Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?

 
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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
Hamburger Architektur
Sommer 2019
Mai bis Juli

                        Ausgang offen
                        Moderne
                        mit Zukunft?
Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
EDITORIAL

Geschichtliches, Aktuelles, Fiktives bestimmen die Themen im Hamburger Architektur
Sommer 2019. Wir feiern 100 Jahre Bauhaus, der Architektur Sommer wird in diesem
Jahr 25. Für dieses Magazin haben wir Autor*innen und Künstler*innen aufgefordert,
„Substanz“ und „Klima“ in der Stadt näher zu beleuchten und darin ihre Standpunkte
und Haltungen darzulegen, sich inhaltlich und künstlerisch zu positionieren.

Ökologie und gute Luft, Nachbarschaften, das soziale Miteinander, Kunst und Kultur,
die in den Nischen und jenseits gelenkter Planung gedeihen – letztlich: Was macht
eine Stadt lebenswert? „Das Maß aller Dinge ist der Mensch“, hieß es bei allem Form-
und Funktionsbegehren auch am Bauhaus, dessen Erbe in den Beiträgen weitest­
gehend verhandelt wird. Hier misst er vielmehr, sie sich an in Stein gebauter Architektur.
Oder beamt sich in ebenso kuriose wie fantastische Ideenwelten.

„Moderne mit Zukunft?“, lautet die Frage im Spannungsfeld von Vergangenheit und
Zukunft, von Lebensreform und digitalem Zeitalter, von Nostalgie und Utopie.

Zehn Projekte werden von Veranstalter*innen des Hamburger Architektur Sommers
selbst vorgestellt. Die Auswahl rückt Themenkomplexe exemplarisch in den Fokus.
Neben groß angelegten Veranstaltungen wie die Ausstellung „Die Neue Heimat“ und
der inter­nationale Workshop „Bauforum 2019“ haben wir nicht minder wichtige und
lebendige „Nischen­erscheinungen“ wie Das Archipel gebeten, sich zu präsentieren.
Oder auch das geplante Kinderarchitekturzentrum in der HafenCity. Filmprogramme
spielen seit eh und je einen wesentlichen Part im Architektur Sommer. Vor allem aber
ist uns der Blick über die Grenzen der Stadt ein Anliegen. Nach Italien und über Europa
hinaus nach Indien und nach Kolumbien.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen. Lassen Sie sich anregen zu Besuchen des
vielfältigen Programms beim Hamburger Architektur Sommer 2019.

Das Architektur Sommer-Team
Irmela Kästner, Lara Kuom, Stephan Feige

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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
GRUSSWORT

Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher                   wird. Orte der Inspiration, der Faszination und
des Hamburger Architektur Sommers,                        gern auch des belebenden Streits, der die Aufmerk-
                                                          samkeit für das schärft, was uns umgibt mit der
„In der Hauptstadt Berlin zählt man bisweilen mit         alles umspannenden Frage, wie wir gemeinsam im
einer Mischung aus Anerkennung und Neid die hohe          21. Jahrhundert leben und arbeiten wollen.
Zahl der Baukräne in der Hansestadt Hamburg. Ja
derzeit proklamieren manche Beobachter Hamburg            Unsere Stadt kann sich über dieses „baukulturelle
sogar zur heimlichen Architekturhauptstadt der            Festival“ glücklich schätzen, das zudem europa­weit
Republik“ – das konstatierte das Feuilleton der „Süd-     in dieser Art ohne Beispiel ist. Der Architektur
deutschen Zeitung“ aus Anlass des ersten Hamburger        Sommer ist seit seinen Anfängen weit mehr als eine
Architektur Sommers 1994 voll der Anerkennung für         Leistungsschau; besonders begrüßenswert finde
die Lebendigkeit der Branche an Elbe, Alster und Bille.   ich seine Orientierung über die Grenzen des Fach­
                                                          publikums hinaus – ein wertvoller Impuls für eine
Bereits damals umfasste das Programmheft mit              engagierte Stadtgesellschaft. Ich danke der Hambur­
seinen vielfältigen Ausstellungen und hochkarätigen       gischen Architektenkammer und allen aktiv
Symposien 80 Seiten. Im Mittelpunkt und zugleich          Beteiligten für ihren Enthusiasmus und ihre Leiden-
in reizvollem Kontrast zu einem gewissen Sturm und        schaft für gutes Bauen.
Drang des Moments stand die Fritz-Schumacher­
Ausstellung in den Deichtorhallen – die erste umfas-      Die „Neue Zürcher Zeitung“ beschrieb vor 25 Jahren
sende Schau zum Lebenswerk des berühmten                  begeistert „eine Stadt im Architekturfieber“. Möge es
Hamburger Oberbaudirektors, reichlich bestückt mit        nie abklingen!
Zeichnungen, Gemälden, Fotos, Möbeln und Modellen.
                                                          Ihre
Damit sind zwei Pole der – glücklicherweise – nie
endenden Diskussion um städtebauliche Tradition
und die Anforderungen der Moderne markiert,
die Hamburgs Stadtentwicklung bis heute begleitet
und zweifellos auch künftig begleiten wird. Was           Dr. Dorothee Stapelfeldt
macht Hamburgs Charakter aus, worin besteht die           Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen
kollektive Unverwechselbarkeit dieser schönen Stadt?
Wie bewahren wir diesen Charakter bei gleichzeitigem
Anspruch, für Hamburgs beständig wachsende
Bevölkerung bezahlbare Wohnungen in großer Zahl
zu schaffen, selbstverständlich in guter Qualität
und ansprechender Gestaltung? Und wie fügen sich
neue Schulen, Museen, Krankenhäuser, U-Bahnhöfe
und auch Gewerbebauten in das Gesamtbild?

Ein solcher Diskurs braucht Orte wie den Hamburger
Architektur Sommer, wo jenseits von Bebauungs­plänen
und Kostenberechnungen Grundsätzliches erörtert

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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
VORWORT

Liebe Gäste des 9. Hamburger Architektur Sommers,

zum 25-jährigen Jubiläum des Hamburger Architektur Sommers dürfen wir Ihnen
ein großartiges Programm mit mehr als 250 Einzelveranstaltungen präsentieren.
Das Anfang der 1990er-Jahre entwickelte Konzept, alle drei Jahre Hamburgs Kultur-
schaffende einzuladen, gemeinsam mit uns ein vielschichtiges, breites Programm
zu Architektur und Stadt auf die Beine zu stellen, ist damit aufgegangen, auch in diesem
Jahr wieder. Das freut uns sehr.

Den Diskurs über Architektur und Stadtentwicklung interdisziplinär und über das Fach-
publikum hinaus offen, kontrovers sowie erhellend zu führen und zu vermitteln, das
zeichnet den Hamburger Architektur Sommer seit seinen Anfängen aus: Ausgang offen.

Erleben Sie Architektur aus der Innen- und der Außenperspektive, im Bild und mit allen
Sinnen, im Diskurs und unter Einsatz Ihres Körpers, als Geschichte, Gegenwart und
Zukunft, akademisch, künstlerisch und spielerisch, alltäglich und visionär – Architektur
und Stadt gehen uns alle an.

Das Bauhaus hat nur 14 Jahre als Schule existiert, doch war und ist seine Aus­­strahlung
global und bis heute anhaltend. Der Bundestag hat im Jahr 2015 beschlossen, den
„erfolgreichsten kulturellen Exportartikel Deutschlands“ anlässlich der Gründung des
Bauhauses vor 100 Jahren in Weimar mit einem bundesweiten und international
ausstrahlenden Jubiläumsprogramm zu würdigen. Wir freuen uns, Ihnen die Beiträge
zu 100 Jahre Bauhaus und Moderne in Hamburg als Teil des Hamburger Architektur
Sommers präsentieren zu können. In etwa 60 Veranstal­tungen wird die Geschichte
der Moderne beleuchtet und deren Konzepte und Ansätze auf ihre Zukunftsfähigkeit
hin befragt.

