Lia Rodrigues Fúria - Wiener Festwochen
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Lia Rodrigues Fúria
TANZ Wie nennt sich jenes Land, das es vermag, sich selbst aus dem Boden zu ziehen, in den es vergraben wurde, um unsichtbar zu bleiben? Das Land, das die Brutalität der Kolonialisierung und Sklaverei erlitten hat und sich noch immer nicht den Auswirkungen der Diktatur stellt, die es von 1964 bis 1985 erlebte? Wir sprechen von Brasilien, wo die Armee erst im September 2014, Ort Odeon fünfzig Jahre nach dem Militärputsch, der zur Errichtung der Diktatur geführt hat, offiziell Folter und Morde zugegeben hat. Termine 1. / 2. / 3. Juni, 19 Uhr Dauer 70 Min. Zehn Jahre zuvor, 2004, hat Lia Rodrigues ihre Kompanie nach Nova Holanda verlegt, eine der 16 Favelas, die den Maré-Komplex bilden. Dies ist der größte Publikumsgespräch 2. Juni, Favela-Komplex in Rio de Janeiro, mit 40.000 Häusern und über 137.000 im Anschluss an die Vorstellung Bewohner*innen (davon sind 45 % unter 30 Jahren). Lia Rodrigues begann ihre Zusammenarbeit mit Redes da Maré (Maré-Netz- werk), einer Organisation, die für eine bessere Lebensqualität und die Rechte der dortigen Bevölkerung kämpft. Daraus resultierte das 2009 gegründete Centro de Artes da Maré (Zentrum der Künste von Maré), das zum Sitz ihrer Kompanie und der 2011 eröffneten Escola Livre de Dança da Maré (Freie Tanzschule von Maré) wurde. Die Schule hat zum Ziel, den Zugang zur Kunst für benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu demokratisieren. Heute zählt sie Konzept, Choreografie Lia Rodrigues etwa 350 Schüler*innen pro Jahr. Im Centro de Artes da Maré gibt es außerdem Assistenz Amalia Lima den Núcleo 2 mit 25 jungen Menschen zwischen 14 und 23 Jahren, die in einer Von und mit Leonardo Nunes, Felipe Vian, Clara Cavalcanti, Carolina Repetto, Audition ausgewählt werden und ein Stipendium erhalten, um als Tänzer *innen Valentina Fittipaldi, Andrey Silva, Karoll Silva, Larissa Lima, Ricardo Xavier oder in kunst- und kulturbezogenen Berufen ausgebildet zu werden. Musik Auszüge traditioneller Lieder und Tänze der Kanaken von Neukaledonien Wer in Maré lebt, muss sich jeden Tag überlegen, wie er *sie es schafft, nicht Dramaturgie Silvia Soter hinterrücks ermordet zu werden, selbst wenn er*sie eine Schuluniform trägt Künstlerische Mitarbeit, Fotos Sammi Landweer und sich auf dem Schulweg befindet, wie es beim 14-jährigen M arcos V inícius Licht Nicolas Boudier da Silva am 20. Juni 2018 der Fall war. Im vergangenen Jahr blieben die Schulen an 35 Tagen wegen Schießereien geschlossen – das Schuljahr ist für eine*n Dank an Zeca Assumpçao, Inês Assumpçao, Alexandre Seabra, Mendel Schüler*in in Maré anders als für jene, die nicht dort wohnen. Internationale Vertretung Thérèse Barbanel Produktion Chaillot – Théâtre national de la Danse (Paris) mit Unterstützung In Brasilien wird alle 25 Minuten ein schwarzer Jugendlicher ermordet, dreimal der Fondation d’entreprise Hermès im Rahmen des Programms New Settings so oft wie ein weißer Jugendlicher. Dies kommt einem Genozid gleich. Queere Koproduktion Festival d’Automne (Paris), le CENTQUATRE-PARIS, MA scène und Trans-Personen sind ebenfalls Ziel von Diskriminierung. Arm zu sein und nationale (Montbéliard), Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt a. M., im Rahmen in einer Favela zu leben, hat in Brasilien, historisch betrachtet, seit jeher soziale des Festivals Frankfurter Position 2019 – eine Initiative der BHF BANK Ausgrenzung b edeutet – mittlerweile wird es mit „kriminell“ gleichgesetzt. Stiftung), Kunstenfestivaldesarts (Brüssel), Teatro Municipal do Porto, Festival DDD – dias de dança (Porto, Matosinhos, Gaia), Theater Freiburg, Muffatwerk In diesem feindseligen und unsicheren Umfeld arbeitet die Tanzkompanie, die (München), Lia Rodrigues Companhia de Danças Sie nun gleich entdecken werden. Lia Rodrigues gab dem Ort eine Gestalt, indem sie folgende Stücke entwickelte: Encarnado (2005), Contra Aqueles Mit Unterstützung von Redes da Maré – Centro de Artes da Maré Difíceis de Agradar (2005), Pororoca (2009), P iracema (2011), Pindorama (Rio de Janeiro) (2013) und Para Que o Céu Não Caia (2016). In Zusammenarbeit mit Núcleo 2 entstanden: E xercício M, de Movimento e de Maré (2013) und Exercício P, de durchgeführt vom Team Wiener Festwochen Pororoca e Piracema (2017). Nun sind wir bei Fúria (Wut, 2018) angekommen. In dieser jüngsten Produktion Lia Rodrigues ist Artiste associée des Chaillot – Théâtre national de la Danse zieht ein ungewisser Morgen auf, mit Bildern versetzt, die uns anblicken. Die und des CENTQUATRE-PARIS Bilder irren umher, zeichnen eine Kontur in den Raum, direkt vor unseren Augen. Ein Segelschiff? Eine Prozession? Eine Waffe oder eine Flagge? Körper werden Uraufführung November 2018, Festival d’Automne (Paris) weggezerrt. Echte und erfundene Wesen tauchen auf. Vermischte Fragmente, 2 DE 3
