Früh übt sich, wer ein Meister werden will - Neurobiologie des kindlichen Lernens

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Früh übt sich, wer ein Meister werden will - Neurobiologie des kindlichen Lernens
UNTER DREIJÄHRIGE
                                                                                                                U                            Anna Katharina Braun

                                                                                                                                             Früh übt sich, wer ein Meister werden will –
                                                                                                                                             Neurobiologie des kindlichen Lernens

Sprachförderung ist eine schwierige Aufgabe für frühpädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen.
Bereits vor der Geburt und während der ersten Lebensjahre bestimmen Umwelteinflüsse maßgeblich die
Das Feststellen von Verzögerungen im Sprachverstehen fällt vielen Fachkräften aufgrund fehlender Infor-
Entwicklung des Gehirns. Ein entscheidender Faktor ist die vorschulische Bildung. Neurowissenschaftliche
mationen schwer. Die Autorin der Expertise beschreibt, wie Verhaltensauffälligkeiten mit Problemen in der
Erkenntnisse darüber, wie sich das Gehirn unter verschiedenen Bedingungen entwickelt und welche Auswir-
sprachlichen Entwicklung zusammenhängen können. Mit der Expertise soll frühpädagogischen Fachkräften
kungen dies auf das Lernverhalten der Kinder hat, ist daher für die Elementarpädagogik und für die Gestaltung
eine Orientierung gegeben werden, wann externe Expertinnen oder Experten bei Sprachauffälligkeiten hin-
und Begleitung der Bildungsprozesse wichtig. Die Autorin zeigt neurobiologische Grundlagen der Gehirn- und
zugezogen werden sollten.
Verhaltensentwicklung auf. Sie vermittelt Weiterbildnern und pädagogischen Fachkräften grundlegendes
Fachwissen zur Funktionsweise des Gehirns.

                                                                                                                                WIFF
                                                                                                                                WiFFExpertisen
                                                                                                                                     Expertisen | | 000
                                                                                                                                                     26
ISBN 978-3-935701-79-2
     978-3-86379-039-4
Früh übt sich, wer ein Meister werden will - Neurobiologie des kindlichen Lernens
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) stellt alle Ergebnisse in Form
                                                                                                                                                                                                                         von Print- und Online-Publikationen zur Verfügung.
                                                                                                                                                                                                                         Alle Publikationen sind erhältlich unter: www.weiterbildungsinitiative.de

                                                                                                                                                                                                                                       WiFF Expertisen                                                                                                                                                 WiFF Studien                                                                             WiFF Wegweiser                                                                                     WiFF Kooperationen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Weiterbildung
                                                                                                                                                                                                                         Wissenschaftliche Ana­ly-                                                                                                                                        Ergebnisberichte der                                                              Exemplarisches Praxis-                                                                                Produkte und Ergebnis-
                                                                                                                                                                                                                         sen und Berichte zu aktu-                                                                                                                                        WiFF-eigenen Forschun-                                                            material als Orientierungs-                                                                           berichte aus der Zu-
                                                                                                                                                                                                                         ellen Fachdiskussionen,                                                                                                                                          gen und Erhebungen zur                                                            hilfe für die Konzeption                                                                              sammenarbeit mit unter-
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) ist ein Projekt des Bundesmi-                                                                                                                            offenen Fragestellungen                                                                                                                                          Vermessung der Aus- und                                                           und den Vergleich von                                                                                 schiedlichen Partnern
nisteriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit                                                                                                                              und verwandten Themen                                                                                                                                            Weiterbildungslandschaft                                                          kompetenzorientierten                                                                                 und Initiativen im Feld
mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI). Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpäd-                                                                                                                        von WiFF                                                                                                                                                         in der Frühpädagogik                                                              Weiterbildungsangeboten                                                                               der Frühpädagogik
agogischen Weiterbildungssystem in Deutschland mehr Transparenz herzustellen, die Qualität
der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern.
                                                                                                                                                                                                                         Zuletzt erschienen                                                                                                                                               Zuletzt erschienen                                                                Zuletzt erschienen                                                                                    Zuletzt erschienen

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                                                                                                                                                                                                                         ELTERN

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  WEITERBILDUNG
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        ELEMENTARDIDAKTIK
                                                                                                                                                                                                                         E                                                                                                                                                                A                                                                                                                                                                                       W
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Expertengruppe Berufsbegleitende Weiterbildung

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Qualität in der Fort- und Weiterbildung
                                                                                                                                                                                                                                           Inés Brock                                                                                                                                                  Jan Leygraf
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  von pädagogischen Fachkräften in
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Kindertageseinrichtungen
                                                                                                                                                                                                                                           Frühpädagogische Fachkräfte und Eltern –                                                                                                                    Struktur und Organisation der Ausbildung
                                                                                                                                                                                                                                           Psychodynamische Aspekte der Zusammenarbeit                                                                                                                 von Erzieherinnen und Erziehern                                                                                                                                                            Standards für Anbieter
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Eine bundesweite Befragung von Fachschul- und Abteilungsleitungen:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Zehn Fragen – Zehn Antworten

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Frühe Bildung –
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Bedeutung und Aufgaben
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   der pädagogischen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Fachkraft
                                                                                                             Sprachförderung ist eine schwierige Aufgabe für frühpädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen.
                                                                                                             Psychodynamisches Wissen ist für die Zusammenarbeit mit Eltern hilfreich, um Beziehungsprozesse                                                                  Der Großteil der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind Erzieherinnen und Erzieher. In                                                                                                             Grundlagen für die kompetenz­
                                                                                                             Das Feststellen von Verzögerungen im Sprachverstehen fällt vielen Fachkräften aufgrund fehlender Infor-
                                                                                                             zu verstehen und besser gestalten zu können. Frühpädagogische Fachkräfte machen sich dieses
                                                                                                             mationen schwer. Die Autorin der Expertise beschreibt, wie Verhaltensauffälligkeiten mit Problemen in der
                                                                                                             Wissen bislang nur selten zunutze, wenn es darum geht, Verhaltensweisen und Reaktionen von Eltern
                                                                                                                                                                                                                                                                              einer bundesweiten Befragung von Schul- bzw. Abteilungsleitungen an Fachschulen und Fachakademien hat
                                                                                                                                                                                                                                                                              die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) Daten zur Ausbildung dieser Berufsgruppe
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    orientierte Weiterbildung                                                                     In Kooperation mit:
                                                                                                             sprachlichen Entwicklung zusammenhängen können. Mit der Expertise soll frühpädagogischen Fachkräften
                                                                                                             nachzuvollziehen. Die Autorin zeigt in dieser Expertise, welche Aspekte der psychodynamischen                                                                    erhoben: Wie ist die Ausbildung strukturiert und organisiert? Wie werden die angehenden Erzieherinnen und
                                                                                                             eine Orientierung gegeben werden, wann externe Expertinnen oder Experten bei Sprachauffälligkeiten hin-
                                                                                                             Beziehungsgestaltung geeignet sind, um die Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen                                                                 Erzieher finanziell gefördert? Welche Funktion haben die Fachschulen bei der Weiterbildung und in welchem
                                                                                                             zugezogen werden sollten.
                                                                                                             zu verbessern.                                                                                                                                                   Umfang werden Leistungen auf ein Hochschulstudium angerechnet?