Wir danken der Freien und Hansestadt Hamburg und allen Sponsoren für ihre groß­
zügige Unterstützung. Wir danken unseren Medienpartnern für kommende Bericht-
erstattungen. Unser besonderer Dank gilt allen Veranstalter*innen, die wieder einmal
mit großem Einsatz und Leidenschaft für die Sache den Hamburger Architektur
Sommer haben Wirklichkeit werden lassen. Ohne dieses Engagement würde es den
Hamburger Architektur Sommer nicht geben!

Prof. Claus Friede, Renate Kammer, Ferdinand Rector,
Prof. Dr. Ullrich Schwarz, Christoph Winkler
Vorstand Initiative Hamburger Architektur Sommer e. V.

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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
Wir freuen uns über die großzügige Unterstützung durch die
Freie und Hansestadt Hamburg und durch unsere Sponsoren.
Sie haben maßgeblich zur Realisierung des
Hamburger Architektur Sommers 2019 beigetragen.

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                                                           Stiftung
                                                  Gerd und Gesa
                                                                      GGK Gedächtnis Stiftung

Medienpartner

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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
BESUCHERINFO

Willkommen beim Hamburger Architektur Sommer 2019! An die 260 Veranstaltungen
erwarten Sie in der Zeit von Mai bis Juli. Das vorliegende Magazin gibt Ihnen einen
Einblick in die Themen und Projekte. Zusätzlich erhalten Sie mit unserem Programm-
Booklet detailliert Auskunft über das vielfältige Programm. Beide, Magazin und Pro-
gramm-Booklet, liegen an zahlreichen Orten in der Stadt zur kostenlosen Mitnahme aus.

Sie können uns aber auch direkt besuchen: Ab dem 1. Mai 2019 wird unser Info Point im
Bucerius Kunst Forum am Rathausmarkt zu dessen Öffnungszeiten besetzt sein. Das
Bucerius Kunst Forum nimmt selbst mit der Aus­stellung „Welt im Umbruch. Kunst der
20er Jahre“ am Architektur Sommer teil. Dort erhalten Sie neben Magazin und Programm-
Booklet die aktuellen Informationen und zusätzliche Materialien zu den Veranstaltungen.

Mit dem Umzug des Bucerius Kunst Forums werden auch wir ab dem 7. Juni unseren
Info Point in das neue Gebäude am Alten Wall (gleich um die Ecke) verlagern.

Der Hamburger Architektur Sommer zu Gast im Bucerius Kunst Forum
Rathausmarkt 2: 1. bis 19. Mai
Alter Wall 12: 7. Juni bis 31. Juli
täglich 11–19 Uhr, Do bis 21 Uhr

Internet | Aktuelle Meldungen, Änderungen, zusätzliche
Informa­tionen erhalten Sie unter der Adresse:
www.architektursommer.de
#architektursommerHH

APP | Kompakt und schnell einen Überblick über
alle Veranstaltungen. Verortung, Zeiten und nähere
Informationen zu den einzelnen Events.
                                                             Android       iOS

Medienpartner | NDR 90,3 und Hamburg Journal; das Hamburger Abendblatt;
KulturPort.De – FOLLOW ARTS/www.kultur-port.de und DA. Eine Plattform für
Hamburger Baukultur werden über die Veranstaltungen und Themen des Hamburger
Architektur Sommers 2019 berichten.

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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
INHALT

    1   Editorial             8 FOLLOWER
    2   Grußwort             		 Fotokunstprojekt von
    3   Vorwort                 Simone Kessler und
    4   Inhaltsverzeichnis      Edward Beierle
    7   Besucherinfo
                              14 Ausdruck einer neuen Zeit
                                 von Roland Jaeger

 78 Veranstalter*innen        18 Indikator Stadtgrün
80 Bildnachweise,                von Gabriele Wittmann
		Impressum
                              22 Alternativmedizin für
                                 die Leiden der Moderne
                             		 von Till Briegleb

                              26 Jakob K.                      Vergessene Moderne → 215

                              32 25 Jahre
                             		 Hamburger Architektur Sommer

                             38 Veranstaltungskalender

                                                               Jakob K/Farben → 63

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52 Bauforum 2019 – Interview
    mit Hamburgs Oberbaudirektor
    Franz-Josef Höing

 56 Emilie Winkelmann: Frau Architekt

 58 Architekturzentrum für Kinder
    in der HafenCity

 60 Bêka & Lemoine:
    PLAYTIME – Filme zur Architektur

 62 Das Archipel
    und die Bibliothek der Zukunft

 64 Indische Moderne neu denken

 66 Transforming the City

 68 UNVOLLENDET:
    Die Geburt eines Stils

 70 Suse Itzel
    „Wir haben so schön geschlafen“

 72 Rogelio Salmona, Bogotá:                       FOLLOWER → 92
    Die Poesie des Backsteins

 74 DIE NEUE HEIMAT

Bauhaus in Hamburg: Künstler, Werke, Spuren → 72

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Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
FOLLOWER –
female follows form
ist der Name des Kunstprojekts, das die
Künstler*innen Simone Kessler und Edward Beierle
für den Architektur Sommer 2019 entwickelt haben.
Die ersten Untersuchungen zum Projekt entstan­             Ich versuche
                                                           mich auf das
den bereits im Oktober 2018 bei einer Tour entlang       Balancieren zu
                                                         konzentrieren
markanter Bauten und Orte der Moderne in                       – jemand
                                                             kommt die
Hamburg. Dabei stellten sie sich selbst in unge­           Treppe hoch

wohnte körperliche Beziehung zur Architektur und
hielten dies fotografisch fest. Von dem Perspektiv­
wechsel, den sie durch diese wortwörtlich neue
(Körper-)Haltung erfahren haben, erzählen ihre Bilder.
                   form follows function

                   female follows form
                   man follows form

                   mann folgt frau
                   frau folgt form
                   I follow form

8
9
1

             FOLLOWER
             		 I follow

     2

10
–
                                    3

form
           1 Unter mir gefühlt
           zwei Meter,
           lauernd auf das,
           was kommt

           2 Frei, offen, dem
           Himmel zugewandt,
           jede Stufe ein
           kleiner Schmerz

           3 Ich wusste nicht,
           dass ich fallen
           könnte, als ich da lag

           4 Neben mir öffnet
           sich der Aufzug -
           ich sehe nicht hin

       4                                11
1

FOLLOWER –
		  Mann folgt Frau
        2

            1 Die Kälte des
            Granits war
            seltsamerweise
            sehr beruhigend

            2 Wir drehen
            das Bild –
            science fiction

            3 Es ist dunkel,
            ich verschwinde
            im Schrank

12
3

13
Ausdruck
einer
neuen Zeit
Moderne Architektur bedeutete in den 1920er-Jahren
nicht nur Entwerfen und Bauen. Zu ihrer Programmatik
gehörte ebenso die Propagierung der neuen Ideen.
Architekten nutzten dafür Publikationen, Ausstellungen,
Vorträge, Fachverbände und Tagungen
Roland Jaeger

Auch die Hamburger Architekturmoderne konnte auf          Neuen Baukunst. Im Dezember 1925 etwa hielt er Licht­
diese Weise über die Grenzen der Hansestadt hin-          bildervorträge über „Moderne Wohnkultur“, die der
auswirken. Der Architekt Dr. Fritz Block tat sich dabei   „Hamburger Anzeiger“ begeistert besprach: „Solche
besonders hervor. Außerdem fanden in der Hansestadt       Vorträge, wie Dr. Block sie hielt, sind enorm wichtig
zwei überregional wichtige Veranstaltungen statt:         für jeden modernen Menschen. Der Architekt hat
1927 die Jahresversammlung des Bundes Deutscher           in jeder Beziehung heute das wichtigste zur Lebens-
Architekten und 1929 der Deutsche Architekten- und        gestaltung zu sagen. Vom Bau eines Stuhles an bis zur
Ingenieurtag.                                             Organisation ganzer Städte rechnen seine Aufgaben.“

