Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik - info-blatt - Ein Beitrag zum EU-Jahr
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info-blatt der servicestelle politische bildung Nr. 3, Oktober 2003 Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Ein Beitrag zum EU-Jahr „Erziehung durch Sport“ 2004
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 Editorial Zweifellos hat sich der Sport in all seinen Ausprägungen politischen Entspannung gesetzt werden - vom Sport als zu einer der bedeutendsten sozialen Erscheinungen der unpolitischer Lebensbereich kann heute keinesfalls und hat westlichen Kultur entwickelt und insbesondere in den letz- vielleicht niemals gesprochen werden können. ten beiden Jahrzehnten aufgrund seiner medialen und öko- nomischen Verwertung einen globalen Siegeszug ange- All diese angedeuteten Sphären des Sports sind janus- treten. Egal ob aktiv oder vor dem Fernsehgerät – Sport köpfig, weisen eine negative und eine positive Seite auf, spielt heute im Leben der meisten Menschen eine bedeu- wobei vor allem die negativen Auswüchse immer mehr in tende Rolle. Untermauert wird dieser Umstand von ver- den Vordergrund der wissenschaftlichen Auseinan- schiedenen Entwicklungen: dersetzungen treten. Gewalt und Rassismus, natio- nalistische Instrumentalisierung und die dominierende Sportveranstaltungen haben sich zu weltumspannenden Macht des Geldes haben den einfachen Wettkampf in den Ereignissen entwickelt, die über die modernen Medien in Hintergrund gedrängt und legen den Schluss nahe: Sport jeden Winkel aller Kontinente getragen werden und ein Mil- ist ein Spiegel, in dem sich gesellschaftliche Probleme und liardenpublikum vor den Bildschirmen versammeln. So politische Entwicklungen abbilden. wurde die Fußballweltmeisterschaft 2002 von 49,2 Milliar- Das vorliegende info-blatt versucht das Phänomen den Zuschauern im Fernsehen verfolgt.1 Sport dahingehend zu beleuchten und LehrerInnen Sport Stellte früher die Fernsehübertragung eines Sportereig- als einen bedeutenden Teil menschlicher Kultur vorzustel- nisses eine besondere Ausnahme dar, bleibt heute dank len. dutzender staatlicher und privater Sender kaum eine Sport- Aus einer Vielzahl von Themenbereichen konnten wir veranstaltung von Bedeutung unübertragen. für die Auseinandersetzung im Inhaltsteil nur einige exem- Das Ansteigen der Freizeit gegenüber der Arbeitszeit im plarisch herausgreifen. Themen, die ihnen vielleicht fehlen Zuge der Industrialisierung und die zunehmende Dominanz – z.B. "Sport und Medien", "Sport und Frauen", "Sport und von Arbeitsplätzen, die geringe körperliche Anstrengung er- Globalisierung" (für das info-blatt 2/2004 vorgesehen) oder fordern, haben dem Sport in unseren Breiten als Mittel zur "Sport und Doping" – wurden jedoch in der Linkliste und Gesundheitsvorsorge, zur Erreichung eines Schönheitside- den methodischen Tipps berücksichtigt. als und als abwechslungsreiches Spannungselement einen ungeahnten Stellenwert eingeräumt. Die Zahl der Mitglie- Die Themenwahl erfolgte aus einem konkreten Anlass: der in Sportvereinen ist rasant gestiegen, und Sportvereine Das Jahr 2004 ist das Europäische Jahr der Erziehung haben sich als gesellschaftliche Keimzellen etabliert.2 durch Sport.4 Ziel der Initiative ist es, den Sport als päda- Global agierende Wirtschaftskonzerne bedienen sich in gogisches Instrument zu fördern und das Ansehen des aufwendigen Werbefeldzügen der medialen Omnipräsenz Sports in der Gesellschaft aufzuwerten. Das info-blatt ver- des Sports und seiner Stars, um die Aura von Kraft und sucht mit einem kritischen Blick auf die Rolle des Sports in Sieg auf das Image ihre Produkte zu übertragen und so ein Politik und Gesellschaft einen Beitrag dazu zu leisten. überzeugendes Kaufargument für die westlichen Konsu- mentInnen zu liefern. Die wirtschaftliche Bedeutung des Da Sport zweifellos gerade bei jungen Menschen einen Sports wird auch dadurch unterstrichen, dass er alleine in hohen Stellenwert einnimmt, könnte durch seine The- Österreich geschätzte 100.000 Arbeitsplätze sichert.3 matisierung im Unterricht ein neuer, lebendiger Zugang zu In jenen Teilen der Erde, die von wirtschaftlichem Ent- politischen und gesellschaftlichen Themen geschaffen wer- wicklungsrückstand geprägt sind, übernimmt der Sport eine den. andere, wichtige Funktion: Er ermöglicht die zeitlich be- grenzte Flucht aus der ärmlichen Realität und gibt einen Inhaltsübersicht: Hoffnungsschimmer für ein besseres Leben. ! Eine anthropologische Geschichte des Sports. ! Die Entstehung modernen Sports als Spiegel der indus- Der Sport als gesellschaftlich prägendes Ereignis kann triellen Entwicklung. von der Politik nicht unbeachtet bleiben. Ob da nun Olym- ! Fanatismus im Sport als Indikator für gesellschaftliche pische Spiele zur Demonstration politischer Macht miss- Probleme braucht werden, Siege zum Ausdruck der Überlegenheit ei- ! Nationale Identität durch Sport nes politischen Systems uminterpretiert werden, der natio- ! Paarlauf durch die Jahrhunderte - Sport und Politik bei nale Boykott von Sportveranstaltungen als politisches Aus- Olympia drucksmittel dient oder auf sportlicher Ebene Gesten der ! Hooligans: Gewalttäter im Fußball ! Rassismus und Antirassismus im Sport Dazu ein Methodikteil sowie eine kommentierte Linksamm- 1 Diese angesichts einer Weltbevölkerung von 6 Milliarden absurd lung und Literaturliste. anmutende Zahl kommt dann zustande, wenn für die Fernsehsta- tistik kumulative Zuschauerzahlen herangezogen werden. Das be- deutet: Sieht ein Mensch zwei Fußballspiele der WM, so werden 2 Zuschauer gezählt. 4 2 Geschätzte 500.000 Menschen sind in Österreich ehrenamtlich im Offizielle Seite: http://www.y2004.at/; Hintergrund, Ziele und Sport tätig. Maßnahmen auch unter 3 „Österreichs Sportler sind 6 Milliarden wert“, Kurier am http://europa.eu.int/scadplus/leg/de/lvb/l35008.htm 27.09.2003. 2
