GEMEINWOHL - ZIEL DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT - Eine Erwiderung auf die Ideen der Gemeinwohlökonomie

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GEMEINWOHL - ZIEL DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT - Eine Erwiderung auf die Ideen der Gemeinwohlökonomie
GEMEINWOHL –
ZIEL DER SOZIALEN
MARKTWIRTSCHAFT
Eine Erwiderung auf die Ideen
der Gemeinwohlökonomie

www.www.familienunternehmer.eu
INHALT
AUSGANGSLAGE                                                                      3
WIRTSCHAFTSSYSTEMFRAGE                                                            4
ANMASSUNG VON WISSEN                                                              6
VERLUST DER FREIHEIT                                                              7
SOCIAL CREDIT SYSTEM                                                              8
GEMEINWOHL                                                                        9
MARKTWIRTSCHAFT                                                                  10
PROFITSTREBEN                                                                    11
WETTBEWERB                                                                       14
EIGENTUM                                                                         16
WACHSTUM                                                                         20
KEIN WERTE-WIDERSPRUCH                                                           23
ORDNUNGSETHIK                                                                    24
DER WEG ZUR NACHHALTIGKEIT                                                       26
ÖKOLOGIE                                                                         26
EXTERNALITÄTEN & INTERNALISIERUNG                                                27
MASSSTAB DER EXTERNEN EFFEKTE                                                    30
EFFIZIENZ                                                                        32
TECHNOLOGIEFEINDLICHKEIT                                                         33
SOLIDARITÄT UND GERECHTIGKEIT                                                    35
SOLIDARITÄT                                                                      35
CHANCENGERECHTIGKEIT                                                             36
SOZIALE UNTERNEHMENSVERANTWORTUNG                                                36
UMVERTEILUNG                                                                     38
MENSCHENWÜRDE                                                                    41
FAIRER WELTHANDEL                                                                42
PRODUKTIONSFAKTOR ARBEIT                                                         43
ETHISCHE KONTROLLFUNKTION FREIER MÄRKTE                                          44
TRANSPARENZ UND MITENTSCHEIDUNG                                                  45
FAZIT                                                                            46
LITERATURVERZEICHNIS                                                             47

IMPRESSUM/KONTAKT
Der Text wurde von der Kommission Wirtschaftsethik von DIE FAMILIENUNTERNEHMER
                                                                                      Titelmotiv: shutterstock © noicherrybeans

unter Vorsitz von Gerd Maas erarbeitet.
Berlin, August 2021

DIE FAMILIENUNTERNEHMER e. V.
Charlottenstraße 24 | 10117 Berlin | Tel. 030 300 65-0
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AUSGANGSLAGE

W
            ie begegnen wir am besten den aktuellen           wir bei der herrschenden Marktwirtschaft inzwischen auf
            Herausforderungen der globalen Fairness           viele Erfahrungen zu den Wirkmechanismen und ihren
            und des Klima-, Umwelt- und Artenschut-           Erfolgen zurückgreifen. An diesen lassen sich dann bis
zes? Müssen wir tatsächlich anders wirtschaften, wie          zu einem gewissen Grad auch die vorgeschlagenen Sys-
es die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung, Attac, Fri-              temalternativen beurteilen. Dabei ist festzustellen, dass
days for Future und andere ökologische oder wachs-            man zwar heutzutage gerne über Systemwechsel disku-
tumskritische Politikinitiativen und Parteien fordern?        tieren möchte, als Gesamtsystem aber gar kein alternatives
Oder sollten wir besser den eingeschlagenen Weg der           Konzept vorliegt, das auch nur halbwegs tiefgehend mo-
Sozialen Marktwirtschaft konsequent zukunftsorien-            delliert wäre. Dass andere Wirtschaftssysteme zu bes-
tiert fortsetzen?                                             seren Ergebnissen führen würden, wird stets nur aus der
                                                              Kritik bestehender Systemkomponenten behauptet, ohne
Materieller Wohlstand, Gesundheit und selbstbestimmtes        dass für Alternativansätze fundierte Folgenabschätz-
Leben aller weltweit einerseits und Klimaschutz, Reinhal-     ungen vorgenommen worden wären. Aber auch Einzel-
tung von Luft, Wasser und Boden, Erhaltung der Biodiver-      kritik ist natürlich ernst zu nehmen, nicht zuletzt weil sie
sität und sorgsame Nutzung der natürlichen Ressourcen         mit wachsendem politischem und medialem Gewicht
andererseits sind zentrale ökonomische Herausforderungen,     unterlegt ist.
denen sich die Weltgesellschaft stellen muss. Das ist Kon-
sens des globalen öffentlichen Bewusstseins.                  DIE FAMILIENUNTERNEHMER sind der Überzeugung,
                                                              dass die globale wirtschaftliche Entwicklung die Gefahr
Je mehr auf der Welt grundlegende Lebensbedürfnisse           einer unwiderruflichen Überlastung der Tragfähigkeit unse-
befriedigt werden – also Lebenswartung, BIP pro Kopf,         res Lebensraums – Umwelt genauso wie die menschliche
Bildung, individuelle Freiheiten etc. allerorts stetig zu-    Gemeinschaft – birgt. Eben dieses Bewusstsein erfordert
nehmen –, umso mehr rückt die Nachhaltigkeit dieser           eine eingehende und verantwortungsvollen Befassung,
Entwicklung in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses:   denn falsche politische Schlussfolgerungen können leicht
die inter- und intragenerationell gerechte Wohlfahrt.         einen point of no return besiegeln. Die inzwischen viel be-
Gerecht meint hier, nicht die Lasten eines Nutzens auf        schworene Gefahr eines »Kipppunktes« darf aber keines-
andere abzuwälzen: Lebe nicht auf Kosten anderer!             wegs dazu verleiten, pauschal einem (totalen) Umbruch
Nimm nicht anderen hier und heute oder andernorts und         das Wort zu reden. Evolution geht fraglos langsamer als
morgen die eigene Chance auf Glück und Wohlstand!             Revolution, ist aber nichtsdestoweniger ein äußerst erfolg-
                                                              reiches Verfahren zur Anpassung an Umweltgegebenheiten.
So klar sich das als ethisches Prinzip formulieren lässt,     Andererseits frisst die Revolution gerne einmal ihre Kinder.
so schwierig ist die angemessene Anwendung. Kosten
und Lasten sind zum Beispiel nicht selten Investitionen       Die Volten der menschlichen Geschichte zeigen, dass
und damit die Grundlagen für zukünftigen Nutzen. Res-         Überleben vor allem die »Fähigkeit zur Anpassung an das
sourcen, die von den einen verbraucht werden, schaffen        Unvorhersehbare« (Friedrich A. von Hayek) bedeutet. Heute
gegebenenfalls die Ausgangsbasis für künftigen Nutzen         würde man wohl von »Resilienz« sprechen. Nachhaltig-
anderer. Mit Emissionen heute werden Entwicklungen            keit ist dementsprechend die ergebnisoffene Behauptungs-
vorangetrieben, die morgen Umweltbelastungen ver-             fähigkeit des Menschen in seiner Umwelt. Die größte
meiden.                                                       Gefahr von Kipppunkten ist daher nicht die Wahrschein-
                                                              lichkeit ihres Auftretens, sondern unsere Hilflosigkeit,
Diese Komplexität erschwert die Beurteilung von Wirt-         angemessen auf sie zu reagieren.
schaftssystemen und deren politischen Rahmenbedin-
gungen in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit. Allerdings können
04 | Gemeinwohl // WIRTSCHAFTSSYSTEMFRAGE