Den Anspruch und Auftrag der Moderne bezog der            1926 organisierte Block für den Bund Deutscher
Hamburger Architekt Dr. Fritz Block (1889–1955) nicht     Architekten, Landesbezirk Nord, die Hamburger Prä-
nur auf eine zeitgemäße Gestaltung, sondern auch          sentation der von der Städtischen Kunsthalle Mann-
auf deren aktive Vermittlung an ein breites Publikum.     heim übernommenen Architekturausstellung „Typen
Seit 1921 betrieb er in der Hansestadt gemeinsam mit      neuer Baukunst“. Im Hinblick auf einen Wettbewerb
Ernst Hochfeld ein Architektenbüro, mit dem sich die      zur Wohnsiedlung Jarrestadt wurde die Ausstellung in
beiden zu den führenden Vertretern des Neuen Bauens       Hamburg um einen internationalen Abschnitt „Neu-
in Norddeutschland entwickelten. Ihr bekanntestes         zeitlicher Volkswohnungsbau im In- und Ausland“
Werk sollte das Deutschlandhaus (1928/29) am Gän-         erweitert. Vorbereitend war Block eigens nach Holland
semarkt werden. Neben der eigenen Entwurfstätigkeit       gereist, um Beispiele des dortigen Wohnungsbaus
engagierte sich Block allgemein für die Belange der       auszuwählen. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich mit

14
Deutschlandhaus von Block und Hochfeld, 1930

Architekt Dr. Fritz Block, Hamburg   "Hamburg und seine
um 1932                              Bauten 1918–1929", Hamburg 1929

dem Rotterdamer Architekten J. J. P. Oud angefreun-                    lichem Abstand folgten dort Vorträge der Architekten
det. Die Ausstellung wurde im Frühsommer 1926 in                       Fritz Schumacher (über „Die Reform halbentwickelter
der Staatlichen Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld                      Bebauungspläne“), J. J. P. Oud (über „Die Entwicklung
gezeigt. Im Katalog veröffentlichte Block einen Beitrag                der modernen Architektur in Holland“) und Walter
über „Volkswohnungsbau. Neue Wege – Neue Beispiele“                    Gropius (über „Neues Bauen“). Im Dezember desselben
und hielt im Begleitprogramm zum gleichen Thema                        Jahres sprach Block beim außerordentlichen Bundestag
einen Lichtbildervortrag in der Kunsthalle. In wöchent-                des Bundes Deutscher Architekten in Halle über Ratio-

                                                                                                                         15
nalisierungen im Bauwesen und erklärte: „Wir stehen                     schließlich am Nachmittag im Curiohaus der Bauhaus-
am Anbeginn einer neuen Zeit.“ Anschließend besuchte                    Direktor Walter Gropius auf Vorschlag des Architekten
er mit einer Delegation des Studienaus­schusses des                     Hans Poelzig in den BDA-Vorstand gewählt wurde,
Bundes Deutscher Architekten für zeitgemäßes Bauen                      war die Geschlossenheit des Bundes wiederhergestellt,
den kurz zuvor eingeweihten Bauhaus-Neubau von                          da nun auch die Moderne namhaft in der Führung
Gropius in Dessau.                                                      vertreten war.

1927: Bundestag der Architekten                                         Weiter stand die Eröffnung einer vom BDA organisier-
Der 1903 gegründete Bund Deutscher Architekten                          ten Ausstellung „Neues Bauen und Neues Wohnen“
(BDA), dessen Landesbezirk Norden damals gut                            auf dem Programm; der Hamburger Architekt und Vor-
150 Hamburger Mitglieder hatte, hielt Anfang Septem-                    sitzende des Landesbezirks Norden, Carl Georg Bensel,
ber 1927 mit rund 600 Teilnehmern seinen Bundestag                      sprach über das Thema „Neue Baukunst als Ausdruck
in Hamburg ab. Die Veranstaltung diente nicht zuletzt                   neuer Zeit“. Am Ende des dritten Tages bei einem
einer Zusammenführung der sich zwischen Traditio-                      abschließenden kulturellen Abend, moderiert von
nalisten und Modernisten voneinander entfernenden                       Fritz Block, wurden Filme gezeigt: über die technische
architektonischen Positionen innerhalb des Bundes.                      Konstruktion der neuen Elbbrücke, über einen Klein-
Am ersten Tag stand eine Rundfahrt durch die Stadt zu                   haus- und einen Großwohnhausbau sowie ein Film über
den „modernen Großwohnbauten“ und den Staatsbau-                        die damals viel diskutierten Wiener Gemeindebauten.
ten des Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher                     Letzterer sorgte wegen seiner „politischen Tendenz“
auf dem Programm. Am Tag darauf beschwor der                            mit explizit sozialdemokratischer Ausrichtung bei kon-
Architekt und Bundesvorsitzende Wilhelm Kreis in der                    servativeren Architekten einmal mehr für Unmut.
Stadthalle im Stadtpark die Einigkeit der Architekten-
schaft und den „fortschrittlichen Gedanken, der allen                   Den Hintergrund für die damaligen Kontroversen unter
die Freiheit des künstlerischen Gewissens gewährt“.                    den Architekten bildete auch die Stuttgarter Werk-
Damit war eine Formel gefunden, Tradition und                           bund-Ausstellung „Die Wohnung“ mit der Mustersied-
Moderne unter den Architekten zu versöhnen. Und als                     lung am Weißenhof, die im Juli 1927 eröffnet worden

Dampferbesichtigung von Teilnehmern der Hamburger Tagung der Architekten und Ingenieure, 1929

16
Vortrag über die „Zeitgebundenheit der Architektur“,
                                                          in dem er das damalige Baugeschehen im Spannungs-
                                                          feld zwischen technischen Notwendigkeiten, ästheti-
                                                          schen Ansprüchen und sozialen Verpflichtungen
                                                          interpretierte: „Es liegt im Wesen unserer Zeit, daß sie
                                                          dem Architekten Aufgaben zuweist, die sich an die
                                                          Masse wenden. Ihm fällt dadurch eine ganz bestimmte
Eine Formel war gefunden,                                 kulturelle Aufgabe zu [...] Diese Aufgabe aber liegt
                                                          zur Zeit nicht im Bereich dessen, was wir Spitzenkultur
Tradition und Moderne zu                                  nennen, sondern im Bereich dessen, was wir Massen-

versöhnen                                                 kultur nennen können.“ Touren zu Hamburgs Neubauten,
                                                          Hafenrundfahrten und Dampferbesichtigungen
                                                          schlossen die Wanderversammlung ab – nun auch in
                                                          Begleitung der Damen (siehe Foto links).