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 1. DAS PHÄNOMEN SPORT: ANTHROPOLOGIE, INDUSTRIALISIERUNG, IDENTITÄT Setzt man sich mit den modernen Ausprägungen des dersetzung mit folgenden drei großen Themenbereichen Sports auseinander und will Phänomene wie Nationalismus, ein tieferes Verständnis für den Sport von heute: Gewalt, Medialisierung oder Ökonomisierung verstehen, so ! die Suche nach den anthropologischen Wurzeln des ist es wenig zweckdienlich, einen chronologischen Abriss Sports der Sportgeschichte, beginnend bei den ersten Hoch- ! die Phase der Herausbildung des modernen Sports zu kulturen, zu geben. Vielmehr verspricht die Auseinan- Beginn des 18. Jahrhunderts ! Identitätsbildung durch Sport 1.1. Eine anthropologische Geschichte des Sports Es mag übertrieben erscheinen, sich 1,8 – 1,2 Millionen Der Mensch ist von Natur aus nicht festgelegt, und es Jahre vor unserer Zeit in die Frühsteinzeit, wo das erste bedarf einer großen Lernleistung sich in der Natur durchzu- Auftreten des Menschen angenommen wird5, zu begeben, setzen. Er verfügt frei über seinen Körper, gestaltet sein um die Wurzeln des Sports auszugraben. Jedoch entdecken Verhältnis zur Umwelt, formt die Natur um und schafft sich heute Psychologie und Soziologie zusehends die Grundla- seinen Lebensraum, den Kulturraum. gen modernen menschlichen Verhaltens in den Ursprüngen der humanen Entwicklungsgeschichte. Die Entstehung von Freizeit Im Folgenden sind die wichtigsten Theorien bezüglich (exogene Ursprungsvoraussetzungen) der Ursprünge und Entwicklungsbedingungen des Sports angeführt. Sie schließen einander nicht aus, sondern fügen Die zuvor gegebene Definition von Sport muss einge- sich erst in ihrer Gemeinsamkeit zu einem Erklärungsbild grenzt werden: für sportliches Verhalten zusammen. Sportliche Handlungen sind von den Gesetzen und 1.1.1. Ursprungsvoraussetzung für Sport zweckhaften Bestimmungen der Arbeitswelt freige- setzt. Eine außerhalb der Bewegung liegende Moti- vation tritt in den Hintergrund.9 Das Kulturwesen Mensch (endogene Ursprungsvoraussetzung) Eine sportliche Tätigkeit zeichnet sich also durch die Abwesenheit eines produktiven Sinnes aus. Sie entbehrt ei- An dieser Stelle ist eine erste, sehr allgemeine Defini- ner vitalen Notwendigkeit und wird deutlich von Alltags- tion von Sport notwendig: oder Arbeitshandlungen unterschieden. Sport ist eine bewusste, zielgerichtete, planmäßige, Dementsprechend konnte sich Sport erst entwickeln, als menschliche Tätigkeit.6 es dem Menschen gelang, sich von den äußeren Zwängen und Notwendigkeiten des Lebens zu befreien, und sich ei- Im Menschsein an sich liegt eine der Grundbedingun- nen Lebensbereich der Sicherheit und Zweckfreiheit aufzu- gen für die Entwicklung des Sports. "Er kann seinen Leib bauen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Be- erleben, diesen aber auch bewusst steuern." 7 Erst der herrschung der Natur. Sie gelingt vor allem durch den Mensch, der sich über biologische Instinkte erhebt, der das Gebrauch von Werkzeugen sowie durch die Entwicklung Reiz-Reflex-Schema, dem Tiere unterliegen, verlässt und der Sprache. Tierzucht und Ackerbau ermöglichen eine fähig ist, körperliche Handlungen unabhängig von natür- Produktion, die über dem zur Lebenserhaltung Notwendi- lichen Reizen aktiv zu setzen, ist zu sportlichen Handlungen gen liegt, machen den Menschen unabhängiger von natür- im Stande. lichen Gegebenheiten und geben seinem Leben mehr Si- Das Kulturwesen Mensch bedeutet eine Revolution in cherheit. Unter diesen Lebensumständen steht dem Men- der Evolution. Als Voraussetzungen für diese Revolution schen erstmals Freizeit zur Verfügung. Sie ist frei von können seine fehlende physische Spezialisierung 8 und die Zwängen und somit frei disponibel. Der Mensch kann an rasche Vergrößerung seines Gehirnvolumens angesehen seine Bewegungen neue Motive koppeln. Somit sind die werden: Vorraussetzungen für die Entstehung von Spiel, Fest, Feier, Unterhaltung und in weiterer Folge auch Sport gegeben. 5 SCHRANZ, Peter: Der urgeschichtliche Ursprung des Sports aus 9 nicht-marxistischer Sicht, Wien 1994, S. 3f. ebenda, S. 13f. 6 ebenda, S. 27. 7 ebenda, S. 63. 8 Der Mensch wird bei der Betrachtung einzelner körperlicher Fä- higkeiten immer von einem Tier übertroffen, in ihrer Kombination zeigt sich aber seine große Anpassungsfähigkeit. Nur der Mensch "(...) besitzt die Fähigkeit 1 Meile zu schwimmen, 20 Meilen zu marschieren und auf einen Baum zu klettern." Gleiches gilt auch für die Leistung der Sinnesorgane. (ebenda, S. 27.) 3
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 sie zu bewältigen. Zuerst erfolgte das Training instinktiv, 1.1.2. Entstehungstheorien des Sports später bewusst und irgendwann verlor es seine ursprüngli- Nachdem die Grundvoraussetzungen für die Entwick- chen Funktionen. Es wurde aber weitergeführt und bildet lung von Sport dargestellt wurden, soll nun kurz auf einige die Grundlage des Sports. Entstehungstheorien von Sport eingegangen werden. Die Trainingsfunktion für den Jäger: Sport als die Abfuhr von triebhafter Energie Sie diente der Erhöhung des Jagderfolges, verlor aber durch Arbeitsteilung und verbesserte Jagdmethoden an Be- Der Übergang vom Tier zum Menschen wird unter an- deutung. Die Bewegungsformen der Jagd wurden weiterhin derem in der Dominanz kultureller Einflüsse gegenüber symbolisch gepflegt und zu Ritualen der Erholung umfunk- triebhaftem Verhalten angesehen. Die Triebe als Relikte tioniert. der tierischen Vergangenheit des Menschen verloren zwar Die militärische Funktion: im Laufe der Evolution ihre ursprüngliche Funktion der Ü- Als Vorbereitungen des Menschen für den Kriegseinsatz berlebenssicherung, bildeten sich aber nicht völlig zurück. wurden die körperliche Leistungsfähigkeit und der ge- Es entwickelt sich der Sport als eine Art Ventil, um die auf- konnte Umgang mit den Waffen trainiert. Durch waffen- gestaute Triebenergie zu befriedigen.10 technischen Fortschritt trat die körperliche Komponente im Kampf in den Hintergrund. Der Spieltrieb: Die gesundheitliche Funktion: Sein biologischer Zweck liegt darin, dass sich Heran- Sie ist lediglich ein Nebenprodukt des Trainings zu Mili- wachsende mit der Umwelt auseinandersetzen und mit ihr tär- und Jagdzwecken und vom Menschen der Urzeit nur experimentieren bzw. das Verhalten der Erwachsenen instinktiv geahnt. Physische Gesundheit war für das Über- nachahmen. 11 Aus der bloßen Nachahmung wurde zuerst leben des Individuums sowie den Bestand der Gruppe eine bewusste Vorübung und später, durch das Hinzukommen wichtige Vorraussetzung. von komplexen Regeln, das gesellschaftliche Ereignis Spiel. Die Sozialisationsfunktion: In Verbindung mit dem Bewegungstrieb und den kultischen Sie stellt ein Nebenprodukt körperlicher Ertüchtigung Wettkämpfen konnte sich so etwas Neues wie Sport entwi- dar und wurde erst später bewusst. Wer bei der Jagd er- ckeln. folgreich war und sich gegen Rivalen behauptete, steigerte Der Bewegungstrieb: sein Ansehen in der Gruppe und kletterte auf der Leiter der Er stellt eine fundamentale Voraussetzung für alle Vor- sozialen Hierarchie nach oben. formen des Sports (Spiel, Tanz, Körperübungen) dar. Auch wenn der Trieb seine Funktion für die erfolgreiche Jagd Das Kultische als Ursprung des Sports verloren hat, bleibt er bestehen, und der Antriebsüber- schuss muss durch körperliche Belastung abgeführt wer- Solange der Mensch den Naturkräften ausgeliefert war den.12 und über keine rationalen Erklärungen verfügte, führte er Der Aggressions- oder Angriffstrieb: sie auf höhere Mächte zurück. Diese Mächte günstig zu Seine Funktion war es einerseits, sich ein ausreichend stimmen, war die Aufgabe kultischer Handlungen. Einen