Erfolgsmodell BM!? Christof Spöring, Präsident der EBMK: edudoc.ch
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Das Magazin des BCH | FPS Berufsbildung Schweiz Nr. 6/2018 Erfolgsmodell BM!? ●● Christof Spöring, Präsident der EBMK: «Die Berufsmatura muss noch bekannter werden.» ●● So bewähren sich Berufsmaturanden im Studium. ●● Mit der neuen Fachsektion des BCH erhalten die BMS-Lehrpersonen wieder eine Stimme.
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Berufsbildung Schweiz Formation professionnelle suisse Formazione professionale svizzera Formaziun prufesiunala svizra editorial Liebe Kolleginnen und Kollegen Erscheint sechsmal jährlich. 142. Jahrgang, ISSN 1664-5316. Alle Rechte vorbehalten Herausgeber BCH | FPS Berufsbildung Schweiz, www.bch-fps.ch Liebe Leserinnen und Leser Abos und Einzelexemplare Wir beschreiten kurz vor Jahresende zusammen Jahresabonnement Inland CHF 70.– den Königsweg. Wir begehen ihn mit einem Ausland CHF 90.– neugierigen, kritischen Blick. Die Berufsmaturi- Einzelexemplar Inland CHF 16.– tät, die immer wieder «Königsweg» genannt (inkl. Porto) wird, gibt es seit bald einem Vierteljahrhundert. Redaktion Renate Bühler (Leitung) Sie erfülle ihr Ziel gut, sagt Christof Spöring, Lucia Theiler, Sarah Forrer Präsident der Eidg. Berufsmaturitätskommissi- Kontakt: rbuehler@bch-fps.ch on EBMK. Dennoch sollte die Quote höher Fotografen dieser Ausgabe werden. Optimal wären demnach 20 Prozent. Shutterstock, Redaktionsteam, zvg (siehe auch separate Anmerkungen) Eine weitgehende Reform fordert hingegen Bildungsexperte Andreas Kommunikationsverantwortlicher BCH Pfister – eine «Matura für alle». Warum er glaubt, dass die Schweiz eine Andreja Torriani, atorriani@bch-fps.ch Bildungsreform nötig hat, erklärt er ebenfalls in einem Interview. Lektorat Weiter haben wir nachgefragt, warum sich Jugendliche nach der Lehre Cavelti AG, 9201 Gossau noch einmal auf die Schulbank setzen. Das sogenannte Modell BM 2, die Inserate Berufsmaturitätschule nach der Lehre, ist nämlich mittlerweile beliebter Zürichsee Werbe AG als der BMS-Unterricht während der Lehrzeit. Unser Fazit: Die Motivatio- Fachmedien Laubisrütistrasse 44 nen sind zwar unterschiedlich, aber klar ist, dass die Mehrheit von diesen 8712 Stäfa Jugendlichen die BMS aus eigenem Antrieb absolvieren, obwohl das unter 044 928 56 11 anderem auch eine finanzielle Einbusse zur Folge hat. info@fachmedien.ch Auflage Wir haben uns nicht nur in Schulzimmern umgehört, sondern auch in den Gedruckte Auflage 2000 Ex. Pausenräumen der Fachhochschuldozierenden: Wie sind diese eigentlich WEMF-beglaubigte Auflage 1759 Ex. mit den BMS-Abgängern zufrieden? Sind sie fit genug fürs Studium? Bestellungen und Adressänderungen BCH | FPS, Geschäftsstelle Last but not least: Die BMS wächst. Umso wichtiger ist es, dass ihre Lehr- Landstrasse 4, 9545 Wängi 033 221 62 88 personen eine eigene Stimme haben: Mit der im Herbst erfolgten Grün- info@bch-fps.ch dung der BMS-Fachsektion will der BCH genau dies erreichen. Kevin Koch, Druck und Gestaltung unser Mitglied im Zentralvorstand, gibt Auskunft. Cavelti AG, Marken. Digital und gedruckt. Wilerstrasse 73 Eine gute Lektüre und bis 2019! 9201 Gossau, cag@cavelti.ch Newsletter BCH-News Die Zeitschrift Folio wird ergänzt durch einen kostenlosen Newsletter; Bestellungen via www.bch-fps.ch/bch-news Andreja Torriani Archiv BCH-Kommunikationsverantwortlicher Alte Ausgaben von Folio finden sich integral und kostenlos im Archiv: www.bch-folio.ch Druck auf umweltschonend verarbeite- tem FSC-Papier
inhalt thema 6 Die BM muss noch bekannter werden Interview mit Christof Spöring, Präsident EBMK 8 Wo stehen die Berufsmaturanden? Umfrage an Hochschulen über die Studierenden mit BM 11 Zahlen und Fakten zur BM Blick in den «Bildungsbericht Schweiz 2018» 12 Wir wollen studieren! BMS-Schülerinnen und -Abgänger über ihre Ziele 14 Eine Stimme für die BMS-Lehrpersonen Die neue Fachsektion des BCH – Interview mit Kevin Koch 16 Matura für alle? Warum Andreas Pfister eine Bildungsreform fordert 19 BM in der Schweiz, Deutschland und Österreich Es gibt sie überall – aber sie sind schlecht vergleichbar. campus 21 Förderung der Digitalisierung Innosuisse lanciert grosses Impulsprogramm. 22 Movetia expandiert … … mit Austauschprojekten in aller Welt. 24 Digitalisierung in der Süsswarenfabrik 6 Christof Spöring Besuch in der Midor-Produktionsanlage in Meilen (ZH) Interview über die künftigen 26 Nachhaltigkeit, vergnüglich vermittelt Anforderungen an die BMS «step into action»-Grossanlass am INFORAMA Rütti 29 Hand in Hand für die Berufsbildung Neue Zusammenarbeit von EHB und PH St. Gallen 30 «DigitalSkills» und Positionspapier Das EHB zur digitalen Transformation der Berufsbildung 33 Fachanlass mit hochkarätiger Gästeliste … … zur Digitalisierung im Gesundheitswesen am BWZ Lyss 34 Kulturelle Vielfalt in Schulklassen Erfahrungsbericht zu Schulprojekt am zB. Baden 38 Swissdidac & Worlddidac in Bern … … im Zeichen von Kompetenzen und Digitalisierung 42 «Lichterloh» und Schneegestöber Die hftg Zug am «Designers’ Saturday» in Langenthal berufsbildung 44 Nachruf auf Beat Richner Von Alfred Löhrer, Kinderarzt 46 Mitarbeit lohnt sich! Verbandsarbeit passiert oft im Hintergrund. 12 Nadine Kuhn, Coiffeuse EFZ, hat die BMS absolviert, weil sie eine weitere Herausforderung suchte. Nun möchte sie Lehrerin werden. 4 folio | dezember 2018
20 Dieter Euler über «information literacy» 14 Kevin Koch 16 erklärt, warum es die neue BCH-Fachsektion Andreas Pfister für BMS-Lehrpersonen braucht. fordert eine «Matura für alle» rubriken 3 editorial 6 thema 21 campus 37 agende 40 pausengespräch 42 lernende 44 berufsbildung 47 schlusspunkt 40 Peter Löffel ist seit drei Jahren Gärtner am INFORAMA Rütti in Zollikofen (BE). folio | dezember 2018 5
thema Die BM – ein Erfolgsmodell!? Christof Spöring: «Die Indikatoren, dass die BM die Lehre tatsächlich stärkt, sind positiv.» «Wer mit einer Lehre sozialisiert wurde, kennt die Branche besser.» Die Berufsmaturität erfüllt ihre Schlüsselaufgabe. Doch sie müsse noch bekannter werden, sagt Christof Spöring, Präsident der Eidg. Berufsmaturitätskommission EBMK. Interview: Lucia Theiler Folio: Es ist bald 25 Jahre her, seit die spielsweise 2009 mit der neuen BM-Ver- Die Indikatoren, dass die BMS die Lehre Berufsmaturität gesamtschweizerisch ordnung. Diskutiert wurde damals, ob die tatsächlich stärkt, sind positiv. Es gibt eingeführt wurde. Welche Bilanz ziehen Lehrgänge eher generalistisch oder nach aber grosse Unterschiede zwischen den Sie? FH-Ausrichtung gestaltet werden sollen. Kantonen. Die BM-Quoten schwanken Christof Spöring: «Die BM ist ein wesent- Man entschied sich für Letzteres.» enorm.» licher Baustein für die Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems. Es war von Gerade, weil die BM den Zugang zur Fach- Zum Beispiel hatten Neuenburg, Zug und Anfang an das Ziel, leistungsstarke Schü- hochschule ermöglicht, soll sie die Lehre Tessin über längere Zeit eine hohe BM- ler für die Lehre zu gewinnen und ihnen stärken. Inwiefern gelingt ihr das? Quote, Kantone Basel-Stadt, Genf und mit der Fachhochschule (FH) eine Alter- «Es gelingt ihr vom Grundsatz her sehr Waadt hingegen tiefe Quoten. Von wel- native zur Universität anzubieten. Ihnen gut. Die Schweiz ist das einzige Land, in chen Faktoren hängt diese unterschiedli- stehen mit der BM grundsätzlich zwei dem die Lehre mit einem Anteil von etwa che Entwicklung ab? gleichwertige Wege offen. Die BM als 65 Prozent einen grossen Stellenwert «Das hat einerseits mit Wirtschaftsstruk- Schlüsselfaktor hat sich gut etabliert. Auf behalten hat. Zwei Drittel der Jugend- tur zu tun, andererseits mit den Gymna- diesem Weg gab es Entwicklungen, bei- lichen entscheiden sich für eine Lehre. sialquoten. Basel und Genf beispielsweise 6 folio | dezember 2018