      WIRTSCHAFTSSYSTEMFRAGE

      S
              o weitgehend der Konsens in der Definition der       Fall – und irgendwie transformiert und auch mit mehr
              Herausforderungen ist, so groß sind aber auch        Wirtschaft »jenseits des Marktes«, vor allem aber sol-
              die Differenzen zwischen verschiedenen Grund-        len Privatinitiativen und Renditen begrenzt werden (weil
      haltungen der Ethik sowie zur Steuerung von Gesell-          Paus, wiederum postfaktisch, davon ausgeht, dass im
      schaft und Wirtschaft, um diesen Herausforderungen           Mittelpunkt der Wirtschaft derzeit »maximale Gewinne
      beizukommen. Eben dieses Spannungsfeld spiegelt              um jeden Preis« stehen).
      z. B. auch der Wirtschaftsteil des aktuellen Grundsatz-
      programms von Bündnis 90/Die Grünen aus dem De-              Die Nennung von Marktwirtschaft in der Überschrift des
      zember 2020 wider. Überschrieben ist das zweite Kapi-        Grundsatzprogramms von Bündnis 90/Die Grünen kann
      tel mit »In die Zukunft wirtschaften. Sozial-ökologische     auch bei vielen Ausführungen darunter nur als Etiket-
      Marktwirtschaft«, doch schon im ersten Absatz, vierter       tenschwindel verstanden werden. So »dürfen Unterneh-
      Satz wird im Kontrast zum herrschenden Status-quo            mer*innen nicht gezwungen werden, sich zwischen ei-
      gefordert: »Dazu ist es notwendig, grundlegend anders        nem wirtschaftlich erfolgreichen Weg oder einer sozialen
      zu wirtschaften«. Das spannt den Diskussionsraum um          und ökologischen Ausrichtung des Unternehmens zu
      das richtige System auf: von einer bereits gegebenen         entscheiden«. Nicht mehr an Kosten und Leistung also
      Zukunftsträchtigkeit unserer Sozialen Marktwirtschaft        sollen wirtschaftliche Aktivitäten gemessen werden, son-
      über noch notwendige ökologische Anpassungen der             dern an etwas wie gesamtgesellschaftlichem Wohlstand,
      marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen bis zu               mit »verbindlichen Indikatoren, die im Kontext einer am
      komplett »anders wirtschaften«.                              Gemeinwohl orientierten Bilanzierung die sozialen, öko-
                                                                   logischen und gesellschaftlichen Auswirkungen messen«.
      Während die Grünen scheinbar noch darum ringen, wie
      wir am besten wirtschaften sollten, spalten sich mit der     Ohne explizite Nennung wird hier sehr eindeutig zum
      Partei »Klimaliste Deutschland«, getragen von der Fri-       ersten Mal in Deutschland der 2010 vom österreichi-
      days-for-Future-Bewegung u.a., erhebliche politische         schen Autor, Mitbegründer von Attac, Tanzperformer und
      Kräfte ab und setzen sich ausdrücklich für »alternative      politischen Aktivisten Christian Felber initiierten Gemein-
      Wirtschaftsmodelle« ein, die »häufig nicht oder nicht in     wohl-Ökonomie (GWÖ) parteiprogrammatisch Geltung
      erster Linie profitorientiert [sind], wie zum Beispiel Ge-   verschafft. Im ausdrücklichen Kontrast zur kapitalistischen
      nossenschaften, Commons und weitere Arten solidari-          Marktwirtschaft will diese Initiative weltweit eine neue
      schen Wirtschaftens«. »Wirtschaftswachstum spielt darin      Wirtschaftsordnung etablieren, die Akteure belohnt, die
      keine tragende Rolle mehr.« (Grundsatzprogramm der           sich »umfassend ethisch verhalten«.
      Klimaliste Baden-Württemberg vom 20.09.2020). Nach
      deren Meinung soll unsere Zukunft in erster Linie ohne       Adam Smiths unsichtbare Hand des Marktes soll durch
      Marktwirtschaft gestaltet werden.                            eine »sichtbare Hand« ersetzt werden, die in einer so-
                                                                   genannten »Gemeinwohl-Bilanz« der Unternehmen
      Tatsächlich haben sich aber auch Bündnis 90/Die Grünen       zum Ausdruck kommt. Während in der Marktwirtschaft
      längst selbst schon sehr weit von der Marktwirtschaft,       ausdrücklich der Eigennutz der Wirtschaftsakteure und
      so wie wir sie kennen, abgewendet. Die finanzpolitische      nicht deren Wohlwollen der Motor für den Wohlstand
      Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Lisa Paus,         der Nationen sein soll, will die Gemeinwohl-Ökonomie
      spricht in einem Kommentar zum Grundsatzprogramm             just die »Eigennutzenmaximierung« durch Gemeinwohl-
      für den Tagesspiegel (20.12.2020) von einem »neuen           orientierung ersetzen. Mit einem Punktesystem soll in
      Weg des Wirtschaftens« als eine Art neuer dritter Weg        der Gemeinwohl-Bilanz das global ausgerichtete gute
      zwischen dem »ungeregelten Kapitalismus« – den es            Wollen der Unternehmen gemessen werden. Im ersten
      in Wirklichkeit nirgends gibt – und einem »autoritären       Schritt lassen sich damit intern Aspekte der Compliance
      Staatskapitalismus« und fordert ein »klares Bekenntnis       und Corporate Social Responsibility koordinieren und es
      zum „Primat des Politischen“«. Irgendwie soll es schon       können Argumente für die Unternehmenskommunikation
      noch Märkte geben, aber nicht als »alleiniges Organi-        generiert werden – die Selbstdarstellung als gemeinwohl-
      sationsprinzip« – auch das ist tatsächlich nirgends der      orientierter Betrieb.
WIRTSCHAFTSSYSTEMFRAGE // Gemeinwohl | 05

Die entscheidende Weichenstellung, um daraus ein neues                         Wirtschaftsmodell« durchzusetzen. Deren Lobbyarbeit
Gemeinwohl-Wirtschaftssystem entstehen zu lassen, ist                          zeitigt erste Erfolge: Nach einer Initiativstellungnahme des
dann aber, dass die Bewertungen der Gemeinwohl-Bilanz                          Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Union
entscheidend gemacht werden sollen, etwa für die Höhe                          von 2016 »sollte das Gemeinwohl-Ökonomie-Modell so-
der Steuern, den Zugang zu öffentlichen Geldern, Aus-                          wohl in den europäischen als auch die einzelstaatlichen
schreibungen oder Förderungen. Die endgültige Gemein-                          Rechtsrahmen integriert werden«. Als einzige fachliche
wohl-Ökonomie soll dann ohne Wettbewerb funktionieren.                         Quelle wird dabei auf die Gemeinwohl-Ökonomie-Website
Wirtschaft würde fürderhin allein auf Kooperation beruhen.                     verwiesen.
Der Kapitalmarkt soll gleich ganz abgeschafft werden. Pri-
vate Ziele der Wirtschaftsakteure werden überhaupt hin-                        Tatsächlich bietet die GWÖ im Gegensatz zu vielen ande-
fällig. Alles Wirtschaften soll damit politisch entscheidbar                   ren, eher diffusen Forderungen nach »anders Wirtschaften«
gemacht werden. Die im Kern des Systems werteneutrale                          gewisse konkrete Anhaltspunkte, wenn auch ohne wirt-
Marktwirtschaft soll in der Gemeinwohl-Ökonomie durch                          schaftstheoretische Einordnungen und volkswirtschaftliche
ein ideologisches Zielsystem ersetzt werden. Ein Wirt-                         Folgenbetrachtungen. In der Methode der Gemeinwohl-
schaftskonvent würde das übernehmen und definieren,                            Bilanzierung findet sich ein Ansatz, was Bündnis 90/Die
wie und mit welchen Zielen zu wirtschaften ist. Die öffent-                    Grünen und andere politische Bewegungen mit einem
liche Hand ist dann nicht mehr Regelsetzer und Schieds-                        neuen Wirtschaftsmodell, das sich an verbindlichen Indika-
richter, sondern bestimmt die Spielstrategie – ein Paradig-                    toren für Gemeinwohl orientiert, meinen könnten. Die Kate-
menwechsel. Danach streben inzwischen immerhin rund                            gorien der Gemeinwohl-Bilanzierung können dementspre-
250 GWÖ-Regionalgruppen weltweit, mit Schwerpunkt                              chend als Prüfkriterien für die Zukunftsträchtigkeit solcher
Europa und Lateinamerika, um dieses neue »ethische                             Ansätze im Vergleich zur Sozialen Marktwirtschaft dienen.