fragmentierte Mischungen, die all jene Überlagerungen und Verflechtungen What kind of country manages to rise from the ground, where it had been darstellen, aus denen wir bestehen. buried to remain invisible, a country that has suffered from the brutality of colonisation and slavery and still hasn’t faced the consequences of its military Die Bilder lösen sich, entziehen sich jedoch jeder u nmittelbaren Interpretation. dictatorship from 1964 to 1985? We are talking about Brazil, where the Ihre Grenzen verschwinden, sie öffnen sich der Desorientierung. Wir stellen Armed Forces officially admitted torture and assassinations for the first time fest, dass wir nicht mehr wissen, ob wir uns vor ihnen oder in ihnen befinden, only in September 2014, fifty years after the military coup that installed the weil sie ihre Bezugspunkte nicht länger aufrecht erhalten. dictatorship. Wir haben diese Bilder in einem Sarg vergraben, damit sie uns nicht mehr Ten years earlier, in 2004, Lia Rodrigues had taken her company to Nova anschauen, aber sie kommen aus einer Wiege gestärkt hervor, spucken uns Holanda, one of the sixteen favelas that the Complexo da Maré consists of. It is die unendliche Ignoranz hin, die wir kultiviert haben. Lia Rodrigues und die the biggest aggregation of favelas in Rio de Janeiro, with 40 thousand houses Tänzer *innen ihrer Kompanie zeigen uns, wie sie ihre Referenzen verkörpern; and over 137 thousand inhabitants (45 % of which are under age 30). diese sind nicht nur Zitate. Sie sind zahlreich, und wir erinnern uns unter an- derem an Ana Maria Gonçalves, Octavia Butler, Mário de Andrade, C onceição Lia Rodrigues began a partnership with Redes da Maré (Maré networks), an Evaristo, Aimé Cesaire, Clarice Lispector, Harriet Ann Jacobs, Achille Mbembe, organization that fights for the local population’s quality of living and their Futhi Ntshingila, C arolina Maria de Jesus, Angie Thomas und Djamila Ribeiro. rights. This partnership lead to the foundation of the Centro de Artes da Maré (Maré Center of Arts) in 2009 which became the headquarters of the company In Fúria eröffnet sich eine Welt, die niemals eröffnet w erden dürfte. Denn es and the Escola Livre de Dança da Maré (Free Dancing School of Maré). The sollte eine Welt sein, die uns formt, doch das ist nicht der Fall. Dieses neue school was founded in 2011, aiming to democratise the access to arts for all Stück reißt uns aus der Behaglichkeit einer Ignoranz, die heuchlerisch die those who live in precarious situations. Today it has about 350 students per furchtbaren Schäden von Sklaverei und Kolonialismus bedeckt, die den Alltag year. Part of the Centro de Artes da Maré is Núcleo 2 with 25 young people bilden, von dem wir beharrlich unseren Blick abwenden. aged 14 to 23, selected in auditions, who receive a scholarship for professional education as dancers or in professions related to arts and culture. Leonardo Nunes, Clara Cavalcante, Felipe Vian, Carolina Repetto, Valentina Fittipaldi, Andrey Silva, Larissa Lima, Karoll Silva und Ricardo Xavier öffnen Living in Maré means trying every day not to get shot from behind even if you’re uns die Augen und zeigen uns, dass die Abwesenheit der Wut uns bedroht. on your way to school wearing a uniform, as was the case with 14-year-old Das Fehlen von Wut lauert uns in allen Szenen auf, die sich verflechten. Wir Marcos Vinícios da Silva on June 20, 2018. Last year, schools remained closed verlieren die Orientierung, wenn wir merken, dass die Wut in uns erloschen ist. for 35 days due to shootings. In other words, a school year for scholars in Maré is different than it is elsewhere. Der Moment ist gekommen, die Wut zu wecken. Die Wut der