haben hohe Gymnasialquoten, die Lehre Wäre es denn nicht wünschenswert, das Jahren das ‹Modell 3 plus› für die tech- ist in diesen Kantonen zweite Wahl. Im technische Profil würde angesichts des nischen Berufe: Nach dem eigentlichen Tessin hingegen sind beide Quoten hoch. MINT-Fachkräftemangels am meisten Lehrabschluss wird in einem Block im Lernende machen dort aber oftmals die wachsen? Spätherbst intensiv auf die Berufsmatu- Berufsmaturität auf einem rein schuli- «Doch. Die BM sollte generell noch eine rität gelernt und die Prüfung erst nach schen Weg. Generell rückläufig ist die höhere Quote erreichen. Allerdings sollte der Lehre absolviert. Auch hier profitie- lehrbegleitete BMS. Dies wird zwar durch das immer mit der gymnasialen Maturi- ren Lernende und Unternehmen.» die BMS nach der Lehre wieder kompen- tätsquote korrelieren. Je 20 Prozent fände siert, verlängert aber die Ausbildungszeit ich nachvollziehbar und optimal. Das Eine etwas hitzige Diskussion gab es zur der Lernenden. würde dann heissen, dass etwa 40 Prozent neuen Notenregelung. Gerundet wird nun In Luzern beispielsweise ist die der Schulabgängerinnen und Schulabgän- nur noch auf halbe Noten. Warum war Nachfrage nach der BM tief, weil die ger leistungsstarke Jugendliche sind. Bei diese Anpassung nötig? Wirtschaftsstruktur stark von KMU höheren Quoten wären wir eine Super- «Die Notengebung wurde an die gymnasi- geprägt ist. In Kleinbetrieben wird die nation, was kaum realistisch ist. Höhere ale Maturität angepasst. Es kann ja nicht zusätzliche Abwesenheit der Lernenden Quoten wären wohl eher ein Hinweis auf sein, dass an den Berufsfachschulen mit wegen der BMS weniger gut akzeptiert. eine Schwächung der Qualität der BM härteren Ellen gemessen wird als an den Sie verzichten damit oftmals auch auf oder der Gymnasien.» Gymnasien.» leistungsstarke Lernende. Oftmals ist der Entscheid für die BM aber auch eine Hal- Die Berufsmaturität soll flexibler um- Einige sprechen von einer Abwertung und tungsfrage, sei es von einzelnen Unter- gesetzt werden können, damit sie noch Vereinfachung der BM. nehmen oder Eltern, die die Lernenden attraktiver wird. Zum Beispiel soll es mög- «Das kann man so sehen, von Abwer- beeinflussen.» lich sein, den Berufsmaturitätsunterricht tung würde ich jedoch nicht sprechen. von der Lehrdauer zu entkoppeln. Teile des Es gibt Extrembeispiele, die zeigen, dass Und wie kann man Eltern und Ausbil- BMS-Unterrichts können neu nach der Lernende mit tiefen Noten zu einer BM dungsverantwortliche der Betriebe Lehre durchgeführt werden. Gibt es erste kommen können. Die BM insgesamt beeinflussen? Erfahrungen? bleibt aber anspruchsvoll. Es interes- «Über Information und Kommunikation. «Dafür ist es noch zu früh. Neu ange- siert die Lernenden auch nicht, welche Unternehmen sollten an Mitarbeitenden botene Modelle können seit 2017 als Rundungsvorgaben früher galten. Sie mit Potential für höhere Positionen inte- Pilotprojekte durch das SBFI geneh- wollen das Eintrittsticket zur Fachhoch- ressiert sein, die ihre Berufslaufbahn mit migt werden. Etwa 40 Lehrgänge möch- schule, und daran orientieren sie sich. Die einer Lehre begonnen haben. Wer mit ten im kommenden Sommer starten. nächste Untersuchung zur Studierfähig- einer Lehre sozialisiert wurde, kennt und Das Modell mit der nachgelagerten BMS keit der BM-Absolvierenden wird zeigen, versteht die Branche besser. Das wird oft- ist attraktiv für Lernende und Lehrbe- welche Resultate unter der neuen BMV mals unterschätzt. Bei den Eltern stel- triebe, da beide während der Lehrzeit erreicht worden sind. Diese ist auf 2021 len wir fest, dass sie oftmals die BM gar entlastet werden. Gerade im Gesund- geplant.» nicht kennen. Gerade in Kantonen, wo der heitsbereich beispielsweise ist ein spä- Druck für die Gymi-Aufnahmeprüfung terer BMS-Beginn attraktiv. In diesen Die BMS in 10 und in 20 Jahren – welche gross ist, ist die BMS als gute Alternative schulintensiven Berufen sind Lernende, Entwicklungen stehen an? wenig bekannt oder anerkannt. Hier setzt die die BMS absolvieren, bis zu drei Tage «Die Bildung auf Tertiärstufe wird zuneh- die nationale Kampagne zur Förderung in der Schule. Sie verpassen dadurch men. In zehn Jahren soll gemäss SBFI der BMS an und stellt einheitliche Kom- Praxis. Können sie das erste Lehrjahr der Anteil der Bevölkerung mit Terti- munikationsmittel zur Verfügung.» mehr im Lehrbetrieb arbeiten und den ärabschluss von heute 40 auf 60 Prozent BMS-Unterricht erst im 2. Jahr begin- ansteigen. Als Zulieferer zur Fachhoch- Schwankungen gibt es auch bei den nen, haben sie für die weiteren Lehr- schule kann die BMS also noch zulegen. BM-Ausrichtungen. Die Nachfrage nach jahre sicher einen besseren praktischen Inhaltlich wird die Frage zu klären sein, dem gesundheitlich-sozialen Profil stieg Boden. In einigen Kantonen gab es übri- wie die Digitalisierung die BMS verän- zwischen 2005 und 2015 sehr stark, jene gens bereits Modelle, die dem Bedürf- dert. Ebenso werden die Erkenntnisse der nach dem technischen Profil hingegen nis nach Entlastung Rechnung tragen. In Untersuchung zur Studierfähigkeit ein- kaum. Was sind die Ursachen für diese Luzern beispielsweise gibt es seit über 20 fliessen.» Entwicklung? «Die Zunahme bei den gesundheitli- chen und sozialen Profilen hat mit der Einführung des Berufs Fachmann/-frau Zur Person Gesundheit (FaGe) zu tun. Die neuen Lehren mit BM sind stark nachgefragt Christof Spöring ist Präsident der Eidg. Berufsmaturitätskommission EBMK. Er leitet seit 2013 die Dienststelle Berufs- und verzeichnen entsprechend prozen- und Weiterbildung im Kanton Luzern. Seine berufliche Laufbahn hat er nach der Verkehrsschule mit einer Lehre als tual grosse Zuwachsraten. Im techni- Bahnbetriebsdisponent begonnen. Später bildete er sich an der Hochschule Luzern weiter, unter anderem mit einem schen und kaufmännischen Bereich sind Executive MBA in Führungsfragen. Spoering war in diversen Führungsfunktionen im Personal- und Lernendenwesen der die Quoten auf hohem Niveau relativ sta- SBB und des Ausbildungsverbunds login tätig. bil geblieben.» www.berufsmaturitaet.ch folio | dezember 2018 7