GEMEINWOHL-MATRIX 5.0

 WERT
                                                                           Solidarität und             Ökologische          Transparenz und
                                                Menschenwürde
                                                                           Gerechtigkeit              Nachhaltigkeit        Mitentscheidung
 BERÜHRUNGSGRUPPE

 A: Lieferant / innen                       A1 Menschenwürde             A2 Solidarität         A3 Ökologische             A4 Transparenz und
                                            in der Zulieferkette         und Gerechtigkeit      Nachhaltigkeit             Mitentscheidung
                                                                         in der Zulieferkette   in der Zulieferkette       in der Zulieferkette

 B: Eigentümer / innen und                  B1 Ethische Haltung          B2 Soziale Haltung     B3 Sozial-ökologische      B4 Eigentum und
 Finanzpartner / innen                      im Umgang mit                im Umgang mit          Investitionen und          Mitentscheidung
                                            Geldmitteln                  Geldmitteln            Mittelverwendung

 C: Mitarbeitende                           C1 Menschenwürde             C2 Ausgestaltung       C3 Förderung des           C4 Innerbetriebliche
                                            am Arbeitsplatz              der Arbeitsverträge    ökolgischen Verhaltens     Mitentscheidung
                                                                                                der Mitarbeitenden         und Transparenz

 D: Kund / innen und                        D1 Ethische Kund / innen-    D2 Kooperation         D3 Ökologische Auswir-     D4 Kund / innen-
 Mitunternehmen                             beziehungen                  und Solidarität mit    kung durch Nutzung und     Mitwirkung und
                                                                         Mitunternehmen         Entsorgung von Produkten   Produkttransparenz
                                                                                                und Dienstleistungen

 E: Gesellschaftliches                      E1 Sinn und gesellschaft-    E2 Beitrag zum         E3 Reduktion               E4 Transparenz und
 Umfeld                                     liche Wirkung der Produkte   Gemeinwesen            ökologischer               gesellschaftliche
                                            und Dienstleistungen                                Auswirkungen               Mitentscheidung

Quelle: Arbeitsbuch Gemeinwohl-Bilanz 5.0
06 | Gemeinwohl // ANMASSUNG VON WISSEN

      ANMASSUNG VON WISSEN

      B
               evor wir uns die einzelnen Gemeinwohl-Krite-        Schon gar nicht möchte man als Bürger einer freiheit-
               rien im Detail anschauen, erscheinen ein paar       lichen Demokratie weitgehend vom Wohlwollen seiner
               grundsätzliche Gedanken in Bezug auf die            Regierung abhängig sein. Das wäre eine Umkehrung
      tragenden Werte einer freiheitlich, demokratischen           der demokratischen Souveränität. Genau das droht aber
      Gesellschaft erforderlich. Allen Ansätzen des »anders        unweigerlich zu passieren, wenn die in einem Wettbe-
      Wirtschaften« ist gemein, dass sie ein tiefes Wissen         werbsrahmen frei zustande kommende Bilanz von Leis-
      über ein »richtig Wirtschaften« vorgeben. Mit dieser         tung und Gegenleistung mit einer staatlich definierten
      Anmaßung von Wissen verbunden ist die Überzeugung,           Gemeinwohl-Bilanzierung ergänzt oder später sogar
      dass ein »ideales« Wirtschaftssystem mit Detailvorga-        davon ersetzt wird. Erfolgreich ist dann, was dem defi-
      ben für die einzelnen Transaktionen politisch konstru-       nierten Gemeinwohl zugutekommt. Der Staat legt fest,
      ierbar wäre. Der spontanen Ordnung, die sich aus der         nach welchen Kriterien richtige oder falsche Produkte,
      Summe der vielzähligen, selbstbestimmten Entschei-           Produktionsweisen, Lieferketten etc. einzuteilen sind.
      dungen freier Individuen bildet, wird ein politisches        Und er gewichtet, wie einzelne Beurteilungsperspektiven,
      Intelligent Design entgegengestellt.                         sagen wir zum Beispiel Solidarität und Klimaschutz, un-
                                                                   terschiedlich zu Buche schlagen.
      Die politische Ökonomin Maja Göpel setzt etwa in ihrem
      Bestseller »Unsere Welt neu denken« als Axiom für alle       Eine Gemeinwohl-Definition, die zu einem – wie auch
      weiteren Überlegungen, »dass ein Weitermachen wie            immer gearteten – anderen Angebot führen soll, muss
      bisher nicht funktioniert«, und formuliert den herrschen-    unweigerlich von den derzeitigen Nutzenpräferenzen der
      den Fortschritt im bestehenden System als unvereinbar        Bürger abweichen, kann also nur relativ undemokratisch
      mit Zukunft. Im Wesentlichen werden Konsumverbote,           durchgesetzt werden: Denn was die Bürger freiwillig
      Postwachstum und progressive Umverteilung als Ge-            wählen, zeigt sich in der Marktwirtschaft. Aus Angebot
      genmodell formuliert, das induktiv bewiesen werden soll.     und Nachfrage ergibt sich das von freien Bürgern im
      Das ist allerdings wenig neu und dient vermutlich nur als    Rahmen des Möglichen Gewünschte. Etwas Anderes
      Framing, um eine Konfrontation zwischen »Bewahrer*in-        muss man gegen deren Willen erzwingen.
      nen« (neu) und »Blockierer*innen« (alt) zu konstruieren.
      Eine Flexibilität, Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit     Genau das – die Bevormundung der Bürger im Detail,
      im bestehenden Systemansatz und Ordnungsrahmen               was zu produzieren und zu konsumieren ist und wie plu-
      wird damit einfach so und ex ante ausgeschlossen.            ralistische Präferenzen durch einen Einheitsbrei ersetzt
                                                                   werden – nennt man üblicherweise Planwirtschaft. Die
      Um auf solchen Denkpfaden das Kind nicht mit dem Bade        wiederum konnte bisher keinen praktischen Beweis er-
      auszuschütten, sollte man sich bewusst machen, was           bringen, soziale oder ökologische Herausforderungen
      dahinter steckt, dass sich marktwirtschaftliche Strukturen   besser bewältigen zu können. Im Gegenteil. Die Wieder-
      überhaupt durchgesetzt haben. Adam Smith hat in seiner       vereinigung mit der DDR war etwa der bisher effektivste
      Begründung der arbeitsteiligen Marktwirtschaft daran er-     Beitrag zum Umweltschutz in der deutschen Geschich-
      innert, dass Menschen grundsätzlich nicht alleine überle-    te. Aber selbst wenn es irgendwie funktionieren würde,
      bensfähig sind. Wir sind lebenslang auf Hilfe angewiesen.    muss ein solcher Prozess der Gemeinwohl-Orientierung
      Wenn wir dabei nicht nur auf das Wohlwollen der nächsten     unweigerlich mit dem Verlust demokratischer Freiheiten
      Mitmenschen oder eines Gemeinwohl-Indikatoren-definie-       einhergehen. Mehr und mehr fehlt dann die breite Inte-
      renden Staates angewiesen sein wollen – frei sein wollen     ressensvertretung als korrektiv der hauptamtlich politi-
      –, dann entgelten wir empfangene Leistungen. Die simple      schen Willensbildung. Die staatliche Wissensanmaßung
      Moral des Tausches – Leistung und Gegenleistung – aus        über das richtige Gemeinwohl wird absolut. Es ist aber
      der jeder seinen eigenen Nutzen zieht und gerade des-        zu fürchten, dass die Staatsführung mit ihrem Wissen
      wegen den anderen seine Hilfe anbietet, ist der Clou der     nicht immer richtig liegt und – wie alle absolute Macht –
      evolutionären Emanzipation des Menschen. »Niemand            auch eher früher als später korrumpiert wird.
      möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen
      abhängen«, schreibt Smith.
VERLUST DER FREIHEIT // Gemeinwohl | 07

Das Recht, dass sich Angebot und Nachfrage in einem          plexe Wesen sind und zu verschiedenen Zeiten und unter
Ordnungsrahmen frei finden dürfen, ist eng verknüpft mit     verschiedenen Umständen viele unterschiedliche Seiten
der demokratischen Organisation eines Gemeinwesens,          von uns zeigen.« Gleichzeitig verlangen die Aktivisten in
und beides bedingt sich gegenseitig. Wenn man in das         ihrer zweiten Forderung »Handelt jetzt!«, dass die freien
Marktgeschehen über die Wirtschaftsordnung hinaus            Nachfrage- und Angebotsentscheidungen von Konsu-
eingreifen will, gefährdet man unmittelbar das auf indivi-   menten und Unternehmen durch Entscheidungen einer
dueller Freiheit beruhende Wertesystem.                      nebulösen »Zivilgesellschaft« ersetzt werden müssen.
                                                             »Anstatt neuen Produkten nachzulaufen, haben wir Zeit
Viele Verfechter eines grundsätzlichen Wirtschaftswan-       für Sinnstiftendes, für Beziehungen, für Kultur, für Natur
dels betonen gleichzeitig in besonderem Maße die indi-       und für uns selbst.« Das ist paradox. Diversität des Le-
viduelle Vielfalt. Die mit zivilem Ungehorsam agitierende    bens und Konformität eines quasi volksdiktatorisch vor-
Klimaschutz-Organisation Extinction Rebellion stellt in      geschrieben Konsumverzichts sind unvereinbar.
Punkt 6 ihrer Werte und Prinzipien fest. »Wir erkennen
dabei an, dass der Versuch, unsere Bewegung möglichst        Das offenbart, was letztlich tatsächlich dahinter
inklusiv und divers zu gestalten auch bedeutet, dass wir     steckt: Die Idee einer Minderheit, die dafür keine Mehr-
einen Umgang mit unterschiedlichen Verhaltensnormen          heiten gewinnt und demokratisch keine Legitimation
finden müssen. Wir erkennen ebenfalls an, dass wir kom-      findet, soll erzwungen werden.