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              WiFF Wegweiser Weiterbildung | 4

                                                                                                                                                                                                                              WIFF
                                                                                                                                                                                                                              WiFFExpertisen
                                                                                                                                                                                                                                   Expertisen | | 000
                                                                                                                                                                                                                                                   25                                                                                                                                                                WiFF Studien | 16                                                                                                                                                                                                      WiFF Kooperationen | 2
                                                                                                             ISBN 978-3-935701-79-2
                                                                                                                  978-3-86379-046-2                                                                                                                                           ISBN 978-3-86379-056-1

                                                                                                    DRUCK_Brock_Umschlag.indd 1                                                                                                                                                                 17.02.12 12:44                                                                                                                                                              DRUCK_WW_Frühe_Bildung.indd 1                                                       15.11.11 14:55

                                                                                                                                                                                                                         Band 25:                                                                                                                                                         Band 16:                                                                          Band 4:                                                                                               Band 2:
                                                                                                                                                                                                                         Inés Brock: Frühpädagogische                                                                                                                                     Jan Leygraf: Struktur und Orga­                                                   Frühe Bildung – Bedeutung                                                                             Expertengruppe Berufs­
                                                                                                                                                                                                                         Fachkräfte und Eltern – Psycho-                                                                                                                                  nisation der Ausbildung von                                                       und Aufgaben der                                                                                      begleitende Weiterbildung:
                                                                                                                                                                                                                         dynamische Aspekte der Zusam-                                                                                                                                    Erzieherinnen und Erziehern                                                       pädagogischen Fachkraft                                                                               Qualität in der Fort- und
                                                                                                                                                                                                                         menarbeit                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Weiterbildung von päda-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  gogischen Fachkräften in
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Kindertageseinrichtungen

                                                                                                                                                                                                                         Band 24:                                                                                                                                                         Band 15:                                                                          Band 3:                                                                                               Band 1:
                                                                                                                                                                                                                         Iris Nentwig-Gesemann/Klaus                                                                                                                                      Karin Beher/Michael Walter:                                                       Zusammenarbeit mit Eltern                                                                             Autorengruppe Fachschul­
                                                                                                                                                                                                                         Fröhlich-Gildhoff/Henriette                                                                                                                                      Qualifikationen und Weiter-                                                                                                                                                             wesen: Qualifikationsprofil
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Band 2:
© 2012 Deutsches Jugendinstitut e. V.                                                                                                                                                                                    Harms/Sandra Richter: Professio-                                                                                                                                 bildung frühpädagogischer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Kinder in den ersten drei
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  „Frühpädagogik“ – Fach­
                                                                                                                                                                                                                         nelle Haltung – Identität der Fach-                                                                                                                              Fachkräfte                                                                                                                                                                              schule / Fachakademie
Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)                                                                                                                                                              kraft für die Arbeit mit Kindern in
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Lebensjahren
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Band 14:
Nockherstraße 2, 81541 München                                                                                                                                                                                           den ersten drei Lebensjahren
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Brigitte Rudolph: Das Berufsbild
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Band 1:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Sprachliche Bildung
Telefon: +49 (0)89 62306-173                                                                                                                                                                                             Band 23:                                                                                                                                                         der Erzieherinnen und Erzieher
                                                                                                                                                                                                                         Barbara Gasteiger-Klicpera: Eva-                                                                                                                                 im Wandel – Zukunftsperspekti-
E-Mail: info@weiterbildungsinitiative.de                                                                                                                                                                                 luation und Qualitätsentwicklung                                                                                                                                 ven zur Ausbildung aus Sicht der
                                                                                                                                                                                                                         in der Sprachförderung: Chancen                                                                                                                                  Fachschulleitungen
                                                                                                                                                                                                                         und kritische Aspekte
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI)                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Band 13:
                                                                                                                                                                                                                         Band 22:                                                                                                                                                         Katharina Stadler/Fabian Kleeber-
Koordination: Uta Hofele                                                                                                                                                                                                 Tina Friederich: Zusammen­arbeit                                                                                                                                 ger: Die Ausbildung von Erziehe-
Lektorat: Jürgen Barthelmes                                                                                                                                                                                              mit Eltern – Anforderungen an                                                                                                                                    rinnen und Erziehern aus Sicht der
                                                                                                                                                                                                                         frühpädagogische Fachkräfte                                                                                                                                      Lehrkräfte
Gestaltung, Satz: Brandung, Leipzig
                                                                                                                                                                                                                         Band 21:                                                                                                                                                         Band 12:
Titelfoto: Alexey Lebedev © Fotolia.com                                                                                                                                                                                  Angelika Speck-Hamdan: Grund-                                                                                                                                    Michael Ledig: Fort- und Weiter­
Druck: Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt a. M.                                                                                                                                                                      schulpädagogisches Wissen – Im-                                                                                                                                  bildung von Lehrkräften an Fach-
                                                                                                                                                                                                                         pulse für die Elementardidaktik?                                                                                                                                 schulen für Sozialpädagogik

www.weiterbildungsinitiative.de                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Stand: Juni 2012

ISBN 978-3-86379-039-4
Anna Katharina Braun

Früh übt sich, wer ein Meister werden will –
Neurobiologie des kindlichen Lernens
Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)
Vorwort

    Wird über eine optimale Unterstützung und Begleitung kindlicher Bildungsprozesse im Ele-
    mentarbereich diskutiert, stehen meist pädagogische Aspekte wie das Interaktionsverhalten der
    Fachkraft, die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe, unterschiedliche pädagogische Ansätze
    oder die Gestaltung der Räume im Mittelpunkt. Ergebnisse aus den Neurowissenschaften, die
    Schlussfolgerungen für das kindliche Lernen ermöglichen, werden selten herangezogen, um
    das Verhalten der Fachkraft und ihre Bedeutung im kindlichen Bildungsprozess zu reflektieren.

    Erkenntnisse der Neurowissenschaften deuten jedoch darauf hin, wie Lernumgebungen und
    Lerngelegenheiten für jüngere Kinder gestaltet sein sollten. Sie geben auch Hinweise darauf,
    welche pädagogischen und didaktischen Konzepte wirkungsvoll sind und welche Eigenschaften
    und Kompetenzen eine pädagogische Fachkraft zu deren Umsetzung benötigt.

    Anna Katharina Braun gibt mit ihrer Expertise Weiterbildnern und pädagogischen Fachkräften
    einen Überblick zum aktuellen Stand der neurowissenschaftlichen Forschung im Bereich der
    Lernforschung und zur Funktionsweise des Gehirns. Sie beschreibt die entscheidenden Entwick-
    lungsprozesse im kindlichen Gehirn, erörtert insbesondere den Einfluss von Medien auf die Hirn-
    entwicklung und stellt dar, welche Ziele frühe Bildung vor diesem Hintergrund verfolgen sollte.

    Die im Auftrag der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) erstellte Expertise
    ist ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Qualifizierungsbereiches „Frühe Bildung – Bedeutung
    und Aufgaben der pädagogischen Fachkraft“. Die Verantwortung für die fachliche Aufbereitung
    der Inhalte liegt bei der Autorin. Auf ihren Wunsch wurde auf die in den WiFF-Reihen übliche
    Zitierweise verzichtet zu Gunsten von Literaturtipps am Ende jedes Kapitels. Die Ergebnisse der
    Expertise dienen der Entwicklung von Weiterbildungsangeboten, sollen fachliche und fachpoli-
    tische Diskurse anregen und fließen in weitere Projektarbeiten ein.

    Unser Dank gilt Dr. Hans Rudolf Leu, der die WiFF von Beginn an bis zu seinem Ausscheiden in den
    Ruhestand als wissenschaftlicher Leiter begleitet und auch diese Publikation betreut hat.

