul- und Abteilungsleitungen: Zehn Fragen – Zehn Antworten Frühe Bildung – Bedeutung und Aufgaben der pädagogischen Fachkraft Sprachförderung ist eine schwierige Aufgabe für frühpädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Psychodynamisches Wissen ist für die Zusammenarbeit mit Eltern hilfreich, um Beziehungsprozesse Der Großteil der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind Erzieherinnen und Erzieher. In Grundlagen für die kompetenz Das Feststellen von Verzögerungen im Sprachverstehen fällt vielen Fachkräften aufgrund fehlender Infor- zu verstehen und besser gestalten zu können. Frühpädagogische Fachkräfte machen sich dieses mationen schwer. Die Autorin der Expertise beschreibt, wie Verhaltensauffälligkeiten mit Problemen in der Wissen bislang nur selten zunutze, wenn es darum geht, Verhaltensweisen und Reaktionen von Eltern einer bundesweiten Befragung von Schul- bzw. Abteilungsleitungen an Fachschulen und Fachakademien hat die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) Daten zur Ausbildung dieser Berufsgruppe orientierte Weiterbildung In Kooperation mit: sprachlichen Entwicklung zusammenhängen können. Mit der Expertise soll frühpädagogischen Fachkräften nachzuvollziehen. Die Autorin zeigt in dieser Expertise, welche Aspekte der psychodynamischen erhoben: Wie ist die Ausbildung strukturiert und organisiert? Wie werden die angehenden Erzieherinnen und eine Orientierung gegeben werden, wann externe Expertinnen oder Experten bei Sprachauffälligkeiten hin- Beziehungsgestaltung geeignet sind, um die Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen Erzieher finanziell gefördert? Welche Funktion haben die Fachschulen bei der Weiterbildung und in welchem zugezogen werden sollten. zu verbessern. Umfang werden Leistungen auf ein Hochschulstudium angerechnet? WiFF Wegweiser Weiterbildung | 4 WIFF WiFFExpertisen Expertisen | | 000 25 WiFF Studien | 16 WiFF Kooperationen | 2 ISBN 978-3-935701-79-2 978-3-86379-046-2 ISBN 978-3-86379-056-1 DRUCK_Brock_Umschlag.indd 1 17.02.12 12:44 DRUCK_WW_Frühe_Bildung.indd 1 15.11.11 14:55 Band 25: Band 16: Band 4: Band 2: Inés Brock: Frühpädagogische Jan Leygraf: Struktur und Orga Frühe Bildung – Bedeutung Expertengruppe Berufs Fachkräfte und Eltern – Psycho- nisation der Ausbildung von und Aufgaben der begleitende Weiterbildung: dynamische Aspekte der Zusam- Erzieherinnen und Erziehern pädagogischen Fachkraft Qualität in der Fort- und menarbeit Weiterbildung von päda- gogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen Band 24: Band 15: Band 3: Band 1: Iris Nentwig-Gesemann/Klaus Karin Beher/Michael Walter: Zusammenarbeit mit Eltern Autorengruppe Fachschul Fröhlich-Gildhoff/Henriette Qualifikationen und Weiter- wesen: Qualifikationsprofil Band 2: © 2012 Deutsches Jugendinstitut e. V. Harms/Sandra Richter: Professio- bildung frühpädagogischer Kinder in den ersten drei „Frühpädagogik“ – Fach nelle Haltung – Identität der Fach- Fachkräfte schule / Fachakademie Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) kraft für die Arbeit mit Kindern in Lebensjahren Band 14: Nockherstraße 2, 81541 München den ersten drei Lebensjahren Brigitte Rudolph: Das Berufsbild Band 1: Sprachliche Bildung Telefon: +49 (0)89 62306-173 Band 23: der Erzieherinnen und Erzieher Barbara Gasteiger-Klicpera: Eva- im Wandel – Zukunftsperspekti- E-Mail: info@weiterbildungsinitiative.de luation und Qualitätsentwicklung ven zur Ausbildung aus Sicht der in der Sprachförderung: Chancen Fachschulleitungen und kritische Aspekte Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI) Band 13: Band 22: Katharina Stadler/Fabian Kleeber- Koordination: Uta Hofele Tina Friederich: Zusammenarbeit ger: Die Ausbildung von Erziehe- Lektorat: Jürgen Barthelmes mit Eltern – Anforderungen an rinnen und Erziehern aus Sicht der frühpädagogische Fachkräfte Lehrkräfte Gestaltung, Satz: Brandung, Leipzig Band 21: Band 12: Titelfoto: Alexey Lebedev © Fotolia.com Angelika Speck-Hamdan: Grund- Michael Ledig: Fort- und Weiter Druck: Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt a. M. schulpädagogisches Wissen – Im- bildung von Lehrkräften an Fach- pulse für die Elementardidaktik? schulen für Sozialpädagogik www.weiterbildungsinitiative.de Stand: Juni 2012 ISBN 978-3-86379-039-4
Anna Katharina Braun Früh übt sich, wer ein Meister werden will – Neurobiologie des kindlichen Lernens Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)
Vorwort Wird über eine optimale Unterstützung und Begleitung kindlicher Bildungsprozesse im Ele- mentarbereich diskutiert, stehen meist pädagogische Aspekte wie das Interaktionsverhalten der Fachkraft, die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe, unterschiedliche pädagogische Ansätze oder die Gestaltung der Räume im Mittelpunkt. Ergebnisse aus den Neurowissenschaften, die Schlussfolgerungen für das kindliche Lernen ermöglichen, werden selten herangezogen, um das Verhalten der Fachkraft und ihre Bedeutung im kindlichen Bildungsprozess zu reflektieren. Erkenntnisse der Neurowissenschaften deuten jedoch darauf hin, wie Lernumgebungen und Lerngelegenheiten für jüngere Kinder gestaltet sein sollten. Sie geben auch Hinweise darauf, welche pädagogischen und didaktischen Konzepte wirkungsvoll sind und welche Eigenschaften und Kompetenzen eine pädagogische Fachkraft zu deren Umsetzung benötigt. Anna Katharina Braun gibt mit ihrer Expertise Weiterbildnern und pädagogischen Fachkräften einen Überblick zum aktuellen Stand der neurowissenschaftlichen Forschung im Bereich der Lernforschung und zur Funktionsweise des Gehirns. Sie beschreibt die entscheidenden Entwick- lungsprozesse im kindlichen Gehirn, erörtert insbesondere den Einfluss von Medien auf die Hirn- entwicklung und stellt dar, welche Ziele frühe Bildung vor diesem Hintergrund verfolgen sollte. Die im Auftrag der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) erstellte Expertise ist ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Qualifizierungsbereiches „Frühe Bildung – Bedeutung und Aufgaben der pädagogischen Fachkraft“. Die Verantwortung für die fachliche Aufbereitung der Inhalte liegt bei der Autorin. Auf ihren Wunsch wurde auf die in den WiFF-Reihen übliche Zitierweise verzichtet zu Gunsten von Literaturtipps am Ende jedes Kapitels. Die Ergebnisse der Expertise dienen der Entwicklung von Weiterbildungsangeboten, sollen fachliche und fachpoli- tische Diskurse anregen und fließen in weitere Projektarbeiten ein. Unser Dank gilt Dr. Hans Rudolf Leu, der die WiFF von Beginn an bis zu seinem Ausscheiden in den Ruhestand als wissenschaftlicher Leiter begleitet und auch diese Publikation betreut hat. München, im Juni 2012 Angelika Diller Bernhard Kalicki Projektleitung WiFF Wissenschaftliche Leitung WiFF 4