VERLUST DER FREIHEIT

E
       in solcher Prozess birgt ganz erheblich die           Genau dieser, wie Immanuel Kant es nannte, »Ausgang
       Gefahr einer sich selbst ernennenden sozial-          der Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündig-
       ökologischen Epistokratie, eine Herrschaft der        keit« war der ausschlaggebende Wendepunkt in unserer
Nachhaltigkeitsbesserwisser. Dabei würden wir unser          Geschichte mit einer unvergleichlichen Explosion von
mühsam über Jahrhunderte errungenes Menschen-                Gemeinwohl steigernden Errungenschaften in Natur-
bild auf die Zeit vor der Aufklärung zurückdrehen            wissenschaft, Medizin, Technik, Wirtschaft, Kultur und
und die Bürger erneut zu unmündigen Untertanen               Staatskunst. Ohne dieses Freiheitsverständnis hätten
degradieren. Viele Umweltaktivisten würden das wohl          wir – weltweit – den heutigen Wohlstand nie erreichen
als vom Zweck geheiligtes Mittel nachgerade befür-           können.
worten. Das ist aber ein Weg der sich mittelfristig der
eigenen Voraussetzungen beraubt.                             Wenn wir nun zu einer Vorstellung zurückkehren, dass
                                                             die Menschen auf einen »richtigen« Weg geführt werden
Unser Menschenbild seit der Aufklärung ist geprägt von       müssen, verabschieden wir uns auch von den erfolg-
einem doppelten Freiheitsverständnis. Einerseits die         reichen Institutionen sowohl der negativen als auch der
negative Freiheit als Menschenrecht der Zwanglosig-          positiven Freiheit. Wir zwingen ein vorgeblich richtiges
keit – ein möglichst großer Freiraum für jeden einzelnen.    Verhalten auf und erziehen zu Regelbefolgern. Selbst-
Andererseits die positive Freiheit als Verpflichtung des     denken ist dann kontraproduktiv und entsprechend wenig
Gemeinwesens, alle Bürger möglichst gut zur Selbst-          erwünscht. Damit fehlt aber die kritische Masse für aus-
bestimmung zu befähigen – die Chance im gegebenen            reichend neue Ideen, Subsidiarität und vernünftige Eigen-
Freiraum einen eigenen Lebensweg wagen zu können.            und Mitverantwortung in der politischen Meinungsbildung
08 | Gemeinwohl // SOCIAL CREDIT SYSTEM

      und in unvermeidbar regellosen Randbereichen. Der             Freiheit in der Gesellschaft und wirtschaftliche Freiheit
      Erfolg von Demokratie baut auf Pluralismus, Kompromis-        lassen sich auf längere Sicht nicht trennen, dafür ist
      sen und Versuch und Irrtum. Man weiß vorher nie, was          Wirtschaft viel zu sehr integraler Bestandteil fast aller
      hinten raus kommt, und es ist im Einzelfall irgendwie nie     Lebensbereiche. Staatliche Festlegungen, was im Detail
      perfekt, aber insgesamt entwickeln sich die Gesellschaften    gutes oder schlechtes Produzieren oder Konsumieren ist,
      der individuellen Freiheit mit überragendem Erfolg. Ohne      greifen daher tief in die gesamte gesellschaftliche Frei-
      die Errungenschaften der freien Welt hätten auch totalitäre   heit ein. Deswegen müssen die Argumente doppelt gut
      Systeme wie China oder Russland ihren Weg eines ge-           sein, wenn man die in einem Ordnungsrahmen freiheitlich
      lenkten Kollektivismus unter Nutzung einzelner Elemente       funktionierende Marktwirtschaft über Bord werfen wollte.
      von Marktwirtschaft nicht einschlagen können. Wir wären
      alle in einer komplett sozialistischen Mangelbewirtschaf-
      tung verfangen geblieben.

      SOCIAL CREDIT SYSTEM

      A
              ndernorts hat man das bereits vollzogen. Ne-          belegt, der den Akteuren zugeschrieben wird. Abgesehen
              ben der zentral gesteuerten Marktwirtschaft           von den Schwierigkeiten in letzter Konsequenz richtige
              steht der Volksrepublik China mit ihrem sog.          nachhaltige Gemeinwohl-Kriterien zu finden und dafür
      »Social Credit System« bereits ein umfassendes                Maßstäbe festzulegen, ist eines sicher: Aus so einer Vor-
      Gemeinwohl-Bilanzierungs-System zur Verfügung.                gehensweise resultiert eine Herde Pawlowscher Hunde
      Unabhängig vom Markt und individueller Nutzenstif-            und keine Gemeinschaft souveräner Menschen.
      tung aus Leistung und Gegenleistungen können alle
      Wirtschaftsaktivitäten beurteilt werden. Wer nach
      den staatlichen Vorstellungen auf irgendeinem Felde
      falsch handelt – also z. B. auch falsch konsumiert
      oder produziert – wird sanktioniert und muss mit Ein-
      schränkungen zum Beispiel bei der Ausbildung, der
      Berufswahl oder der Freizügigkeit rechnen.

      Der Bevormundungsphantasie sind ab da keine Grenzen
      gesetzt. Insbesondere jede wirtschaftliche Aktion ist
      durch die notwendigen Transaktionen transparent und
      kann entsprechend jederzeit herangezogen werden, um
      die staatliche Punktevergabe für die öffentliche soziale
      Reputation zu triggern. Ein ideales System, wenn man
      glaubt zu wissen, was für die Menschen das Beste ist.
      Jede wirtschaftliche Transaktion oder zumindest jede
      maßgebliche wird mit einem Nachhaltigkeitspunktewert
GEMEINWOHL // Gemeinwohl | 09

GEMEINWOHL

E
        s ist nicht nur zu bezweifeln, dass sich mit           SDG 7 »Bezahlbare und saubere Energie«: Müssen wir
        derart konditionierten Bürgern langfristig             dazu unseren Energieverbrauch wirklich senken (Agenda
        Zukunft schaffen lässt, man sieht gerade am            2030 in Deutschland)? Oder ist das nicht eigentlich nur
Beispiel des Gemeinwohl-Social-Credit-Systems in               eine Frage der klima- und umweltverträglichen Ener-
chinesischer Ausprägung auch die Schwierigkeit,                gieproduktion? Vermutlich eine Mixtur, aber in welchem
überhaupt zu bestimmen, was Gemeinwohl eigentlich              Verhältnis, weil mit Energie ja Wirtschaft betrieben wird,
ist. Selbst wenn es nachhaltig materiellen Wohlstand           die Gewinne schafft, die direkt oder als Steuern For-
sichert, wer wollte freiwillig in derart durchgreifender       schung und Entwicklung ermöglichen? Wie viel dreckige
Fremdbestimmtheit der schönen neuen Social-Credit-             Energie können wir einsetzen, um zum sauberen Ziel zu
Welt leben? In einer liberalen Gesellschaft delegiert          kommen?
der Bürger seine Glücksstreben nicht an den Staat.
Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden                 Das macht deutlich: Die Komplexität eines globalen
dürfen. Dazu muss er sich in einen gemeinschaftli-             Gemeinwohls lässt sich vielleicht halbwegs in ihrem Fort-
chen demokratischen Rahmen ein-, aber nicht einem              schritt verfolgen, aber Gemeinwohl ist nicht einfach plan-
Staatsglücksziel unterordnen. Beim viel zitierten              und produzierbar. Das heißt nicht, dass die SDGs der UN
»Gross National Happiness«, dem Bruttonationalglück            nicht wichtig sind. Als Warnsignal für Fehlentwicklungen
von Bhutan, wird gerne vergessen, dass das Land                und vor allem zur Bewusstmachung der Komplexität
nach wie vor eine autoritäre Monarchie ist und im              globaler gesellschaftlicher Wohlfahrt und unser aller Ab-
ungleichheitsbereinigten UN-Index der menschlichen             hängigkeit davon sind das Meilensteine der Weltpolitik –
Entwicklung auch noch nicht weiter als Bangladesch             selbst wenn gegebenenfalls auf dem Papier mehr steht,
gekommen ist. In Bhutan wird das Glück mit ziemlich            als bei dem einen oder anderen UN-Mitglied tatsächlich
wenig Erfolg befohlen.                                         gelebt wird.