    München, im Juni 2012

    Angelika Diller 						Bernhard Kalicki
    Projektleitung WiFF 					 Wissenschaftliche Leitung WiFF

4


Inhalt

1    Einleitung – Thema, Fragestellung, Aufbau 	                          6

2    Neuronale Mechanismen der Informationsverarbeitung im Gehirn:
     das Substrat für Lernen, Erziehung und Bildung                    7

3    Die Entwicklung des Gehirns                                          9

4    „Kritische“ und „sensible“ Phasen der Gehirnentwicklung              11

5    Frühkindliche emotionale Bindung                                     14

6    Was ist angeboren, was ist erlernt?                                  17

7    Neuronale Mechanismen des Lernens                                   20

8    Der Zusammenhang zwischen emotionalen Prozessen sowie Lern-
     und Gedächtnisvorgängen                                        22

9    Der Einfluss von Medien auf die Gehirnentwicklung sowie kognitive
     und sozioemotionale Kompetenz 	                                      25

10   Schlussfolgerungen                                                   31

11   Glossar                                                             32

12   Anhang                                                              33

                                                                               5
Anna Katharina Braun

                                                                           mehr physikalische und mechanische Grundkennt-
1 Einleitung – Thema,                                                      nisse er besitzt. Analog sollten Eltern, Erzieher und
                                                                           Lehrer, die am und mit dem Organ Gehirn arbeiten,
Fragestellung, Aufbau 1                                                    ein realistisches Konzept von den hirnbiologischen
                                                                           Mechanismen des Lernens und der Gedächtnisfunk-
                                                                           tionen besitzen.
Zum Thema                                                                     Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse ver-
Wenn ein Kind zur Welt kommt, vereint es die gene-                         suchen endlich zu erklären, weshalb manche päda-
tische Information seiner Eltern, die während der Em-                      gogischen und didaktischen Konzepte „gehirnge-
bryonalentwicklung unter anderem sein Geschlecht                           rechter“ und daher wirkungsvoller sind als andere,
bestimmt und dafür sorgt, dass die Nase an der kor-                        und welche Eigenschaften und Kompetenzen einen
rekten Stelle im Gesicht sitzt, und welche Farbe die                       Lehrer zu einem „guten“ Lehrer machen. Gerade in
Haut, die Augen und die Haare haben.                                       Deutschland besteht nach wie vor großer, insbeson-
   Bereits vor der Geburt – und vor allem während der                      dere interdisziplinärer Forschungsbedarf, um diese
ersten Lebensjahre – setzt der Einfluss epigenetischer                     Zusammenhänge im Detail zu verstehen, sowie um
Prozesse ein, d. h. die Umwelt, in der das kindliche                       alte und neue pädagogische Erziehungskonzepte end-
Gehirn aufwächst, bestimmt ganz maßgeblich, in                             lich systematisch und quantitativ auf ihre Wirksamkeit
welcher Richtung sich die funktionelle Reifung und                         (oder Unwirksamkeit) zu überprüfen. In diesem Zu-
Optimierung des Gehirns und Verhaltens vollzieht.                          sammenhang sollte allerdings auch bedacht werden,
Zu den entscheidenden Umweltfaktoren, die sich auf                         dass nicht alle Lernmethoden, Gedächtnistechniken
die Gehirnentwicklung auswirken, gehört auch die                           und „Gehirnjogging-Methoden“, die heutzutage als
vorschulische und schulische Bildung. In diesem Zu-                        „gehirngerecht“ angepriesen werden, dies auch wis-
sammenhang soll vorab bereits auf die häufig in der                        senschaftlich fundiert nachweisen können.
entwicklungspsychologischen und pädagogischen
Literatur geäußerte Kritik hingewiesen werden, dass                        Grundverständnis der neuronalen Mechanismen –
die Erkenntnisse der Hirnforschung ja nicht neu seien,                     Fragestellung
sondern lediglich längst bekannte Erkenntnisse aus                         Ein Grundverständnis der neuronalen Mechanismen,
den Erziehungswissenschaften bestätigen. Dies trifft                       die in dieser Expertise dargestellt werden, soll helfen,
zwar auf einige, aber keinesfalls auf alle neurowissen-                    dem Wildwuchs von nicht immer wissenschaftlich er-
schaftlichen Befunde zu, und selbst in den Fällen, in                      wiesenen „Neuro-Gütesiegeln“ mit einer kompetenten
denen dies zutrifft, ist es dennoch von grundlegender                      Kritikfähigkeit zu begegnen. Die Hirnforschung wid-
Bedeutung, wenn man ein gehirnmechanistisches                              met sich mit einem breiten Methodenspektrum der
Konzept pädagogischen Handelns entwickelt.                                 Beantwortung einer Vielzahl von Fragen:
   Ein Arzt beispielsweise wird umso wirkungsvoller                        –– Welche Umweltfaktoren und Lernprozesse greifen
seine Patienten gesund erhalten und heilen können,                            in die Gehirnentwicklung ein?
je mehr Detailkenntnisse er über die Körperorgane                          –– Welche neuronalen Entwicklungszeiträume sind
und ihre Funktionen hat, und ein Ingenieur wird                               von kritischer Bedeutung für die Verhaltensent-
umso leistungsfähigere Maschinen bauen können, je                             wicklung (Konzept der sensitiven Zeitfenster)?
                                                                           –– Welche molekularen und (epi)genetischen Mecha-
                                                                              nismen sind an der funktionellen Reifung der
1   Die vorliegende Expertise beruht zum Teil auf bereits veröffentlich-      Nervenzellen und ihren komplexen synaptischen
    ten Aufsätzen: Scheich, Henning/Braun, Katharina (2008): Risiken
    und Nebenwirkungen: Der Einfluss visueller Medien auf die Entwick-
                                                                              Verschaltungen beteiligt?
    lung von Gehirn und Verhalten. In: Wernstedt, Rolf/John-Ohnesorg,
    Marei: Neue Medien in der Bildung – Lernformen der Zukunft. Doku-      Diese essenziellen Fragen, die im Fokus der Hirnfor-
    mentation der Konferenz des Netzwerk Bildung vom 5. und 6. Mai
    2008. Bonn: Universitäts-Buchdruckerei, S. 15–22 und Scheich, Hen-     schung stehen, sind eng gekoppelt an Fragen, die sich
    ning/Braun, Katharina (2009): Bedeutung der Hirnforschung für die      Eltern und Erzieher stellen:
    Frühförderung. Monatsschrift Kinderheilkunde, H. 157, S. 953–964,
    (Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Springer Science
                                                                           –– Was ist angeboren und was ist erworben / erlernt?
    and Business Media).                                                   –– Verkümmert das Gehirn bei mangelnder Förderung?

6
Neuronale Mechanismen der Informationsverarbeitung im Gehirn: das Substrat für Lernen, Erziehung und Bildung

–– Wie können wir die Entwicklung des Gehirns und
   des Verhaltens individuell und optimal fördern?                2 Neuronale Mechanismen
Dazu zeigen die neueren Erkenntnisse der Hirnfor-                 der Informationsverarbeitung
schung, dass bei der erfahrungsgesteuerten Gehirn-                im Gehirn: das Substrat für
entwicklung nicht nur die kognitiven Prozesse, son-
dern vor allem auch die emotionalen Vorgänge eine
                                                                  Lernen, Erziehung und Bildung
essenzielle Rolle spielen.