Inhalt 1 Einleitung – Thema, Fragestellung, Aufbau 6 2 Neuronale Mechanismen der Informationsverarbeitung im Gehirn: das Substrat für Lernen, Erziehung und Bildung 7 3 Die Entwicklung des Gehirns 9 4 „Kritische“ und „sensible“ Phasen der Gehirnentwicklung 11 5 Frühkindliche emotionale Bindung 14 6 Was ist angeboren, was ist erlernt? 17 7 Neuronale Mechanismen des Lernens 20 8 Der Zusammenhang zwischen emotionalen Prozessen sowie Lern- und Gedächtnisvorgängen 22 9 Der Einfluss von Medien auf die Gehirnentwicklung sowie kognitive und sozioemotionale Kompetenz 25 10 Schlussfolgerungen 31 11 Glossar 32 12 Anhang 33 5
Anna Katharina Braun mehr physikalische und mechanische Grundkennt- 1 Einleitung – Thema, nisse er besitzt. Analog sollten Eltern, Erzieher und Lehrer, die am und mit dem Organ Gehirn arbeiten, Fragestellung, Aufbau 1 ein realistisches Konzept von den hirnbiologischen Mechanismen des Lernens und der Gedächtnisfunk- tionen besitzen. Zum Thema Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse ver- Wenn ein Kind zur Welt kommt, vereint es die gene- suchen endlich zu erklären, weshalb manche päda- tische Information seiner Eltern, die während der Em- gogischen und didaktischen Konzepte „gehirnge- bryonalentwicklung unter anderem sein Geschlecht rechter“ und daher wirkungsvoller sind als andere, bestimmt und dafür sorgt, dass die Nase an der kor- und welche Eigenschaften und Kompetenzen einen rekten Stelle im Gesicht sitzt, und welche Farbe die Lehrer zu einem „guten“ Lehrer machen. Gerade in Haut, die Augen und die Haare haben. Deutschland besteht nach wie vor großer, insbeson- Bereits vor der Geburt – und vor allem während der dere interdisziplinärer Forschungsbedarf, um diese ersten Lebensjahre – setzt der Einfluss epigenetischer Zusammenhänge im Detail zu verstehen, sowie um Prozesse ein, d. h. die Umwelt, in der das kindliche alte und neue pädagogische Erziehungskonzepte end- Gehirn aufwächst, bestimmt ganz maßgeblich, in lich systematisch und quantitativ auf ihre Wirksamkeit welcher Richtung sich die funktionelle Reifung und (oder Unwirksamkeit) zu überprüfen. In diesem Zu- Optimierung des Gehirns und Verhaltens vollzieht. sammenhang sollte allerdings auch bedacht werden, Zu den entscheidenden Umweltfaktoren, die sich auf dass nicht alle Lernmethoden, Gedächtnistechniken die Gehirnentwicklung auswirken, gehört auch die und „Gehirnjogging-Methoden“, die heutzutage als vorschulische und schulische Bildung. In diesem Zu- „gehirngerecht“ angepriesen werden, dies auch wis- sammenhang soll vorab bereits auf die häufig in der senschaftlich fundiert nachweisen können. entwicklungspsychologischen und pädagogischen Literatur geäußerte Kritik hingewiesen werden, dass Grundverständnis der neuronalen Mechanismen – die Erkenntnisse der Hirnforschung ja nicht neu seien, Fragestellung sondern lediglich längst bekannte Erkenntnisse aus Ein Grundverständnis der neuronalen Mechanismen, den Erziehungswissenschaften bestätigen. Dies trifft die in dieser Expertise dargestellt werden, soll helfen, zwar auf einige, aber keinesfalls auf alle neurowissen- dem Wildwuchs von nicht immer wissenschaftlich er- schaftlichen Befunde zu, und selbst in den Fällen, in wiesenen „Neuro-Gütesiegeln“ mit einer kompetenten denen dies zutrifft, ist es dennoch von grundlegender Kritikfähigkeit zu begegnen. Die Hirnforschung wid- Bedeutung, wenn man ein gehirnmechanistisches met sich mit einem breiten Methodenspektrum der Konzept pädagogischen Handelns entwickelt. Beantwortung einer Vielzahl von Fragen: Ein Arzt beispielsweise wird umso wirkungsvoller –– Welche Umweltfaktoren und Lernprozesse greifen seine Patienten gesund erhalten und heilen können, in die Gehirnentwicklung ein? je mehr Detailkenntnisse er über die Körperorgane –– Welche neuronalen Entwicklungszeiträume sind und ihre Funktionen hat, und ein Ingenieur wird von kritischer Bedeutung für die Verhaltensent- umso leistungsfähigere Maschinen bauen können, je wicklung (Konzept der sensitiven Zeitfenster)? –– Welche molekularen und (epi)genetischen Mecha- nismen sind an der funktionellen Reifung der 1 Die vorliegende Expertise beruht zum Teil auf bereits veröffentlich- Nervenzellen und ihren komplexen synaptischen ten Aufsätzen: Scheich, Henning/Braun, Katharina (2008): Risiken und Nebenwirkungen: Der Einfluss visueller Medien auf die Entwick- Verschaltungen beteiligt? lung von Gehirn und Verhalten. In: Wernstedt, Rolf/John-Ohnesorg, Marei: Neue Medien in der Bildung – Lernformen der Zukunft. Doku- Diese essenziellen Fragen, die im Fokus der Hirnfor- mentation der Konferenz des Netzwerk Bildung vom 5. und 6. Mai 2008. Bonn: Universitäts-Buchdruckerei, S. 15–22 und Scheich, Hen- schung stehen, sind eng gekoppelt an Fragen, die sich ning/Braun, Katharina (2009): Bedeutung der Hirnforschung für die Eltern und Erzieher stellen: Frühförderung. Monatsschrift Kinderheilkunde, H. 157, S. 953–964, (Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Springer Science –– Was ist angeboren und was ist erworben / erlernt? and Business Media). –– Verkümmert das Gehirn bei mangelnder Förderung? 6