thema Die BM – ein Erfolgsmodell!? Unterscheiden sich Berufsmaturandinnen und -maturanden fachlich oder methodisch von Studierenden mit anderem Hochschulzugang? Wie bewähren sich die Berufsmaturanden im Studium? Wie zufrieden sind die FH-Dozierenden zu Beginn des ersten Semesters mit den neuen Studierenden, die die BMS absolviert haben? Diese und weitere Fragen haben wir verschiedenen Hochschulen vorgelegt. Hier kommen die Antworten. Umfrage: Lucia Theiler ZHAW: «Da sich die geforderten Eintrittskompetenzen nicht So ist eine Erfahrung, dass gerade in technischen Belangen und allein am Abschlussprofil einer spezifischen Berufsmaturität bei der Anwendung technischen Grundwissens die Studieren- orientieren können, ist die subjektive Zufriedenheit von Dozie- den mit Berufsmaturität häufig besonders kompetent und agil renden nicht massgebend. Tatsächlich erleben es Dozierende als sind. Bereiche, in denen nach der Erfahrung von FHNW Dozie- Bereicherung, wenn Studierende mit vielfältigen Hintergründen renden hingegen mitunter Nachholbedarf besteht, sind Mathe- im Unterricht auf die Studieninhalte unterschiedlich reagieren matik, Rechnungswesen und schriftliche Kommunikation bzw. und den Lernstoff im Austausch mit den Studierenden mit eige- Sprachkompetenz. Erfahrungsgemäss werden die meisten all- nen Erfahrungen ergänzen.» fälligen Defizite jedoch rasch aufgeholt.» FHNW: «Die Berufsmaturität attestiert grundsätzlich einen Bil- dungsstand, der zu einem Studium an einer Fachhochschule Es haben geantwortet: befähigt. In diesem Sinne sind die Studienanfänger/-innen mit BM an der FHNW aus Sicht der Fachhochschule hinreichend HTW Chur: Prorektor, Prof. Martin Studer qualifiziert und die Dozierenden zufrieden. Selbstverständlich FHNW: Abteilung Kommunikation Generalsekretariat zeigen sich individuelle Unterschiede – zwischen den Studie- ZHAW: Abteilung Corporate Communication renden sowie auch zwischen den verschiedenen Fachbereichen. BFH: Siehe Text 8 folio | dezember 2018
HTW Chur: «Eine übergreifende Aussage ist schwierig. Je nach Technik, Architektur, Life Sciences (BM TALS) im Vordergrund. BM-Typ und je nach gewähltem Studienangebot besteht unter- Studieninteressierte mit einer BM in einer anderen Ausrichtung schiedlicher Nachholbedarf. Eine generelle Aussage bezüglich haben häufig in den mathematisch-physikalischen Grundlagen- eines Faches – beispielsweise dass die Studierenden zu wenig modulen grosse Mühe, die gestellten Anforderungen zu erfüllen, Mathematik mitbringen – kann ich deshalb nicht machen. weshalb wir solchen Studierenden dringend empfehlen, vor Stu- Was wir aber feststellen, ist ganz allgemein, dass den Studie- dienbeginn den Mathematikvorkurs des Departements zu besu- renden der Wechsel von der BMS an die Fachhochschule in Bezug chen. Den Mathematikvorkurs empfehlen wir auch Studien auf die Anforderungen an die Selbstständigkeit Mühe bereitet, interessierten der BM-Ausrichtung TALS, wenn die BM-Note in gerade in den ersten Semestern. Dies ist einerseits darauf zurück- Mathematik unter 5,0 liegt. Rund 25 Prozent der Studieninteres- zuführen, dass an den Fachhochschulen der Selbststudienanteil sierten besuchen diesen kostenpflichtigen Vorkurs. Im Vergleich gegenüber dem Präsenzanteil massiv höher ist als an den Berufs- zu früher haben die BMS-Absolventen deutlich höhere Kompe- schulen. Je nach Studiengang geht man davon aus, dass Studie- tenzen im Bereich der mündlichen und schriftlichen Kommuni- rende zwischen 50 bis 70 Prozent ihrer Zeit mit begleitetem und kation sowie im Selbstmanagement. unbegleitetem Selbststudium verbringen. Das schlägt sich in fol- Da die technischen Studiengänge auch in den Berufsfeldern genden Problemen nieder: rekrutieren, die am Rande der mit dem Studiengang assoziier- • Zeitmanagement: Studium, Beruf, Familie und Freizeit wollen ten Berufen liegen, zeigen sich auch in den berufsspezifischen unter einen Hut gebracht werden. Die Studierenden müssen Kompetenzen Angleichungsprobleme. Aus diesem Grunde bie- in der Lage sein, einerseits Prioritäten zu setzen und anderer- tet das Departement Technik und Informatik zur Kompetenz seits die Umsetzung der Prioritäten realistisch zu planen. Hier angleichung Vorkurs auch in den Bereichen Programmieren, haben wir die Erfahrung gemacht, dass es für viele Studierende Technisches Zeichnen und Elektrotechnik und Elektronik an. schon eine Herausforderung ist, einen Wochenplan aufzustel- Diese Vorkurse haben sich bewährt, ebnen sie doch den Weg für len, der alles berücksichtigt. einen reibungslosen und erfolgreichen Studienstart. • Lernen: Lernen an der Hochschule unterscheidet sich stark Seit sieben Jahren sucht die Berner Fachhochschule im vom Lernen an der Berufsschule oder im Gymnasium. Die Bereich der Interdisziplinären Projektarbeit (IDPA) die Zusam- Studierenden müssen nicht nur in der Lage sein, Wissen auf- menarbeit mit den Berufsmaturitätsschulen. Dozierende der BFH zunehmen (zu konsumieren sozusagen), sondern sie müs- begleiten Schülerinnen und Schüler bei ihrer IDPA von der Auf- sen auch die Fähigkeiten und Fertigkeiten haben, sich Wis- gabenstellung bis hin zur Schlusspräsentation ihrer Arbeit. Die sen selbstständig zu erarbeiten (Stichwort Selbststudium). Schülerinnen und Schüler lernen so ihren möglichen zukünfti- Hier machen wir die Erfahrung, dass viele Studierenden mit gen Studienort und die Dozierenden der Schule kennen. Und die dem Umgang zwischen den verschiedenen Lehrmitteln und Lehrkräfte beider Schultypen erhalten gegenseitig Einblick in die Lehrformen überfordert sind (Bücher, Skripte, Übungen, Fall Arbeitsweise der anderen Schule. Dieses Jahr betreut die BFH beispiele, Kontaktunterricht, Seminare etc.). Sie haben oft bereits über 40 solche Schüler/-innengruppen bei ihren IDPAs. Mühe- mehrere dieser Lehrmittel und Lehrformen gezielt ein- Die Erfahrungen dieser Zusammenarbeit werden von allen zusetzen. Oft versuchen die Studierenden, alle Themen auf die Beteiligten geschätzt und als bereichernd wahrgenommen. Eine gleiche Art und Weise anzugehen. Das funktioniert meist nicht. Zusammenarbeit mit weiteren BMS-Lehrkräften im Bereich der Unterschiedliche Themen erfordern unterschiedliche Heran- IDPA würde uns daher freuen. Auch organisieren wir gerne für gehensweisen. interessierte Schulklassen Führungen durch unser Forschungs- • Selbstreflektion: Die Studierenden müssen in der Lage sein, ihr labor. Dies gilt auch für die Lehrkräfte selber, die beispielsweise eigenes Handeln und Tun zu reflektieren. Wir stellen fest, dass als Gruppe im Rahmen ihrer Weiterbildung