Auf ein paar grobe allgemeine Parameter zur Definition         Die »Sustainable Development Goals« lenken also
von Gemeinwohl, wie Konsummöglichkeiten, Gesund-               den politischen Blick in die richtige Richtung, aber der
heit, Bildung, gesellschaftliche und vielleicht auch politi-   Versuch unmittelbar daraus konkrete Wirtschaftsziele
sche Teilhabe sowie eine gewisse Rechtstaatlichkeit und        ableiten zu wollen, ist bisher kaum überzeugend gelun-
individuelle Freiheitsrechte, wird man sich wahrscheinlich     gen. Und er wird auch nicht gelingen. Die Sustainable
noch halbwegs gut einigen können. Darüber hinaus wird          Development Goals sind Indikatoren, mit denen versucht
es schnell komplex. Die Vereinten Nationen haben mit           wird, den Erfolg der globalen Wirtschaftspolitik in seiner
ihren 17 globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable           gesamten hochkomplexen Wechselwirkung zu messen.
Development Goals – SDGs) 2015 einen Satz von stolzen          Eine Gemeinwohl-Ökonomie ist keine neue Ökonomie,
immerhin 231 Indikatoren entwickelt, der die Gemeinwohl-       es wird allenfalls der Sinn und Zweck des Wirtschaftens
Entwicklung der Welt abbilden soll.                            etwas ganzheitlicher betrachtet.

231 Einzelziele zu verfolgen, das erscheint ambitioniert,
aber schon noch irgendwie machbar. Und es geht ja
schließlich um nicht weniger als die Zukunft unserer Welt.        » Dass in die Ordnung einer Marktwirtschaft
Nur hilft es ja nicht, die 231 Indikatoren einfach im Auge          viel mehr Wissen von Tatsachen eingeht, als
zu behalten. Wenn man Veränderungen planen wollte,                  irgendein einzelner Mensch oder selbst
muss man vor allem auch die Beziehungen zwischen den                irgendeine Organisation wissen kann, ist der
Indikatoren und deren Wechselwirkungen untereinander in             entscheidende Grund, weshalb die Marktwirt-
der Sache und in Raum und Zeit beachten. Ein im wahrs-              schaft mehr leistet als irgendeine andere
ten Sinne des Wortes endloser Planungshorizont.                     Wirtschaftsform.«

Dazu kommen noch so wenig triviale Fragen, wie man                 FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK
ein Ziel praktikabel machen soll. Nehmen wir als Beispiel          Freiburger Studien, 1969
10 | Gemeinwohl // MARKTWIRTSCHAFT

      MARKTWIRTSCHAFT

      E
             s war allerdings schon immer Sinn und Zweck            schiedlichsten Facetten. In der Ausgangsvariante wird
             allen Wirtschaftens, Nutzen und damit Wohlstand        in einem Koordinatensystem auf der Ordinate die durch-
             zu erzeugen. Als evolutionär soziales Wesen war        schnittliche Lebenserwartung abgebildet und auf der Ab-
      auch immer alles Wirtschaften auf ein Wohl über das           szisse das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukte pro
      jeweils handelnde Individuum hinaus gerichtet, auf Ge-        Kopf. Blasen stellen die Länder der Welt dar – ihre Farbe
      meinwohl. Xenophons »Oikonomikos« handelte knapp              den Kontinent, der Durchmesser die Bevölkerungsgröße.
      400 Jahre vor Christus von der guten Haushaltsführung,        Lässt man die Entwicklung von 1800 bis heute ablaufen,
      vom guten Wirtschaften, damit es allen in der Familie         sieht man, wie bis nach dem zweiten Weltkrieg mehr
      und auf dem Hof gut geht. Ökonomie ist der Begriff für        oder weniger die ganze Welt links unten verharrt – mit
      die Kunst, Gemeinwohl zu erzeugen. Die Beachtung von          geringer Lebenserwartung und geringem Volkseinkom-
      Wechselwirkungen des Wirtschaftens mit der natürli-           men – und sich dann fast alle auf den Weg nach rechts
      chen und gesellschaftlichen Umwelt gehört dabei von           oben machen, während zugleich die Bevölkerung enorm
      jeher zum Wesenskern des Begriffs. Spätestens seit            wächst. Eine eindrucksvolle Veranschaulichung der
      Adam Smith mit »Der Wohlstand der Nationen« im 18.            marktwirtschaftlichen Gemeinwohlwirkung, die eigentlich
      Jahrhundert die neuzeitliche Volkswirtschaft begründete       Pflichtprogramm im schulischen Kanon sein müsste.
      und auch der heutigen Sozialen Marktwirtschaft den
      Weg bereitete, ist Gemeinwohl-Ökonomie ein Pleonas-           In erster Linie sind es zwei Wirkmechanismen, die
      mus, eine Wortaufblähung ohne Sinnzuwachs.                    seit Smith und nach den Weltkriegen den Wohlstand
                                                                    in der Welt explodieren ließen:
      Die unsichtbare Hand des Marktes ist die Befreiung des        ● der Wettbewerb der Ideen
      Wirtschaftens sowohl von kleinen selbstversorgenden Wirt-     ● der Anreiz zur Effizienz
      schaftskreisläufen als auch von willkürlichen Planungen der
      Obrigkeit. Mit Smith ist alles Wirtschaften immer auf das     Als systematische Grundpfeiler dahinter stehen eben-
      Wohl aller Beteiligten gerichtet. Gemeinwohl ist der Zweck    falls nur zwei Regeln:
      der Marktwirtschaft. Mit überragendem Erfolg.                 ● der freie Markzugang für alle Interessenten
                                                                    ● die freie Preisbildung zwischen Anbietern und Nach-
      Unter www.gapminder.org/tools/ kann man diese welt-             fragen, so dass Preise Präferenzen und Knappheiten
      weite Erfolgsgeschichte von 1800 bis heute Revue                ausdrücken und damit einen universellen Maßstab für
      passieren lassen. Die animierten Bubble-Charts der von          Nutzen darstellen (die Lösung der Frage nach der
      Hans Rosling – ein schwedischer Professor für internati-        nutzengerechten Allokation der knappen Ressourcen
      onale Gesundheit, der lebenslang für Hilfsorganisationen        und der präferenzgerechten Distribution knapper
      tätig gewesen ist – gegründeten Gapminder-Stiftung              Güter, um gleichzeitig besten Nutzen zu stiften und
      zeigen die globale Gemeinwohl-Entwicklung in den unter-         möglichst wenig zu verschwenden)

      DIE GLOBALE GEMEINWOHL-ENTWICKLUNG

                                           1800                     2015

       Weltbevölkerung                1 Mrd. Menschen        7,35 Mrd. Menschen

       durchschnittliche                30–35 Jahre             über 70 Jahre
       Lebenserwartung weltweit

       BIP pro Kopf p.a.,               Deutschland:            Bangladesch:
       kaufkraftbereinigt                 1.640 $                 3.130 $