großes Revier zu erobern und zu sichern und andererseits, Teil davon machen kultische Wettkämpfe und Tänze aus. in Rivalenkämpfen die Stärksten zu ermitteln. Demuts- Ihr Ziel war es, etwas zu opfern (den Teil körperlicher E- gesten verhinderten, dass Artgenossen schwer verletzt o- nergie, der nicht für die Lebenserhaltung nötig war; einen der getötet wurden. Sie konnten allerdings nicht mit der Teil der Beute) um dadurch etwas zu gewinnen (z.B. Jagd- raschen Kulturentwicklung des Menschen Schritt halten, glück, günstiges Wetter). Gleiches erfährt der Sportler, der und der waffentechnische Fortschritt machte sie nutzlos. Es ein entbehrungsreiches Training auf sich nimmt um zu ge- entwickelte sich der Wettkampfsport mit Regeln und Ritua- winnen. len, um den Aggressionstrieb gefahrlos entladen zu kön- Kultische Spiele symbolisierten das Ringen von Gut und nen. Böse, kultische Wettkämpfe hatten Initiationsfunktion und dienten der "göttlichen" Auswahl eines Siegers. Indem sie Sport als Mittel der Lebenserhaltung körperlichen Bewegungen eine neue, symbolische Qualität gaben, bilden sie einen wesentlichen Einflussfaktor in der Die Sportentstehung wird hier auf externe Faktoren zu- Entstehungsgeschichte des Sports. rückgeführt. Der Mensch der Urzeit wird von der Umwelt vor allem mit physischen Herausforderungen konfrontiert Zusammengefasst: und körperliches Training stellt ein wichtiges Mittel dar, um Der Ursprung des Sports kann an keinen konkreten Zeitpunkt oder Ort festgemacht werden und unterliegt auch keiner linearen Entwicklung vom Primitiven zum Kom- 10 ebenda, S. 70. plexen. Sport hat sich im diffusen Übergangsfeld vom Na- 11 Im beständigen spielerischen Training der Heranwachsenden tur- zum Kulturmenschen entwickelt. Indem Triebe, Spiel, kann ein Ursprung für einen wesentlichen Bereich des Sports, die Tanz und kultische Wettkämpfe ihre Funktion der Überle- Leibeserziehung gesehen werden. benssicherung verloren, wurden sie zum Nährboden für die 12 Heute z.B. der Fall bei Kindern, die den halben Tag sitzend in Entwicklung von Sport und finden darin noch heute ihren der Schule verbringen oder bei Erwachsenen, deren Arbeit keine Ausdruck. physische Belastung erfordert. 4
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 1.2. Die Entstehung modernen Sports als Spiegel der industriellen Entwicklung Trotz der vielfältigen Ursprungstheorien des Sports ist Diese stabilen Rahmenbedingungen ermöglichten es man noch weit davon entfernt, Sport in seinen heutigen auch, dass Leistungen unabhängig voneinander überboten Ausprägungen zu verstehen. Seine zunehmende Medialisie- werden konnten. Der Sport verlor seine Bedeutung als viel rung und Professionalisierung, die Dominanz des Ökonomi- bestauntes aber singuläres Ereignis (z.B. die Bewältigung schen, seine politische Instrumentalisierung und das Stre- von großen Strecken zu Fuß oder zu Pferd) und der Grund- ben nach neuen Rekorden, das alles lässt sich erst er- stein für das Interesse an Rekorden15 war gelegt. klären, wenn man sich dem Beginn des modernen Sports zur Zeit der Industrialisierung in England zuwendet. 1.2.3. Leistungsprinzip, Konkurrenzprinzip, Gleichheitsprinzip 1.2.1. Voraussetzungen Zunächst waren die beiden Prinzipien Leistung und Noch bevor sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- Konkurrenz für die Anfänge modernen Sports charakteris- derts die gesellschaftlichen Auswirkungen der In- tisch. So wie sich die Menschen mit ihrer Arbeitskraft die- dustrialisierung zeigten, gab es bereits zu Beginn des Jahr- sen Prinzipien im Zuge der Industrialisierung unterwerfen hunderts wesentliche soziale Umbrüche in England, die das mussten, garantierten sie im Sport das Spannungselement. Aufstreben des Sports begünstigten. Jedoch fehlte noch etwas: Als 1649 der radikale und militante Protestantismus un- Es liegt in der Natur der Höchstleistung, dass sie als ter der Führung von Oliver Cromwell und den Puritanern an solche nur gelten kann, wenn niemand von der Teilnahme die politische Macht kommt, wird einerseits der geistige an sportlichen Wettkämpfen ausgeschlossen wird. Wer und soziale Grundstein für die Industriegesellschaft gelegt, könnte sich sonst sicher sein, dass es nicht jemanden gibt, die die Entwicklung des modernen Sports als Massenphä- der eine bessere Leistung zu erbringen im Stande gewesen nomen und willkommene Ablenkung von den Mühen des wäre. Daher setzte sich ein drittes Prinzip im Sport durch: neuen Arbeitslebens begründete. Andererseits aber lässt das Gleichheitsprinzip. der Puritanismus neben der Arbeit und dem Gebet keinen Platz für Sport und Spiel und so traten erst nach der Res- "Auf dem Rasen und unter dem Rasen sind alle tauration von 1660 unter Karl II die sportlichen Spiele als Menschen gleich."16 Volksbelustigung wieder hervor.13 Der moderne Sport zeichnete sich gegenüber seinen 1.2.2. Wett-Kampf kommt von Wetten Vorformen also durch die fehlende soziale Exklusivität aus.17 Im Prinzip konnte jeder teilnehmen, denn nur so ver- Rationalisierung, Methodifizierung und Regulierung sind diente eine Leistung die Bezeichnung Rekord und nur so kennzeichnend für die Industrialisierung und charakteri- konnte der Sieger eines Konkurrenzkampfes tatsächlich als sieren einfach und knapp die neuen herrschenden Werte der Beste gelten. 18 Dass praktisch nicht jeder Bürger die des wirtschaftlichen Erfolges. Dass sie auch für die Heraus- gleichen Möglichkeiten hatte, an Wettkämpfen teilzuneh- bildung des modernen Sports maßgebend wurden, ist der men oder gar sich darauf vorzubereiten, ist wenig überra- Wettleidenschaft der Engländer zuzuschreiben. schend und spiegelt nur die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder. Französische Revolution (1789 – 1792) und ameri- Damit auch der Sport Gegenstand des Wettens werden kanische Unabhängigkeitserklärung (1776) haben zwar der kann, bedarf es klarer Rahmenbedingungen. Leistungen Diskriminierung die rechtliche Grundlage entzogen, sie müssen gemessen werden und es muss darüber hinaus bleibt aber in der sozialen Realität weiter bestehen. vorher durch Regeln festgelegt werden, wer im Falle eines Vergleichskampfes der Sieger ist. Nur unter diesen Voraus- setzungen macht Wetten Sinn und erhält Sport sein wich- Boxen als Ausdruck einer neuen tigstes Moment: die Spannung. Gesellschaftsordnung Der technische Fortschritt der Industrialisierung liefert Ein besonders eindrucksvolles Dokument für die Durch- dazu die nötigen Werkzeuge. So tickten in England bereits setzung des Gleichheitsprinzips liefert das Aufkommen des 1731 die ersten Stoppuhren und die "matches against Boxens, das sich ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, ausge- time" erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Unter festge- hend von England, immer größerer Beliebtheit erfreut. legten, reproduzierbaren Bedingungen und mittels genauer Zwar hat das Boxen sich ursprünglich aus dem Ringen Messwerkzeuge wurden Leistungen quantifizierbar. entwickelt, übernahm aber zusehends die Funktion des Du- Außerdem ging man dazu über, Rennen auf kürzeren ells. Galt es zuvor als Privileg der Adeligen, eine Fechtwaffe Strecken und auf abgesteckten und normierten Bahnen ab- tragen zu dürfen, und konnten nur sie ihre Ehre durch ein zuhalten, was eine leichtere Vergleichbarkeit und Nachvoll- ziehbarkeit der Leistungen garantierte. Der Konkur- geneinander antreten zu lassen und auf den Ausgang zu wetten. renzkampf wurde übersichtlich, wodurch er vom Publikum (ebenda, S. 18.) verfolgt werden konnte. Damit wird das Zuschau- 15 Rekord: "Ursprünglich meint ‚record' eine gerichtliche Urkunde erphänomen im Sport begründet.14 mit unumstößlicher Beweiskraft." Das Wort wird im Zusammen- hang mit Sport erst 1883 erwähnt. (ebenda, S. 17.) 