das Departement sich viele Studierende trotz jahrelanger Lernerfahrung immer Technik und Informatik besuchen möchten.» noch nicht bewusst sind, was für ein Lerntyp sie sind und wie sie effektiv lernen, was also gut und was nicht funktioniert; und Roland Stähli, Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittel- wie sie ihre Lernkompetenz entwickeln können.» wissenschaften HAFL, Leiter Lehre, ergänzt dazu Folgendes: «Neben dem Bedarf an einem Vorkurs in Mathematik erkennen BFH, Departement Wirtschaft: «Auch aus unserer Sicht ist die wir mit Blick auf die naturwissenschaftlichen Grundlagen auch Berufsmaturität zusammen mit einer beruflichen Grundbil- einen Bedarf in Chemie und Biologie (vor allem für BM-Absol- dung in einem assoziierten Berufsfeld nach wie vor eine gute vierende aus dem Bereich Wirtschaft und Dienstleistungen). Grundlage, um ein erfolgreiches Studium an der BFH zu absol- Entsprechend bietet die HAFL in Chemie und Biologie kosten- vieren. Es gibt aber immer auch Studierende mit Lücken, v. a. pflichtige Vorkurse vor Studienbeginn an. Von rund 240 Studi- in den quantitativen Themenfeldern. Aus diesem Grunde bietet enanfängerinnen und -anfängern in den drei Bachelorstudien- die BFH W den Studierenden vor dem Semesterbeginn Vorbe- gängen nehmen rund 60 an einem oder mehreren der in zwei reitungskurse in ausgewählten Fächern (z. B. Mathematik, Rech- Sprachen angebotenen Vorkursen teil. Zum Aufarbeiten feh- nungswesen) an.» lender berufsspezifischer Kenntnisse wird zudem für Agrono- miestudierende ein freiwilliger Vorkurs im Bereich Pflanzen- BFH, Statement von Erich Wyler, Koordination Lehre und Einsatz- bau / Ackerbau angeboten. planung, Departement Technik und Informatik: «Die Berufsma- Neben den weiteren Formen der Zusammenarbeit, die auch turität zusammen mit einer beruflichen Grundbildung (EFZ) in für die HAFL zutreffen, wirken einzelne Dozierende der HAFL als einem mit dem Studiengang assoziierten Berufsfeld ist grund- Maturitätsexperten und -expertinnen an der BMS mit. Dadurch sätzlich eine gute Basis für ein erfolgreiches Studium an einer erhalten sie jährlich Einblick in den Stand und die Umsetzung FH. Für die technischen Studiengänge steht die BM-Ausrichtung der Berufsmaturität.» folio | dezember 2018 9
Welche Entwicklung der jungen Erwachsenen stellen Sie im Verlaufe des Studiums fest? ZHAW: «Die Übersicht über die Zulassungsberechtigungen im Jahresbericht verdeutlicht, dass gesamthaft der Anteil der Stu- dierenden mit Berufsmaturität an der ZHAW deutlich überwiegt und dass gleichzeitig die Verteilung je nach Fachbereich recht unterschiedlich ausfällt.» FHNW: «Ganz grundsätzlich und unabhängig von der BM lässt sich bei vielen Bachelorstudierenden eine starke Entwicklung im Verlauf des Studiums feststellen. Dies betrifft aus der Erfahrung der FHNW vor allem Aspekte wie Selbstständigkeit im Arbeiten, Anwendung von erworbenem Fachwissen und erlernten Arbeits- techniken, Entscheidungskompetenz und Auftreten.» BFH Bern: «Die Studierenden am Departement W werden über die Zeit selbstständiger und können erworbenes Wissen immer besser vernetzen. Sie entwickeln ihre fachlichen, methodischen, sozialen und Selbstkompetenzen sukzessive weiter und haben mit ihrem Schwierig für viele Studierende: die Organisation von Studium und Familie Abschlussprofil hervorragende Arbeitsmarktperspektiven.» Gibt es ein Anliegen an die BMS-Lehrer, das Sie hier platzieren Welche Unterschiede gibt es bezüglich Niveau zwischen den möchten? diversen Studiengängen? ZHAW: «Der Austausch mit den Berufsschulen ist wichtig und ZHAW: «Ein Studiengang muss so aufgebaut sein, dass Studie- wird von der ZHAW gepflegt (weitere Infos: siehe Konferenz rende mit heterogenen Hintergründen das Studium absolvieren BMFH: Kick-off-Veranstaltung). Im Rahmen der BMFH hat sich können. Grundsätzlich sind die Chancen, dass Studium erfolg- auch eine Themengruppe ‹Studierfähigkeit› gebildet.» reich abzuschliessen, für ‹fachfremde› Studierende nicht schlech- ter als für Studierende, die das Studium nach einer einschlägigen FHNW: «Die FHNW ist fortwährend im Austausch mit Zubringer- Berufsmaturität in ihrem angestammten Fachbereich fortsetzen.» schulen und BMS-Lehrerinnen und -Lehrern und schätzt die- sen Kontakt als überaus wertvoll. Allfällige Anliegen und rele- FHNW: «Insgesamt lassen sich in der Mehrzahl der Fachbereiche vante Themen werden in diesem Rahmen adressiert. Zusam- und Studiengänge an der FHNW keine nennenswerten Unter- menfassend lässt sich sagen, dass die Berufsmaturität aus Sicht schiede feststellen. Dies dürfte einerseits auf spezielle Zulas- der FHNW jedes Jahr viele wissbegierige, begabte und praxiser- sungsverfahren zurückzuführen sein, wie z. B. das Eignungsfest- probte junge Menschen zu einem Studium an der FHNW führt.» stellungsverfahren für ein Studium der Angewandten Psychologie. Zum anderen treten signifikante Unterschiede in Studiengängen HTW Chur: «Wie bereits formuliert, ist die Selbstständigkeit der selten auf, da in der Regel eine einschlägige Berufsmaturität Studierenden noch zu wenig ausgeprägt. Gerne unterstützen wir Zulassungsvoraussetzung ist (für ein Studium an der Hochschule die Neustudierenden, beispielsweise im Career Center. Es wäre für Gestaltung und Kunst FHNW eine gestalterische BM, für ein aber sicherlich ein Anliegen, dass die Berufsmaturanden eine Studium an der Hochschule für Technik FHNW eine technische ausgeprägtere Selbstständigkeit mitbringen würden.» Berufsmaturität etc.). Infolge dessen sind anschliessend im Stu- dium keine grossen Unterschiede zu beobachten.» BFH Bern: «Förderlich ist sicher der gegenseitige Austausch zwi- schen den BM-Lehrkräften und den Fachhochschuldozierenden. HTW Chur: «Was ich feststellen kann, ist weniger ein Unterschied Durch den Umstand, dass im Kanton Bern eine grosse Anzahl zwischen den Studiengängen, als mehr ein Unterschied zwischen Dozierender auch als Experten bei den BM-Prüfungen tätig den Studierenden: denjenigen, die eine BM lehrbegleitend und sind, haben wir hierbei schon einen guten Stand erreicht. Die denjenigen, die sie nachträglich gemacht haben. BFH W sucht ferner den direkten Austausch zwischen Lehrerin- Das betrifft die Studierenden mit dem BM-Profil Wirtschaft nen und Lehrern der Berufsmaturitätsschulen und den Dozie- und Dienstleistungen. Die Drop-Out-Quote, die sich bei uns im renden der BFH, um wechselseitig dem Anforderungs-/Infor- schweizweiten Mittel von 25 Prozent befindet, ist bei den Studie- mationsbedarf abzustimmen. Dies erfolgt beispielsweise in Form renden, die die BM nach dem Lehrabschluss gemacht haben, mit eines Begegnungstages mit der Wirtschaftsschule Thun, der sich knapp 32 Prozent signifikant höher als 24 Prozent bei den Studie- sehr bewährt hat und künftig auch auf andere Wirtschaftsschulen renden, die die BM lehrbegleitend absolviert haben. Die Gründe ausgedehnt werden soll. Darüber hinaus beteiligen sich unsere für die signifikant höhere Drop-Out-Quote kenne ich nicht. Die- Dozierenden auch an den interdisziplinären Projektarbeiten ser markante Unterschied tritt beispielsweise bei den Absolvie- einiger Berufsmaturitätsschulen. Wir sind seitens BFH W darü- renden des BM-Typs Technik, Architektur, Life Sciences (TALS) ber hinaus an jeglicher Form der Intensivierung des Austausches nicht auf.» mit unseren Zubringerschulen interessiert.» 10 folio | dezember 2018