Zum Aufbau der Expertise                                          Um die neuronalen Mechanismen der Gehirnent-
Diese Expertise bietet einen Einstieg und Überblick zu            wicklung, des Lernens und der Gedächtnisfunktionen
den neurobiologischen Grundlagen der Gehirn- und                  verstehen zu können, muss man die Grundprinzipien
Verhaltensentwicklung. Sie vermittelt Erzieherinnen               der Funktionsweise der Nervenzellen als funktionelle
und Erziehern ein grundlegendes Fachwissen zur                    Bausteine des Gehirns kennen. Bereits vor der Geburt
Funktionsweise des Gehirns, insbesondere mit Blick                beginnen die Nervenzellen mithilfe ihrer Axone, die
auf Lern-und Gedächtnisprozesse:                                  vergleichbar mit einem „Stromkabel“ sind, tausende
   Das Kapitel 2 vermittelt die Grundlagen zur Funk-              von Kontakten (Endknöpfchen oder Synapsen) mit
tionsweise der Nervenzellen und des Gehirns, die die              anderen Nervenzellen auszubilden (vgl. Abb. 1, rechts).
Basis bilden für die in Kapitel 3 und Kapitel 4 erläuterten          Jede Nervenzelle kann gleichzeitig Signale empfan-
Mechanismen der Gehirnentwicklung, sowie für die                  gen und Signale an andere Nervenzellen weiterleiten,
Bedeutung der Entwicklungszeitfenster.                            sie ist sowohl „Sender“, als auch “Empfänger“. Die
   Die Kenntnis der Grundprinzipien der Gehirnent-                Signalübertragung entlang der Axone geschieht über
wicklung dient wiederum als Grundlage zu den im Ka-               schwache elektrische Ströme, die mittels empfind-
pitel 5 beschriebenen hirnbiologischen Mechanismen                licher Elektroden in einer einzelnen Nervenzelle oder
der emotionalen Bindung als ersten nachgeburtlichen               als Summe vieler Nervenzellen sogar außen am Schädel
Lernprozess.                                                      (mittels eines Elektroencephalogramms – EEG oder
   Diese Aspekte leiten über zu den neuronalen Me-                eines Magnetencephalogramms – MEG) gemessen wer-
chanismen des Lernens, die im Kapitel 6, Kapitel 7 und            den können. Am Ende des Axons bilden sich ein oder
Kapitel 8 erläutert werden. Hier wird ausgeführt, dass            mehrere Synapsen aus, in denen sich mit chemischen
Lern-und Gedächtnisprozesse mit physiologischen                   Botenstoffen (Neurotransmitter) gefüllte Bläschen
biochemischen und strukturellen Veränderungen                     befinden. Erreicht das elektrische Signal die Synapse,
des Gehirns einhergehen, und dass nur diejenigen                  entleert sich der Inhalt dieser Bläschen in den engen
synaptischen Verknüpfungen in den neuronalen Netz-                synaptischen Spalt, der das axonale Endknöpfchen vom
werken stabilisiert werden, die im Verlauf kindlicher             Dendriten der Empfängerzelle trennt. Der freigesetzte
Lernvorgänge sowie beim Einspeichern und Abrufen                  Neurotransmitter diffundiert zur Dendritenoberfläche
von Gedächtnisinhalten aktiviert („trainiert“) werden.            und bindet dort an spezielle Rezeptoren; das elektrische
   Aus diesem Prinzip der erfahrungsgesteuerten Ge-               Signal wird also an der Synapse in ein chemisches Signal
hirnoptimierung bauen die im Kapitel 9 erläuterten                umgewandelt. Neben den erregenden (z. B. Glutamat)
hirnbiologischen Konsequenzen des Medienkonsums                   und hemmenden (z.B. die Gamma-amino-buttersäure,
auf.                                                              GABA) Neurotransmittern üben andere Neurotrans-
                                                                  mitter (z. B. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin sowie
                                                                  verschiedene Neuropeptide und Stresshormone) eine
                                                                  modulatorische Wirkung im Gehirn aus.
                                                                     Wie in den folgenden Kapiteln noch näher ausge-
                                                                  führt wird, ist insbesondere das Dopamin an der Steue-
                                                                  rung von Motivation, Aufmerksamkeit und Belohnung
                                                                  beteiligt und wirkt daher als eine Art „Katalysator“ bei
                                                                  Lernprozessen.

                                                                                                                                 7
Anna Katharina Braun

Abbildung 1: Links: Vergleich der cortikalen und limbischen Hirnregionen im Gehirn
des Menschen (oben) und dem Gehirn der Ratte (unten); Rechts: Dreidimensionale
mikroskopische Rekonstruktion einer Nervenzelle

                                                                                                      Hypothalamus

                                                                                                      Pineal Gland
                             Cerebral Cortex

                                           sum
                                      allo
                                 us C
                             Corp     Septum       Fornix

                                               Thalamus

                                                            pus
                                                          am Mid-
                                                     poc
                                                  Hip        brain
    Olfactory Bulb                                                             Cerebellum
                                                        Pons
           Pituitary Gland
                                                                Medulla
                                                               Oblongata

                                                                     Spinal
                                                                      Cord

                                                                              Corpus Callosum
                                                                              Pineal Gland
                                 Cerebral Cortex

                                               Hippocampus
                                        Fornix
             Olfactory                                                        Cerebellum
                                            Thalamus
               Bulb
                                    Septum
                                                            Mid-
                                                            brain    Pons        Medulla
                                             Hypothalamus
                                                                                Oblongata    Spinal
                                                                                              Cord
                                                                       Pituitary Gland

Abb. 1: Links: Vergleich der cortikalen und limbischen Hirnregionen im Gehirn des Menschen (oben) und dem Gehirn der Ratte (unten). Der Ver-
gleich zeigt den prinzipiell ähnlichen Aufbau, die Farbgebung verdeutlicht die Homologie der sich entsprechenden Hirnregionen im Nager- und
Menschengehirn und illustriert deren unterschiedlichen Proportionen, insbesondere des cerebralen Cortex. Der Vergleich verdeutlicht, dass das
Nagergehirn aufgrund seines vergleichbaren Aufbaus als „Prototyp“ des menschlichen Gehirns betrachtet werden kann, in dem bereits alle Zentren
für Lern- und Gedächtnisleistungen vorhanden sind. Die Funktionen einiger der hier dargestellten Hirnregionen werden im Zusammenhang mit
Lern- und Gedächtnisprozessen im Text näher erläutert.
Quelle: learn.genetics.utah.edu/content/addiction/genetics/neurobiol.html

Abb. 1: Rechts: Dreidimensionale mikroskopische Rekonstruktion einer Nervenzelle, funktionelle Erläuterungen finden sich im Text.
Quelle: Institut für Biologie, Abt. Zoologie und Entwicklungsneurobiologie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

Referenzen zu Kapitel 2                                                                                              Goldman-Rakic, Patricia S./Bates, John. F./Chafee, M. V.
                                                                                                                       (1992): The prefrontal cortex and internally generated
Eichenbaum, Howard / Cohen, Neal J. (2001): From                                                                       motor acts. In: Current Opinion Neuroscience, H. 2,
  conditioning to conscious recollection: Memory                                                                       S. 830–835
  systems of the brain. Oxford: Psychology Series
                                                                                                                     Squire, Larry R./Spitzer, Nicholas C./Zigmond, Michael
Fuster, Joaquin M. (2003): Cortex and mind. Unifying                                                                   J./McConnell, Susan K./Bloom, Floyd E. (2002): Funda-
  cognition. Oxford: Oxford University Press                                                                           mental Neuroscience. 2. bearb. Aufl. Waltham/Massa­
                                                                                                                       chusetts: Academic Press