      Quelle: Gapminder-Stiftung
PROFITSTREBEN // Gemeinwohl | 11

Wenn Staaten heute auf dem Wohlstandsweg noch zu-               Mit der Entwicklung der Marktwirtschaft vom Laissez-faire
rückbleiben, liegt das in der Regel nicht an zu viel, sondern   zur Sozialen Marktwirtschaft wurde eben diese Wand-
zu wenig Marktwirtschaft. Etwa in Planwirtschaften (z. B.       lungsfähigkeit gesellschaftspolitisch implementiert. In
Venezuela), bei korrupten Regierungen oder wenn inter-          der Sozialen Marktwirtschaft wird der Wirtschaftsord-
nationale Machtpositionen für Wettbewerbsverzerrungen           nungsrahmen demokratisch diskutiert und justiert. Der
missbraucht werden (z.B. durch den Export hoch subven-          Marktmechanismus an sich ist aber über die Freiheits-
tionierter EU-Agrarüberschüsse). Ebenfalls gegen die na-        grundrechte zumindest in Deutschland verfassungs-
türliche Gemeinwohl-Justierung des Marktes durch Wett-          mäßig geschützt, eben weil den Verfassungsvätern der
bewerb wirkt die Versuchung globaler Konzerne, sich mit         langfristige Wohlfahrtseffekt frei wirtschaftender Bürger
der Ausnutzung internationaler Rechts- und Bildungs-Frei-       klar vor Augen stand.
räume Vorteile zu verschaffen. Auch bei der teilweise
vollständigen Entkopplung der Finanzmärkte von der Re-          Marktmechanismus heißt, dass der Bürger selbst ent-
alwirtschaft fehlt jeder Zusammenhang zu den ethischen          scheidet, was ihm Nutzen stiftet. Der Staat legt keinen
Grundideen der Marktwirtschaft. »Kasinokapitalismus« hat        Nutzen fest und auch nicht das Verfahren, wie ein
das Hans-Werner Sinn 2009 genannt und beschrieben,              Nutzen geschaffen werden soll, sondern zieht allen-
wie das Finanzsystem zur »Spielwiese von Glücksrittern«         falls Grenzen, wie weit ein Nutzen zu Lasten ande-
wurde. Auch heute liegt da noch einiges im Argen. Umso          rer Nutzen gehen darf. In einer marktwirtschaftlichen
erstaunlicher, wie sich trotz so gewaltiger Hindernisse der     Gesellschaft minimiert der Staat seine dirigistischen
marktwirtschaftliche Wohlstandsweg weltweit entwickelt.         Eingriffe, was die Bürger im Detail zu tun und zu lassen
                                                                haben. Der Staat bestimmt den Rahmen, nicht den Weg
Wirtschaft unterliegt dem politischen Ordnungsanspruch          und erst Recht nicht das Ergebnis. Marktwirtschaft und
einer Gesellschaft. Jedes Ordnungssystem von etwas              Ordnungspolitik ermöglichen einzigartig die Gleichzeitig-
Lebendigem ist dabei natürlich immer mit Defiziten be-          keit von großer individueller Freiheit und einem auf das
haftet, muss also stets hinterfragt und gewandelt werden.       Gemeinwohl orientierten starken Staat.

PROFITSTREBEN

D
          ie Verteufelung des Nutzenstrebens in Form            um einen prominenten Vordenker dafür zu finden, bei
          der unternehmerischen Gewinnerzielungsab-             dem freilich noch wenig Ahnung von Marktwirtschaft
          sicht in vielen aktuellen wirtschaftskritischen       angenommen werden muss.
Ansätzen ist dementsprechend mehr als verwunder-
lich. Bündnis 90/Die Grünen sprechen, wie bereits
zitiert, davon dass »Unternehmer*innen […] ge-
zwungen werden, sich zwischen einem wirtschaftlich                 » Wenn wir uns im Wettbewerb messen, dann
erfolgreichen Weg oder einer sozialen und ökologi-                   doch nicht deshalb, um den anderen zu
schen Ausrichtung des Unternehmens zu entschei-                      unterdrücken oder ihm gar zu schaden,
den«. Christian Felber bezeichnet in seinem Buch                     sondern Wettbewerb hat ein sehr edles und
zur Gemeinwohl-Ökonomie »eine Wirtschaft, in der                     soziales Ziel, nämlich der Menschheit im
die Geldvermehrung zum Zweck wird, als „widerna-                     Ganzen, der Wohlfahrt und der Verbesserung
türlich“« und muss bis auf Aristoteles zurückgreifen,                der Lebensmöglichkeiten aller Menschen zu
                                                                     dienen.«

                                                                    LUDWIG ERHARD
                                                                    1962
12 | Gemeinwohl // PROFITSTREBEN

      Die Gemeinwohl-Ökonomie verkürzt den Gewinn auf den          Richtig, eigener Profit und Selbstzweck ist der Aus-
      Selbstzweck des Unternehmers. Das ist ein zentrales          gangspunkt des marktwirtschaftlichen Strebens, aber im
      Axiom ihrer Argumentation. Und natürlich will ein Unter-     Resultat gewinnt die Gemeinschaft. Man kann wie in der
      nehmer für sich selbst Nutzen aus seinem Engagement          Gemeinwohl-Ökonomie ein Menschenbild beschwören,
      ziehen. Deswegen wird das auch gerne plakativ ange-          dass den Menschen Profitstreben nicht evolutionär als
      prangert: »Die machen das ja nur wegen des Gewinns«,         Leistungsanreiz in die Wiege gelegt wurde, sondern es
      ist in manchen Kreisen das allzeit parate abfällige Urteil   ihnen sozial anerzogen wäre. Da beißt sich nur die Katze
      für unternehmerische Initiativen. Mit einem Satz wird        in den Schwanz: Unser Sozialgefüge wird doch allein von
      weggewischt, was alles mit diesem Selbstzweck unmit-         unserer evolutionären Menschlichkeit geprägt. Da hilft es
      telbar verknüpft ist. Wenn ein Unternehmen Gewinn            nichts, einen altruistischen Sinnstrebenden als Ideal zu
      macht, heißt das:                                            entwerfen. Fakt bleibt, dass wir für Erfolge auch hand-
      ● Das Unternehmen hat Produkte erstellt, die anderen         feste Belohnungen erwarten. Der eine mehr, der andere
         Nutzen stiften.                                           weniger, der eine eher einzelgängerisch, der andere als
      ● Dem Unternehmen ist es gelungen, einen Mehrwert            Teamplayer, der eine fokusiert auf die eigene kleine Welt,
         zu schaffen: Der Umgang mit den verfügbaren               der andere mit offenem Herzen für seine ganze Umwelt,
         Ressourcen war so effizient, dass die Zahlungsbereit-     aber alle brauchen einen konkreten, messbaren, ver-
         schaft, die sich aus dem Produktnutzen ergibt, für die    gleichbaren und nutzenstiftenden Entgelt für ihre Leis-
         Endprodukte höher war, als für die Eingangsprodukte       tungen, Verantwortungen, Risiken und Haftungen.
         und Produktionsfaktoren Kosten entstanden sind, die
         sich aus dem Nutzen der Lieferanten und Faktor-           In Zusammenhang mit dem marktwirtschaftlichen Pro-
         anbieter ergeben. Der Output-Nutzen ist größer als        fitstreben wird von der Gemeinwohl-Ökonomie und
         der Input-Nutzen.                                         anderen besonders auch der Shareholder-Value-Ansatz
      ● Die Faktoranbieter – Arbeitnehmer, Kapitalgeber und        als nicht nachhaltiges Unternehmensführungs-Konzept
         Verpächter – und die Lieferanten des Unternehmens         angeprangert. Der Shareholder-Value-Ansatz stellt die
         und deren Lieferanten und Faktoranbieter usw. haben       Anteilseigner ins Zentrum der Managementbemühungen.
         Einnahmen erzielt. Der Erfolg des Unternehmens lässt      Gewinn und daraus folgend Börsenwert sind die Beweg-
         aus Erfahrung den Schluss zu, dass diese Einnahme-        gründe der Anteilseigner, um einer Aktiengesellschaft
         quellen längerfristig gesichert sind.
      ● Das Unternehmen kann sich aus eigener Kraft weiter-
         entwickeln, wenn es den Gewinn in Forschung und
         Investitionen steckt.
      ● Nur im Gewinnfall bestehen Potenziale für gemein-             » Der fundamentale Antrieb, der die kapitalis-
         wohldienliche Investitionen in Umweltschutz, Arbeits-          tische Maschine in Bewegung setzt und hält,
         sicherheit, Unfallprävention, Work-Life-Balance etc.           kommt von den neuen Konsumgütern, den
         über staatliche Vorgaben hinaus. Auch für Spenden              neuen Produktions- und Transportmethoden,
         und Mäzenatentum ist Gewinn erforderlich.                      den neuen Märkten, den neuen Formen der
      ● Der Gewinn ist die entscheidende Grundlage für die              industriellen Organisation, welche die kapita-
         wesentliche staatliche Besteuerung. Einerseits als             listische Unternehmung schafft.«
         eigene Steuerbemessungsgrundlage und andererseits              Der marktwirtschaftliche Wettbewerb ist ein
         weil nur profitable Unternehmen langfristig Einkommen          Prozess, »der unaufhörlich die Wirtschafts-
         bei Lieferanten und Faktoranbietern erzeugen, die              struktur von innen heraus revolutioniert,
         wiederum versteuert werden.                                    unaufhörlich die alte Struktur zerstört und
                                                                        unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Pro-
                                                                        zess der „schöpferischen Zerstörung“ ist das
                                                                        für den Kapitalismus wesentliche Faktum.«