thema Die BM – ein Erfolgsmodell!? Zahlen und Fakten zur BMS Klar ist: Die Berufsmaturitätsschule (BMS) ist beliebt. Aber wer absolviert sie überhaupt? Und was machen die Berufsmaturandinnen und -maturanden anschliessend? Der «Bildungsbericht 18» der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung gibt Auskunft. Grundsätzlich: Die Berufsmatura (BM) Jugendlichen aus sozial eher benachteilig- bilden die beiden Stadtkantone Basel und kann sowohl parallel zu einer berufli- ten Elternhäusern erlangt» werde. Genf, die mit hohen Quoten bei der gym- chen Grundbildung mit EFZ erworben Der neuerliche Erfolg der BMS beruht nasialen Maturität sehr tiefe Berufsma- werden als auch in einer mindestens ein- vielleicht auch darauf, dass «die Förde- turitätsquoten aufweisen, und der Kan- jährigen Ausbildung nach Abschluss der rung der Berufsmaturität» am nationa- ton Schaffhausen mit der höchsten BM- beruflichen Grundbildung oder als eid- len Spitzentreffen der Berufsbildung 2014 Quote und einer durchschnittlichen Quote genössische Berufsmaturitätsprüfung. als einer der Handlungsschwerpunkte bei den gymnasialen Maturität. Sie berechtigt im Allgemeinen zum Stu- zur Stärkung der Berufsbildung definiert dium an einer Fachhochschule, teilweise wurde. Daraufhin wurden nebst neuen Übertritte an die Hochschulen nach der an pädagogischen Hochschulen und nach Möglichkeiten zur Flexibilisierung des BM tendenziell leicht sinkend einer Ergänzungsprüfung «Berufsmaturi- BMS-Unterrichts auch die Kommunika- Die Zahl der Übertritte von Inhaberinnen tät – universitäre Hochschulen» (oft «Pas- tion und Information zur BM verstärkt. und Inhabern eines BM-Zeugnisses an serelle» genannt) auch an universitären Regional schwanken die Berufs Hochschulen ist in der laufenden Dekade Hochschulen. maturitatsquoten ähnlich, wenn auch gemäss Bildungsbericht bisher prak- etwas weniger stark als die gymnasialen tisch unverändert geblieben. Stabil ist der Wie beliebt ist die BMS wirklich? Quoten. Die höchste BM-Quote verzeich- grosse Unterschied bei den Übertrittsquo- Die BM-Quote ist nicht stabil: Ab Mitte net Schaffhausen mit fast 22 Prozent. Der ten zwischen den Geschlechtern. Männer der Nullerjahre flachte sie zuerst merk- Kanton mit der niedrigsten BM-Quote ist haben eine um rund die Hälfte höhere lich ab; seit etwa 2010 steigt sie wieder an. Genf mit 10 Prozent. Übertrittsquote als Frauen. Ein Teil der Heute macht die Berufsmaturität mit einer tieferen Quoten bei den Frauen kann Quote von 15 Prozent rund 40 Prozent der Keine direkte Konkurrenz durch Übertritte in die höhere Berufsbil- Maturitätszeugnisse aus. Auf eine Lernen- Anders, als man vermuten könnte, kon- dung erklärt werden: So setzen etwa künf- denkohorte bezogen zeigt sich, dass der- kurrenzieren sich BMS und Gymnasium tige Pflegefachpersonen in der Deutsch- zeit rund ein Viertel aller Lernenden, die nicht direkt: Hohe Berufsmaturitäts schweiz ihre Ausbildung an einer höhe- eine berufliche Grundbildung mit EFZ quoten kompensieren tiefe gymnasiale ren Fachschule fort. Auch bei den Män- abschliessen, auch eine BM erwerben. Die Maturitätsquoten in der Regel nicht: nern mit BM ist die Tertiärquote dank der BM wirkt, so der «Bildungsbericht 18», «in Bei den meisten Kantonen gehen höheren Berufsbildung leicht höher, als einem gewissen Sinne sozial ausgleichend, hohe Quoten bei der gymnasialen Matur es nur die Übertrittsquoten an die Hoch- da sie vor allem von schulisch stärkeren mit hohen BM-Quoten einher. Ausnahmen schulen vermuten liessen. Quote der Maturität an Gymnasien und Quoten für gymnasiale Maturität und Berufsmaturitätsquote, 1998–2016 Daten: BFS Berufsmaturitätsquoten nach Kantonen, 2016 Daten: BFS Maturitätsquote Berufsmaturitätsquote 25% 25% 20% 20% 15% 15% 10% 10% 5% 0% 5% 1998 2001 2004 2007 2010 2013 2016 0% Berufsmaturität 0% 10% 20% 30% gymnasiale Maturität gymnasiale Maturitätsquote folio | dezember 2018 11
thema Die BM – ein Erfolgsmodell!? Studienträume von Sport bis Tourismus Sie kommen aus fünf verschiedenen Berufen, haben fünf verschiedene Fernziele und besuchen oder besuchten vier verschiedene Berufsmaturitätsschulen. Klar ist aber: Unsere fünf Gewährsleute haben sich alle wegen des Zugangs zu einem Studium für die BMS entschieden. Kurzinterviews: Renate Bühler «Eine zusätzliche Herausforderung» «Der Zugang an die FH» Wer hatte die Idee, dass Sie neben oder nach der Lehre Nadine Geraldine Kuhn Andreas Hess die BMS machen? Alter: 21 Jahre Alter: 29 «Ich hatte die Idee selber, aber mit Wohnort: Dottikon AG Wohnort: Wabern BE Unterstützung und Empfehlung Lehrberuf: Coiffeuse EFZ Lehrberuf: Gärtner meiner Eltern.» Fachrichtung Garten- Folio: Nadine Kuhn, welchen und Landschaftsbau Kannten Sie vorher jemanden, BMS-Typ haben Sie absoviert? der oder die die BM bereits Nadine Kuhn: «Die Berufsmatura Folio: Andreas Hess, bei gemacht hatte? Erwachsenenbildung Fachrichtung I hnen ist es ja schon ein paar «Nein, Ich kannte niemanden, der Gestaltung, Kunst und Kultur habe Hatten Sie ein konkretes Ziel Jahre her, seit Sie die die BMS bereits abgeschlossen ich in einem Jahr absolviert. Dies mit vor Augen, das man nur über Berufsmatura abgelegt hatte.» der Absicht, bessere Berufschancen die BM erreichen kann? haben. Welchen BMS-Typ zu erreichen.» «Wäh rend der BMS nahm der haben Sie besucht? Warum haben Sie die BM Wunsch, Lehrerin zu werden, immer Andreas Hess: «Ich habe vor rund abgelegt? Wer hatte die Idee, dass Sie mehr Form an. Ich leite sehr gerne an- zehn Jahren die Berufsmatura ge- «Ich habe sie ganz klar wegen der neben oder nach der Lehre die dere Leute an. Darum richtete ich mich macht, den Typ 1; ich besuchte die Möglichkeit eines Studiums an eine BMS machen – Sie selber? Die auf das Ziel aus, die PH zu besuchen, BMS also während der Lehre.» Fachhochschule gemacht.» r Eltern? Eine Lehrperson? und gestaltete die Semesterarbeit wie «Meine Sekundarlehrpersonen schlu- auch die Abschlussarbeit mit je einer Wer kam während Ihrer gen mir schon damals in der Oberstu- Schulklasse.» usbildung finanziell für A fe vor, ich solle doch an die Bezirks- Sie auf? schule gehen, doch das lehnte ich ab. Konnten Sie neben der Schule «Das waren der Lehrbetrieb und ich Darauf machten sie mir die BMS etwas Geld verdienen? selber.» schmackhaft. Zuerst war ich etwas «Da