8
Die Entwicklung des Gehirns

                                                           Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht und für die
3 Die Entwicklung des Gehirns                              pädagogische Praxis ist die Tatsache von Bedeu-
                                                           tung, dass sich die verschiedenen funktionellen
                                                           Hirnsysteme nicht alle zeitgleich und mit derselben
                                                           Geschwindigkeit entwickeln (vgl. Abb. 3). Während
Die Fragen, wie nachgeburtliche Gehirnentwicklung          die Sinnessysteme bereits relativ früh, d. h. in den
durch Umwelteinflüsse gesteuert werden, begannen           ersten Lebensjahren, ihre volle Funktionsfähigkeit
mit der Beobachtung von angeborenen Fehlentwick-           erreichen, gehört das limbische System, mit dem wir
lungen beim Menschen und wurden dann sehr schnell          unsere Gefühlswelt entwerfen und mit dem wir unser
in die tierexperimentelle Forschung übernommen.            Leben lang lernen sowie Gedächtnisinhalte abspei-
Dort wurden durch eingreifende Untersuchungen              chern und wieder abrufen, zu den „Spätentwicklern“
am Gehirn mechanistische Erklärungen für Defizite          des Gehirns. Die limbischen Zentren, vor allem auch
gefunden und Maßnahmen der Gegensteuerung ex-              der beim Affen und Menschen besonders voluminös
perimentell überprüft, die mittlerweile in der Klinik      ausgeprägte frontale Teil der Hirnrinde (cerebraler
vielfache Anwendung bei Diagnose und Therapie              Cortex, vgl. Abb. 1, links), der präfrontale Cortex, mit
finden.                                                    dem wir höhere kognitive assoziative Leistungen
   Bei der Geburt ist das Gehirn nahezu mit der voll-      sowie auch unsere emotionalen Empfindungen und
ständigen Anzahl von Nervenzellen ausgestattet. Nur        Verhaltensreaktionen verarbeiten, entwickeln sich bei
in wenigen Hirnregionen werden lebenslang verein-          Säugetieren besonders langsam – beim Menschen bis
zelt neue Nervenzellen gebildet (vgl. Abb. 1, rechts),     zum 20. Lebensjahr und länger (vgl. Abb. 3).
beispielsweise im Hippocampus (vgl. Abb. 1, links),           Die beim Menschen ausgesprochen langsame Ent-
eine Region, die für räumliches Lernen sowie bei der       wicklung der lern- und emotionsrelevanten Hirnregi-
Gedächtnisbildung und beim Gedächtnisabruf von             onen birgt für die intellektuelle und sozioemotionale
Bedeutung ist. Die meisten der neu gebildeten Zellen       Entwicklung des Kindes Vorteile sowie Nachteile:
sterben jedoch relativ rasch wieder ab, nur einige            Der Vorteil liegt darin, dass sich das kindliche Ge-
werden in die vorhandenen Schaltkreise integriert.         hirn optimal an den jeweiligen Lebensraum, in dem
   In tierexperimentellen Studien wurde interessan-        das Kind aufwächst, anpassen und damit die für das
terweise gezeigt, dass nicht nur die Neubildung der        Überleben essenziellen Verhaltensstrategien entwi-
Nervenzellen durch Umwelteinflüsse und Lernpro-            ckeln kann. Ein Kind, das in der Arktis aufwächst wird
zesse angeregt werden kann, sondern auch deren             sicherlich andere Nervennetzwerke im Gehirn entwi-
Überlebensrate. Erfahrungen und Lernen können              ckeln sowie andere Verhaltensweisen und Fertigkeiten
demnach im kindlichen und auch noch im erwachse-           erlernen, als ein Kind, das in Nordafrika lebt.
nen Gehirn wie ein „Jungbrunnen“ wirken.                      Der Nachteil dieser ausgeprägten Plastizität ist, dass
   Viele Gehirnsysteme sind bei der Geburt zwar prin-      sich Gehirn und Verhalten auch an negative Umwelten
zipiell schon funktionsfähig, müssen aber nach der         anpasst. Defizitäre Elternhäuser und Schulsysteme
Geburt noch optimiert werden, was vor allem für die        können demnach ebenfalls in die Gehirnentwicklung
sensorischen und die höheren assoziativen Cortex-Re-       eingreifen, sie können die Optimierung des Gehirns
gionen gilt (vgl. Abb. 1 und Abb. 3). Während diejenigen   verzögern oder in eine andere Richtung drängen, was
Gehirnzentren, die überlebenswichtige Funktionen           langfristig zu teilweise irreparablen funktionellen
wie das Atmen oder den Herzschlag steuern, bereits         Defiziten führen kann.
ihre volle Leistungsfähigkeit erreicht haben und in           Aus pädagogischer Sicht ist es wichtig, zu erkennen,
ihrer Funktion nicht mehr verändert oder optimiert         dass das Gehirn darauf „programmiert“ ist, sofort nach
werden, müssen die Sinnessysteme (z. B. Sehen, Hören,      der Geburt in einen direkten Dialog mit der Umwelt zu
Tasten), die motorischen Zentren (Bewegungssteue-          treten und diese Erfahrungen für seine weitere funk-
rung) und vor allem die Gehirnsysteme, mit denen wir       tionelle Reifung zu nutzen. Während das Kind lernt,
unsere Emotionalität sowie höhere assoziative Leis-        seine Umwelt aktiv zu gestalten, verändert die Inter-
tungen vollbringen (limbisches System, präfrontaler        aktion mit seiner Umwelt die neuronale Architektur
Cortex), noch in ihrer Funktion perfektioniert werden.     seines Gehirns. Die neuronalen Schaltkreise werden

                                                                                                                     9
Anna Katharina Braun

über die Umwelterfahrungen sukzessive reorganisiert,                        System. Diese „Prägung“ der funktionellen Gehirn­
um damit das Verhalten des Individuums optimal an                           architektur findet ganz besonders massiv (und mit
seine jeweilige Lebenswelt anzupassen.                                      hoher Geschwindigkeit) während der ersten vier
   Am Tiermodell konnten wir erstmals nachweisen,                           bis sechs Lebensjahre statt, und vermutlich auch
dass nur die interaktive Erfahrung mit der Umwelt                           nochmals ganz umfangreich während der Pubertät.
solche dauerhaften hirnorganischen Veränderungen                            Demnach ist es von essenzieller Bedeutung, in welcher
auslösen kann, jedoch nicht eine passive „Beriese-                          Art die Umwelt gestaltet ist, die während dieser „kri-
lung“. Hiervon sind nicht nur die Sinnessysteme und                         tischen“ oder „sensiblen“ Entwicklungsphasen in die
die Motorik betroffen, sondern ganz besonders auch                          Gehirnentwicklung und damit auch in die Persönlich-
die präfrontalen Cortexbereiche und das limbische                           keitsentwicklung eingreift (vgl. dazu auch Kapitel 4).

Abbildung 2: Vereinfachte schematische Darstellung der erfahrungsabhängigen
synaptischen Reorganisation im Verlauf der Gehirnentwicklung

A                                                   B                                                         C

                   I                                                   I                                                         I
                                                  verstärkt                      abgeschwächt

        II                 III                                II               III                                     II                 III

Abb. 2: Vereinfachte schematische Darstellung der erfahrungsabhängigen synaptischen Reorganisation im Verlauf der Gehirnentwicklung. A zeigt
die Nervenzellen II und III, die mit Nervenzelle I synaptische Verbindungen geknüpft haben. B illustriert die Aktivierung der Synapse II / I (links)
und die schwächere bzw. fehlende Aktivierung der Synapse III / I (rechts), welches dann in C die Verstärkung von Synapse II / I und den Verlust von
Synapse III / I zur Folge hat (Verwendung mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. J. Bock, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg).