                                                          Bereits 1890 und 1914 hatte der AIV zu Hamburg die
                                                          nationalen Treffen zum Anlass genommen, eine Baubilanz
                                                          „Hamburg und seine Bauten“ in Buchform vorzulegen.
war. Block hatte Siedlung und Ausstellung Mitte August    Das geschah auch dieses Mal, nun für den Zeitraum
besichtigt und darüber im Oktober in der Hamburger        1918 bis 1929. Der umfangreiche Band – noch heute ein
Kulturzeitschrift „Der Kreis“, deren Architekturteil er   Standardwerk – behandelt die Neubautätigkeit in der
redaktionell mit betreute, berichtet. Im November hielt   Hansestadt und ihrer Umgebung seit dem Ersten Welt-
er dazu in der Kunsthalle einen Vortrag über „Haus        krieg in Textbeiträgen und vor allem 860 Abbildungen.
und Wohnung des modernen Menschen“. Vorträge der          Dargestellt werden die städtebauliche Entwicklung, die
Hamburger BDA-Tagung flossen in das von Block zur         hervorgehobene Rolle des Wohnungsbaus, die Bedeu-
Jahreswende 1927/28 in Zusammenarbeit mit dem             tung von Verkehr und Hafen sowie der öffentlichen
Studienausschuss des BDA für zeitgemäßes Bauen her-       Einrichtungen. Der Bildteil führt Beispiele von Neubau-
ausgegebene Buch „Probleme des Bauens. Der Wohnbau“       ten aller Baugattungen vor. In seinem programmatischen
ein. Es enthält wichtige Beiträge zur damaligen Diskus-   Beitrag „Architektonische Regungen der Nachkriegs-
sion um Städtebau, Typenbildung und Rationalisierung      zeit“ grenzte Fritz Schumacher die gemäßigte Hamburger
im Wohnsiedlungsbau, moderne Grundrisslösungen und        Moderne allerdings gegen allzu radikale Bauexperimente
zukünftige Bauweisen. Zu den Autoren zählten Archi-       ab. In der Hansestadt herrsche vielmehr eine „wohltu-
tekten wie Walter Gropius, Richard Neutra, Ernst May,     ende Einheitlichkeit bei äußerer Freiheit“, für die er den
Fritz Schumacher – und Fritz Block.                       von ihm als Baustoff favorisierten Backstein verantwort-
                                                          lich machte: „Es ist keine Frage, daß die Verwendung
1929: Architekten- und Ingenieurtag                       dieses Materials den verblüffenden Eindruck des Neuar-
Das zweite Großereignis, das deutsche Architekten in      tigen [...], der manchen neuzeitlichen Glanzleistungen
den 1920er-Jahren in Hamburg zusammenführte,              in anderen Städten eigen ist, dämpft.“
war die 54. Jahresversammlung des Verbandes Deut-
scher Architekten- und Ingenieur-Vereine (VDAI), die      Der Hamburger Architekt Fritz Block hatte inzwischen
Anfang September 1929 in der Hansestadt mit bis zu        eine zweite Karriere als Fotograf begonnen. Beim
700 Teilnehmern stattfand. Bereits 1858 und 1890 hatte    Architekten- und Ingenieurtag zeigte er daher Auf­nahmen
sich diese Vereinigung hier getroffen, während das        von der Bauausführung seines Deutschlandhauses.
für 1914 schon vorbereitete Treffen wegen des Ausbruchs   Block machte damit deutlich, wie sehr dieses Gebäude
des Weltkrieges abgesagt werden musste. Die Veran-        auch von der Konstruktionsweise her Ausdruck einer
staltung von 1929 fiel mit dem 70-jährigen Bestehen       neuen Zeit war. In „Hamburg und seine Bauten 1918–1929“
des regionalen Architekten- und Ingenieur-Vereins zu      ist das Gebäude allerdings noch als Modell abgebildet,
Hamburg (AIV) zusammen, der damals beachtliche            weil es erst im Dezember 1929 fertiggestellt wurde.
450 Mitglieder hatte.                                     Bittere Ironie der Architektur­geschichte: Ausgerechnet
                                                          im Bauhaus-Jahr 2019 wird das, was nach Kriegsschäden
Die Jubiläumsfeier im Patriotischen Gebäude               und unsachgemäßer Totalrenovierung um 1980 von
er­öffnete der Vereinsvorsitzende Oberbaudirektor         dem ursprünglichen Deutschlandhaus übrig geblieben
Dr. Gustav Heinrich Leo. Am nächsten Tag fand eine        ist, abgerissen.
Abgeordneten­versammlung statt, abends folgte
ein Senats­empfang. Bei der Hauptveranstaltung im         Veranstaltungen zum Thema: 64, 69, 72, 95–99, 104;
Curiohaus hielt Fritz Schumacher einen viel beachteten    63, 68, 70, 87, 92–96, 101

                                                                                                                  17
Indikator
Stadtgrün
Urbanes Grün und gute Luft betreffend war Hamburg
planerisch vor 100 Jahren bereits ganz weit vorn.
Taugen Konzepte von Moderne und Lebensreform
heute noch für eine ökologisch nachhaltige Zukunft?
Oder erfreut sich der Städter lieber an digital
generierten Fassadengärten?
Gabriele Wittmann

Er kommt immer im Morgengrauen. Zwölf Meter              Der Boden ist aller Grün Anfang
schwingt er sich empor, dann lässt er sich hineinzie­    Alles hängt zusammen. Das wussten schon die alten
hen in die warme Stadt: Der „weiße Nebel wunderbar“,     Griechen: „Oikos“ bezeichnete nicht nur das „Haus“,
wie ihn der Wandsbeker Dichter Matthias Claudius         sondern auch den Hof im Allgemeinen, die Äcker und
einst nannte. Frühmorgens lassen sich die Felder und     Wälder ringsum, die es brauchte, um das Haus zu
Wälder, die Pferdehöfe und Moore nur erahnen. Fried­     bewirtschaften. Daraus entstand im 19. Jahrhundert
lich liegen sie unter dem Gipfel der „Hummelsbüttler     das Wort „Ökologie“: Die Gesamtheit der Wechsel­be­
Alpen“, wie die Anwohner diesen ehemaligen Müllberg      ziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer be­lebten
liebevoll nennen. Der Stadtplaner Fritz Schumacher       und unbelebten Umwelt.
entdeckte einst diese grünen „Kaltluftachsen“, auf
deren Bahnen täglich frische Luft in die Stadt zieht.    Das beginnt für den städtischen Grün- und Garten­bau
Die nördlichste entsteht über einem „Hotspot Pflanzen­   bereits mit dem Boden. „Städtebau ist Bodenpolitik“,
vielfalt“ entlang der Feuchtgebiete der Hummelsbüttler   wusste Fritz Schumacher. Zum Wohnen gehöre nicht
Feldmark. Während die Eimsbüttler*innen bereits          in erster Linie ein Haus, sondern „Grund und Boden“.
auf ihren warmen Balkonen frühstücken, zieht hier        Und so forderte er in Zeiten des Übergangs vom
draußen das Kälteband erst langsam Richtung              ästhetischen zum sozialen Städtebau eine „vernünf­
Fuhlsbüttel, wo es sich später mit dem Alsterband        tige Aufteilung von Grundeigentum“.
vereinigt. So erhalten die Bürger*innen in der Innen­
stadt auch an heißen Tagen Frischluft.

18
Selbstversorgung vor der Haustür

                                   19
Westlich der Hummelsbüttler Feldmark errichtete           in die Gartenkunst, vor allem nach dem Ende des Ersten
Fritz Schumacher deshalb eine Gartenstadt, die seinen     Weltkriegs: In Zeiten von Nahrungsmangel, Arbeits­
Namen erhielt: 660 Wohneinheiten, einige als Doppel-,     losigkeit und Wohnungsnot stellte der Garten­architekt
die meisten als Reihenhäuser. Alle mit Gärten zur         Leberecht Migge Überlegungen an, wie man Gärten für
Selbstversorgung. Hier ziehen die „Börner“, wie sich      die Massen in genossenschaftlichen Siedlungen an­le­gen
die Siedler*innen selbst nennen, noch heute ihr eigenes   könne. In seiner Schrift „Jedermann Selbstversorger“
Gemüse. Manche haben Gurken auf dem Kompost,              führte er aus, wie Obst und Gemüse rentabel gemeinsam
andere Kürbisse. Genug, um mit Nachbarn zu tauschen.      gezogen werden könne. Komplette Gartenstädte
Hier erzählt man sich, dass sich Zwiebeln und Möhren      entstanden zu jener Zeit, in Hamburg oder, die bis heute
gegenseitig die Schädlinge vertreiben. Etwa 30 alte       bekannteste, in Hellerau bei Dresden.
Apfelsorten stehen auf dem Gelände, neben Quitten
und Kirschen. Und eine Urform der Pflaume, die sie hier   1919 begann Fritz Schumacher mit der Erbauung
als „Kreten“ verbacken. Auch das ist ein Aspekt von       der gleichnamigen Siedlung in Langenhorn. Die Häuser
Ökologie: Das gesunde Essen muss nicht von außen          für die Familien sind klein:nur 60-80 Quadratmeter,
angefahren werden.                                        dafür aber 650 Quadratmeter große Gärten. Ein Luxus?
                                                          Nicht für die Natur: Für sie ist es ein Muss. Denn nur
                                                          in solchen großen, zusammenhängenden Grünflächen
                                                          können sich Kleinklimata und ökologische Nischen
                                                          bilden, die zwischen Umwelt und landwirtschaftlicher
                                                          Nutzung vermitteln.