ich die BMS in Vollzeit besuchte, skeptisch, doch schon sehr bald war arbeitete ich nicht in einer Festanstel- Wo wohnten Sie damals? ich ihnen für diesen Tipp dankbar – lung nebenbei, sondern selbstständig: «Ich habe während der Lehre und bin es heute noch.» Auf meinem gelernten Beruf und in noch zu Hause gewohnt.» Kursen bildete ich mich zum Thema Kannten Sie jemanden, der die ‹Haut und Haar› weiter und hatte mo- BM bereits gemacht hatte? natlich drei bis vier Kundinnen und «Nein, ich kannte vorher niemanden, Kunden. So gab es ab und zu ein gutes der diesen Weg schon gegangen war, ‹Batzeli›. Grösstenteils war ich aber darum konnte auch niemand auf mei- auf die finanzielle Unterstützung mei- nen Entschluss, diese weiterführende ner Eltern angewiesen und wohnte Schule zu besuchen, Einfluss nehmen. während dieser Ausbildung auch bei Was mich schliesslich wirklich dazu ihnen daheim.» bewegte, war, dass ich schon immer gerne zur Schule gegangen bin und mir der Schulstoff in der Coiffeur-EFZ- Lehre zu langweilig war. Ich brauchte eine zusätzliche Herausforderung. Mit der BMS ergab sich diese.» 12 folio | dezember 2018
Haben Sie ein konkretes Ziel, das Sie nur mit der «Ich will Radiomoderatorin werden» BM erreichen können? «Ja, ich möchte danach in die Medienwelt einsteigen kön- Mia Stotzer nen, Richtung Radiomoderation. Dafür möchte ich an eine Alter: 19 Fachhochschule Medien und Kommunikationswissen- Wohnort: Bern schaften studieren gehen.» Lehrberuf: Pharmaassistentin Arbeiten Sie neben der Schule? Folio: Mia Stotzer, welchen BMS-Typ «Ja, ich darf grosszügigerweise in meiner Lehrapotheke, der absolvieren Sie? Rathaus Apotheke in Bern, an ausgewählten Samstagen, » Mia Stotzer: «Ich mache die BMS Vollzeit Richtung Sozial. meist einmal pro Monat, arbeiten gehen. Das heisst, ich arbeite ungefähr an einem Tag im Monat, Wer hatte die Idee, dass Sie neben oder nach der mehr würde wahrscheinlich schwierig wer- Lehre die BMS machen? den, neben dem Lernen.» «Ich habe mich selber dafür entschieden.» Wer kommt während Ihrer Aus- Kennen Sie jemanden, der die BM bereits ge- bildung finanziell für Sie auf? macht hat? Hat diese Person Ihre Entscheidung, «Ich habe während der Lehre extra an die BMS zu gehen, irgendwie beeinflusst? dafür Geld auf ein Sparkonto einge- «Meine Kollegin hat sie letztes Jahr absolviert und ein Ge- zahlt, und meine Eltern unterstützen spräch mit ihr hat mich in meinem Wunsch, die Berufsmatur mich! Und ja, ich wohne noch zu Hause zu machen, bestärkt.» bei den Eltern.» Haben Sie ein konkretes Zie l, das Sie nur mit der BM err eichen können? «Ich will nach Luzern, an die Tourismus- Haben Sie ein konkretes fachhochschule. Das ist das BM: Sie gibt dir die die Möglic Tolle an der «Sportstudium Ziel, das Sie nur mit der BM der Fachhochschule der Sch hkeit, an je- in Magglingen» erreichen können? weiz zu stu- «Ja, ich strebe das Sportstudium dieren, auch an einigen Unis. Ich denke, an der eidg. Hochschule für Sport niemand bereut es, die BM gemacht zu Genc Qela haben.» Alter: 22 in Magglingen (EHSM) an.» Wohnort: Bern Arbeiten Sie neben der Sc Lehrberuf: Logistiker EFZ Arbeiten Sie neben der hul e? Schule? «Ja, ich gehe nur am Donner stag und am (Distribution) Freitag zur Schule. Montags «Ja, ich arbeite jeden Samstag, und diens- also sechs bis acht Stunden pro tags arbeite ich jeweils. Eigent Folio: Genc Qela, welchen lich hätte ich ja gerne eine Teilzeitstelle auf meinem BMS-Typ absolvieren Sie? Woche.» «Hochschule für Beruf angetreten, aber ich bek Genc Qela: «Ich mache die So am mehrere r Tourismus» Absagen. Dies jeweils mit der ziale BMS in Vollzeit, also in einem Wer kommt während Ihre etwas ärger- Ausbildung finanziell für lichen Begründung, für die ent Jahr.» sprechende Sie auf? Teilzeitstelle sei ich – weil ich Céline Zimmermann einen guten he Abschluss gemacht habe – überqualifi- Wer hatte die Idee, dass Sie «Da ich nur einen Tag pro Woc Alter: 19 neben ode r nac h der Leh re arbe iten kann , kom men weitge- ziert, ich solle doch Vollzeit arb Wohnort: Kehrsatz BE eiten. Ich die BMS machen? hend meine Eltern für mich auch. bekam auch Angebote für Vol Lehrberuf: KV lzeitstellen, e.» aber ich wollte ja an die BM «Das war meine eigene Idee und Ich wohne auch noch zu Haus S und hatte irgendwann die Nase voll. Dar meine eigene Entscheidung.» Folio: Céline Zimmermann, um kellnere we ich jetzt an zwei Tagen in der BMS-Typ absolvieren Sie? lchen Woche und am Mittwoch ist mein freier Tag Kennen Sie jemanden, der Céline Zimmermann: «Ich .» bin an der die BM bereits gemacht BMS 2, wirtschaftliche Ric htung, und Wer kommt während Ihr er Au hat? Und hat diese Person bildung finanziell für Sie auf s mache sie in Teilzeit in zwei Jah ren.» Ihre Entscheidung, die BM «Ich bezahle das Meiste selb ? anzustreben, irgendwie Wer hatte die Idee, dass Sie er: Kleider, Ausgang und so weiter, auch beeinflusst? neben oder nach der Lehre für kleinere die Sachen für die Schule komme «Ja. Sie hat mich motiviert, BMS machen? ich selber auf. Meine Eltern unterstütz die BMS zu machen und die «Für mich und auch für meine en mich, in- Eltern stand dem sie etwa die teureren Schulbücher Ausbildung am Inforama von Anfang an fest, dass ich die BM able- übernehmen und andere grösse Rütti in Zollikofen emp- gen will, denn ich will später stu re Investi- dieren.» tionen wie etwa die neue Brille.» fohlen. Mir passt das Um- feld an der Rütti und die Kennen Sie jemanden, der die BM Wohnen sie noch zu Hause Klassenkameradinnen und bereits gemacht hat? ? «Ja, ich wohne noch bei Elte -kameraden helfen sich «Nein, bisher kenne ich niem rn und Bru- anden, der der.» gegenseitig.» schon fertig ist.» folio | dezember 2018 13
thema Die BM – ein Erfolgsmodell!? Eine eigene Stimme für die BMS-Lehrpersonen Im Herbst hat der BCH eine BMS-Fachsektion gegründet und bereits entstehen erste Kantonalgruppen. Gespräch mit deren Leiter Kevin Koch, BMS-Lehrer und BCH-Vizepräsident. Interview: Renate Bühler Folio: Kevin Koch, im vergangenen Aber das sind eben längst nicht alle. Die ein, also eine juristische Person mit allen September wurde in Zürich die neue BMS- Bedürfnisse und Anstellungsbedingun- dazu gehörigen Verpflichtungen, gründen, Fachsektion des BCH gegründet. Hatten gen eines Gymnasiallehrers sind nicht sondern übernehmen die wesentlichen die Lehrpersonen an Berufsmaturitäts- identisch mit jenen eines BMS-Lehrers: Punkte, die Statuten, des Dachverbandes. schulen vorher keine eigene Vertretung? Anders als die Gymnasien unterstehen Und: Unser administrativer Aufwand ist Kevin Koch: «Ja, das war während unge- die BMS dem Berufsbildungsgesetz. Damit minim, weil Aufgaben wie die Verwaltung fähr eineinhalb Jahren so, nachdem sich dieser Unterschied entsprechend berück- der Mitglieder und das Einziehen der Mit- im Frühling 2017 der BMCH, der natio- sichtigt