Referenzen zu Kapitel 3                                                     Conel, Jesse Leroy (Hrsg.) (1959): The postnatal develop­
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Bock, Jörg / Braun, Katharina (1998): Differential emo-                       U. Press
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Bock, Jörg / Gruß, Michael / Becker, Susan / Braun                          Squire, Larry R./Spitzer, Nicholas C./Zigmond, Michael J./
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10
„Kritische“ und „sensible“ Phasen der Gehirnentwicklung

                                                         da der auditorische Cortex in der frühen sensiblen
4 „Kritische“ und „sensible“                             Phase nie „gelernt“ hat, mit Sprachreizen umzugehen.
                                                            Beim Hörsystem erstreckt sich die synaptische Ent-
Phasen der Gehirnentwicklung                             wicklung noch über einen etwas längeren Zeitraum
                                                         (vgl. Abb. 3), da dieses Sinnessystem neben der Prä-
                                                         zisierung des Gehörs für Spracherkennung auch am
                                                         Spracherwerb beteiligt ist, ebenso später beim Lernen
In den Neurowissenschaften ist nach wie vor noch         von Lesen und Schreiben. Auch hier ist die Interaktion
nicht vollständig die Frage geklärt, wann und vor        mit der Umwelt ganz essenziell: Wird beispielsweise
allem über welche zellulären Mechanismen sich die er-    der Hörcortex nicht gleich von Geburt an darauf trai-
fahrungs- und lerngesteuerte Entwicklung neuronaler      niert, menschliche Sprachlaute zu erkennen und zu
Netzwerke vollzieht und wie sie in Wechselwirkung        kategorisieren, dann wird sich dies später auf den
mit der Umwelt umstrukturiert und optimiert werden.      Spracherwerb hinderlich auswirken. Nur das, was man
   Sowohl die Untersuchungen am menschlichen             präzise mit dem Gehör erfasst, kann auch mit dem ei-
Gehirn, als auch die experimentellen Befunde an          genen Sprachapparat imitiert und im weiteren Verlauf
Tiermodellen weisen nachgeburtliche Zeitfenster          über die kontinuierliche Hörkontrolle des eigenen
der Hirnentwicklung und der Verhaltensentwicklung        Sprechens sukzessive optimiert werden.
nach: die sogenannten „sensiblen“ oder „kritischen“         Dies impliziert, dass der vorschulischen Bildung (im
Phasen.                                                  Elternhaus und in den vorschulischen Betreuungsein-
   Beim Menschen liegen diese sensiblen Phasen je        richtungen) eine viel größere Bedeutung zukommt
nach Gehirnregion in der vorschulischen und frühen       als bisher angenommen, denn sie kann sich massiv in
schulischen Lebenszeit. Beispielsweise vollzieht sich    die Gehirnentwicklung „einmischen“. Die Gehirnent-
die funktionelle Reifung der Sinnessysteme (wie Sehen    wicklungsphasen korrelieren mit den Phasen beson-
und Hören) bereits in den ersten Lebensjahren, also      ders effizienter Lernfähigkeit, d. h. Lernen während
einem Zeitfenster, das gut mit der Optimierung der       der frühen Gehirnentwicklung greift aufgrund der
Seh- und Hörfähigkeiten korreliert. Fundamental war      erhöhten neuronalen Plastizität sehr viel stärker in die
beispielsweise die Beobachtung, dass Kinder mit ange-    funktionelle Entwicklung des Gehirns ein, hinterlässt
borenen Linsentrübungen nach den im Teenager-Alter       also prägnantere „architektonische“ Spuren im Gehirn
erfolgten Linsenentfernungen und Brillenkorrekturen      als das Lernen im erwachsenen Gehirn.
auch später kein normales Mustererkennungsvermö-            So konnte beispielsweise nachgewiesen werden,
gen entwickeln. Dies liegt, wie tierexperimentelle       dass sich musikalisches Lernen und instrumentale
Untersuchungen nachweisen konnten, daran, dass           Expertise auf die Entwicklung des Hörcortex und Tast-
der Sehcortex aufgrund der fehlenden Seheindrücke        cortex auswirkt – entsprechend den Händen oder Lip-
während seiner sensiblen Entwicklungsphase nicht         pen, mit denen das Instrument gespielt bzw. ertastet
„lernen“ konnte, korrekt zu sehen.                       wird. Je früher und länger ein Instrument regelmäßig
   Noch bedeutsamer war der Befund, dass Kinder mit      gespielt wird, umso größer entwickeln sich die damit
starker Schielstellung eines Auges nach einigen Jahren   „beschäftigten“ Cortexareale.
auf diesem Auge funktionell blind werden, obwohl es
im Elektrookulogramm funktionstüchtig erscheint,
d. h. normal Licht verarbeitet. Auch hier konnten erst
die tierexperimentellen Untersuchungen zeigen, dass
dies in einer funktionellen Unterentwicklung des Seh-
cortexes begründet ist.
   Ähnliche Befunde fanden sich bei Patienten mit
angeborenen Schall-Leitungsschwerhörigkeiten im
Ohr, die aus denselben Gründen wie beim Sehsystem
trotz späterer operativer Behebung keine normale
perzeptive Sprachverarbeitung entwickeln konnten,

                                                                                                                      11
Anna Katharina Braun

Abbildung 3: Grafische Zusammenfassung der unterschiedlichen Entwicklungszeitfenster
für die synaptische Entwicklung verschiedener cortikaler Regionen im menschlichen Gehirn

                                                                                                                            Hör- und Sehzentren in der Großhirnrinde

                                                                                                                            Sprachzentren in der Großhirnrinde

                                                                                                                            Vorderlappen der Großhirnrinde

                                                                                                                    Schnelle
                                                                                                               Synapsenbildung,
                                                                                                                  gefolgt von
                                                                                                                 Eindämmung

  Produktion und                                                                                                                           Synapsenniveau bei
  Wanderung von                                                                                                                               Erwachsenen
   Nervenzellen
                                                                         Myelinisierung

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2     -1 0 1     2   3   4   5   6   7    8   9 10 11 12   1   2    3   4   5   6   7   8   9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 30 40 50 60 70 Tod
                           Geburt
     Pränatale Periode                              Monate                                                        Jahre                                Jahrzehnte
        in Monaten
                                                                                      Alter
Die verschiedenen Gehirnareale und ihre Verschaltungen reifen nicht gleichzeitig heran sondern es gibt „sensitive“ bzw. „vulnerable“ Zeitfenster,
in denen die funktionellen Gehirnsysteme empfänglich für Schlüsselinformationen sind. Man beachte die verschiedenen Phasen des Aufbaus und
des (nicht pathologischen!) Abbaus von Synapsen. Ergebnisse aus Huttenlocher und Dabholkar (1997) J. Comp. Neurol. 387: 167-178.
Quelle: Carlsson, Neill, R. (Hrsg.) (2004): Physiologische Psychologie. München

Die Existenz solcher Entwicklungszeitfenster bedeutet                                      Umgekehrt sollten sich Eltern und Lehrer bewusst
demnach auch, dass die Persönlichkeitsveränderungen                                        machen, dass die positiven Auswirkungen ihrer Erzie-
gleichzusetzen sind mit gehirnorganischen Verände-                                         hungsbemühungen erst nach vielen Jahren zum Tragen
rungen, und dass die Veränderungen, die während                                            kommen können. Beispielsweise konnte Michael Gruss
solcher Entwicklungsphasen besonders rasch und tief-                                       (2010) in meiner Arbeitsgruppe an jungen Ratten nach-
greifend sind, äußerst stabil und im späteren Leben nur                                    weisen, dass Jungtiere, die mit einer Lernaufgabe auf-
noch bedingt und nur durch intensives Training verän-                                      grund ihres noch nicht voll ausgereiften Gehirns noch
dert werden können. Hierin liegen das große Potenzial                                      überfordert waren, später als Erwachsene diese Aufgabe
und die Nachhaltigkeit der frühkindlichen Förderung.                                       dann schneller und mit besserem Erfolg erlernen kön-
    Ein weiteres wichtiges Merkmal des frühkindlichen                                      nen. Die Existenz der sowohl von den Entwicklungs-
Lernens besteht darin, dass sowohl die positiven (z. B.                                    psychologen als auch von den Entwicklungsbiologen
durch optimale Anregung und Förderung in Familie                                           nachgewiesenen frühkindlichen Entwicklungszeitfen-
und Bildungseinrichtungen) als auch die negativen                                          ster bedeutet jedoch keinesfalls, dass nach Ablauf der
(z. B. defizitäre oder falsche Förderung, wiederholte                                      ohnehin für die lernrelevanten Hirnzentren (limbisches
Erlebnisse des Misserfolgs, chronischer Stress) Folgen                                     System, Präfrontalcortex) nicht sehr scharf begrenzten
der frühkindlichen Erziehung oft mit einer zeitlichen                                      Entwicklungsphasen das Lernen nicht mehr möglich ist;
Verzögerung sichtbar werden. Die Folgen früher                                             es wird nur entsprechend mühsamer und langsamer.
Versäumnisse zeigen sich häufig erst nach Jahren,                                          Das heißt: was in den ersten Lebensjahren in kürzester
wenn beispielsweise mit dem Säugling und Kleinkind                                         Zeit erworben werden kann (z.B. die Muttersprache oder
während der kritischen Entwicklungsphase der Hör-                                          eine Fremdsprache), erfordert mit zunehmendem Alter
und Sprachsysteme nicht gesprochen wurde, können                                           wesentlich längere Zeiträume.
daraus Monate oder Jahre später Verzögerungen oder                                            Neuere Forschungsergebnisse aus der human- und
Störungen der Sprachentwicklung resultieren.                                               tierexperimentellen Forschung zeigen aber auch, dass