                                                                       JOSEF A. SCHUMPETER
                                                                       Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1947
PROFITSTREBEN // Gemeinwohl | 13

eigenes Geld mit unmittelbarem Verlustrisiko zur Verfü-      Generell ist aber festzuhalten: Die Übertreibung eines
gung zu stellen. Da das Management mit fremden Geld          Systems erfordert das Einhegen der Übertreibung und
ohne eigenes Risiko und mit sehr beschränkter Haftung        nicht ohne weiteres die Revision gleich des ganzen Sys-
wirtschaftet, muss man sie im Innenverhältnis ausdrück-      tems. Der Shareholder-Value ist dementsprechend kein
lich darauf verpflichten. Der Shareholder-Value-Ansatz ist   Teufelswerk, sondern die entscheidende Kopfkennzahl
damit erst einmal nichts anderes als die Übertragung des     eines Unternehmens, denn letztlich ist nur ein profitabler
einzelunternehmerischen Gewinnstrebens auf Betriebe          Betrieb marktwirtschaftlich überlebensfähig und dement-
im Streubesitz.                                              sprechend gemeinwohlförderlich.

Gewinn und Börsenwert sind Indikatoren für erfolgrei-        Der aus der Kritik des Shareholder-Value entstandene
ches Agieren am Markt. Das hat nichts mit Gewinn »um         Stakeholder-Ansatz dagegen, auf dem auch die Gemein-
jeden Preis« zu tun und widerspricht auch nicht einer        wohl-Ökonomie ideengeschichtlich fußt, ist bei nährerer
nachhaltigen Unternehmensführung zur langfristigen           Betrachtung bedenklich. Das Stakeholder-Konzept fordert,
Gewinnsicherung. Die Entkopplung von Eigentum und            dass alle Interessen der am Unternehmen Beteiligten im
Management bewirkt allerdings Informationsdefizite und       Extremfall gleichermaßen berücksichtigt werden. Unter-
wirft Haftungsfragen auf. Das kann tatsächlich eher die      stellt wird dabei, dass das unternehmerische Gewinnstre-
kurzfristige Gewinnmaximierung befördern. Es kommt           ben nicht alle Interessensgruppen berücksichtigt. Statt
leichter zu einem Denken des Managements in Quartalen        Gewinnorientierung wird eine multidimensionale Zielfunk-
während Eigentümer ihre Investitionen eher über Gene-        tion gefordert, die alle irgendwie begründbaren Interessen
rationen profitabel zu halten bestrebt sind. Grundsätzlich   umfasst, also die von Anteilseignern, Management, Arbeit-
kann das Management aber auch nur sehr begrenzt ge-          nehmern, Partnern, Gläubigern, Zulieferern, Kunden,
gen breite Überzeugungen der Eigner agieren und muss         öffentliche Hand und eventuell auch Nachbarn, Verbänden
in all seinen Außenbeziehungen mit Kunden, Lieferanten,      und umwelt- und entwicklungspolitische Interessenver-
Partnern, Standortträgern und -nachbarn, Banken und          tretungen etc. Bekundete Interessenskonflikte müssten
dem sonstigen Betriebsumfeld auf seine Reputation ach-       dann in Abstimmungsprozessen geschlichtet werden.
ten. Unternehmen sind in jeder Beziehung vom öffentlichen
Meinungsbild abhängig und müssen stets mit direkten          Das stellt dann leicht den ganzen Wirtschaftszusammen-
wirtschaftlichen Folgen von negativer Publicity rechnen.     hang auf den Kopf. Anbieter und Kunden tauschen mit
                                                             Angebot und Nachfrage Leistung und Gegenleistung
Nicht vertieft, aber auch nicht unterschlagen werden soll    aus – Umsatz/Gewinn gegen Nutzen. Alle anderen Inter-
an dieser Stelle, dass einzelne Anleger auf dem Kapital-     essen können nur bedient werden, wenn es zu diesem
markt spekulative Strategien verfolgen, die kurzfristige     Prozess kommt, sind dem also unweigerlich unterge-
Gewinnmaximierungen befeuern und auf nachhaltige             ordnet. Das Endprodukt ist Zweck allen Wirtschaftens.
Geschäftsentwicklungen nur nachrangig Wert legen.            Der Nutzen des Endproduktes ist der einzige Sinn allen
Leerverkäufe, Hochfrequenzhandel, Geschäfte mit              Wirtschaftens. Vom Endkundengeschäft hängen alle
mehrfach verschachtelten Derivaten sind oft weit davon       Wirtschaftsaktivitäten ab, und die weiteren Interessen
entfernt, noch irgendeinen Zusammenhang mit der rea-         werden dann tiefergestaffelt entweder ebenfalls über
len Güterproduktion zu haben. Nicht selten ist es reines     Angebot und Nachfrage auf Zuliefer- oder Faktormärk-
Kasino, bei dem hohe Gewinne mit hohen Risiken einher-       ten ausgeglichen oder über staatliche Umverteilung per
gehen, die aber mitunter völlig losgelöst von der Haftung    Steuern und Abgabe. Damit sind auch ohne Stakehol-
sind. Das ist keine Soziale Marktwirtschaft.                 der-Orientierung in jedem sozial-marktwirtschaftlichen
                                                             Prozess alle Interessensgruppen im Wertschöpfungs-
                                                             prozess berücksichtigt und durch den Wettbewerb auf
                                                             den Märkten fair, also nutzengerecht, entgolten. Der
                                                             sozial-marktwirtschaftliche Wettbewerb an sich ist ein
                                                             Stakeholder-Konzept.
14 | Gemeinwohl // WETTBEWERB