16 BOGENG, Gustav Adolf Erich: Geschichte des Sports aller Zeiten und Völker, 2 Bde., Leipzig 1926, Bd. II., zitiert nach: KROKOV, 13 KROKOV, Christian Graf von: Sport, Gesellschaft, Politik, Mün- 1980, S. 20. chen 1980, S. 14. 17 KROKOV, 1980, S. 20. 14 So war es besonders beliebt, die "footmen" (sie begleiteten die 18 Dass in der deutschen Turnbewegung des 19. und 20. Jahrhun- Kalesche des Herrn zu Fuß und eilten voraus in die Städte, um derts, die sich durch Nationalismus und Rassismus auszeichnete, dessen Ankunft anzukündigen) von Adeligen im Wettkampf ge- der Rekordgedanke abgelehnt wurde, erscheint in diesem Zusam- menhang nur logisch. 5
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 Waffenduell verteidigen, wurde jetzt der Faustkampf zum sichtbar macht, so ist die Aufhebung von ständischen Privi- offiziellen Austragungsmittel von Meinungsverschiedenhei- legien, von Leibeigenschaft und Sklaverei Bedingung für ten. Der Kampf mit den bloßen Fäusten bedeutete auch die Mobilität und Dynamik der Industriegesellschaft, die das Sprengen der Ständeschranken, denn nun war es je- neuartige Rangordnungen eines Klassen- oder Schichten- dem Menschen, unabhängig von seiner Herkunft, gleicher- systems entstehen läßt."22 maßen möglich, jemand anderen herauszufordern. Der Genauso wie sich im Zuge der Industrialisierung das symbolische Ausdruck für die Gleichheit in der Auseinan- Leistungsprinzip als treibende ökonomische Kraft durch- dersetzung lag im alleinigen Gebrauch der bloßen Fäuste setzte und Menschen zu wirtschaftlichen Gewinnern oder als "Waffe". Degen, Perücke, Halstuch und Handschuhe, Verlierern machte, entwickelte sich der Leistungssport, wo die Zeichen adeliger Herkunft, wurden von einem Adeligen man nach genauen Messungen Ranglisten erstellt und e- bei einem Duell mit jemand aus einer unteren Gesell- benso Sieger und Verlierer unterschieden werden. schaftsschicht demonstrativ abgelegt. Beide befinden sich Im Zusammenhang mit Leistung gewinnt eine psycholo- damit auf derselben Stufe, zumindest für die Zeit der Aus- gische Komponente zunehmend an Bedeutung: Motivation. einandersetzung.19 Weil Arbeitsleistung Motivation erfordert und direkte Im Verlaufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ver- Gewalt im hochgradig arbeitsteiligen Gesamtprozess dafür schwand das Degentragen in der Öffentlichkeit weitge- wenig geeignet ist, muss Arbeitsmotivation zusehends ins hend.20 Innere des Menschen verlegt werden. Freilich glichen die ersten Fabriksorganisationen noch der Sklaverei, aber in 1.2.4. Spezialisierung und Disziplin(en) im Sport einem langen Prozess über Jahrhunderte hielten Demo- Die radikalen Umwälzungen der Gesellschaft durch die kratisierung und Selbstbestimmung Einzug in die Arbeits- rasch voranschreitende Industrialisierung spiegeln sich welt, gaben der Arbeit einen Sinn und dem Menschen ei- auch in der Veränderung des Sports wider. nen freiwilligen Antrieb zur Leistung. 23 Auch in der Welt So hält Arbeitsteilung durch Spezialisierung nicht nur in des Profisports wächst die Bedeutung des Motivation und der Arbeitswelt Einzug, sondern werden auch für den Sport kommt ihr heute eine zentrale Bedeutung zu, wenn es dar- charakteristisch. Gab es in den Anfängen modernen Sports um geht, im täglichen harten Training sich zu überwinden bloß allgemein "Sportsmänner", so entwickelten sich durch und im Wettkampf an seine Leistungsgrenze zu gehen. die Herausbildung von immer mehr Sportarten Spezialisten. 1.2.6. Rekordstreben im Sport wie in der Wirt- Zuerst war man einfach Sportler, dann z.B. Leichtathlet, schaft Boxer oder Schwimmer, differenzierte sich weiter nach Läu- fer oder Springer, Krauler oder Brustschwimmer und am Das Leistungsprinzip wurde aber weiter auf die Spitze Ende der Entwicklung stand der Spezialist für eine be- getrieben. Der unerschütterliche Fortschrittsglaube der In- stimmte Distanz (Kurzstreckenläufer oder Marathonläufer, dustrialisierung und des Kapitalismus, dass jede Leistung Kraulschwimmer über eine kurze oder lange Distanz). verbessert werden kann, dass sich Produktion immer weiter Mit der Spezialisierung wuchs auch die Bedeutung des rationalisieren lässt und der Wohlstand sich stetig vergrö- Trainings als gezielte Vorbereitung auf den Wettkampf. Will ßert, drückt sich in der Suche nach Rekorden aus. Die Best- man sportlich zur Spitze vorstoßen, so muss man Ent- leistung wird zum alles überstrahlenden Höhepunkt des behrungen auf sich nehmen. Genauso wie das harte Trai- Sports. Einen Wettkampf zu gewinnen, ist bewunderns- ning im Sport wird auch die harte Arbeit in der neuen Welt wert, aber eine Leistung zu erbringen, die noch nie ein der Industrialisierung unabdingbar, um "mithalten" zu kön- Mensch zuvor erbracht hat, stellt die Krönung des sportli- nen. Es ist daher nicht zufällig, dass Sportarten Disziplinen chen Erfolgs dar. Jeder Weltrekord beweist der Menschheit, genannt werden. "Der Sport ist Ausdruck und Mittel der dass sie ihre Grenzen noch nicht erreicht hat, nährt die Selbstdisziplinierung."21 Hoffnung nach weiteren Rekorden und beweist: Wir verbessern uns stetig und schreiten weiter voran. 1.2.5. Eine neue Ungleichheit Das Leistungsprinzip wird zum bestimmenden Faktor Heute treibt dieser Fortschrittsglaube sowohl in der für den Erfolg und die daraus resultierende neue Ungleich- Welt der Wirtschaft als auch im Sport seltsame Blüten. Da heit spiegelt sich sowohl in der Welt der Arbeit als auch in wie dort fordert die Leistungssteigerung ihren Preis: Da Ra- jener des Sportes wider. tionalisierung und Gewinnmaximierung auf Kosten von so- "Wie die Gleichheit im Sport durch Wettkampf und Leis- zialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung, dort ein tungsvergleich Rangordnungen erst möglich und allgemein Körper als Experimentierfeld von Medizin und Chemie, un- geachtet gesundheitlicher Langzeitschäden und der fatalen Vorbildwirkung. Die kritischen Stimmen in beiden Lagern werden immer 19 KLÖREN, Maria: Sport und Rekord – Kultursoziologische Unter- lauter. So wie im Sport ein Verzicht auf die Rekordjagd 24 suchungen zum England des sechzehnten bis achtzehnten Jahr- und eine Rückbesinnung auf den einfachen Sieg gefordert hunderts, Kölner Anglistische Arbeiten, hrsg. von H. Schöffler, 23. wird, soll die Wirtschaft von ihrem Prinzip der Profitmaxi- Bd., Leipzig 1935, zitiert nach: KROKOV, 1980, S. 25. 