12
„Kritische“ und „sensible“ Phasen der Gehirnentwicklung

sich viel später im Leben noch ganz enorme Verände-            Damasio, Antonio R. (1998): Descartes’ Error: Emotion,
rungen im Gehirn vollziehen. Beispielsweise stellt die           Reason and the Human Brain. New York: Avon
Pubertät ein Zeitfenster dar, in dem das Gehirn nochmals       Davidson, Richard J. / Putnam, Katherine M. / Larson,
einer „Baustelle“ gleicht, in der sich, teilweise auch über      Christine L. (2000): Dysfunction in the neural cir-
Sexualhormone gesteuert, häufig massive neuronale Um-            cuitry of emotion regulation – A possible prelude
strukturierungen vollziehen. Man vermutet, und diese             to violence. In: Science, H. 289, S. 591 – 594
spannende Überlegung wird derzeit sehr aktiv erforscht,        Doupe, Alison / Kuhl, Patricia (1999): Birdsong and
dass die Pubertät als plastisches Entwicklungszeitfenster        human speech: common themes and mechanisms.
eine „zweite Chance“ darstellt, in der das Gehirn weiter         In: Annual Review Neuroscience, H. 22, S. 567 – 631
optimiert und gegebenenfalls sogar frühkindliche Ver-
säumnisse nachgeholt oder korrigiert werden können.            Elliot, Lise (2000): What’s Going on in There? How the
   Auch beim Erwachsenen (im Normalfall bis ins hohe              Brain and Mind Develop in the First Five Years of
Alter) bleibt das Gehirn noch veränderbar, schließlich            Life. New York / London / München: Bantam Verlag
zeichnet sich gerade der Mensch durch seine Fähigkeit
zum lebenslangen Lernen aus. Nur sind die Verände-             Gopnik, Alison M. / Meltzoff, Andrew N. (2001): The
rungen, die sich im erwachsenen Gehirn beim Lernen               Scientist in the Crib: What Early Learning Tells Us
vollziehen, sehr viel weniger dramatisch als beim Kind,          about the Mind. New York: Harper Collins Publishers
was an der im Vergleich zum noch heranreifenden Ge-            Grossman, Aaron W. / Churchill, James D. / McKinney
hirn verminderten Plastizität (Veränderbarkeit der Ner-          Brandon C. / Kodish, Jan M. / Otte, Stephanie L. / Gree-
venzellen und ihrer Synapsen) liegt. Es gibt aber auch           nouph, William T. (2003): Experience effects on
Lernprozesse, die im erwachsenen Gehirn effizienter              brain development: possible contributions to psy-
ablaufen; dies hängt in nicht unerheblichen Maße da-             chopathology. In: The Journal of Child Psychology
von ab, wie viele und welche Art von Informationen dort          and Psychiatry, 44. Jg., H. 1, S. 33 – 63
bereits abgespeichert wurden. Das erwachsene Gehirn            Gruss, Michael/Abraham, Andreas/Schäble, Sandra/Be-
kann aufgrund seiner umfangreichen Vorerfahrungen                cker, Susann/Braun, Katharina (2010): Cognitive train­
effizienter arbeiten, indem es auf bereits (u. a. auch           ing during infancy and adolescence accelerates adult
schon in der Kindheit) abgespeicherte Gedächtnisin-              associative learning: critical impact of age, stimulus
halte und Denkkonzepte sowie auf die entsprechenden              contingency and training intensity. In: Neurobiology
bereits mehr oder weniger optimierten („getunten“)               of Learning and Memory, Nr. 94, H. 3, S. 329–340
synaptischen Netzwerke zurückgreifen kann.
                                                               Held, Richard/ Hein, Alan (1963): Movement-produced
                                                                 stimulation in the development of visually guided
Referenzen zu Kapitel 4                                          behaviour. In: Journal of Comparative and Physio-
                                                                 logical Psychology, H. 56, S. 872 – 876
Bischof, Hans Joachim (2007): Behavioral and neuro-            Hubel, David H. / Wiesel, Torsten N. (1965): Binocular
   nal aspects of developmental sensitive periods. In:           interaction in striate cortex of kittens reared with
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Bock, Jörg / Gruß, Michael / Becker, Susan / Braun Ka-           H. 6, S. 1041 – 1059
   tharina (2005): Experience-induced changes of               Hubel, David. H./Wiesel Torsten N. (1970): The period
   dendritic spine densities in the prefrontal and sen-          of susceptibility to the physiological effects of
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   windows. In: Cerebral Cortex, H. 15, S. 802 – 808             Physiology, H. 2, S. 419 – 436
Bruer, John T. (1999): The myth of the first three years:      Huttenlocher, Peter R. (1979): Synaptic density in hu-
   An understanding of early brain development and               man frontal cortex – Developmental changes and ef-
   lifelong learning. New York: The Free Press                   fects of aging. In: Brain Research. H. 163, S. 195 – 205
                                                               Huttenlocher, Peter R. / Dabholkar, Arun S. (1997): Re-
Conel, Jesse Leroy (Hrsg.) (1959): The postnatal development     gional differences in human cerebral cortex. The
  of the human cerebral cortex. Cambridge: H. U. Press           Journal of Comparative Neurology, H. 387, S. 167 –178