Kraft, Widerstand zu leisten. Die Wut der Leidenschaft, etwas zu erschaffen. In Brazil, a young black person is killed every 25 minutes, which is three times more often than the assassination of white youths. This constitutes a genocide. Queer and t ransgender people are a target of discrimination, too. B eing poor and living in a favela—which historically has a lways meant social exclusion —has now been transformed into an equivalent for “criminal”. Helena Katz ist eine renommierte brasilianische Kultur- journalistin mit dem Schwerpunkt auf Tanz und Professorin an der Hochschule für Kommunikation und Kunst an der Pontifícia It is in this hostile and unstable environment that the dance company you Universidade Católica de São Paulo. are about to see is working. That is where Lia Rodrigues has progressively given the place a body of its own, creating the pieces Encarnado (2005), Contra A queles Difíceis de Agradar (2005), Pororoca (2009), Piracema (2011), Pindorama (2013) and Para Que o Céu Não Caia (2016). And, with Núcleo 2: Exercício M, de Movimento e de Maré (2013) and Exercício P, de Pororoca e Piracema (2017). Now we have reached the point of Fúria (Fury, 2018). In this most recent pro- duction an uncertain dawn is being depicted and sprinkled with images that look at us. They roam, they scribble outlines into the space, right in front of us. A caravel? A procession? A weapon or a flag? Bodies are dragged away. Existing and invented beings appear. Mixed fragments, fragmented mixtures that materialize the overlaps and confusions that we are made of. 4 DE EN 5
The images detach themselves but refuse immediate interpretations. They Biografie Biography erase their limits and open up to d isorientation. We realize we can’t tell any more whether we are in front of them or inside them because they are no Lia Rodrigues, 1956 in São Paulo ge- Lia Rodrigues, born 1956 in Sao Paolo, longer the guardians of their references. boren, studierte klassisches Ballett und studied classical ballet and history at Geschichte an der Universidade de São the Universidade de São Paulo (USP). In Paulo. In den 1970er Jahren war sie Teil the 1970s she was part of the contem- We buried these images in a coffin so that they would stop looking at us, and der Bewegung für zeitgenössischen porary dance movement in São Paulo now they rise in a cradle, they are strengthened and spit at us the endless Tanz in São Paulo und von 1980 bis 1982 and from 1980 to 1982 a dancer in the ignorance we have cultivated. Lia Rodrigues and the dancers of the company Tänzerin in der Compagnie Maguy Marin Compagnie Maguy Marin in France. show us how their references have been processed, how they are not used in Frankreich. Zurück in Brasilien rief sie Back in Brazil, in 1990 she founded the as quotations. They are numerous, and we mention some of them here: Ana 1990 die Lia Rodrigues Companhia de Lia Rodrigues C ompanhia de Danças Maria Gonçalves, Octavia Butler, Mário de Andrade, Conceição Evaristo, Danças in Rio de Janeiro ins Leben, die in Rio de Janeiro, which continues to be Aimé C esaire. Clarice Lispector, Harriet Ann Jacobs, Achille Mbembe, Futhi mit Workshops und einem eigenem Pro- active internationally with workshops gramm noch immer international aktiv ist. and its own program. From 1992 on, she Ntshingila, Carolina Maria de Jesus, Angie Thomas and Djamila Ribeiro. 1992 initiierte sie das Panorama Festival, initiated and for fourteen years directed, Rio de Janeiros größtes und wichtigstes the most important dance festival in Rio Fúria inaugurates a world that should not be inaugurated because it would Tanzfestival, und leitete es vierzehn Jahre de Janeiro, the F estival Panorama. Since have to be the world that we consist of, but it isn’t. This new piece tears us from lang. Seit 2004 entwickelt Lia Rodrigues 2004, Lia Rodrigues, in collaboration with the comfort of an ignorance that covers with hypocrisy the terrible damages in Zusammenarbeit mit der NGO Redes the NGO Redes de Desenvolvimento da of slavery and colonialism which create the everyday life we insist to look away de Desenvolvimento da Maré künst- Maré, has been developing artistic edu- from. lerisch-pädagogische Aktivitäten in der cational activities in the Maré favela in Rio Favela von Maré. Aus