                                                          Auf vier Quadratkilometern erstreckt sich dieses
                                                          Gebiet – genug, um einen grünen Gürtel zu bilden für
                                                          die Wanderung der Kröten zu ihren Laichgebieten,
                                                          für vagabundierende Igel, für Laufkäfer und Libellen.
                                                          Hier gedeihen noch Holunder und Berberitze, Hage­
                                                          butte und Weißdorn. In wilden Ecken wuchern
                                                          Brennnesseln und ernähren die Raupen von Tagpfauen-
                                                          augen. 35 Vogelarten werden hier jährlich gezählt.

                                                          Der Zukunft entgegen
                                                          Je näher es in die Innenstadt hineingeht, desto
                                                          dichter wird die Bebauung. Wo sich Hummelsbüttler
                                                          und Alsterachse vereinigen, jagen vierspurige Stra­
                                                          ßen südwärts. Auf ihren Grünstreifen sprießen im
                                                          Frühjahr bunte Tulpen. Ökologisch? Wohl kaum. Aber
                                                          sie erfreuen die Herzen der Bürger im Vorbeifahren.
                                                          Ästhetische Erbauung ist auch ein ökologischer Faktor
                                                          – Grün beruhigt, heitert auf. Der Mensch braucht
                                                          das Grün zur Erholung – optisch – und auch für seine
                                                          Bewegung. Fritz Schumacher wollte vor einhundert
                                                          Jahren dem „Großstadtwanderer“ weite „Auslaufmög­
                                                          lichkeiten“ bieten. Und so ließ er große Flächen wie
                                                          den Stadtpark anlegen und als Grünzüge verbinden
Smart ist grün – Baustoffe und Pflanzen kombiniert mit    bis hin zum Hauptfriedhof Ohlsdorf.
intelligenten Technologien

                                                          Städte sind seit je Orte der Utopien. Orte der Kunst,
                                                          der Imagination. Wie könnte das Grün der Zukunft
Frühe Reformer                                            aussehen, in Hamburgs Kern, wo die Verdichtung am
Fritz Schumacher lebte in einer Zeit, als Reformideen     höchsten ist? Wird es an den Elbbrücken eine Attrak­
Konjunktur hatten: Bereits um 1900 forderte die Jugend    tion wie die bewaldeten Mailänder Zwillingstürme des
mehr Bewegung, Freikörperkultur, und nackte Sonnen­       Architekten Stefano Boeri geben, einen „bosco ver­
bäder sollten zur Gesundheit beitragen. Frauen wollten    ticale“? Oder werden Gebäude gleich aus Zellstoffen
fernab der geschnürten Korsette und künstlich beleuch­    hergestellt – oder von ihnen begleitet? Mit Biologen und
teten Fabriken leben, Gymnastik im Freien galt als        Informatikern entwickelt das EU-Projekt „flora robotica“
Allheil­mittel. Diese Reformbewegungen drangen auch       gerade eine robotergesteuerte Begrünung für Städte.

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erhalten bleiben. Den Flächenverbrauch eindämmen.
                                                             Den Grünanteil auf privaten Grundstücken und im
                                                             öffentlichen Raum sogar erhöhen – dann kann auch bei
                                                             zunehmendem Starkregen das Wasser ablaufen.

                                                             Ansätze im Kleinen gibt es bereits. Die Broschüren der
                                                             Behörde für Umwelt und Energie werben für ein öko­
                                                             logisches Umdenken: Rasenflächen in Parks verwandeln
                                                             sich künftig in Blühwiesen, die Insekten Nahrung
                                                             geben und nur zweimal im Jahr gemäht werden – und
                                                             in denen trotzdem Kinder spielen dürfen. Der Kirsch­
                                                             lorbeer wird durch einheimische Gehölze ersetzt, mit
                                                             deren Brutmöglichkeiten und Nahrung die Tiere sich
                                                             auskennen. Und urbane Lebensräume wie Brachflächen,
                                                             Straßenrandstreifen oder Stadtbäume sind geschützt,
                                                             denn sie bieten Raum für spontane und klimatisch
Klee bleibt für Wildbienen stehen                            angepasste Vegetationsentwicklung – und erleichtern
                                                             Wanderbewegungen zwischen den Arten.

                                                             Und wie bewegen sich die Bürger*innen in ihrem
                                                             neuen Grün? In manchen Stadtteilen engagieren sie sich
Die Idee: Reale Pflanzen und programmierte Roboter­          bereits heute wie ihre englischen Vorreiter in einer
zellen regen sich gegenseitig zu einem genau geplanten       „green gym“: Drei Stunden lang gehen Einwohner*innen
Wachstum an, um Überdachungen oder „grüne Wände“             nicht auf das Laufband, sondern pflegen ein Stück Park
zu errichten – mit Fensterlöchern an der vorher berech­      oder Grünstreifen – kombiniert mit einem angeleiteten
neten Stelle. So werden am Ende kühlender Schatten           Fitnesstraining. Was sie suchen? Gemeinschaft, Mit­
und lebensnotwendiger Sauerstoff erzeugt. Und im             wirkung. Ausgleich zur digitalen Zeit an Computer und
Städter Stress reduziert.                                    Smartphone. Und den tiefen Kontakt zur Natur.

Was verlangen die Bürger*innen von heute von ihrem           Zurück in die Zukunft
Grün? Der Investitionsdruck in Immobilien ist hoch,          Draußen am Stadtrand heißt es nicht „green gym“,
zumindest in Zeiten von Niedrigzinspolitik und Wohnungs­     wenn die Leute sich aufmachen, das Beet vor der
not. Das bringt Stadtentwicklung zur Nachverdich­tung        U-Bahn-Haltestelle Langenhorn-Nord zu jäten. Es ist
von Bebauung. Die Natur dagegen ist endlich. Für ver­        einfach nur der altmodische „Gartenausschuss“ der
siegelte Flächen gibt es keinen „Ausgleich“, auch wenn       Fritz-Schumacher-Siedlung, der hier Lavendel, Frauen­
dies durch Aufwertungen ehemaliger Landschafts­              mantel und Rosen pflegt.
schutzgebiete von der Politik so bezeichnet wird. Dar­
über täuschen auch nicht für ihre soziale und verkehrs­      Am Ende des Sommers werden sie alle wieder zu­sam­
technische Innovation ausgezeichnete Projekte wie            menkommen, mindestens 400 Genossinnen und
die neue Gartenstadt „Pergolenviertel“ an der S-Bahn         Genossen der Fritz-Schumacher-Siedlung und ihre
Rübenkamp hinweg: Zwar gibt es darin noch die gleiche        100 Kinder. Sie werden die Räder mit Blumen schmü­
Anzahl an Kleingärten. Doch sie sind nur noch halb           cken und auf dem Festplatz die wasserbetriebene
so groß. Die unversiegelte Grünfläche hat sich durch         Obstpresse aufstellen. Die wird anschließend durch
die Bebauung beinahe halbiert.                               zahlreiche Gärten wandern und auch in die benachbarte
                                                             Schule. An die tausend Liter Apfelsaft werden so
Utopien der Großstadt                                        bis zum Herbstende zusammenkommen. Auch das ist
Vielleicht besteht die nächste Utopie in Zeiten des Klima­   Ökologie: Nicht nur für die eigene Nahrung sorgen,
wandels nicht mehr in dichterer Bebauung. Son­dern           sondern den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor der
ganz im Gegenteil in einem umsichtigen stellenweisen         Haustür pflegen. So erhält die nächste Generation
Rückbau. Das durch Hamburger Wissenschaftler*innen           gartenbauliches Wissen. Womöglich ist die alte Reform­
angestoßene interdisziplinäre Projekt „Klimzug Nord“         siedlungsidee der Stadtplaner von vor einhundert
forschte fünf Jahre lang an dem 2014 publizierten            Jahren heute wieder aktueller denn je.
„Kursbuch Klimaanpassung“. Darin geben sie Handlungs­­
empfehlungen für die Metropolregion. Ihr Rat: Den
„Federplan“ von Fritz Schumacher konsequent umset­
zen, damit die klimatisch bedeutenden Freiräume              Veranstaltungen zum Thema: 84, 100, 101, 106, 193–208