Neuronale Mechanismen der Informationsverarbeitung im Gehirn: das Substrat für Lernen, Erziehung und Bildung –– Wie können wir die Entwicklung des Gehirns und des Verhaltens individuell und optimal fördern? 2 Neuronale Mechanismen Dazu zeigen die neueren Erkenntnisse der Hirnfor- der Informationsverarbeitung schung, dass bei der erfahrungsgesteuerten Gehirn- im Gehirn: das Substrat für entwicklung nicht nur die kognitiven Prozesse, son- dern vor allem auch die emotionalen Vorgänge eine Lernen, Erziehung und Bildung essenzielle Rolle spielen. Zum Aufbau der Expertise Um die neuronalen Mechanismen der Gehirnent- Diese Expertise bietet einen Einstieg und Überblick zu wicklung, des Lernens und der Gedächtnisfunktionen den neurobiologischen Grundlagen der Gehirn- und verstehen zu können, muss man die Grundprinzipien Verhaltensentwicklung. Sie vermittelt Erzieherinnen der Funktionsweise der Nervenzellen als funktionelle und Erziehern ein grundlegendes Fachwissen zur Bausteine des Gehirns kennen. Bereits vor der Geburt Funktionsweise des Gehirns, insbesondere mit Blick beginnen die Nervenzellen mithilfe ihrer Axone, die auf Lern-und Gedächtnisprozesse: vergleichbar mit einem „Stromkabel“ sind, tausende Das Kapitel 2 vermittelt die Grundlagen zur Funk- von Kontakten (Endknöpfchen oder Synapsen) mit tionsweise der Nervenzellen und des Gehirns, die die anderen Nervenzellen auszubilden (vgl. Abb. 1, rechts). Basis bilden für die in Kapitel 3 und Kapitel 4 erläuterten Jede Nervenzelle kann gleichzeitig Signale empfan- Mechanismen der Gehirnentwicklung, sowie für die gen und Signale an andere Nervenzellen weiterleiten, Bedeutung der Entwicklungszeitfenster. sie ist sowohl „Sender“, als auch “Empfänger“. Die Die Kenntnis der Grundprinzipien der Gehirnent- Signalübertragung entlang der Axone geschieht über wicklung dient wiederum als Grundlage zu den im Ka- schwache elektrische Ströme, die mittels empfind- pitel 5 beschriebenen hirnbiologischen Mechanismen licher Elektroden in einer einzelnen Nervenzelle oder der emotionalen Bindung als ersten nachgeburtlichen als Summe vieler Nervenzellen sogar außen am Schädel Lernprozess. (mittels eines Elektroencephalogramms – EEG oder Diese Aspekte leiten über zu den neuronalen Me- eines Magnetencephalogramms – MEG) gemessen wer- chanismen des Lernens, die im Kapitel 6, Kapitel 7 und den können. Am Ende des Axons bilden sich ein oder Kapitel 8 erläutert werden. Hier wird ausgeführt, dass mehrere Synapsen aus, in denen sich mit chemischen Lern-und Gedächtnisprozesse mit physiologischen Botenstoffen (Neurotransmitter) gefüllte Bläschen biochemischen und strukturellen Veränderungen befinden. Erreicht das elektrische Signal die Synapse, des Gehirns einhergehen, und dass nur diejenigen entleert sich der Inhalt dieser Bläschen in den engen synaptischen Verknüpfungen in den neuronalen Netz- synaptischen Spalt, der das axonale Endknöpfchen vom werken stabilisiert werden, die im Verlauf kindlicher Dendriten der Empfängerzelle trennt. Der freigesetzte Lernvorgänge sowie beim Einspeichern und Abrufen Neurotransmitter diffundiert zur Dendritenoberfläche von Gedächtnisinhalten aktiviert („trainiert“) werden. und bindet dort an spezielle Rezeptoren; das elektrische Aus diesem Prinzip der erfahrungsgesteuerten Ge- Signal wird also an der Synapse in ein chemisches Signal hirnoptimierung bauen die im Kapitel 9 erläuterten umgewandelt. Neben den erregenden (z. B. Glutamat) hirnbiologischen Konsequenzen des Medienkonsums und hemmenden (z.B. die Gamma-amino-buttersäure, auf. GABA) Neurotransmittern üben andere Neurotrans- mitter (z. B. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin sowie verschiedene Neuropeptide und Stresshormone) eine modulatorische Wirkung im Gehirn aus. Wie in den folgenden Kapiteln noch näher ausge- führt wird, ist insbesondere das Dopamin an der Steue- rung von Motivation, Aufmerksamkeit und Belohnung beteiligt und wirkt daher als eine Art „Katalysator“ bei Lernprozessen. 7
Anna Katharina Braun Abbildung 1: Links: Vergleich der cortikalen und limbischen Hirnregionen im Gehirn des Menschen (oben) und dem Gehirn der Ratte (unten); Rechts: Dreidimensionale mikroskopische Rekonstruktion einer Nervenzelle Hypothalamus Pineal Gland Cerebral Cortex sum allo us C Corp Septum Fornix Thalamus pus am Mid- poc Hip brain Olfactory Bulb Cerebellum Pons Pituitary Gland Medulla Oblongata Spinal Cord Corpus Callosum Pineal Gland Cerebral Cortex Hippocampus Fornix Olfactory Cerebellum Thalamus Bulb Septum Mid- brain Pons Medulla Hypothalamus Oblongata Spinal Cord Pituitary Gland Abb. 1: Links: Vergleich der cortikalen und limbischen Hirnregionen im Gehirn des Menschen (oben) und dem Gehirn der Ratte (unten). Der Ver- gleich zeigt den prinzipiell ähnlichen Aufbau, die Farbgebung verdeutlicht die Homologie der sich entsprechenden Hirnregionen im Nager- und Menschengehirn und illustriert deren unterschiedlichen Proportionen, insbesondere des cerebralen Cortex. Der Vergleich verdeutlicht, dass das Nagergehirn aufgrund seines vergleichbaren Aufbaus als „Prototyp“ des menschlichen Gehirns betrachtet werden kann, in dem bereits alle Zentren für Lern- und Gedächtnisleistungen vorhanden sind. Die Funktionen einiger der hier dargestellten Hirnregionen werden im Zusammenhang mit Lern- und Gedächtnisprozessen im Text näher erläutert. Quelle: learn.genetics.utah.edu/content/addiction/genetics/neurobiol.html Abb. 1: Rechts: Dreidimensionale mikroskopische Rekonstruktion einer Nervenzelle, funktionelle Erläuterungen finden sich im Text. Quelle: Institut für Biologie, Abt. Zoologie und Entwicklungsneurobiologie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Referenzen zu Kapitel 2 Goldman-Rakic, Patricia S./Bates, John. F./Chafee, M. V. (1992): The prefrontal cortex and internally generated Eichenbaum, Howard / Cohen, Neal J. (2001): From motor acts. In: Current Opinion Neuroscience, H. 2, conditioning to conscious recollection: Memory S. 830–835 systems of the brain. Oxford: Psychology Series Squire, Larry R./Spitzer, Nicholas C./Zigmond, Michael Fuster, Joaquin M. (2003): Cortex and mind. Unifying J./McConnell, Susan K./Bloom, Floyd E. (2002): Funda- cognition. Oxford: Oxford University Press mental Neuroscience. 2. bearb. Aufl. Waltham/Massa chusetts: Academic Press 8