20 An dieser Stelle ist es interessant, auf die gegenläufige Entwick- lung in Amerika zu blicken. Während in England die Gleichheit durch die allgemeine Entwaffnung hergestellt wird, geschieht dort, 22 ebenda, S. 27. wo sich keine Aristokratie entwickelte, das Gegenteil und die 23 ebenda, S. 35f. Gleichheit findet darin Ausdruck, dass jedem das Tragen einer 24 Beim Schifliegen gibt es offiziell keine Weltrekorde mehr; kürz- Waffe erlaubt wird. So heißt es in Artikel II der Verfassungsergän- lich forderte ein skandinavischer Sportfunktionär, bestehende zung: "Das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, Weltrekorde der Leichtathletik, die in den 1980er und 1990er Jah- darf nicht beeinträchtigt werden." (zitiert nach: KROKOV, 1980, S. ren aufgestellt wurden, zu annullieren, weil viele nur mit Doping 26.) 21 zustande gekommen sein können. KROKOV, 1980, S. 44. 6
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 mierung zugunsten sozialer Fairness und des Um- "Der Sport emanzipiert sich aus Ständeschranken, weltschutzes abrücken. religiösen Ordnungen (...) und anderen traditionel- 1.2.7. Sport als eigene Welt in der Welt len Bindungen. Er konstituiert sich als ein Eigenbe- reich, ausgegrenzt aus sportfremden Normierungen Neben diesen Gemeinsamkeiten in der Entwicklung des durch die Geltung seiner nur sportspezifischen Re- modernen Sports und der fortschreitenden Industriali- gelungen."27 sierung bildet sich auch ein schroffer Gegensatz aus. Zu den beschriebenen drei Prinzipien Leistung, Konkurrenz Abschließend seien jene 7 Merkmale28 angeführt, die in und Gleichheit des Sports gesellt sich ein viertes: "Welt- ihrer Gesamtheit (im Einzelnen mögen sie schon früher ausgrenzung auf Zeit."25 aufgetreten sein) den modernen Sport von seinen Vorläu- Der Sport grenzt sich in vielen Aspekten deutlich vom fern unterscheiden: Alltag des Lebens ab und konstituiert sich als eigenständige ! Weltlichkeit: der sportliche Wettkampf löst sich von kul- Welt. tischen und religiösen Zwecken Merkmale für die Abgrenzung des Sports vom Alltag ! Chancengleichheit: es gehört der Vergangenheit an, sind: dass nur Angehörige der Herrscherschicht Sport betreiben ! im räumlichen Sinne die Abgrenzungen des Spielplatzes dürfen bzw. im Wettkampf keine Regeln für eine ausge- oder der Wettkampfstätte durch sichtbare Linien und Mar- glichene Ausgangsposition existierten29 kierungen. ! Spezialisierung: es entstehen immer mehr Sportarten ! im zeitlichen Sinne die vorgegebene Spielzeit oder die mit verschiedenen Disziplinen; Stoppuhr.26 ! Rationalisierung: exakte Regeln werden aufgestellt und ! ein überschaubares Reglement verleiht jedem dieselbe für die SportlerInnen verbindlich; Ausgangsposition auf dem Weg zum Sieg. ! Bürokratisierung: es bilden sich Vereine, Verbände und Organisationen, um den Sport zu organisieren; Indem der Sport sich auf einen überschaubaren Raum ! Quantifizierung: sportliche Leistungen werden exakt innerhalb zeitlicher Grenzen beschränkt, enthebt er sich gemessen und dokumentiert; den alltäglichen Räumen und Zeitabläufen. Er stellt ein ge- ! Suche nach Rekorden: während die Griechen kein In- genwärtiges Ereignis dar und lässt die Mühsal des alltägli- teresse daran hatten, sportliche Leistungen zu standardisie- chen Lebens, das immer auf eine ungewisse und sorgen- ren, ist heute die Suche nach Weltrekorden zu einem der volle Zukunft ausgerichtet ist, vergessen. Der abwertende größten Spannungsmomente im Sport geworden.30 Begriff des "Zeitvertreibs" erfährt hier seine tiefere Bedeu- tung. 27 ebenda, S. 131. Sport schafft eine Welt, vergleichbar mit dem Film, die 28 GUTTMANN, Allen: Vom Ritual zum Rekord: Das Wesen des mo- das Leben verdichtet und bereits nach kurzer Zeit (z.B. im dernen Sports, 1979. zitiert nach: LAMPRECHT, Markus/ STAMM, Fußball nach 90 Minuten) Verlierer und Sieger produziert. Hanspeter: Sport zwischen Kultur, Kult und Kommerz, Zürich 2002, Das reale Leben ist jedoch von Ungewissheit bestimmt, S. 13. und es braucht oft Jahre, bis sich entscheidet, ob ein ein- 29 Bei römischen Gladiatorenspielen kämpften Riesen gegen Zwer- geschlagener Weg der richtige war. ge, Schwertkämpfer gegen Dreizackträger; in Griechenland gab es im Ringen keine Gewichtsklassen; im Mittelalter war die Teilnahme Zusammengefasst gilt für den modernen Sport: an Turnieren den Rittern vorbehalten; die Adeligen vergnügten sich bei Ballspielen, die dem gemeinen Volk per Dekret verboten waren; 30 LAMPRECHT/STAMM, 2002, S. 13ff. 25 KROKOV, 1980, S. 39. 26 ebenda, S. 38. 1.3. Identifikation und Identität durch Sport Bis jetzt wurden die anthropologischen Wurzeln des werden EinzelsportlerInnen oder Mannschaften als Reprä- Sports sowie die Grundzüge des modernen Sports nachge- sentant einer ganzen Gesellschaftsschicht, Region oder Na- zeichnet. Damit ist eine Basis für das Verständnis des Phä- tion verehrt. Eine Fußballmannschaft wird zum Symbol der nomens Sport geschaffen. Warum Sport in den letzten Arbeiterklasse oder der weltweit erfolgreiche Tennisprofi Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts einen globalen aus Südamerika zum Hoffnungsträger für Millionen, den Siegeszug über alle Kontinente und Kulturkreise hinweg an- Slums - genauso wie es den sportlichen Idole gelungen trat und zusehends zu einem politischen und ökonomischen ist - entfliehen zu können. Instrument wurde, lässt sich jedoch noch nicht schlüssig Wer einen sportlichen Wettkampf um des Sports Willen ableiten. verfolgt, gilt nur bedingt als Sportfan. Fan sein bedeutet, Worin liegen die Ursachen, dass Sport Menschen emo- sich TeilnehmerInnen der Auseinandersetzung verbunden tional so stark zu binden vermag und für viele die wichtigs- zu fühlen, ihnen den Sieg zu gönnen. Aus dieser Identifika- te Nebensache der Welt oder mehr ist? tion erwächst schließlich auch das für Sport so wesentliche Moment der Spannung. Zuschauersport bedeutet Identifikation Worauf das Phänomen der Identifikation im Sport be- Im selben Maße wie Sport der alltäglichen Realität ent- ruht, wurde bereits am Ende des vorangegangenen Kapi- rückt ist, sorgt er für ein Zusammengehörigkeitsgefühl. So tels angedeutet: 7