      WETTBEWERB

      M
                it der Kritik am Gewinnstreben geht natur-          In der Gemeinwohl-Ökonomie wird Wettbewerb dem
                gemäß die Ablehnung des Wettbewerbs als             Wert des Vertrauens gegenübergestellt und ein Wider-
                Leistungs- und Fortschrittsanreiz einher.           spruch konstruiert. Wenn man ständig befürchten müsse,
      Bündnis 90/Die Grünen versuchen beide Kritiken aller-         auf dem Markt von anderen übervorteilt zu werden, re-
      dings im Grundsatzprogramm zu entkoppeln. Trotz-              sultiere daraus ständiges Misstrauen zwischen den Men-
      dem sie Wirtschaft nicht allein marktwirtschaftlich           schen. Vertrauen und Wettbewerb schließen sich aber in
      organisieren wollen, gibt es klare Bekenntnisse, dass         Wirklichkeit gar nicht aus.. Im Gegenteil: Der evolutionä-
      Wettbewerb ausdrücklich als »Mittel zur Erreichung            re Vorteil des Menschen ist es, sich in sozialen Gefügen
      von mehr Lebensqualität für alle« im Rahmen der »pla-         organisieren zu können. Die Fähigkeit der Kommunika-
      netaren Grenzen« in einer sozial-ökologischen Markt-          tion ermöglicht dabei in der Gruppe Bedürfnisse aus-
      wirtschaft anerkannt wird. Man hält fest, dass »freies        zutauschen, so dass man sich gegenseitig helfen kann.
      und kreatives Handeln von Menschen sowie die Dyna-            Dabei ist nicht Vertrauen der Anreiz, sondern Eigennutz.
      mik eines fairen Wettbewerbs und gesellschaftlicher           Wenn ich anderen helfe, kann ich davon ausgehen, dass
      Kooperation […] nachhaltigen Wohlstand, Fortschritt           mir bei Bedarf auch geholfen wird, weil die anderen
      und innovative Problemlösungen schaffen« können.              sich sicher sein wollen, dass ihnen gegebenenfalls auch
                                                                    geholfen wird. Vertrauen ist dann das Ergebnis, wenn
      Teile der Partei werden das aber sicher anders sehen          dieser egoistische Altruismus in der Gruppe erfolgreich
      und extremeren politischen Ökologie-Bewegungen                gestaltet wurde und deswegen auch ein Wert für sich.
      zustimmen. So sucht zum Beispiel die Klimaliste Ba-           Never change a winning team.
      den-Württemberg ausdrücklich »soziale, nachhaltige
      Alternativen zum Prinzip der wettbewerbsorientierten          Tatsächlich sind partnerschaftliche Unternehmensnetz-
      Leistungsgesellschaft«. Felber hält Wettbewerb in der         werke, Clusterorganisationen, Berufs- und Wirtschafts-
      Begründung der Gemeinwohl-Ökonomie grundsätzlich              verbände, Angebotskonsortien, Büro-, Werbe- und
      für »krank«: »Wenn wir uns auf das Wir-selbst-Sein kon-       Arbeitsgemeinschaften und viele andere Kooperations-
      zentrieren würden anstatt auf das Besser-Sein, würde          formen auch zwischen formellen Wettbewerbern gang
      niemand Schaden nehmen, und es bräuchte keine Verlie-         und gäbe. Kaum eine Branche, in der sich das Gros der
      rerInnen.« Man kann vermuten, dass er kein Fußball-Fan        Anbieter nicht gegenseitig eher als Mitbewerber und
      ist und als Kind nie Fangen gespielt hat.                     Kollegen bezeichnet, denn als Konkurrent. Ein Ausdruck
                                                                    dessen, dass man sich zwar wohl bewusst ist, dass man
      Wie, wenn man nicht einen Gewinner und die Platzierungen      um die gleiche Kundschaft wirbt, aber ebenso überzeugt
      feststellt, will man denn wissen, welche Leistung besser      ist, dass eben dieser Wettstreit mittelbar zu wachsendem
      war. Und genau das ist die große ethische Frage: Was ist      Nutzen für alle führt.
      richtiges und falsches, das heißt schlechtes, gutes, besse-
      res Handeln in unserem Leben? Dabei muss unweigerlich         Und selbst bei starker Konkurrenz gilt Vertrauen als ein
      das Ergebnis des Handelns betrachtet werden, denn aus         Wert: Vertrauen z. B. auf die Fairness des Wettbewerbs.
      dem Handeln allein kann man die Wirkung nicht erkennen.       Das Vertrauen, dass sich alle im Bewusstsein der golde-
      »Unter all denen, die versuchen, den Mount Everest zu be-     nen Regel – was du nicht willst, dass man dir tut, das füg
      steigen oder den Mond zu erreichen, ehren wir auch nicht      auch keinen andern zu – an die Normen und ungeschrie-
      die, welche die größten Anstrengungen unternommen             benen Konventionen des Wettbewerbs halten: eingegan-
      haben, sondern diejenigen, welche als erste dorthin gelangt   gene Verpflichtungen einhalten, keinen Zwang ausüben,
      sind«, fasst das Friedrich A. von Hayek treffend zusammen.    nicht betrügen, den anderen als Mensch respektieren,
                                                                    die eigenen Entscheidungen verantworten etc. Nachdem
      Wettbewerb steckt uns in den Genen. Kein Wunder,              in einer komplexen Welt unmöglich alles geregelt werden
      nachdem der evolutionäre Prozess des ganzen Lebens            kann, basiert jede Marktwirtschaft gerade wegen des
      Wettbewerb ist: »survival of the fittest«, wer sich besser    Wettbewerbs auf einem ehernen Vertrauen in den fairen
      an die Lebensumstände anpasst überlebt; eine harter,          Umgang, der in seiner ganzen Tragweite bei uns bis
      aber extrem erfolgreicher Auslesewettbewerb.                  heute mit dem als verbindlich angesehenen Handschlag
WETTBEWERB // Gemeinwohl | 15

unter Geschäftsleuten zum Ausdruck kommt. Ein solches         die Frage, wie Wissen entsteht. Ausgangspunkt ist die
Vertrauen wird natürlich verschiedentlich auch wieder         Freiheit der Menschen, sich über unser Zusammenleben
gebrochen, um andere zu übervorteilen. Die Wirkmecha-         und die Befriedigung unserer Bedürfnisse mit unterschied-
nismen der Marktwirtschaft jedoch sanktionieren unfaires      lichen Ansichten Gedanken machen zu können, um zu
Verhalten durch Misstrauen beziehungsweise Abbruch            versuchen den Status-quo zu verbessern. Die Gesellschaft
der Geschäftsbeziehungen, so dass der Vertrauensbruch         muss sich so organisieren, dass Besser-Machen-Wollen
nie langfristig erfolgreich ist und die Mehrheit der Markt-   befördert und in keinem Fall verhindert wird. Versuch und
teilnehmer das Risiko lieber gar nicht erst eingeht.          Irrtum. Das klingt für uns ganz selbstverständlich als
                                                              Wissensentdeckungsverfahren, so dass wir die Axio-
Denn der Wettbewerb sorgt automatisch für gegenseitige        me dahinter gar nicht mehr bemerken:
Kontrolle. Beschiss kommt auf den Tisch. Und kann im          1.) dass man die beste Lösung eines Problems nie kennt,
Informationszeitalter immer schwerer versteckt werden.        2.) dass man einen Anreiz hat, neue Lösungsversuche zu
                                                              		 unternehmen, und
Eine weitere wesentliche gesellschaftliche Funktion           3.) dass es einen Maßstab gibt, was ein Irrtum ist und
nimmt der Wettbewerb als Machtbegrenzer ein. Eine             		 was nicht.
erfolgreiche Produktidee ruft automatisch Konkurrenz
auf den Plan und verhindert damit monopolistische             Es ist der freie Wettbewerb der Ideen, der den Irrtum offen-
Machtkonzentration, die selbst bei besten Absichten           bart, das heißt die schlechtere vorangehende Idee. Und es
früher oder später zum Machtmissbrauch gegenüber den          sind die marktwirtschaftlichen Prozesse, die einen beson-
Verbrauchern verleiten würde. So ist der Wettbewerb           deren Anreiz geben, alte Irrtümer zu überwinden, weil eben
seine eigene Wettbewerbskontrolle, die flankiert wird         dieses Gewinn verspricht. Der Wettbewerb ist damit das
von den demokratischen Kartellrechten und -behörden,          ideale Verfahren, um Hemmnisse des Gemeinwohls zu über-
um im Einzelfall sich trotz Wettbewerb ergebende markt-       winden, ohne dass der Staat Altruismus erzwingen muss.
beherrschende Stellungen wieder aufzubrechen. Der
Schutz der Wettbewerbsordnung vor Partikularinteressen        Eindrucksvoll ist uns dieser Wirkmechanismus jüngst bei
ist dementsprechend auch ein wesentlicher Pfeiler der         der Entwicklung des Sars-CoV2-Impfstoffs vor Augen
Sozialen Marktwirtschaft. »Dieses Berücksichtigen von         geführt worden. Über 100 Firmen hatten sich seit Früh-
Sonderinteressen, das Nachgeben gegenüber einzelnen           jahr 2020 aufgemacht, um möglichst schnell einen mög-
Forderungen bestimmter Wirtschaftskreise verbietet sich
auch wegen der Interdependenzen allen wirtschaftlichen
Geschehens. Jede einzelne Maßnahme in der Volkswirt-
schaft hat Fernwirkungen auch in Bereichen, die von den
Aktionen gar nicht betroffen werden sollen, ja, von denen        » In viel größerem Maß als bisher muss erkannt
niemand bei flüchtiger Beobachtung glauben möchte,                 werden, dass unsere gegenwärtige Gesell-
dass sie von den Ausstrahlungen berührt werden«, be-               schaft nicht in erster Linie das Ergebnis
schreibt Ludwig Erhard 1957 im Kapitel »Wirtschafts-               eines menschlichen Entwurfes ist, sondern
minister, nicht Interessenvertreter« in »Wohlstand für             aus einem wettbewerblichen Prozess hervor-
alle« die Rolle des Wettbewerbshüters. Lobbyismus als              ging, in dem sich die erfolgreicheren Einrich-
Interessenvertretung war für Erhard essentieller demo-             tungen durchsetzen. Kultur ist weder natürlich
kratischer Usus, aber nicht die Bevorzugung einzelner In-          noch künstlich, weder genetisch übermittelt
teressen von Wirtschafts- oder Branchenverbänden oder              noch mit dem Verstand geplant. Sie ist eine
Großunternehmen. Subventionen, Sonderrechte oder                   Tradition erlernter Regeln des Verhaltens,
Protektionismus schaden dem Wettbewerb und damit                   die niemals erfunden worden sind, und deren
dem Gemeinwohl.                                                    Zweck das handelnde Individuum gewöhnlich
                                                                   nicht versteht.«
Die überragende Bedeutung, wie entscheidend Wettbe-
werb unser Dasein positiv bestimmt, erkennen wir über              FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK
                                                                   Die Anmaßung von Wissen, 1969
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