Die Entwicklung des Gehirns Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht und für die 3 Die Entwicklung des Gehirns pädagogische Praxis ist die Tatsache von Bedeu- tung, dass sich die verschiedenen funktionellen Hirnsysteme nicht alle zeitgleich und mit derselben Geschwindigkeit entwickeln (vgl. Abb. 3). Während Die Fragen, wie nachgeburtliche Gehirnentwicklung die Sinnessysteme bereits relativ früh, d. h. in den durch Umwelteinflüsse gesteuert werden, begannen ersten Lebensjahren, ihre volle Funktionsfähigkeit mit der Beobachtung von angeborenen Fehlentwick- erreichen, gehört das limbische System, mit dem wir lungen beim Menschen und wurden dann sehr schnell unsere Gefühlswelt entwerfen und mit dem wir unser in die tierexperimentelle Forschung übernommen. Leben lang lernen sowie Gedächtnisinhalte abspei- Dort wurden durch eingreifende Untersuchungen chern und wieder abrufen, zu den „Spätentwicklern“ am Gehirn mechanistische Erklärungen für Defizite des Gehirns. Die limbischen Zentren, vor allem auch gefunden und Maßnahmen der Gegensteuerung ex- der beim Affen und Menschen besonders voluminös perimentell überprüft, die mittlerweile in der Klinik ausgeprägte frontale Teil der Hirnrinde (cerebraler vielfache Anwendung bei Diagnose und Therapie Cortex, vgl. Abb. 1, links), der präfrontale Cortex, mit finden. dem wir höhere kognitive assoziative Leistungen Bei der Geburt ist das Gehirn nahezu mit der voll- sowie auch unsere emotionalen Empfindungen und ständigen Anzahl von Nervenzellen ausgestattet. Nur Verhaltensreaktionen verarbeiten, entwickeln sich bei in wenigen Hirnregionen werden lebenslang verein- Säugetieren besonders langsam – beim Menschen bis zelt neue Nervenzellen gebildet (vgl. Abb. 1, rechts), zum 20. Lebensjahr und länger (vgl. Abb. 3). beispielsweise im Hippocampus (vgl. Abb. 1, links), Die beim Menschen ausgesprochen langsame Ent- eine Region, die für räumliches Lernen sowie bei der wicklung der lern- und emotionsrelevanten Hirnregi- Gedächtnisbildung und beim Gedächtnisabruf von onen birgt für die intellektuelle und sozioemotionale Bedeutung ist. Die meisten der neu gebildeten Zellen Entwicklung des Kindes Vorteile sowie Nachteile: sterben jedoch relativ rasch wieder ab, nur einige Der Vorteil liegt darin, dass sich das kindliche Ge- werden in die vorhandenen Schaltkreise integriert. hirn optimal an den jeweiligen Lebensraum, in dem In tierexperimentellen Studien wurde interessan- das Kind aufwächst, anpassen und damit die für das terweise gezeigt, dass nicht nur die Neubildung der Überleben essenziellen Verhaltensstrategien entwi- Nervenzellen durch Umwelteinflüsse und Lernpro- ckeln kann. Ein Kind, das in der Arktis aufwächst wird zesse angeregt werden kann, sondern auch deren sicherlich andere Nervennetzwerke im Gehirn entwi- Überlebensrate. Erfahrungen und Lernen können ckeln sowie andere Verhaltensweisen und Fertigkeiten demnach im kindlichen und auch noch im erwachse- erlernen, als ein Kind, das in Nordafrika lebt. nen Gehirn wie ein „Jungbrunnen“ wirken. Der Nachteil dieser ausgeprägten Plastizität ist, dass Viele Gehirnsysteme sind bei der Geburt zwar prin- sich Gehirn und Verhalten auch an negative Umwelten zipiell schon funktionsfähig, müssen aber nach der anpasst. Defizitäre Elternhäuser und Schulsysteme Geburt noch optimiert werden, was vor allem für die können demnach ebenfalls in die Gehirnentwicklung sensorischen und die höheren assoziativen Cortex-Re- eingreifen, sie können die Optimierung des Gehirns gionen gilt (vgl. Abb. 1 und Abb. 3). Während diejenigen verzögern oder in eine andere Richtung drängen, was Gehirnzentren, die überlebenswichtige Funktionen langfristig zu teilweise irreparablen funktionellen wie das Atmen oder den Herzschlag steuern, bereits Defiziten führen kann. ihre volle Leistungsfähigkeit erreicht haben und in Aus pädagogischer Sicht ist es wichtig, zu erkennen, ihrer Funktion nicht mehr verändert oder optimiert dass das Gehirn darauf „programmiert“ ist, sofort nach werden, müssen die Sinnessysteme (z. B. Sehen, Hören, der Geburt in einen direkten Dialog mit der Umwelt zu Tasten), die motorischen Zentren (Bewegungssteue- treten und diese Erfahrungen für seine weitere funk- rung) und vor allem die Gehirnsysteme, mit denen wir tionelle Reifung zu nutzen. Während das Kind lernt, unsere Emotionalität sowie höhere assoziative Leis- seine Umwelt aktiv zu gestalten, verändert die Inter- tungen vollbringen (limbisches System, präfrontaler aktion mit seiner Umwelt die neuronale Architektur Cortex), noch in ihrer Funktion perfektioniert werden. seines Gehirns. Die neuronalen Schaltkreise werden 9
Anna Katharina Braun über die Umwelterfahrungen sukzessive reorganisiert, System. Diese „Prägung“ der funktionellen Gehirn um damit das Verhalten des Individuums optimal an architektur findet ganz besonders massiv (und mit seine jeweilige Lebenswelt anzupassen. hoher Geschwindigkeit) während der ersten vier Am Tiermodell konnten wir erstmals nachweisen, bis sechs Lebensjahre statt, und vermutlich auch dass nur die interaktive Erfahrung mit der Umwelt nochmals ganz umfangreich während der Pubertät. solche dauerhaften hirnorganischen Veränderungen Demnach ist es von essenzieller Bedeutung, in welcher auslösen kann, jedoch nicht eine passive „Beriese- Art die Umwelt gestaltet ist, die während dieser „kri- lung“. Hiervon sind nicht nur die Sinnessysteme und tischen“ oder „sensiblen“ Entwicklungsphasen in die die Motorik betroffen, sondern ganz besonders auch Gehirnentwicklung und damit auch in die Persönlich- die präfrontalen Cortexbereiche und das limbische keitsentwicklung eingreift (vgl. dazu auch Kapitel 4). Abbildung 2: Vereinfachte schematische Darstellung der erfahrungsabhängigen synaptischen Reorganisation im Verlauf der Gehirnentwicklung A B C I I I verstärkt abgeschwächt II III II III II III Abb. 2: Vereinfachte schematische Darstellung der erfahrungsabhängigen synaptischen Reorganisation im Verlauf der Gehirnentwicklung. A zeigt die Nervenzellen II und III, die mit Nervenzelle I synaptische Verbindungen geknüpft haben. B illustriert die Aktivierung der Synapse II / I (links) und die schwächere bzw. fehlende Aktivierung der Synapse III / I (rechts), welches dann in C die Verstärkung von Synapse II / I und den Verlust von Synapse III / I zur Folge hat (Verwendung mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. J. Bock, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg). Referenzen zu Kapitel 3 Conel, Jesse Leroy (Hrsg.) (1959): The postnatal develop ment of the human cerebral cortex. Cambridge: H. Bock, Jörg / Braun, Katharina (1998): Differential emo- U. Press tional experience leads to pruning of dendritic spines in the forebrain of domestic chicks. In: Neural Scheich, Henning / Wallhäusser-Franke, Elisabeth / Plasticity, H. 6, S. 17 – 27 Braun, Katharina (1991): Does synaptic selection ex- Bock, Jörg/Braun, Katharina (1999): Blockade of N-methyl- plain auditory imprinting? In: Squire, Larry R./Wein- D-aspartate receptor activation suppresses learning- berger, Norman M./Lynch, Gar./McGaugh, James L. induced synaptic elimination. In: Proceedings of the (Hrsg.): Memory: Organization and Locus of Change. National Academy Of Sciences USA, H. 5, S. 2485–2490 New York: Oxford University Press, S. 114–159 Bock, Jörg / Gruß, Michael / Becker, Susan / Braun Squire, Larry R./Spitzer, Nicholas C./Zigmond, Michael J./ Katharina (2005): Experience-induced changes McConnell, Susan K./Bloom, Floyd E. (2002): Funda- of dendritic spine densities in the prefrontal and mental Neuroscience. 2. bearb. Aufl. Waltham/Massa sensory cortex: Correlation with developmental chusetts: Academic Press time windows. In: Cerebral Cortex, H. 15, S. 802– 808 10