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 Sport stellt eine in sich geschlossene, eigene Welt in Hat der Sport als Identifikationsfaktor seinen Ursprung der Welt dar. Er hebt sich räumlich und zeitlich aus dem in der Industrialisierung, als das Leben der Menschen Kontext des Alltags heraus und ermöglicht den Zuschaue- grundlegenden Umwälzungen unterworfen war, so erhält rInnen, ihren sozialen Status, ihre Sorgen und Ängste zu er heute einen zusätzlichen Bedeutungsschub. vergessen und vorübergehend eine neue, gemeinsame I- Unter dem Schlagwort der Globalisierung wachsen Na- dentität anzunehmen. "Identität entsteht dort, wo Grenzen tionalstaaten großer Regionen oder ganzer Kontinente zu gezogen werden. (...). Wenn mehrere Individuen sich auf einer wirtschaftlichen und/oder politischen Einheit zu- eine gemeinsame Grenzziehung einlassen, entsteht kollek- sammen, die Politik gibt ihre Macht zusehends an transna- tive Identität." 31 Dort wo also Übereinstimmung zwischen tionale Wirtschaftskonzerne ab und kulturelle Identitäten Menschen hinsichtlich gewisser Eigenschaften herrscht, verschwimmen. konstituiert sich eine Gemeinschaft. Die Gemeinsamkeit Gewohnte Grenzen und Strukturen lösen sich auf, die kann vielfältig sein und auf Religion, Geschichte, sozialer Menschen stehen vor neuen Herausforderungen und Orien- Herkunft, kulturellen oder räumlichen Abgrenzungen beru- tierungshilfen sind notwendiger denn je. Die Identität im hen. Sport bietet "(…) stabile unüberbietbare und unhinter- fragbare Bezugspunkte in einer Gesellschaft, deren Gren- Sportmannschaften funktionieren in idealer Weise als zen in Bewegung geraten sind".32 Sie "(..) soll die Funktion Identitätsträger, denn bereits die Mannschaft an sich ver- übernehmen, durch die Moderne ausgelöste Verunsiche- langt es, dass mehrere Menschen sich zu einer Gemein- rungen zu kompensieren. (...) Diese Form der Identitätsbil- samkeit bekennen und eine Einheit bilden. dung erfolgt in erster Linie durch Grenzziehungen, also Prominente Beispiele aus dem Fußball: durch Exklusion. Grenzen wirken Sinn gebend und stellen ! In Schottland gilt Celtic Glasgow als der Fußballverein die gewünschte Sicherheit her."33 der KatholikInnen, die Glasgow Rangers als jener der Pro- Wo in der Realität sich wirtschaftliche, kulturelle und testantInnen. politische Grenzen zusehends auflösen, übernimmt der ! Die Fußballklubs Dortmund bzw. Schalke 04 sind die Sport mit seinen klaren räumlichen und zeitlichen Grenzen beiden größten Vereine im deutschen Ruhrpott und gelten sowie Regeln die Rolle eines mentalen Grenzziehers. dementsprechend als "die" Repräsentanten der Berg- und Er stellt einen ersehnten Gegenpol zum unberechenba- KohlearbeiterInnen. ren Leben dar. ! In Spanien ist der FC Barcelona das Symbol kataloni- scher Unabhängigkeit. Zur Zeit der Franco-Diktatur stellte "Wir leben (…) in einer Welt, aus der die Grenzen der Verein das Zentrum des separatistischen Widerstandes verschwinden. (…) Im globalen Dorf herrscht das dar. Noch heute ist der spanische Fußball von der be- babylonische Stimmengewirr, das die Spezialisie- sonderen Rivalität zwischen dem königlichen Klub Real rung mit sich bringt. Immer weniger Leute verste- Madrid (als Symbol der nationalen Zentralmacht) und dem hen einander. (…) Es gibt einen Ausnahmebereich FC Barcelona geprägt. und im Grunde nur diesen: den Sport. (…) Die Spra- ! Der Fußballverein Athletico Bilbao aus dem baskischen che des Sports schlägt uns in ihren Bann, weil sie Teil Spaniens bietet dafür ein drastisches Beispiel. Das raffiniert einfach ist. Jeder kann sie ohne Vorbildung Streben des Baskenlandes nach Unabhängigkeit und verstehen. (…) Wir sehen und verstehen die Freu- Selbstbestimmung findet im Verein darin Ausdruck, dass dentänze der Sieger wie die Tränen der Verlierer, ausschließlich Spieler mit baskischer Herkunft in der Mann- und wir fühlen mit ihnen."34 schaft stehen. Die separatistischen Tendenzen einer gan- zen Region spiegeln sich in der Mannschaftsaufstellung wieder. Der sportliche Nachteil, den der Verein durch die Beschränkung bei der Spielerauswahl in Kauf nimmt, wirkt 32 GIESEN, Bernhard: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und märtyrerhaft und verstärkt zusätzlich seine symbolhafte die Nation 2, Franfurt a. M. 1999. zitiert nach: DOLIC, in: LÖSCHE, Rolle. 2002, S. 158. 33 DOLIC, in: LÖSCHE, 2002, S. 158. 34 KROKOV, in: Die Zeit am 19.07.1996. 31 DOLIC, Dubravok: Die Fußballnationalmannschaft als "Trägerin nationaler Würde"? Zum Verhältnis von Fußball und nationaler I- dentität in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, in: LÖSCHE, Pe- ter/RUGE, Undine/STOLZ, Klaus (Hrg.): Fußballwelten. Zum Ver- hältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Opladen 2002, S. 157. 8
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 2. SPORT ALS BRENNGLAS GESELLSCHAFTLICHER UND POLITISCHER ENTWICKLUNGEN 2.1. Fanatismus im Sport als Indikator für gesellschaftliche Probleme Das Bedürfnis nach Identifikation ist nicht immer und agierende Konzerne bzw. westliche Regierungen die Ent- überall gleich, sondern hängt vom Grad der Verunsiche- scheidungen der Politik. Wenn die Unzulänglichkeiten der rung, Bedrohung oder Krise einer Gesellschaft ab.35 In Län- eigenen Nation zu einem international omnipräsenten Ma- dern mit unsicherer politischer Lage oder wirtschaftlicher kel werden, die kulturellen Traditionen sich langsam auflö- Rückständigkeit ist das Bedürfnis nach demonstrativer sen und die eigene Lebenssituation immer unerträglicher Stärke nach außen und innen und nach einfachen aber kla- wird, bleibt der Sport, ein positives Selbstwertgefühl zu er- ren Grenzen besonders groß. zeugen und die Nation in der Welt erfolgreich zu präsentie- Die Welt des Sports als Identifikationsraum erhält dabei ren. Innerhalb eines Landes gilt ähnliches für kleinere ihre besondere Bedeutung. Sie soll repräsentieren, was in räumliche Einheiten wie Region, Stadt oder Dorf: über den der Realität nicht existiert: eine starke, geschlossene Ge- Erfolg im Sport lassen sich Identitäten aufbauen und das sellschaft. So werden international erfolgreiche Mannschaf- Selbstwertgefühl steigern. ten oder EinzelsportlerInnen zu beinahe religiös verehrten Erfolgreiche SportlerInnen werden zur symbolisierten HeldInnen. Hoffnung unzähliger Menschen, dass es trotz der widrigen Lebensumstände möglich ist, es "zu etwas zu bringen". In Nationen mit fortschrittlicher Wirtschaftsentwicklung Als Beispiele seien hierfür angeführt: und stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen verliert der Sport dagegen sehr rasch an Bedeutung, wenn die Erfolge Nach dem Gewinn der letzten Fußballweltmeister- ausbleiben. Die nationale Identifikation stößt hier im Ver- schaft läuteten in ganz Brasilien die Kirchenglocken lauf wiederholter Niederlagen an ihre Grenzen und schlägt und es wurde tagelang ausgelassen gefeiert. Und in