wird, braucht es eine Fachsektion gliederbeiträge von der BCH-Geschäfts- nale Dachverband der BMS-Lehrer, auf- für die BMS-Lehrpersonen. stelle übernommen werden.» gelöst hatte.» Zwischen dem VGS, dem Verband Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen Nun ist die Fachsektion also gegründet. Gab es einen besonderen Anlass für die und Gymnasiallehrer, und dem BCH best- Wie geht es jetzt weiter? Auflösung? hen gute Beziehungen und es findet ein «Jetzt können und sollen kantonale Unter- «Nein, der Verfall kam schleichend: Auf reger Erfahrungsaustausch statt.» gruppen gegründet werden, das ist ein ganz der Führungsstufe fand man keine Nach- wesentlicher Punkt. Denn wenn wir die folger und die Mitglieder sahen offenbar Wie kam es dann zur Zusammenarbeit mit Struktur genau anschauen, sind die Kan- keinen Grund, sich für ihren Berufsstand dem BCH? tonsvertretungen und die nationale Fach- einzusetzen.» «Wir BMS-Lehrpersonen sind ja Teil der sektion nicht für die gleichen Belange Berufsbildung. Ich nahm darum Kontakt zuständig.» War der BMCH auch eine BCH-Sektion? mit Christoph Thomann auf, dem BCH- «Der BMCH war zwar eine Fachsektion Präsidenten, und wir haben die Können Sie für diese beiden des BCH, aber ein eigenständiger Ver- Situation ausgiebig diskutiert. Arbeitsgebiete konkrete band, der unabhängig vom BCH operierte. Er schlug mir dann vor, im Beispiele geben? Nach seinem Verschwinden standen wir BCH-Zentralvorstand mit- «Gerne. Die nationale Fach- BMS-Lehrpersonen plötzlich ohne Verein zuarbeiten, sodass wir von sektion des BCH wird sich oder Verband, also ohne Stimme auf kan- dort aus eine Fachsektion etwa bei einer nächsten tonaler und eidgenössischer Ebene da. Ich aufbauen können.» Revision des Rahmenlehr- fand diese Situation problematisch und planes einbringen, die kan- führte darum zahlreiche Gespräche mit Das ist ja nun so passiert. tonalen Gruppen bei Fra- Kolleginnen und Kollegen. Dabei stellte «Ja, im Frühling 2018 luden gen der Anstellungsbedin- ich fest, dass der Stand der BMS-Lehr- wir zu einer ersten Informati- gungen.» personen nicht organisiert ist. Nach mei- onsveranstaltung in Bern ein und ner Schätzung dürfte es schweizweit über waren vom grossen Echo überrascht– es Was sind derzeit die brennenden Fragen 1000 Lehrpersonen an Berufsmaturitäts- nahmen über 30 Leute aus der ganzen auf beiden Ebenen? schulen geben, die brauchen doch eine Schweiz teil. Wir stellten also fest, dass das «Auf nationaler Ebene beschäftigen uns Vertretung!» Interesse vorhanden ist. Unser Vorschlag, BMS-Lehrpersonen vorab die Auswüchse eine BCH-Fachsektion zu gründen, kam des aktuellen Rahmenlehrplanes, ins- An der BMS sind ja ausgebildete Mittel- gut an.» besondere die Rundungsregelungen, die schullehrpersonen tätig – warum haben zum Minimalismus einladen. Sie waren ja Sie sich nicht einfach dem Verein der Das heisst also, dass die BMS-Lehrperso- auch schon in der Presse. Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, dem nen jetzt nicht mehr unabhängig sind? Weiter sind auch die Qualifikationen VSG, angeschlossen? «Unabhängig ist das falsche Wort. Es und Weiterbildungen für BMS-Lehrperso- «Es gibt sicher BMS-Lehrerinnen und heisst, dass wir einen Kooperationsver- nen ein Thema, das uns beschäftigen wird. -Lehrer, die dort mitmachen, wohl ins- trag mit dem BCH abgeschlossen haben. Dann werden wir uns sicher auch besondere jene, die sowohl an einer BMS Für uns hat das bedeutende Vorteile: Wir einbringen, wenn der Fächerkanon wie- als auch an einem Gymnasium arbeiten. müssen nicht extra einen eigenen Ver- der einmal zur Debatte steht. Da nun die 14 folio | dezember 2018
Verhandlungen zu den Anstellungsbedingungen – auch ein Thema für die neuen Kantonalgruppen. Gymnasien die Informatik zum Pflicht- pen in Entstehung begriffen und ich Apropos erreichen: Vielleicht hat dieses fach erheben und ihre Lektionenzahl unterstütze die Kolleginnen und Kollegen Interview bei der einen Leserin oder dem erhöhen, wird das sicher bald auch in der gerne. Und natürlich würde es mich sehr anderen Leser Interesse geweckt. Auf Berufsbildung ein Thema. freuen, wenn auch in den anderen Kanto- welchem Kanal sind Sie erreichbar? Neben den Anstellungsbedingungen – nen etwas laufen würde. Die nächste Auf- «Ich stehe den Leserinnen und Lesern sprich: dem Lohn – werden die kantona- gabe der bestehenden Kantonalgruppen bei Fragen und Anregungen gerne zur len Gruppen etwa bei den Prüfungsrege- ist es nun, Mitglieder zu werben, damit sie Verfügung und unterstütze natürlich lungen mitwirken. Es wird zum Beispiel wirklich zu einer Stimme innerhalb der auch den Aufbau von weiteren kantona- um die Frage gehen, ob die Prüfungen Bildungslandschaft werden. len Gruppen. Meine Koordinaten stehen schulübergreifend sein sollen oder nicht. Ich selber stehe vor einer kniffli- auf der Webseite des BCH, wo sich auch Und auch das Image des Berufsstandes ist gen Aufgabe: Ich will und muss anderen das Anmeldeformular für die Fachsektion immer wieder ein Thema: Wir BMS-Leh- Organisationen – vorab Berufsverbänden ‹BCH-BM› befindet». rer sind keine ‹Gymnasiallehrer zweiter und Gewerkschaften – klar machen, dass www.bch-fps.ch Klasse›! Wir sind Mittelschullehrperso- wir uns nicht als Konkurrenz zu ihnen nen mit Studium und Lehrbefugnis und sehen, sondern als Partner. Das ist inhalt- genauso gut ausgebildet wie die Kolle- lich scheinbar einfach, da wir ähnliche gen an den Gymnasien! Das ist aber noch Interessen vertreten. Organisatorisch ist lange nicht Allgemeinwissen.» es eine Knacknuss. Wir müssen vermei- den, dass unsere engagierten Mitglie- Sie selber sind BCH-Vizepräsident und der mehrfahr Mitgliederbeiträge bezah- Zur Person stehen der BMS-Fachsektion vor. Was len. Das heisst, ich muss nun Türen öff- sind Ihre Aufgaben? Gründen Sie neue nen (helfen) oder bestehende Türen offen Kevin Koch ist Master in Betriebswirtschaft und Erzie- Kantonalsektionen? halten. Das versuche ich mit Partnerschaf- hungswissenschaft, Lehrbeauftragter an der BMS am «Nicht direkt, aber ich helfe gerne dabei. ten und Zusammenarbeitserklärungen zu INFORAMA Rütti in Zollikofen (BE) und unabhängiger In mehreren Kantonen sind diese Grup- erreichen.» Projektleiter. Er ist BCH-Vizepräsident. folio | dezember 2018 15