„Kritische“ und „sensible“ Phasen der Gehirnentwicklung da der auditorische Cortex in der frühen sensiblen 4 „Kritische“ und „sensible“ Phase nie „gelernt“ hat, mit Sprachreizen umzugehen. Beim Hörsystem erstreckt sich die synaptische Ent- Phasen der Gehirnentwicklung wicklung noch über einen etwas längeren Zeitraum (vgl. Abb. 3), da dieses Sinnessystem neben der Prä- zisierung des Gehörs für Spracherkennung auch am Spracherwerb beteiligt ist, ebenso später beim Lernen In den Neurowissenschaften ist nach wie vor noch von Lesen und Schreiben. Auch hier ist die Interaktion nicht vollständig die Frage geklärt, wann und vor mit der Umwelt ganz essenziell: Wird beispielsweise allem über welche zellulären Mechanismen sich die er- der Hörcortex nicht gleich von Geburt an darauf trai- fahrungs- und lerngesteuerte Entwicklung neuronaler niert, menschliche Sprachlaute zu erkennen und zu Netzwerke vollzieht und wie sie in Wechselwirkung kategorisieren, dann wird sich dies später auf den mit der Umwelt umstrukturiert und optimiert werden. Spracherwerb hinderlich auswirken. Nur das, was man Sowohl die Untersuchungen am menschlichen präzise mit dem Gehör erfasst, kann auch mit dem ei- Gehirn, als auch die experimentellen Befunde an genen Sprachapparat imitiert und im weiteren Verlauf Tiermodellen weisen nachgeburtliche Zeitfenster über die kontinuierliche Hörkontrolle des eigenen der Hirnentwicklung und der Verhaltensentwicklung Sprechens sukzessive optimiert werden. nach: die sogenannten „sensiblen“ oder „kritischen“ Dies impliziert, dass der vorschulischen Bildung (im Phasen. Elternhaus und in den vorschulischen Betreuungsein- Beim Menschen liegen diese sensiblen Phasen je richtungen) eine viel größere Bedeutung zukommt nach Gehirnregion in der vorschulischen und frühen als bisher angenommen, denn sie kann sich massiv in schulischen Lebenszeit. Beispielsweise vollzieht sich die Gehirnentwicklung „einmischen“. Die Gehirnent- die funktionelle Reifung der Sinnessysteme (wie Sehen wicklungsphasen korrelieren mit den Phasen beson- und Hören) bereits in den ersten Lebensjahren, also ders effizienter Lernfähigkeit, d. h. Lernen während einem Zeitfenster, das gut mit der Optimierung der der frühen Gehirnentwicklung greift aufgrund der Seh- und Hörfähigkeiten korreliert. Fundamental war erhöhten neuronalen Plastizität sehr viel stärker in die beispielsweise die Beobachtung, dass Kinder mit ange- funktionelle Entwicklung des Gehirns ein, hinterlässt borenen Linsentrübungen nach den im Teenager-Alter also prägnantere „architektonische“ Spuren im Gehirn erfolgten Linsenentfernungen und Brillenkorrekturen als das Lernen im erwachsenen Gehirn. auch später kein normales Mustererkennungsvermö- So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, gen entwickeln. Dies liegt, wie tierexperimentelle dass sich musikalisches Lernen und instrumentale Untersuchungen nachweisen konnten, daran, dass Expertise auf die Entwicklung des Hörcortex und Tast- der Sehcortex aufgrund der fehlenden Seheindrücke cortex auswirkt – entsprechend den Händen oder Lip- während seiner sensiblen Entwicklungsphase nicht pen, mit denen das Instrument gespielt bzw. ertastet „lernen“ konnte, korrekt zu sehen. wird. Je früher und länger ein Instrument regelmäßig Noch bedeutsamer war der Befund, dass Kinder mit gespielt wird, umso größer entwickeln sich die damit starker Schielstellung eines Auges nach einigen Jahren „beschäftigten“ Cortexareale. auf diesem Auge funktionell blind werden, obwohl es im Elektrookulogramm funktionstüchtig erscheint, d. h. normal Licht verarbeitet. Auch hier konnten erst die tierexperimentellen Untersuchungen zeigen, dass dies in einer funktionellen Unterentwicklung des Seh- cortexes begründet ist. Ähnliche Befunde fanden sich bei Patienten mit angeborenen Schall-Leitungsschwerhörigkeiten im Ohr, die aus denselben Gründen wie beim Sehsystem trotz späterer operativer Behebung keine normale perzeptive Sprachverarbeitung entwickeln konnten, 11
Anna Katharina Braun Abbildung 3: Grafische Zusammenfassung der unterschiedlichen Entwicklungszeitfenster für die synaptische Entwicklung verschiedener cortikaler Regionen im menschlichen Gehirn Hör- und Sehzentren in der Großhirnrinde Sprachzentren in der Großhirnrinde Vorderlappen der Großhirnrinde Schnelle Synapsenbildung, gefolgt von Eindämmung Produktion und Synapsenniveau bei Wanderung von Erwachsenen Nervenzellen Myelinisierung -8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 30 40 50 60 70 Tod Geburt Pränatale Periode Monate Jahre Jahrzehnte in Monaten Alter Die verschiedenen Gehirnareale und ihre Verschaltungen reifen nicht gleichzeitig heran sondern es gibt „sensitive“ bzw. „vulnerable“ Zeitfenster, in denen die funktionellen Gehirnsysteme empfänglich für Schlüsselinformationen sind. Man beachte die verschiedenen Phasen des Aufbaus und des (nicht pathologischen!) Abbaus von Synapsen. Ergebnisse aus Huttenlocher und Dabholkar (1997) J. Comp. Neurol. 