                                                                                                                     21
Kraftwerk Bille

Alternativmedizin
für die Leiden
der Moderne
Eine Stadt ohne Schmuddelecken ist wie ein Kranken­     Es gibt die Station für armes und für reiches Wohnen,
haus. Wege und Räume sind glatt, hell und steril,       die für geistige und die für körperliche Arbeit, es
aber hinter den Türen herrscht Schmerz und Unbe­        gibt die Intensivstation für Kaufen und Freizeit, und
hagen. Diese Stadt als Krankenhaus ist eine Erfindung   dazwischen gibt es den Stadtpark als Krankenhausgar­
der Moderne, wenn nicht ihr hygienisches Leitbild.      ten. Aber bitte die Wege nicht verlassen. Dass dieses
Rasterfassaden verbergen Menschen mit den gleichen      Hospital namens Stadt zur besseren Überwachung
Symptomen der Einsamkeit, die viel Alkohol, Pillen      auch noch gläsern ist, und zwar inzwischen mehr durch
und Netflix-Serien zu sich nehmen. Infektiöse Tätig­    digitale Fenster als durch die fest montierten auf der
keiten, die Lärm und Schmutz absondern, werden          Fassade, passt wunderbar ins Bild einer Gesellschaft,
in städtebauliche Quarantäne genommen, wie alle         organisiert nach ärztlichen Maßstäben. In dieser
menschlichen Grundbedürfnisse als ansteckende           rundum gesunden Stadt nur für Kranke geht es nämlich
Krankheiten behandelt werden, die ihre eigene Station   nicht um Wohlbefinden, Glück und Pflege, sondern
im Stadt­bild brauchen.                                 um reibungslose Abläufe, perfekte Steuerung, optimale
                                                        Kontrolle und lukrative Geschäfte.

22
Demokratie als Privatpatient im
                                                          Krankenhaus „Stadt“
                                                          Je größer die Objekte, umso radikaler bekämpfen die
                                                          Chirurgen*innen der urbanen Schulmedizin das
                                                          Sprießen von Visionen, etwa beim City-Hof, wo jeder
                                                          alternative Nutzungsgedanke mit Radikalresektion
                                                          verhindert werden soll. Was wäre das für ein gefährlicher
                                                          Infektionsherd, wenn in diesen vier Hochhäusern plötz­
                                                          lich Studenten*innen, Künstler*innen und alternative
                                                          Betriebe ein Heim fänden, Lebensgemeinschaften
                                                          mit Alten und Flücht­lingen oder Initiativen, die ewiges
                                                          Wachstum als destruktives Lebensprinzip des Kapita­
                                                          lismus ablehnen. Unvorstellbar. Auch dort darf nur
                                                          das hin, was bereits überall auf der Station „City“ für
                                                          die Stoffwechselkrankheit „Konsum“ privater Kontoge­
                                                          sundheit dient: die vorschriftsmäßige Linealrendite.

                                                          Wenn nun also die Bitte für diesen Artikel lautete, sich
                                                          mit den Einflüssen „architektonischer, stadträumlicher
                                                          und ästhetischer“ Art zu befassen, die als „belebende
                                                          Impulse für die Stadtentwicklung und Architektur
                                                          von Laien, Bürgerinnen und Bürgern, Initiativen, Künst­
                                                          lerinnen und Künstlern ausgehen“, dann lässt sich
                                                          das meiner Meinung nach nicht ohne diese Anamnese
                                                          des aktuellen Zustands beschreiben: Die Demokratie
                                                          hat sich freiwillig zum Privatpatienten im Krankenhaus
                                                          Stadt machen lassen, das vom profitablen Denken
                                                          einer Besitzerclique nach reinen Effizienzmaßstäben
                                                          organisiert wird.

                                                          Und vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass
                                                          die meisten Orte eigeninitiativer Stadtveränderung hart
                                                          erkämpft werden mussten, und zwar nicht nur gegen

Warum Stadtentwicklung                                    gierige Spekulanten, sondern vor allem gegen die
                                                          Vertreter des Volkes, die leider unfähig geworden sind,
von unten die lebenswertere                               über eine Stadtentwicklung nachzudenken, die Prob­
                                                          leme ohne Investor löst. Schon die Hafenstraße war ein
Stadt ergibt                                              langer Krieg der gesunden Vernunft gegen die urbane
                                                          Desinfektionspolitik von Profit-Assistenten*innen – und
Till Briegleb                                             steht heute als leuchtendes Beispiel dafür im Raum,
                                                          wie billig, schön und selbstbestimmt es sich wohnen
                                                          lässt, wenn man die städtische Substanz nicht
Um sich gegen diese aseptische Stadt der Moderne          Projektentwicklern zum Fraß vorwirft.
rechtzeitig zu impfen, braucht es Kontakt mit dem
Bazillus des Andersseins. Deswegen sind Immo­             Seelische Aufwärmpunkte neben
bilien­ent­wick­ler*innen, Städteplaner*innen, Brand­     ästhetischer Tiefkühlkost
schützer*innen, Baubürokratie und Banken, also die        Bis in die Gegenwart zieht sich eine lange Geschichte
Ärzteschaft der modernen Hospitalstadt, so ener­­-        des Widerstands, um Reste von Identifikationsorten
gisch hinterher, diese Nester gar nicht erst ent­stehen   zu retten und etwas gemischte Nutzung in Stadtvierteln
zu lassen. Mit dem Dreiwege­Antibiotikum der urbanen      zu bewahren, die bereits der klinischen Therapie der
Einheitskur – Lineal, Vorschriften und Rendite – wird     Moderne zum Opfer gefallen sind. Die Künstlerorte Admi­
an den schönsten Orten des Verfalls, wo das Mensch­       ralitätstraße, Wendenstraße und Gängeviertel konnten
sein sich erholen könnte vom Stress der Anpassung,        die Qualitäten der vormodernen Stadt gegen das
dafür gesorgt, dass bloß keine Vor­stellung davon ent­    Skalpell der „Sanierungs“-Moderne mit ihren monotonen
steht, wie Leben noch sein könnte.                        Büroprojekten im Einheitslook retten. Heute sind es
                                                          viel geliebte seelische Aufwärmpunkte in einer Stadt,

                                                                                                                 23
Dichte, gemischte             Doch wo immer Stadt und Investoren*innen gerade nicht
                                                          ihren verheerenden Modernisierungsstrahl hin­rich­ten,
                            und vielfältige               der zu Mietsteigerung und Monokultur funktio­naler und
                                                          sozialer Art führt, wachsen sofort zarte Pflänzchen der
                            Stadt ist ein                 Alternativkultur, sei es in Wilhelmsburg oder St. Georg,
                                                          im Münzviertel oder im Oberhafen, in Hamm oder
                            Segen und kein                auf der Veddel. Galerien, Gärten, Clubs oder Atelierge­

                            Albtraum                      mein­schaften, aber auch Nachbarschafts­treffen,
                                                          Kruschtläden und Werkstätten in Eigeninitiative retten
                                                          dort die Stadt vor ihrem Corporate Design aus Ketten­
                                                          läden und Effektivfassaden.