Distanziertheit um. So zum Beispiel beim Fußball in wer soll es ihnen verdenken: Wo sonst könnten die Deutschland: "Nach zwei schwachen WM-Turnieren der BrasilianerInnen behaupten, die Weltbesten zu sein. deutschen Mannschaft 1994 und 1998 sowie mühseligen Spielen seitdem ist die Begeisterung für die Nationalmann- Der Unfalltod des Formel-1-Fahrer Ayrton Senna schaft deutlich abgeflaut."36 Wo weitgehend soziale Sicher- löste in Brasilien eine nationale Trauer aus und noch heit und gesellschaftlicher Konsens herrschen, fehlt dem heute wird seiner heiligenähnlich gedacht. Sport - zumindest in seinen fanatischen Zügen - die Funkti- on der Kompensation oder Demonstration. Ein besonders beeindruckendes Ergebnis, wie Siege Was aber auch hier und vor allem für Jugendliche gilt: bzw. Niederlagen auf das Leben der AnhängerInnen zu- Wer am Rande der Gesellschaft steht, wessen Leben von rückwirken, lieferte eine Untersuchung in Brasilien: In Sao Arbeitslosigkeit geprägt ist und wer sich unverstanden Paulo steigt nach Siegen einer besonders populären Fuß- fühlt, wird vom Fan leicht zum Fanatiker. ballmannschaft die Produktivität um 12,4% während nach einer Niederlage die Arbeitsunfälle um 15,3% zunehmen.38 Das Beispiel Brasilien oder: Die Hoffnung vom bes- Hier kann nicht mehr vom Sport als wichtigste Neben- seren Leben sache im Leben gesprochen werden. Sport macht den ei- gentlichen Sinn des Lebens aus. In Südamerika ist die Hingabe insbesondere zum Fuß- ballsport von besonderer Leidenschaft geprägt. Es mag hier Sport im Irak: "Seelentherapie im Trümmerfeld"39 auch ein im Allgemeinen emotionaler Ausdruck der Kultur ein Rolle spielen, besonders bedeutend sind aber die sozio- Dass Sport oft die letzte Konstante in einer aus den Fu- ökonomischen Faktoren:37 gen geratenen Welt darstellt, beweist das aktuelle Beispiel Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt in bitterer Irak. Er vermittelt den Menschen im Irak ein Wir-Gefühl, Armut. Der Alltag vieler Menschen ist von Arbeitslosigkeit, ein Gefühl der nationale Identität und der Heimat, lenkt Hunger, Krankheiten, Hoffnungslosigkeit geprägt. Nicht von der Not des Alltags ab und trägt zum Aufbau eines po- nur, dass ihre Länder tatsächlich wirtschaftliche Ent- sitiven Selbstwertgefühls bei. wicklungsrückstände aufweisen und Korruption an der Ta- Bei den ersten drei Auftritten der irakischen Basketball- gesordnung steht: Die hohe Auslandsverschuldung macht nationalmannschaft nach Kriegsende setzte es zwei deutli- sie zu BefehlsempfängerInnen internationaler Wirt- che Niederlagen, was aber keine besondere Rolle spielte. schaftsinstitutionen und hinter den Kulissen diktieren global Kommentar eines Spielers: "Aber das zählt nicht, wichtig ist, dass wir wieder spielen." 35 vgl. DOLIC, in: LÖSCHE, Opladen 2002, S. 158f. 36 KNOCH, Habbo: Gemeinschaft auf Zeit. Fußball und die Trans- 38 formation des Nationalen in Deutschland und England. in: LÜSCHEN Günther/WEIS Kurt(Hrsg.): Die Soziologie des Sports, LÖSCHE, Opladen 2002, S. 132. Darmstadt/Neuwied 1976, zitiert nach: KROKOV, München 1980, 37 vgl. KÜFLER Andrea: Zuschaueraggressionen im Sport, Wien S. 111. 39 1991, S. 89ff. Kurier am 10.09.2003. 9
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 Besonders der Fußball soll den Irak wieder auf der in- "Der Sport dient derweil als kleinster gemeinsamer ternationalen Bühne präsentieren. 80.000 Bälle wurden ins Nenner, als Katalysator eines möglichen neuen Ein- Land geschickt und an Klubs und Kinder verteilt. "Die Leute heitsgedankens, als Stabilisator einer destabili- wollen Plätze und Bälle, sie wollen spielen, um ihre Prob- sierten Region."40 leme zu vergessen" meint der ehemalige irakische Team- chef. Und Ende Juni verlor eine GI-Auswahl gegen das ira- kische Team 0:11. Wohl nur ein kleiner Trost für ein zer- störtes Land und leidgeprüfte Menschen und trotzdem: ein 40 Sieg mit Symbolwert und ein Hoffnungsschimmer. Kurier am 10.09.2003. 2.2. Nationale Identität durch Sport Egal ob die Globalisierung Identifikationsmöglichkeiten "wir". Im Moment des Sieges "haben wir es geschafft". Al- assimiliert und die Nation als kulturelles Konstrukt sich zu- le, die sich von einer Mannschaft oder EinzelsportlerIn rep- sehends auflöst oder Kriege die politische Existenz eines räsentiert fühlen, bilden eine Gemeinschaft. Landes gefährden: Die Menschen versuchen in einer Ge- genbewegung ihre nationale oder kulturelle Identität wie- Besonders im Fußballstadion findet diese mitfühlende der in den Vordergrund zu rücken. Partizipation ihren Ausdruck. 42 Die Zuschauer, nicht um- Der Sport ist hierfür ein besonders geeignetes Vehikel. sonst als "12ter Mann"43 bezeichnet, werden zu einem akti- Zum einen, weil er die Möglichkeit der persönlichen Partizi- ven Element des Wettkampfes. Mit ihren Anfeuerungsru- pation bereithält und zum anderen, weil er emotionale fen, ihren Pfiffen und Jubelschreien versuchen sie ins Ausdrucksformen bietet, die die Nation greifbar machen. Spielgeschehen einzugreifen und verspüren das Gefühl der Man denke nur an den Medaillenspiegel bei Sportver- Macht und Stärke. Das reale Leben verliert in dieser Situa- anstaltungen, die Trikots in den Landesfarben, die Fahne tion völlig an Bedeutung. Emotionen können frei ausgelebt bei Siegerehrungen, die Hymne vor einem Wettkampf oder werden, weil die sozialen Schranken fallen. Erringt die ei- den Einmarsch der Nationen bei der Eröffnung von Olympi- gene Mannschaft den Sieg, hat auch der Fan seinen per- schen Spielen. sönlichen Sieg errungen. Sein Mitfiebern und Anfeuern hat Der Begriff der Nation beschränkt sich im Sport nicht dazu beigetragen, den Gegner zu bezwingen. auf politische Grenzen sondern wird häufig als Ausdruck für eine kulturelle Einheit verstanden. Dementsprechend werden auch Niederlagen als ein kol- lektives Versagen angesehen. Die Leistung Österreichs und So stellen die Basken jedes Jahr für einige Fußball- nicht die der SportlerInnen einer österreichischen Natio- freundschaftsspiele41 eine Nationalmannschaft auf, nalmannschaft ist beklagenswert. Nicht zufällig wird nach um ihre Eigenständigkeit zu demonstrieren. sportlichen Niederlagen häufig von "nationaler Schande" gesprochen. In Extremfällen schlägt die Identifikation auch Wales und Schottland hingegen besitzen internatio- rasch in persönliche Verzweiflung bzw. Ablehnung oder gar nal anerkannte Sportverbände, entsenden Natio- Hass gegenüber den sportlichen VertreterInnen um, wie nalmannschaften und halten nationale Meisterschaf- besonders tragische Ereignisse belegen: ten ab. Die Rivalität gegenüber englischen Mann- schaften ist besonders ausgeprägt. Bei der WM 1994 in den USA verschuldete der ko- lumbianische Verteidiger Andrés Escobar ein Ei- Bei den Olympischen Spielen in Sydney marschierte gentor im Spiel gegen die