387: 167-178. Quelle: Carlsson, Neill, R. (Hrsg.) (2004): Physiologische Psychologie. München Die Existenz solcher Entwicklungszeitfenster bedeutet Umgekehrt sollten sich Eltern und Lehrer bewusst demnach auch, dass die Persönlichkeitsveränderungen machen, dass die positiven Auswirkungen ihrer Erzie- gleichzusetzen sind mit gehirnorganischen Verände- hungsbemühungen erst nach vielen Jahren zum Tragen rungen, und dass die Veränderungen, die während kommen können. Beispielsweise konnte Michael Gruss solcher Entwicklungsphasen besonders rasch und tief- (2010) in meiner Arbeitsgruppe an jungen Ratten nach- greifend sind, äußerst stabil und im späteren Leben nur weisen, dass Jungtiere, die mit einer Lernaufgabe auf- noch bedingt und nur durch intensives Training verän- grund ihres noch nicht voll ausgereiften Gehirns noch dert werden können. Hierin liegen das große Potenzial überfordert waren, später als Erwachsene diese Aufgabe und die Nachhaltigkeit der frühkindlichen Förderung. dann schneller und mit besserem Erfolg erlernen kön- Ein weiteres wichtiges Merkmal des frühkindlichen nen. Die Existenz der sowohl von den Entwicklungs- Lernens besteht darin, dass sowohl die positiven (z. B. psychologen als auch von den Entwicklungsbiologen durch optimale Anregung und Förderung in Familie nachgewiesenen frühkindlichen Entwicklungszeitfen- und Bildungseinrichtungen) als auch die negativen ster bedeutet jedoch keinesfalls, dass nach Ablauf der (z. B. defizitäre oder falsche Förderung, wiederholte ohnehin für die lernrelevanten Hirnzentren (limbisches Erlebnisse des Misserfolgs, chronischer Stress) Folgen System, Präfrontalcortex) nicht sehr scharf begrenzten der frühkindlichen Erziehung oft mit einer zeitlichen Entwicklungsphasen das Lernen nicht mehr möglich ist; Verzögerung sichtbar werden. Die Folgen früher es wird nur entsprechend mühsamer und langsamer. Versäumnisse zeigen sich häufig erst nach Jahren, Das heißt: was in den ersten Lebensjahren in kürzester wenn beispielsweise mit dem Säugling und Kleinkind Zeit erworben werden kann (z.B. die Muttersprache oder während der kritischen Entwicklungsphase der Hör- eine Fremdsprache), erfordert mit zunehmendem Alter und Sprachsysteme nicht gesprochen wurde, können wesentlich längere Zeiträume. daraus Monate oder Jahre später Verzögerungen oder Neuere Forschungsergebnisse aus der human- und Störungen der Sprachentwicklung resultieren. tierexperimentellen Forschung zeigen aber auch, dass 12
„Kritische“ und „sensible“ Phasen der Gehirnentwicklung sich viel später im Leben noch ganz enorme Verände- Damasio, Antonio R. (1998): Descartes’ Error: Emotion, rungen im Gehirn vollziehen. Beispielsweise stellt die Reason and the Human Brain. New York: Avon Pubertät ein Zeitfenster dar, in dem das Gehirn nochmals Davidson, Richard J. / Putnam, Katherine M. / Larson, einer „Baustelle“ gleicht, in der sich, teilweise auch über Christine L. (2000): Dysfunction in the neural cir- Sexualhormone gesteuert, häufig massive neuronale Um- cuitry of emotion regulation – A possible prelude strukturierungen vollziehen. Man vermutet, und diese to violence. In: Science, H. 289, S. 591 – 594 spannende Überlegung wird derzeit sehr aktiv erforscht, Doupe, Alison / Kuhl, Patricia (1999): Birdsong and dass die Pubertät als plastisches Entwicklungszeitfenster human speech: common themes and mechanisms. eine „zweite Chance“ darstellt, in der das Gehirn weiter In: Annual Review Neuroscience, H. 22, S. 567 – 631 optimiert und gegebenenfalls sogar frühkindliche Ver- säumnisse nachgeholt oder korrigiert werden können. Elliot, Lise (2000): What’s Going on in There? How the Auch beim Erwachsenen (im Normalfall bis ins hohe Brain and Mind Develop in the First Five Years of Alter) bleibt das Gehirn noch veränderbar, schließlich Life. New York / London / München: Bantam Verlag zeichnet sich gerade der Mensch durch seine Fähigkeit zum lebenslangen Lernen aus. Nur sind die Verände- Gopnik, Alison M. / Meltzoff, Andrew N. (2001): The rungen, die sich im erwachsenen Gehirn beim Lernen Scientist in the Crib: What Early Learning Tells Us vollziehen, sehr viel weniger dramatisch als beim Kind, about the Mind. New York: Harper Collins Publishers was an der im Vergleich zum noch heranreifenden Ge- Grossman, Aaron W. / Churchill, James D. / McKinney hirn verminderten Plastizität (Veränderbarkeit der Ner- Brandon C. / Kodish, Jan M. / Otte, Stephanie L. / Gree- venzellen und ihrer Synapsen) liegt. Es gibt aber auch nouph, William T. (2003): Experience effects on Lernprozesse, die im erwachsenen Gehirn effizienter brain development: possible contributions to psy- ablaufen; dies hängt in nicht unerheblichen Maße da- chopathology. In: The Journal of Child Psychology von ab, wie viele und welche Art von Informationen dort and Psychiatry, 44. Jg., H. 1, S. 33 – 63 bereits abgespeichert wurden. Das erwachsene Gehirn Gruss, Michael/Abraham, Andreas/Schäble, Sandra/Be- kann aufgrund seiner umfangreichen Vorerfahrungen cker, Susann/Braun, Katharina (2010): Cognitive train effizienter arbeiten, indem es auf bereits (u. a. auch ing during infancy and adolescence accelerates adult schon in der Kindheit) abgespeicherte Gedächtnisin- associative learning: critical impact of age, stimulus halte und Denkkonzepte sowie auf die entsprechenden contingency and training intensity. In: Neurobiology bereits mehr oder weniger optimierten („getunten“) of Learning and Memory, Nr. 94, H. 3, S. 329–340 synaptischen Netzwerke zurückgreifen kann. Held, Richard/ Hein, Alan (1963): Movement-produced stimulation in the development of visually guided Referenzen zu Kapitel 4 behaviour. In: Journal of Comparative and Physio- logical Psychology, H. 56, S. 872 – 876 Bischof, Hans Joachim (2007): Behavioral and neuro- Hubel, David H. / Wiesel, Torsten N. (1965): Binocular nal aspects of developmental sensitive periods. In: interaction in striate cortex of kittens reared with Neuroreport 5. Jg., H. 18, S. 461 – 465 artificial squint. In: Journal of Neurophysiology, 28. Jg., Bock, Jörg / Gruß, Michael / Becker, Susan / Braun Ka- H. 6, S. 1041 – 1059 tharina (2005): Experience-induced changes of Hubel, David. H./Wiesel Torsten N. (1970): The period dendritic spine densities in the prefrontal and sen- of susceptibility to the physiological effects of sory cortex: Correlation with developmental time unilateral eye closure in kittens. In: The Journal of windows. In: Cerebral Cortex, H. 15, S. 802 – 808 Physiology, H. 2, S. 419 – 436 Bruer, John T. (1999): The myth of the first three years: Huttenlocher, Peter R. (1979): Synaptic density in hu- An understanding of early brain development and man frontal cortex – Developmental changes and ef- lifelong learning. New York: The Free Press fects of aging. In: Brain Research. H. 163, S. 195 – 205 Huttenlocher, Peter R. / Dabholkar, Arun S. (1997): Re- Conel, Jesse Leroy (Hrsg.) (1959): The postnatal development gional differences in human cerebral cortex. The of the human cerebral cortex. Cambridge: H. U. Press Journal of Comparative Neurology, H. 387, S. 167 –178 13