                                                          Vom Frappant, das so heißt, weil es einst in der gleich­
                                                          namigen Passage an der Großen Bergstraße beheimatet
                                                          war, die dann IKEA weichen musste, bis zum Künstler­
                                                          haus Georgswerder, das ein zum Abriss freigegebenes
die vor allem ästhetische Tiefkühlkost in praktischer     Schulgebäude von 1902 rettete, ist dieser Impuls
Stapelnorm bauen lässt.                                   eigentlich immer gelenkt auf das Bewahren. Und dies
                                                          ist vielleicht schon die wichtigste Botschaft der
Am ansehnlichsten wehrt man sich seit den Achtzigern      DIY-Kultur, die einen klitzekleinen Impuls geliefert hat
im größten Widerstandnest der Stadt, St. Pauli, gegen     für die allgemeine Stadtentwicklung. Die Qualitäten
die Behandlung von Bürgern*innen als Patienten*innen.     des vormodernen Städtebaus, seine innere Organisation
Die Gentrifizierung, wie die klassische Entmischung       mit dem großen Potenzial für variable Nutzungen,
der Stadt heute heißt, hat zwar auch in diesem Quartier   aber auch die Schönheit einer detaillierten Architektur­
immer mehr Reichtum von Leuten erzeugt, die nicht         sprache haben durch zähen Widerspruch der Bevölke­
dort wohnen. Und Immigranten und Arme, die stets Teil     rung ein leider noch immer dezentes Bewusstsein
einer lebendigen Gegenkultur sind, wurden in den ver­     bei den Profis entwickelt, wie Stadt sich wohlfühlt.
gangenen Jahrzehnten mit Mietsteigerungen ziemlich
restlos an den Stadtrand verscheucht (unter tätiger       Ihre Therapie lautet: Dichte, gemischte und vielfältige
Mithilfe der städtischen Wohnungsbaugesellschaften).      Stadt ist ein Segen und kein Albtraum, wie es die
Aber zwischen Roter Flora und Hafenstraße hat die         Dezibel- und Lux-Pedanten vom Amt mit dem dicksten
Vielfalt noch ein lebendiges Gesicht. Und mit diesem      Vorschriftenbuch der Welt unterm Arm im Chor mit
Vorbild vor Augen wird das Versagen der Moderne           den gesichtslosen Investmentfirmen behaupten.
in puncto „Lebensfreude“ bei Neubauvierteln wie der
Neuen Mitte Altona ziemlich kontrastscharf.               Selbstermächtigung taugt zum
                                                          Best-Practice-Modell
                                                          Diese Alternativmedizin verdanken die aufgeschlos­
                                                          seneren Städtebauprofis absurderweise einem linken
                                                          Konservatismus. Denn seit den Sechzigern ist die
                                                          Rettung des Alten eine Sache der Jungen, jedenfalls
                                                          der geistig Jungen. Aus dem Häuserkampf der linken
                                                          Protestbewegung ist der Gedanke der behutsamen
Künstlerhaus Georgswerder
                                                          Stadterneuerung erwachsen, der – und das ist die
                                                          nächste absurde Wendung – ein paar Jahrzehnte spä­
                                                          ter zu den teuersten Altbauquartieren mit der höchsten
                                                          Rendite geführt hat. Aber im Sinne der Stadt wurde
                                                          so wenigstens das gerettet, was heute jeder sofort als
                                                          Heimatinseln erkennt.

                                                          Die unschlagbaren Qualitäten der Gründerzeitstadt als
                                                          belebendes Element wurden aber immer ergänzt
                                                          durch das Erbe der Industrie. Leerstehende Gewerbe­
                                                          immobilien mit neuem Inhalt zu füllen gehört eben­
                                                          falls seit den Sechzigerjahren zur stadtliebenden
                                                          Erziehungsleistung der Alternativkultur. Das Kraftwerk
                                                          Bille an der Wasserscheide zwischen City Süd und

24
Frappant e. V. und Galerie in der ehemaligen Viktoria-Kaserne

dem Industriegebiet ist so ein spätes Beispiel dieses           Ideen und Verzicht auf eine profitgetriebene Ent­
Denkens in Möglichkeiten. Ein riesiger unverhübschter           wicklungspolitik sind große Ermöglicher einer kreati­
Komplex aus Hallen und Etagen, der bereits in Teilen            ven Stadt – aber nicht im Ansatz Programm für die
bespielt wird von Kreativen und dem Stadtteilbüro               Hamburger Baupolitik. Und deswegen sind Wohn-,
„Schaltzentrale“, könnte dieses kommende Entwick­               Arbeits- und Kulturprojekte, die aus dem lokalen
lungsgebiet im Osten der Stadt mit neuen Ideen                  Wissen um die bessere Stadt erwachsen, hier noch
befruchten.                                                     immer keine Best-Practice-Beispiele.

Ein Resümee über die Wirkungsmacht einer Stadtent­              Dafür brauchte es weniger Immobilien-Pharmazie
wicklung von unten fällt trotzdem eher pessimistisch            verkauft vom Onkel Doktor Volksvertreter und mehr
aus, gerade, wenn man es in Relation zu den vielen              knallharte Steuer- und Konzeptpolitik im Interesse
vertanen Chancen der Vergangenheit setzt, originelle            kluger Vorsorge. Das wäre Heilung von modernen Narben.
Stadt zu generieren. In den großen Neubauprojekten,             Die bittere Pille, die alle Stadtärzte dafür schlucken
von der HafenCity bis zur Neuen Mitte Altona, spiegelt          müssten, hätte die Aufschrift: Glauben sie den „Quack­
sich sehr wenig von dem wider, was die Weisheit                 salbern“ selbst gebauter Schmuddelecken. Am Ende
aktiver Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Inbesitznahme          hatten sie immer recht.
von Altbauten immer wieder energisch ausdrückt.

Offenheit, Kleinteiligkeit, Raum für Experimente
und Improvisation, Eigen- und Gemeinschaftssinn
als produktive Gegensätze, Suche nach neuen                     Veranstaltungen zum Thema: 22, 23, 29, 44, 86, 88, 92, 132, 216, 222, 249

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JAKOB K.
Close-Reading: Manifest
des Tanzenden Menschen
von Jakob Klenke
(Choreograph am Bauhaus Dessau 1926–1929)

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Ideen zu einem Neuen Menschen von                        Fast alle Protagonist*innen des Bauhaus waren
Bauhaus bis heute von Heike Bröckerhoff,                 daran interessiert, einen Neuen Menschen zu schaf-
                                                         fen. Ob bei Walter Gropius oder bei Lázló Moholy-
Moritz Frischkorn und Thomas Pearce
                                                         Nagy: Design, Architektur und Kunst dienten immer
                                                         dazu, den Menschen neu zu entwerfen. Kunst war
Jakob Klenke hat mit seinen Manifesten posthum           sozial-utopisch und Design tendenziell therapeu-
für Furore gesorgt. Es gibt nur Fragmente. Manche        tisch. Steck den Menschen in das gute Haus, und er
sind mit derselben Ziffer durchnummeriert und            wird sich bessern. Oft sind die damit verbundenen
wirken etwas wahnsinnig. In allen aber geht es um        Körperkonzepte totalisierend. Der moderne Mensch,
einen erweiterten Begriff des Bauens als Tätigkeit       geschlagen vom Ersten Weltkrieg, über­fordert von
des tanzenden Menschen. Wie muss man sich die            der Technisierung seines Lebens, muss mit seiner
Figur des tanzenden Menschen vorstellen?                 Umwelt wieder in harmonische Schwingung geraten.
                                                         Das klingt für uns heute schnell unzeitgemäß und
Jakob Klenke war ein Kind der Reform- und Körper-        gefährlich. Aber wenn man sich anschaut, wie sehr
kulturbewegung. Er ist dadurch schon früh mit dem        wir mit unseren Smartphones verwachsen sind, dann
Ideal vom Neuen Menschen in Berührung gekommen.          ist die Idee, dass designte Objekte unsere Lebens-
Da ist der Mensch Rohmaterial, das mithilfe von Kör-     weise und (Selbst-)Wahrnehmung verändern,
perpraktiken wie etwa der Rhythmischen Gymnastik         plötzlich nicht mehr abwegig. Der Neue Menschen
geformt werden muss. Ziel ist ein starker, schöner       ist längst verwirklicht. Wir sind die Techno-Dinger,
und kraftvoller Körper. Klenke versucht dieser Perfek-   von denen Klenke spricht. Nur: Wo bleibt die Harmo-
tion zu entkommen. Er schreibt etwa: „Der tanzende       nie heute? Und ist das Smartphone nicht auch
Mensch sucht nach flüchtigen Verbindungen, die nur       eine Form totaler Präsenz, die zunehmend unsere
in Bewegung erscheinen. Er liebt das Vergängliche,       Wahrnehmung okkupiert?
Schnelle, Rauschhafte, Zitternde, Zögerliche,
Stolpernde – alles, was ihn und seine Wahrnehmung        Ich verstehe das Konzept des tanzenden Menschen
aus dem Gleichgewicht bringt“ (Vers. III, 58). Klenke    bei Klenke als seinen persönlichen Alternativ-Vor-
stellt dem Fitnesswahn der 20er-Jahre also eine          schlag. Der tanzende Mensch ist sein Siegel für einen
eher experimentelle Tanzpraxis gegenüber. Es ist         experimentellen, adaptiven, sensiblen Körper und
eine Art Wahrnehmungstraining, das auf Besonder-         damit einen anderen Umgang mit sich selbst und
heiten spezifischer Körper Rücksicht nimmt.              seiner Umwelt. „Der tanzende Mensch hat das The-
                                                         ater schon längst verlassen, sein Tanz ist der Aufbau
Und wie positioniert sich diese experimentelle           von Lebensraum (…)“ (Vers. I, 59b). Hier kann man
Tanzpraxis im Kontext des Bauhauses, wo Klenke ja        vielleicht den Bauhaus-Bezug herauslesen. Und an
gearbeitet und unterrichtet hat?                         anderer Stelle: „Tanz ist seine Konstruktion, tanzend
                                                         erschafft er flüchtige Bauten und Orte“ (ebd.). Nur