thema Die BM – ein Erfolgsmodell!? Andreas Pfister: «Ich habe Angst, dass wir aus Unwillen, uns zu bewegen, Bildungsverlierer produzieren.» «Matura für alle» Andreas Pfister fordert in seinem Buch «Matura für alle – wie wir das Geissenpeter-Syndrom überwinden» eine deutliche Erhöhung sowohl der gymnasialen Matura als auch der BM-Quote und damit praktisch eine Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr. Nur mit mehr Investition in die Bildung bleibe die Schweiz international konkurrenzfähig. Interview: Renate Bühler Folio: Andreas Pfister, Sie plädieren dafür, dass künftig ein Drittel oft eine Lehre mit BM machen. Ich sehe Gymnasium und Berufs- der Jugendlichen eine gymnasiale Matura ablegen und ungefähr matura nicht als Gegeneinander, wir sollten den War for Talents zwei Drittel eine Berufs- oder Fachmatura. Damit stiege der Anteil überwinden. Unser gemeinsames Ziel muss es doch sein, unsere der Gymnasiasten von 20 Prozent auf über 30 Prozent, und die Leute bestmöglich auszubilden!» Berufslehre würde das schulisch beste Fünftel der Lernenden ans Gymnasium verlieren. Sie graben der Wirtschaft das Wasser ab. Die Erhöhung der Maturitätsquote erhöhe die Chancengerechtig- Andreas Pfister: «An sich stimmt, was Sie sagen: Ich finde wirk- keit, so Ihre Argumentation. Ist es beim Eintritt in die Sekundar- lich, es sollten mehr Jugendliche aufs Gymnasium gehen, und stufe II dafür nicht schlicht zu spät? Müssten die Investitionen in damit würden tatsächlich etwas weniger Leute eine Lehre absol- genau diese Gerechtigkeit nicht viel früher erfolgen – etwa vieren. Diese Leute gehen der Wirtschaft aber nicht verloren, sie mit mehr Deutsch als Zweitsprache oder heilpädagogischer steigen einfach später, dafür aber qualifizierter, ins Arbeitsleben Begleitung ab dem Kindergarten? ein. Kommt hinzu, dass schon heute gerade technisch interes- «Das ist sicher auch ein sinnvoller Ansatz. Ich begrüsse Initiati- sierte junge Männer, die auch ans Gymnasium gehen könnten, ven wie die Tagesschulen in der Stadt Zürich sehr. Im Bereich der 16 folio | dezember 2018
Frühförderung wird ja schon länger einiges getan – und trotzdem besuchen nach wie vor grossmehrheitlich Kinder aus bildungs- nahen Elternhäusern die Mittelschulen; Kinder aus anderen Milieus bleiben immer noch oft auf der Strecke. Und viel mehr können wir bei den Kleinen nicht mehr machen, sonst werden wir totalitär. Ich sähe es darum gerne, wenn die Chancengerech- tigkeit auf allen Stufen ein Thema wäre.» Und dazu braucht es die Matura für alle? «Mir geht es darum, dass unser Bildungssystem weiterentwi- ckelt wird. In den 50er-Jahren, als die ‹Berufslehre für alle› kam, wurden auch Bedenken geäussert, man betonte, nicht alle seien für eine Lehre geeignet, und man würde viele Jugendliche mit den Anforderungen einer Berufslehre überfordern. Das hat sich Die Digitalisierung verändert auch die Wirtschaft der ländlichen Gebiete. auch als falsch erwiesen. Ich finde, es gibt keine Notwendigkeit Hier: Maienfeld / Heidiland. Foto: Canyalcin / Shutterstock.com zu einem vorschnellen Nein zu meinen Vorschlägen.» In Frankreich zum Beispiel absolvieren praktisch alle ein Ihr «Geissenpeter» (siehe Kasten) ist tatsächlich männlich: Baccalauréat – und viele von ihnen stehen dann auf der Strasse. Längst gibt es mehr Gymnasiastinnen als Gymnasiasten und Das kann doch nicht Ihr Ziel sein? mehr neue Medizinerinnen als Mediziner. Was muss die Mittel- «Nein, das ist es keineswegs! Das französische System ist nur schule bieten, um für die jungen Männer attraktiv zu sein? scheinbar egalitär, an sich ist es streng hierarchisiert – ein ‹bac› «Ich habe den Genderaspekt lange unterschätzt. Tatsächlich ist nicht einfach ein ‹bac›. Zudem will ich ja nicht, dass alle bis würde ich mir wünschen, dass gerade die Gymnasien den jungen 18 ausschliesslich zur Schule gehen. Die Bildungspflicht umfasst Männern mehr aktiv ‹zu tun› geben, dass sie sich bewegen, mehr auch die Lehre.» anpacken und vor allem selber etwas ausprobieren können.» Sie argumentieren auch gerne mit den ausländischen Konzern Zum Beispiel? chefs, die die Abschlüsse der Höheren Berufsbildung nicht ver- «Da gibt es unzählige Möglichkeiten, aber wenn Sie ein konkretes stehen und darum der Einfachheit halber für ihr Kader Bachelors Beispiel wollen: Heute bauen und programmieren Mittelschüler und Masters aus ihrer Heimat mitbringen. Man könnte ihnen ja einen Lego-Roboter. Das ist gleichermassen anspruchsvoll wie mal erklären, wie es hier funktioniert. unterhaltsam.» «Ja, das könnte man vielleicht, und man versucht es auch. Bisher hat es aber schlecht geklappt, wie man sieht, und da der Vorstoss Ihr «Geissenpeter» ist auch vorab ländlich – in städtischen Ge- für die Einführung von Berufsbachelors und -masters in den eid- bieten ist die von Ihnen gewünschte Mittelschulquote vielerorts genössischen Räten nicht durchgekommen ist, dürfte es schwie- bereits Tatsache. In ländlichen Gebieten ist sie zum Teil verschwin- rig bleiben. Hätten unsere gut ausgebildeten Leute die gleichen dend klein. Wie wollen sie dem Stadt-Land-Graben begegnen? Hochschulabschlüsse, wie sie in den anderen europäischen Staa- «Wenn ich das wüsste! Wahrscheinlich braucht es, wie für die ten vergeben werden, müsste man niemandem etwas erklären. meisten Entwicklungen, den Druck von aussen. Und der kommt: Das bedingt aber, dass unsere künftigen Fachkräfte eine Matura Auch, aber nicht nur durch die Digitalisierung verschwin- ablegen und studieren können. den gerade in ländlichen Gebieten immer mehr kleine KMUs, Wir bewegen uns auf eine Hochleistungsgesellschaft zu – die Söhne und Töchter heutiger Kleinunternehmer können und die Schweiz sieht sich als Bildungsnation. Ich habe Angst, sich nicht mehr darauf verlassen, nach der Lehre ins elterliche dass wir aus Unwillen, uns zu bewegen, Bildungsverlierer pro- Geschäft einzusteigen und dort dereinst praktisch automatisch duzieren.» Chef zu werden. Wer weiterkommen will, muss in seine Bildung «Matura für alle – wie wir das Geissenpeter-Syndrom überwinden» «Der Geissenpeter (…) ist ein kerniger, ungezähmter Naturbursche. Die Schulstube ist ihm ein Graus. Er ist bockig und eifersüchtig – und total sympathisch. Eine Identifikationsfigur, ein nationaler Mythos. Dass er nicht schreiben und lesen will, ist kein Manko, sondern ein Akt des Widerstands gegen die Entfremdung, gegen das gehorsame Sitzen in der Schulbank. Er ist frei – und er hasst die Schule.» So beschreibt Andreas Pfister seinen Geissenpeter – und attestiert der Schweiz ein kollektives «Geissenpeter-Syndrom»: Mit der Mischung aus Stolz und Schulverachtung stehe sich die schweizerische Gesellschaft selber im Wege, so Pfister. Heute stelle man zwar nicht mehr die Volksschule, sondern die nachobligatorische Bildung infrage, aber immer noch sei die Grundhaltung eine ablehnende, im Sinne von «das brauchen wir nicht». Andreas Pfister geht davon aus, dass die Schweiz durchaus mehr Akademiker benötige, aber auch mehr schulische Bildung in der Berufs- lehre. Nur so sei die Schweiz für die Zukunft gerüstet. Darum, und weil er sich davon eine höhere Chancengerechtigkeit für Jugendliche aus bildnungsferneren Milieus erhofft, schlägt er für alle eine Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr vor – inklusive einer Maturität, sei es die gymnasiale, eine Berufs- oder eine Fachmatura. folio | dezember 2018 17
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