Anna Katharina Braun Huttenlocher, Peter R. / deCourtier, C. / Garey, L. / Loos van der, H. (1982): Synaptogenesis in human visual 5 Frühkindliche emotionale cortex – evidence for synapse elimination during normal development. In: Neuroscience Letters, H. 33, Bindung S. 247 – 252 Kuhl, Patricia K. (2004): Early language acquisition: cracking the speech code. In: Nature Reviews Neuro Die klassischen älteren Untersuchungen sowie die science, H. 5, S. 831 – 843 bereits erwähnten neueren Adoptivstudien an Heim- Kuhl, Patricia K./Tsao, Feng-Ming/Liu, Huei-Mei (2003): kindern verweisen auf eine starke prägende (gehirn- Foreign language experience in infancy: effects und verhaltensbiologische) Bedeutung emotionaler of short-term exposure and social interaction on Erfahrungen, die u. a. ja auch im Zusammenhang mit phonetic learning. In: Proceedings of the National Lernprozessen stehen. Academy of Sciences, H. 100, S. 9096 – 9101 Beobachtungen des Wiener Kinderarztes und Psy- choanalytikers René A. Spitz (1945) an Heimkindern Sachs, Jaqueline / Bard, Barbara / Johnson, Marie L. sowie die in jüngster Zeit an Kindern aus rumänischen (1981): Language learning with restricted input: Waisenhäusern erhobenen Befunde (Chugani u. a. Case studies of two hearing children of deaf parents. 2001) zeigen ganz klar, welch verheerende und dau- In: Applied Psycholinguistics, H. 1, S. 33 – 53 erhaft im Gehirn verankerte Wirkung ein Mangel an Schäble, Sandra/Poeggel, Gerd/Braun, Katharina/Gruss, emotionaler Zuwendung auf die Entwicklung kogni- Michael (2007): Long-term consequences of early tiver und emotionaler Fähigkeiten hat. experience on adult avoidance learning in female Die Studien von Harold Skeels (1966) haben darüber rats: role of the dopaminergic system. Neurobiology hinaus klar gezeigt, dass es in der ganz frühen Kindheit of Learning and Memory, 87. Jg., H. 1, S. 109–122 weniger auf eine hochwertige intellektuelle Förde- Schneider, Wolfgang / Näslund, Jane Carol (1999): rung des Kindes ankommt, sondern vielmehr auf eine Impact of early phonological processing skills on stabile emotionale Bindung zu einer Bezugsperson. reading and spelling in school: Evidence from the Nach John Bowlby (1969 / 1999), einem der Pioniere Munich Longitudinal Study. In: Weinert, Franz der Bindungsforschung, werden hierzu in der frühen E./Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Individual Develop Kindheit „interne Arbeitsmodelle“ angelegt, die sich ment from 3 to 12. Findings from the Munich im Verlauf des kontinuierlichen Dialogs zwischen Longitudinal Study. Cambridge / UK: Cambridge den Eltern – Erzieher – Betreuern und dem Kind heraus University Press, S. 126 – 147 formen. Kinder wenden sich beispielsweise in bedroh- Siegel, Daniel J. (1999): The Developing Mind. New lichen oder angsteinflößenden Situationen instinktiv York: Guilford Press ihren Eltern oder Betreuern zu und suchen dort Schutz, Squire, Larry R./Spitzer, Nicholas C./Zigmond, Michael J./ Geborgenheit sowie Selbstbestätigung. Während McConnell, Susan K./Bloom, Floyd E. (2002): Funda- solcher gemeinsam erlebten Episoden (die natürlich mental Neuroscience. 2. bearb. Aufl. Waltham/Massa auch positiver Art sein können) „stimmen“ sich die chusetts: Academic Press Partner emotional aufeinander ein und ermöglichen dem Kind eine Intersubjektivität zu erleben, die ver- Tsao, Feng-Ming/Liu, Huei-Mei/Kuhl, Patricia K. (2004): mutlich die Basis sowohl für die Fähigkeit, sich in einen Speech perception in infancy predicts language Mitmenschen hineinversetzen zu können (theory of development in the second year of life: A longitu- mind), als auch für die Fähigkeit des Einfühlens und dinal study. In: Child Development, 75. Jg., H. 4, Mitfühlens (Empathie) bildet. S. 1067 – 1084 Diese Fähigkeiten werden überwiegend über den Präfrontalcortex verarbeitetet und gelernt. Durch die sehr langsame Entwicklung dieser cortikalen Region bietet sich ein lang geöffnetes „sensibles“ Entwicklungszeitfenster, in dem sich die neuronalen 14
Frühkindliche emotionale Bindung Verschaltungen in Abhängigkeit der jeweiligen Erfah- In den präfrontalen Regionen und in fast allen lim- rungswelt verändern und stabilisieren können. bischen Kerngebieten wurden je nach Ausmaß der Im Bereich der emotionalen Bindung zeigen sich ge- durchlebten Deprivation erhöhte oder erniedrigte rade in den letzten Jahrzehnten gravierende Defizite Synapsendichten gefunden. Bei Tieren, die kurz nach bei Kindern und Jugendlichen, die neben schulischen der Geburt psychischem Stress ausgesetzt wurden und Problemen langfristig dann auch zu psychiatrischen dann unter sozialen Isolationsbedingungen aufwuch- Störungsbildern wie Sucht, Aggressivität, Angster- sen, wurden dramatische Veränderungen der dopa- krankungen einerseits und delinquentem Verhalten minergen und serotonergen Fasersysteme gemessen, andererseits führen können. Die enormen Folgekosten die u. a. auch die präfrontalen Gehirnregionen massiv für Versäumnisse in der Früherziehung müssen sicher- innervieren. Offenbar entwickeln sich also gerade die lich an dieser Stelle nicht explizit erwähnt werden. neurochemischen Systeme nur unvollkommen oder Am eindrucksvollsten tritt die Bedeutung früher fehlerhaft die – wie im Folgenden noch ausgeführt Bindungserfahrungen auf die Gehirnentwicklung bei werden wird – an emotionalen und motivationalen Tiermodellen und an Kindern zutage, die während der Funktionen sowie an Lern-und Gedächtnisprozessen ersten Lebensjahre unter starker sensorischer, kogni- beteiligt sind. tiver und sozioemotionaler Deprivation aufwuchsen. Trotz jahrzehntelanger entwicklungspsycholo- Tierexperimentelle Forschungsergebnisse zeigen, gischer Forschung, die eine Fülle von detaillierten dass das Gehirn von Ratten oder Hühnerküken, die Erkenntnissen zur Bedeutung emotionaler Leistungen während früher Entwicklungsphasen wiederholt erbracht hat, ist auf der gehirnbiologischen Ebene oder auf Dauer von den Eltern getrennt wurden, einen auch heute noch weitgehend unklar, welche Umwelt- deutlich reduzierten Stoffwechsel aufweist, d. h. eine faktoren in welcher Weise bei der erfahrungsgesteuer verminderte