Mannschaft der USA, was "eine" koreanische Mannschaft ein. zum Ausscheiden Kolumbiens führte. Zehn Tage später wurde Escobar auf offener Straße in Medellin SportlerInnen demonstrieren durch ihr Auftreten noch mit zwölf Schüssen ermordet. Augenzeugen hörten zusätzlich die Verbundenheit zu ihrer Nation: Leichtathle- einen der Täter "Danke für das Eigentor" sagen. tInnen, die in die Flagge ihres Landes eingehüllt eine Eh- renrunde laufen oder LangläuferInnen, die bei beruhigen- Als der Fußballverein Real Madrid in der letzten dem Vorsprung mit der wehenden Fahne ihres Landes dem Runde einer spanischen Fußballmeisterschaft den Ziel entgegenstreben. Erst kürzlich versteckte der brasilia- schon sicher geglaubten Titel verspielte, stürzte sich nische Formel-1-Fahrer Juan Pablo Montoya eine kleine ein Mädchen in Madrid verzweifelt aus dem Fenster Fahne seines Landes im engen Cockpit seines Boliden, um in den Tod. sie bei der Siegerrunde in die Höhe strecken zu können. Der Sport verleiht einer Nation Gestalt. Mit seiner natio- nalen Symbolik ermöglicht er es jedem, ob in der Arena 42 Man denke nur an die Bilder schluchzender Fans, wenn ihre des Wettkampfes oder vor dem Fernsehbildschirm, sich mit Mannschaft eben ein wichtiges Spiel verloren hat. 43 seiner Nation zu identifizieren. Die bedingungslose Identifi- Die Diktion des Sports vergisst hier leider die Frauen noch im- kation mit den heldenhaften Taten und ihren ErbringerIn- mer. nen drückt sich nicht zuletzt in der Sprache aus. An die Stelle des anonymen "man" tritt das gemeinschaftliche 41 für Bewerbsspiele fehlt die internationale Anerkennung 10
info-blatt Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik Nr. 3, Oktober 2003 Nach einer Niederlagenserie Lazio Roms stürmte ei- Der Generalsekretär des armenischen Fußballver- ne Gruppe Angehöriger des größten Fanklubs des bandes: "Nach allem was geschehen ist, nach dem Vereins44 das Trainingsgelände und setzte durch, Verlust so vieler Häuser und so vieler Men- dass der Kapitän von Lazio ein Vier-Augengespräch schenleben, haben die Männer in den Umkleide- mit einem ihrer Vertreter in den Klubräumen führte. räumen die Möglichkeit, ein Land zu sein." Und die Der Kapitän musste sich dabei für die schlechten beiden Unentschieden der armenischen Mannschaft Leistungen der Mannschaft rechtfertigen und bekam kommentierte ein Journalist so: "Sie stehen für die die ultimative (sonst seien weiter Fanaktionen ge- Nation, sie sorgen für Anerkennung. Sie machen plant) Aufforderung, die nächsten Spiele mit mehr stolz."49 Engagement und Erfolg zu führen. Sind große Emotionen und Hoffnungen im Spiel, ist eine politische Instrumentalisierung nahe liegend. Nichts eignet 2.2.1. Fußball und Nationalismus sich besser dafür, nationale Identität zu stärken als der Sport mit seinen HeldInnen. SportlerInnen werden zur per- Natürlich, es wird nicht zwischen einem russischen oder sonifizierten Nation und KontrahentInnen im Wettkampf amerikanischen Weitsprung unterschieden,45 und trotzdem dementsprechend zu NationalfeindInnen. Die Fronten sind bleibt Sport nie unpolitisch. Vor allem, wenn gesellschaftli- einfach und klar abgesteckt und selbst politisch Uninteres- che Strukturen ins Wanken geraten und sich neue Nationa- sierte identifizieren sich mit ihrer Nation, wenn sie durch litäten konstituieren (sollen), vermischen sich Sport und erfolgreiche SportlerInnen symbolisiert wird. Im Falle des Politik. Fußballs bedeutet das: "Der einzelne, und wenn er nur die Spieler anfeuert, wird selbst zu einem Symbol der Nati- Der überraschende Gewinn der Fußballweltmeister- on." 50 PolitikerInnen bzw. Regierungen verstehen es mit schaft 1954 durch Deutschland wird noch heute als tatkräftiger Unterstützung der Medien sehr geschickt, über ein heldenhafter Meilenstein in der deutschen den Sport die Nationalgefühle der Menschen zu entfachen Sportgeschichte gefeiert. Das Land konnte sich nach und Feindbilder aufzubauen. der Niederlage im Zweiten Weltkrieg erstmals wie- der auf einer internationalen Bühne als eine erfolgreiche Nation beweisen – und das "(…) auf Politische Instrumentalisierung des Fußballs im e- einem Feld, das nicht sofort nach Kriegsschuld und hemaligen Jugoslawien51 Verbrechen fragen ließ."46 Ende der 1980er Jahre bot der Fußball im ehemaligen Ähnlich verhielt es sich mit dem Sieg der Fußballna- Jugoslawien ein großes Grenzziehungspotential. Auch in tionalmannschaft von Kroatien gegen Deutschland den Fußballstadien zeichnete sich die spätere politische bei der Weltmeisterschaft 1998.47 Eine junge Nation Entwicklung offensichtlich ab. "In den Fangruppen der Ver- hat sich gegen eine sportliche und wirtschaftliche einsmannschaften aus den jeweiligen Landesteilen waren Weltmacht vor internationaler Kulisse durchgesetzt. Bekenntnisse zur serbischen, albanischen oder kroatischen Nation innerhalb Jugoslawiens zuerst wieder zu hören." 52 Dem Sport wird auch der Mythos angedichtet, eine Der kroatische Schriftsteller Predrag Matvejevitch im letzte Demonstration nationaler Eigenständigkeit Standard am 26.06.1998 unter dem Titel "Vom Fußball und Österreichs kurz nach der Machtübernahme durch sonstigen Kriegen": die Nationalsozialisten abgegeben zu haben. Am 3. April 1938 (das Datum des Spiels stand schon lange vor der Annexion fest) trafen im Wiener Stadion die 49 BONIFACE, Pascal: Viele Füße für den Frieden, in: Le Monde "Ostmärker" auf das "Altreich". Es gibt Hinweise diplomatique Nr. 5554 am 12.6.1998. darauf, dass hinter den Kulissen ein symbolträchti- 50 HOBSBAWM, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und ges Unentschieden geplant war, noch dazu wo das Realität seit 1780, Frankfurt/New York 1991, zitiert nach: Spiel vor versammelter Nazi-Prominenz stattfand. DAALMANN, Angela: Fußball und Nationalismus. Erscheinungsfor- Die Österreichische Mannschaft, angeführt vom ü- men in Presse- und Fernsehberichten in der Bundesrepublik berragenden Spieler der damaligen Zeit, Matthias Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika am Beispiel Sindelar, demütigten jedoch die Deutschen und ge- der Fußball-Weltmeisterschaft 1994, Berlin 1999, S. 35. 51 wannen klar mit 2:0.48 sofern nicht anders angegeben stammen die Informationen aus: DOLIC, in: LÖSCHE, 2002. 52 DOLIC, in: LÖSCHE, 2002, S. 160. 44 Der Fanklub verfügt über die meisten Fanshops und zeichnet für die Choreografie im Stadion verantwortlich. 45 vgl. KROKOV, 1980, S. 131f. 46 CONFINIO, Alon: This lovely country you will never forget. Kriegserinnerungen und Heimatkonzepte in der westdeutschen Nachkriegszeit, in: Knoch, Habbo (Hrsg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001. zi- tiert nach: Koch, 2002, S.125. 47 KNOCH, in: Lösche, 2002, S. 124. 48 Wiener Zeitung am 4./5. Juli 2003. 11
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