dieser Kooperation de Janeiro. This collaboration led to the sind 2009 das Centro de Artes da Maré creation of the Centro de Artes da Maré Leonardo Nunes, Clara Cavalcante, Felipe Vian, Carolina Repetto, Valentina und 2011 die Tanzschule Escola Livre de in 2009 and the dance school Escola Fittipaldi, Andrey Silva, Larissa Lima, Karoll Silva and Ricardo Xavier make us Danças da Maré entstanden. Mit einer Livre de Danças da Maré in 2011. Mixing realize that we are threatened by the absence of fury. Its lack lurks in each of Mischung von Kampfgeist und Utopie militancy and utopia, she believes in the the scenes entangling with each other. We get disoriented when we perceive glaubt sie an die Synergien von Kunst und synergy between the art and the social that the fury has been erased inside us. sozialen Prozessen. processes. Lia Rodrigues wurde der ehrenvolle Titel Lia Rordigues was awarded with the Chevalier de l’Ordre des Arts et Lettres medal of Chevalier dans l’Ordre des Arts Impressum It’s time to wake the fury. The fury of the power of resistance, the fury of the verliehe. Seit 2014 ist sie Trägerin des et Lettres and with the Prins Claus Prijs in passion to create. niederländischen Prins Claus Prijs. 2016 2014 as well as with the prestigious SACD Eigentümer, Herausgeber erhielt sie den renommierten Preis für Price for Choreography in 2016. und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Choreografie der französischen Gesell Her most recent pieces are such as Such Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien schaft SACD. Zu ihren Arbeiten der Stuff As We Are Made Of, Formas Breves, Telefon + 43 1 589 22 0 letzten Jahre zählen Such Stuff As We Incarnat, Chantiers Poétiques, Pororoca, festwochen@festwochen.at Helena Katz is a renowned Brazilian cultural journalist and Are Made Of, Formas Breves, Incarnat, Piracema, Pindorama and Para Que o Céu www.festwochen.at dance critic. She is, amongst other activities, professor for com- Chantiers Poétiques, Pororoca, Piracema, Não Caia (For the Sky Not to Fall). munication and arts at the Pontifícia Universidade Católica de Pindorama und Para Que o Céu Não Caia Geschäftsführung São Paulo. (For the Sky Not to Fall). Wolfgang Wais Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Christophe Slagmuylder (Intendant) Textnachweis Text von Helena Katz im Auftrag des Chaillot – Théâtre national de la Danse Übersetzung Jerome Goger Die Wiener Festwochen werden subventioniert aus Mitteln der Kulturabteilung der Stadt Wien 6 EN DE / EN 7
Festwochen Service Festwochen Bar in den Gösserhallen +43 1 589 22 22 30. Mai bis 16. Juni, Donnerstag bis Sonntag, service@festwochen.at ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn Tageskasse Night Shift in den Gösserhallen Lehárgasse 3a, 1060 Wien Nach der Uraufführung von Eli Keszlers C hasing Telefon +43 1 589 22 456 Homer (8. Juni, 22.30 Uhr in den Gösserhallen) täglich 10 – 18 Uhr verweilt auch die Night Shift m usikalisch im Mittel- meerraum: das I stanbuler Duo Insanlar taucht die Gösserhallen in ein schamanistisches Techno- Telefonischer Kartenverkauf Folk-Hybrid. +43 1 589 22 11 Termin 8. Juni, ab 24 Uhr Ort Gösserhallen #festwochen2019 FESTWOCHEN EMPFEHLUNGEN www.festwochen.at Suite n°3 – Europe Ob standardisierte Jobinterviews, Verschwörungs theorien oder Schimpftiraden, Joris Lacoste und seine Encyclopédie de la parole bringen sie auf die Bühne und machen daraus 26 Vertonungen in den offiziellen Sprachen der Europäischen Union. Die schönen Melodien versuchen das Unerträgliche zu mildern, wenden sich gegen die Heftigkeit der zweifelhaften Worte und erlauben sogar darüber zu lachen. Termine 10. / 11. / 12. Juni, 19.30 Uhr Ort Akademietheater Yo escribo. Vos dibujás. Das neueste Werk des argentinischen Regisseurs Federico León ist ein riesiges, dreidimensionales Puzzle, in dem sich die Zuschauer*innen frei bewegen können. Jede*r sieht etwas anderes, Botschaften machen die Runde und lenken den Blick auf Übersehenes. Die beeindruckende Arbeit ist wie ein ausgeklügeltes Spiel, dessen Regeln man (noch) nicht kennt. Termine 13. / 14. Juni, 20.30 Uhr, 15. / 16. Juni, 17.30 und 20.30 Uhr Ort Gösserhallen, Halle 1 Hauptsponsoren der Wiener Festwochen Mobilitätspartner
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