Aktivität der Zellen im präfrontalen Cortex ten funktionellen Reifung spezifischer Regionen des (und anderen limbischen Hirnregionen), die sowohl limbischen Systems wirksam werden. Die zellulären bei der Wahrnehmung von emotionalen Signalen (z.B. und molekularen Mechanismen, die hierbei eine Rol- durch Mimik oder Sprache) als auch bei der Steuerung le spielen, können nur an geeigneten Tiermodellen emotionaler Verhaltensweisen (Aggression, Impuls- systematisch untersucht werden. Dieser Forschungs- kontrolle, Empathie) eine wichtige Rolle spielen. zweig wird daher – im Gegensatz zu Deutschland und Eine vergleichbare chronische „Unteraktivierung“ den meisten europäischen Ländern – in den USA seit solcher präfrontaler Emotionszentren findet sich bei Jahrzehnten in großem Umfang forciert und finanziell Menschen mit emotionalen Störungen, beispielsweise unterstützt. Wie in allen Bereichen der klinischen bei depressiven Patienten. Forschung wird es auch hier nur über das detaillierte Harry Chugani u.a. (2001) konnten im Rahmen einer Verständnis der neuronalen Entwicklungsprozesse im Adoptionsstudie bei rumänischen Waisenkindern mit- Gehirn längerfristig möglich sein, neue verbesserte hilfe von bildgebenden Verfahren ebenfalls eine Un- präventive und therapeutische Strategien und Maß- teraktivierung im Orbitofrontalcortex, infralimbischen nahmen für das menschliche Gehirn zu entwickeln. Präfrontalcortex, in der medialen Amygdala und im Hippocampus, d. h. in den emotional und kognitiv rele- vanten präfrono-limbischen Schaltkreisen nachweisen. Sir Michael Rutter (2002) wiederum konnte bei diesen Kindern eine Vergrößerung des Mandelkerns (Amygdala, einer limbischen Gehirnregion die auf emotionale Reize reagiert) in der rechten Hirnhälfte nachweisen, während die linke Amygdala (vgl. Abb. 1, links) im Verhältnis zur Dauer der Deprivation (Waisenhaus) verkleinert ist. Am Tiermodell wurden auf mikroskopischer Ebene ebenfalls dauerhafte strukturelle Veränderungen im Gehirn nach emotionaler Deprivation nachgewiesen. 15
Anna Katharina Braun Referenzen zu Kapitel 5 adaptation. In: Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, H. 36, S. 1672 – 1681 Bock, Jörg / Braun, Katharina (1998): Differential emo- tional experience leads to pruning of dendritic Karmiloff-Smith, A. (1998): Development itself is the spines in the forebrain of domestic chicks. In: Neural key to understanding developmental disorders. In: Plasticity, H. 6, S. 17 – 27 Trends in Cognitive Sciences, 2. Jg., H. 10, S. 389 – 398 Bock, Jörg / Braun, Katharina (1999): Blockade of N- methyl-D-aspartate receptor activation suppresses Mandler, Jean M. (1992): How to build a baby: II. Con- learning-induced synaptic elimination. In: Proceed ceptual primitives. In: Psychological Review, H. 99, ings of the National Academy Of Sciences USA, H. 5, S. 587 – 604 S. 2485 – 2490 Mehta, Mitul M. A./Golembo, Nicole I./Nosarti, Chiara/ Bock, Jörg / Gruß, Michael / Becker, Susan / Braun Ka- Colvert, Emma/Mota, Ashley/Williams, Steven C.R./ tharina (2005): Experience-induced changes of Rutter, Michael/Sonuga-Barke, Edmund J. S. (2009): dendritic spine densities in the prefrontal and sen- Amygdala, hippocampal and corpus callosum size fol- sory cortex: Correlation with developmental time lowing severe early institutional deprivation: The Eng windows. In: Cerebral Cortex, H. 15, S. 802 – 808 lish and Romanian Adoptees Study Pilot. In: Journal Bowlby, John [1969] (1999): Attachment. Band 1: Attach of Child Psychology and Psychiatry, H. 50, S. 943–951 ment and Loss. 2. bearb. Auflage. New York: Basic Books NICHD Early Child Care Research Network (1997): The Braun, Katharina/Lange, E./Metzger, M./Poeggel, Gerd effects of infant child care on infant-mother attach- (2000) Maternal separation followed by early social ment security: Results of the NICHD Study of Early isolation affects the development of monoaminer- Child Care. In: Child Development, H. 68, S. 860–879 gic fiber systems in the medial prefrontal cortex of Octodon degus. Neuroscience Nr. 95, S. 309 – 318 Poeggel, Gerd / Braun, Katharina (1996): Early auditory filial learning in degus (Octodon degus): Behavioral Chugani Harry T. / Behen Michael E. / Muzik, Otto / Juha, and autoradiographic studies. In: Brain Research, Csaba/Nagy, F./Chugani, Diane C. (2001): Local Brain H. 743, S. 162 – 170 Functional Activity Following Early Deprivation: A Poeggel, Gerd / Helmeke, Carina / Abraham, Andreas / Study of Postinstitutionalized Romanian Orphans. Schwabe, Tina / Friedrich, Patricia / Braun, Katha- In: NeuroImage, H. 14, S. 1290 – 1301 rina (2003): Juvenile emotional experience alters synaptic composition in the rodent cortex, hippo Davidson, Richard J. / Putnam, Katherine M. / Larson, campus, and lateral amygdala. In: Proceedings Christine L. (2000): Dysfunction in the neural cir- of the National Academy of Sciences USA, H. 100, cuitry of emotion regulation – A possible prelude S. 16137 – 16142 to violence. In: Science, H. 289, S. 591 – 594 Poeggel, Gerd / Nowicki, L. / Braun, Katharina (2003): Early social deprivation alters monoaminergic af- Gos, T. / Becker, K. / Bock, J. / Malecki, U. / Helmeke, C. / Po- ferents in the orbital prefrontal cortex of Octodon eggel G. / Bogerts B. / Braun, Katharina (2006). Early degus. In: Neuroscience, H. 116, S. 617 – 620 neonatal and postweaning social emotional depri- vation interferes with the maturation of serotonergic Raine, Adrian/Buchsbaum, Monte/LaCasse, Lori (1995): and tyrosine hydroxylase-immunoreactive afferent Brain abnormalities in murderers indicated by posi- fiber systems in the rodent nucleus accumbens, hip- tron emission tomography. In: Biological Psychiatry, pocampus and amygdala. Neuroscience, 140: 811-821 42 Jg., H. 6, S. 495 – 508 Rosenzweig, Mark R. (2003): Effects of differential ex- Jensen, Peter S. / Mrazek, David / Knapp, Penelope K. / perience on the brain and behavior. Developmental Steinberg, Laurence / Pfeffer, Cynthia / Schowalter, Neuropsychology, 24. Jg., H. 2 – 3, S. 523 – 540 John / Shapiro, Theodore (1997): Evolution and re- Rutter, Michael (2002: Nature, nurture, and develop- volution in child psychiatry: ADHD as a disorder of ment: From evangelism through science toward 16
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