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im Unterschied zum bauenden Menschen würde der          Wenn Klenke über die „flüchtigen Verbindungen“
tanzende Mensch sein Territorium nicht mit Flaggen      (Ver. III, 59 c.) schreibt, die es tanzend zu erfassen gilt,
und Steinen markieren. Den Begriff „Lebensraum“         dann denke ich an Finanzspekulationsinstrumente,
hat Klenke übrigens in einer anderen Version seines     an Derivate, an soziale Medien und wie sie unsere
Manifests durch „bewohnbare Zonen“ ersetzt.             Wahrnehmung verändern. Obwohl Klenke wohl eher
Sehr wahrscheinlich, um jegliche Verbindung zum         eine nuancierte, umweltfreundliche und nachhaltige,
Nationalsozialismus loszuwerden.                        d.h. sanfte Techno-Utopie im Sinne hatte. Aber
                                                        schon auch ein bisschen Silicon Valley. In seinem
Sein tanzender Mensch ist aber keine unschuldige,       Glauben, dass aus der Naturliebe keine Technik-
gottesgleiche Figur. Auch der tanzende Mensch           feindlichkeit zu folgen hat und dass romantisierende
hat Blut an den Händen, schreibt er (Vers. II b, 58).   Träume einer Rückkehr zu natürlichen Gleichgewich-
Vielleicht wegen seiner häufigen Krankheiten oder       ten eher gefährlich sind, darin war er sich mit Oskar
wegen einer wundersamen Geruhsamkeit hat Klenke         Schlemmer voll und ganz einig. Stärker als Schlem-
die Fähigkeit, seine Doktrinen infrage zu stellen.      mer aber war er an merkwürdigen Experimenten
So schreibt er: „Der tanzende Mensch hingegen           interessiert. Statt gerade Linien durch den Raum
nimmt am Leben Teil. (…) Tanzend nimmt er Einfluss      zu laufen und den Körpern mit Formen zu konfrontie-
auf die Dinge. Der tanzende Mensch tanzt nie allein“    ren, hat Klenke sich dem technischen Fühlen ge­-
(Vers. II cx, 59). Ich frage mich, ob Klenke der Idee   widmet, die Liebe zum Metall und zu Farbexperimen-
anhängt, dass alle Dinge tanzen, dass die Welt um ihn   ten gepflegt. Da war schon auch etwas Hippieskes,
herum auch eine Art Tanz ist. Eine Form der expres-     auch etwas Naives.
siven Morphogenese, in der sich Vielfältigkeit und
Erfindungsreichtum der Natur zeigen.                    Was gehörte sonst noch zu seiner
                                                        Bewegungspraxis?
Wie sähe das heute aus? Ist der tanzende Mensch         Jakob Klenke war passionierter Fußgänger. Mit
ein Hippie, oder ist er der digitale Selbstoptimierer   seinen Studierenden am Bauhaus unternahm
des 21. Jahrhunderts?                                   er häufig Gruppenspaziergänge. Diese dienten dem
Klenke war auf der Suche nach einem durchlässigen       Frischluftieren, dem tiefen Durchatmen und dazu,
Körper, der im Austausch steht, Schwamm ist,            den Denkapparat anzukurbeln. Es handelte sich
fragil, und die Welt in sich aufsaugen kann. Ein Kör-   also um bewegte Diskussionen. Die Gruppen mit bis
per, der vernetzt ist. Seine Ideen kollidieren dabei    zu 20 Teilnehmenden mussten sich quasi beim Gehen
eindrucksvoll mit unserer Gegenwart. Wie durchläs-      formieren und ständig neu arrangieren, um sich
sig können wir werden, ohne auseinanderzufallen?        gegenseitig verstehen und folgen zu können. Die oder
Wie können wir mit dem konstanten Informations-         der Sprechende lief rückwärts, mittig im Pulk oder
fluss umgehen, der durch unsere (neuronalen) Netze      allen voran an der Spitze, der Gruppe zugewandt,
strömt? Müssen wir den Körper durch Übungen             und war also darauf angewiesen, dass diese ihn*sie
dazu befähigen? Oder durch technische Interfaces        auf Hindernisse aufmerksam machten. Man könnte
seine Wahrnehmung „enhancen“? Wohin führen              sagen, das waren Klenkes frühe Massenchoreo­
uns die individualisierten Trainingspraktiken der       grafien. Oder seine Übungen für Schwarmintelligenz.
Fitness-Apps, und wie würde eine übende Gemein­-
schaft, eine schwärmende Intelligenz aussehen?          Ansonsten ist seine Bewegungspraxis ja, zumin-
Brauchen wir noch einen (materiellen) Körper?           dest teilweise, schon gut rekonstruiert. Es sind eine
                                                        Reihe von Übungen, in denen in Schleifen gegangen,

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getanzt und gedacht wird. Mich interessiert aber die
Tatsache, dass Klenke schon ziemlich alt war, als er
am Bauhaus unterrichtete, sodass auch nicht klar
ist, wie ausgiebig er dort eigentlich noch Gymnastik
praktiziert hat. Ich stelle mir eher vor, dass er in sei-
nem Atelier im Prellerhaus besucht wurde, manchmal
krude Thesen und manchmal weise Sätze gespro-
chen, aber auch viel geschwiegen hat. Die „spooky
remote action“, die virtuelle Steuerung, die Radio­
wellen, das faszinierte ihn sehr. Er hat vielleicht die
heutigen Datennetze schon vorgefühlt. Die sicht­
baren und unsichtbaren Informationswelten, durch
die wir hindurchwandern. Manchmal hat ihm das
Albträume bereitet, vor allem wenn er Gropius’ eupho­
rische Design-Visionen ertragen musste. Aber
immer hat er auch das Potenzial gesehen: sich einzu-
mischen, sich beeinflussen zu lassen. So verstehe ich
seinen letzten Satz, das „Werdet Licht“ (Vers. 61 a).

Welche Art von Kunst würde Klenke
heute machen?
Er hätte gerne die Strahlen und Daten sichtbar
gemacht, die uns umgeben. Er hätte wohl die Sende-
masten, aus denen das LTE-Internet hinauskommt,
bunt angemalt, damit wir sie nicht mehr übersehen.
Er hätte Virtual-Reality-Dérives für gestresste
Stadtmenschen erfunden, die dann in einem Park
zusammenfinden, um die Revolution gegen Google,
Facebook und Apple zu planen. Er hätte pädagogi-
sche Spiele geliebt, auf dem Handy, in der U-Bahn,
nach Mitternacht. Aber vermutlich hätte er auch
Veganismus gepredigt, die Einschränkung der indivi-
duellen Freiheit. Die technische Singularität, das
sind wir selbst, hätte er gesagt. Das schwarze Loch
der Zeit sitzt in dir. Schwing rein, schwing raus.

Er hat Querflöte gespielt. Quark und Kefir hat er
gerne gemocht. Joghurt-KULTUREN. Das waren
Tänzer*innen für ihn. Heute vielleicht: die Minimally
Invasive Chemical Body Therapy. Für eine bessere
Welt. Alles in allem: Klenke war ähnlich orientie-
rungslos wie wir heute.

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