                                                                                                                             13
Anna Katharina Braun

Huttenlocher, Peter R. / deCourtier, C. / Garey, L. / Loos
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  science, H. 5, S. 831 – 843                                bereits erwähnten neueren Adoptivstudien an Heim-
Kuhl, Patricia K./Tsao, Feng-Ming/Liu, Huei-Mei (2003):      kindern verweisen auf eine starke prägende (gehirn-
  Foreign language experience in infancy: effects            und verhaltensbiologische) Bedeutung emotionaler
  of short-term exposure and social interaction on           Erfahrungen, die u. a. ja auch im Zusammenhang mit
  phonetic learning. In: Proceedings of the National         Lernprozessen stehen.
  Academy of Sciences, H. 100, S. 9096 – 9101                   Beobachtungen des Wiener Kinderarztes und Psy-
                                                             choanalytikers René A. Spitz (1945) an Heimkindern
Sachs, Jaqueline / Bard, Barbara / Johnson, Marie L.         sowie die in jüngster Zeit an Kindern aus rumänischen
   (1981): Language learning with restricted input:          Waisenhäusern erhobenen Befunde (Chugani u. a.
   Case studies of two hearing children of deaf parents.     2001) zeigen ganz klar, welch verheerende und dau-
   In: Applied Psycholinguistics, H. 1, S. 33 – 53           erhaft im Gehirn verankerte Wirkung ein Mangel an
Schäble, Sandra/Poeggel, Gerd/Braun, Katharina/Gruss,        emotionaler Zuwendung auf die Entwicklung kogni-
   Michael (2007): Long-term consequences of early           tiver und emotionaler Fähigkeiten hat.
   experience on adult avoidance learning in female             Die Studien von Harold Skeels (1966) haben darüber
   rats: role of the dopaminergic system. Neurobiology       hinaus klar gezeigt, dass es in der ganz frühen Kindheit
   of Learning and Memory, 87. Jg., H. 1, S. 109–122         weniger auf eine hochwertige intellektuelle Förde-
Schneider, Wolfgang / Näslund, Jane Carol (1999):            rung des Kindes ankommt, sondern vielmehr auf eine
   Impact of early phonological processing skills on         stabile emotionale Bindung zu einer Bezugsperson.
   reading and spelling in school: Evidence from the         Nach John Bowlby (1969 / 1999), einem der Pioniere
   Munich Longitudinal Study. In: Weinert, Franz             der Bindungsforschung, werden hierzu in der frühen
   E./Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Individual Develop­       Kindheit „interne Arbeitsmodelle“ angelegt, die sich
   ment from 3 to 12. Findings from the Munich               im Verlauf des kontinuierlichen Dialogs zwischen
   Longitudinal Study. Cambridge / UK: Cambridge             den Eltern – Erzieher – Betreuern und dem Kind heraus
   University Press, S. 126 – 147                            formen. Kinder wenden sich beispielsweise in bedroh-
Siegel, Daniel J. (1999): The Developing Mind. New           lichen oder angsteinflößenden Situationen instinktiv
   York: Guilford Press                                      ihren Eltern oder Betreuern zu und suchen dort Schutz,
Squire, Larry R./Spitzer, Nicholas C./Zigmond, Michael J./   Geborgenheit sowie Selbstbestätigung. Während
   McConnell, Susan K./Bloom, Floyd E. (2002): Funda-        solcher gemeinsam erlebten Episoden (die natürlich
   mental Neuroscience. 2. bearb. Aufl. Waltham/Massa­       auch positiver Art sein können) „stimmen“ sich die
   chusetts: Academic Press                                  Partner emotional aufeinander ein und ermöglichen
                                                             dem Kind eine Intersubjektivität zu erleben, die ver-
Tsao, Feng-Ming/Liu, Huei-Mei/Kuhl, Patricia K. (2004):      mutlich die Basis sowohl für die Fähigkeit, sich in einen
   Speech perception in infancy predicts language            Mitmenschen hineinversetzen zu können (theory of
   development in the second year of life: A longitu-        mind), als auch für die Fähigkeit des Einfühlens und
   dinal study. In: Child Development, 75. Jg., H. 4,        Mitfühlens (Empathie) bildet.
   S. 1067 – 1084                                               Diese Fähigkeiten werden überwiegend über den
                                                             Präfrontalcortex verarbeitetet und gelernt. Durch
                                                             die sehr langsame Entwicklung dieser cortikalen
                                                             Region bietet sich ein lang geöffnetes „sensibles“
                                                             Entwicklungszeitfenster, in dem sich die neuronalen

14
Frühkindliche emotionale Bindung

Verschaltungen in Abhängigkeit der jeweiligen Erfah-      In den präfrontalen Regionen und in fast allen lim-
rungswelt verändern und stabilisieren können.             bischen Kerngebieten wurden je nach Ausmaß der
   Im Bereich der emotionalen Bindung zeigen sich ge-     durchlebten Deprivation erhöhte oder erniedrigte
rade in den letzten Jahrzehnten gravierende Defizite      Synapsendichten gefunden. Bei Tieren, die kurz nach
bei Kindern und Jugendlichen, die neben schulischen       der Geburt psychischem Stress ausgesetzt wurden und
Problemen langfristig dann auch zu psychiatrischen        dann unter sozialen Isolationsbedingungen aufwuch-
Störungsbildern wie Sucht, Aggressivität, Angster-        sen, wurden dramatische Veränderungen der dopa-
krankungen einerseits und delinquentem Verhalten          minergen und serotonergen Fasersysteme gemessen,
andererseits führen können. Die enormen Folgekosten       die u. a. auch die präfrontalen Gehirnregionen massiv
für Versäumnisse in der Früherziehung müssen sicher-      innervieren. Offenbar entwickeln sich also gerade die
lich an dieser Stelle nicht explizit erwähnt werden.      neurochemischen Systeme nur unvollkommen oder
   Am eindrucksvollsten tritt die Bedeutung früher        fehlerhaft die – wie im Folgenden noch ausgeführt
Bindungserfahrungen auf die Gehirnentwicklung bei         werden wird – an emotionalen und motivationalen
Tiermodellen und an Kindern zutage, die während der       Funktionen sowie an Lern-und Gedächtnisprozessen
ersten Lebensjahre unter starker sensorischer, kogni-     beteiligt sind.
tiver und sozioemotionaler Deprivation aufwuchsen.           Trotz jahrzehntelanger entwicklungspsycholo-
Tierexperimentelle Forschungsergebnisse zeigen,           gischer Forschung, die eine Fülle von detaillierten
dass das Gehirn von Ratten oder Hühnerküken, die          Erkenntnissen zur Bedeutung emotionaler Leistungen
während früher Entwicklungsphasen wiederholt              erbracht hat, ist auf der gehirnbiologischen Ebene
oder auf Dauer von den Eltern getrennt wurden, einen      auch heute noch weitgehend unklar, welche Umwelt-
deutlich reduzierten Stoffwechsel aufweist, d. h. eine    faktoren in welcher Weise bei der erfahrungsgesteuer­
verminderte Aktivität der Zellen im präfrontalen Cortex   ten funktionellen Reifung spezifischer Regionen des
(und anderen limbischen Hirnregionen), die sowohl         limbischen Systems wirksam werden. Die zellulären
bei der Wahrnehmung von emotionalen Signalen (z.B.        und molekularen Mechanismen, die hierbei eine Rol-
durch Mimik oder Sprache) als auch bei der Steuerung      le spielen, können nur an geeigneten Tiermodellen
emotionaler Verhaltensweisen (Aggression, Impuls-         systematisch untersucht werden. Dieser Forschungs-
kontrolle, Empathie) eine wichtige Rolle spielen.         zweig wird daher – im Gegensatz zu Deutschland und
   Eine vergleichbare chronische „Unteraktivierung“       den meisten europäischen Ländern – in den USA seit
solcher präfrontaler Emotionszentren findet sich bei      Jahrzehnten in großem Umfang forciert und finanziell
Menschen mit emotionalen Störungen, beispielsweise        unterstützt. Wie in allen Bereichen der klinischen
bei depressiven Patienten.                                Forschung wird es auch hier nur über das detaillierte
   Harry Chugani u.a. (2001) konnten im Rahmen einer      Verständnis der neuronalen Entwicklungsprozesse im
Adoptionsstudie bei rumänischen Waisenkindern mit-        Gehirn längerfristig möglich sein, neue verbesserte
hilfe von bildgebenden Verfahren ebenfalls eine Un-       präventive und therapeutische Strategien und Maß-
teraktivierung im Orbitofrontalcortex, infralimbischen    nahmen für das menschliche Gehirn zu entwickeln.
Präfrontalcortex, in der medialen Amygdala und im
Hippocampus, d. h. in den emotional und kognitiv rele-
vanten präfrono-limbischen Schaltkreisen nachweisen.
   Sir Michael Rutter (2002) wiederum konnte bei
diesen Kindern eine Vergrößerung des Mandelkerns
(Amygdala, einer limbischen Gehirnregion die auf
emotionale Reize reagiert) in der rechten Hirnhälfte
nachweisen, während die linke Amygdala (vgl. Abb. 1,
links) im Verhältnis zur Dauer der Deprivation
(Waisen­haus) verkleinert ist.
   Am Tiermodell wurden auf mikroskopischer Ebene
ebenfalls dauerhafte strukturelle Veränderungen im
Gehirn nach emotionaler Deprivation nachgewiesen.

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Anna Katharina Braun

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