Hamburger Architektur Sommer 2019 Mai bis Juli - Ausgang offen Moderne mit Zukunft?
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EDITORIAL Geschichtliches, Aktuelles, Fiktives bestimmen die Themen im Hamburger Architektur Sommer 2019. Wir feiern 100 Jahre Bauhaus, der Architektur Sommer wird in diesem Jahr 25. Für dieses Magazin haben wir Autor*innen und Künstler*innen aufgefordert, „Substanz“ und „Klima“ in der Stadt näher zu beleuchten und darin ihre Standpunkte und Haltungen darzulegen, sich inhaltlich und künstlerisch zu positionieren. Ökologie und gute Luft, Nachbarschaften, das soziale Miteinander, Kunst und Kultur, die in den Nischen und jenseits gelenkter Planung gedeihen – letztlich: Was macht eine Stadt lebenswert? „Das Maß aller Dinge ist der Mensch“, hieß es bei allem Form- und Funktionsbegehren auch am Bauhaus, dessen Erbe in den Beiträgen weitest gehend verhandelt wird. Hier misst er vielmehr, sie sich an in Stein gebauter Architektur. Oder beamt sich in ebenso kuriose wie fantastische Ideenwelten. „Moderne mit Zukunft?“, lautet die Frage im Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft, von Lebensreform und digitalem Zeitalter, von Nostalgie und Utopie. Zehn Projekte werden von Veranstalter*innen des Hamburger Architektur Sommers selbst vorgestellt. Die Auswahl rückt Themenkomplexe exemplarisch in den Fokus. Neben groß angelegten Veranstaltungen wie die Ausstellung „Die Neue Heimat“ und der internationale Workshop „Bauforum 2019“ haben wir nicht minder wichtige und lebendige „Nischenerscheinungen“ wie Das Archipel gebeten, sich zu präsentieren. Oder auch das geplante Kinderarchitekturzentrum in der HafenCity. Filmprogramme spielen seit eh und je einen wesentlichen Part im Architektur Sommer. Vor allem aber ist uns der Blick über die Grenzen der Stadt ein Anliegen. Nach Italien und über Europa hinaus nach Indien und nach Kolumbien. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen. Lassen Sie sich anregen zu Besuchen des vielfältigen Programms beim Hamburger Architektur Sommer 2019. Das Architektur Sommer-Team Irmela Kästner, Lara Kuom, Stephan Feige 1
GRUSSWORT Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher wird. Orte der Inspiration, der Faszination und des Hamburger Architektur Sommers, gern auch des belebenden Streits, der die Aufmerk- samkeit für das schärft, was uns umgibt mit der „In der Hauptstadt Berlin zählt man bisweilen mit alles umspannenden Frage, wie wir gemeinsam im einer Mischung aus Anerkennung und Neid die hohe 21. Jahrhundert leben und arbeiten wollen. Zahl der Baukräne in der Hansestadt Hamburg. Ja derzeit proklamieren manche Beobachter Hamburg Unsere Stadt kann sich über dieses „baukulturelle sogar zur heimlichen Architekturhauptstadt der Festival“ glücklich schätzen, das zudem europaweit Republik“ – das konstatierte das Feuilleton der „Süd- in dieser Art ohne Beispiel ist. Der Architektur deutschen Zeitung“ aus Anlass des ersten Hamburger Sommer ist seit seinen Anfängen weit mehr als eine Architektur Sommers 1994 voll der Anerkennung für Leistungsschau; besonders begrüßenswert finde die Lebendigkeit der Branche an Elbe, Alster und Bille. ich seine Orientierung über die Grenzen des Fach publikums hinaus – ein wertvoller Impuls für eine Bereits damals umfasste das Programmheft mit engagierte Stadtgesellschaft. Ich danke der Hambur seinen vielfältigen Ausstellungen und hochkarätigen gischen Architektenkammer und allen aktiv Symposien 80 Seiten. Im Mittelpunkt und zugleich Beteiligten für ihren Enthusiasmus und ihre Leiden- in reizvollem Kontrast zu einem gewissen Sturm und schaft für gutes Bauen. Drang des Moments stand die Fritz-Schumacher Ausstellung in den Deichtorhallen – die erste umfas- Die „Neue Zürcher Zeitung“ beschrieb vor 25 Jahren sende Schau zum Lebenswerk des berühmten begeistert „eine Stadt im Architekturfieber“. Möge es Hamburger Oberbaudirektors, reichlich bestückt mit nie abklingen! Zeichnungen, Gemälden, Fotos, Möbeln und Modellen. Ihre Damit sind zwei Pole der – glücklicherweise – nie endenden Diskussion um städtebauliche Tradition und die Anforderungen der Moderne markiert, die Hamburgs Stadtentwicklung bis heute begleitet und zweifellos auch künftig begleiten wird. Was Dr. Dorothee Stapelfeldt macht Hamburgs Charakter aus, worin besteht die Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen kollektive Unverwechselbarkeit dieser schönen Stadt? Wie bewahren wir diesen Charakter bei gleichzeitigem Anspruch, für Hamburgs beständig wachsende Bevölkerung bezahlbare Wohnungen in großer Zahl zu schaffen, selbstverständlich in guter Qualität und ansprechender Gestaltung? Und wie fügen sich neue Schulen, Museen, Krankenhäuser, U-Bahnhöfe und auch Gewerbebauten in das Gesamtbild? Ein solcher Diskurs braucht Orte wie den Hamburger Architektur Sommer, wo jenseits von Bebauungsplänen und Kostenberechnungen Grundsätzliches erörtert 2
VORWORT Liebe Gäste des 9. Hamburger Architektur Sommers, zum 25-jährigen Jubiläum des Hamburger Architektur Sommers dürfen wir Ihnen ein großartiges Programm mit mehr als 250 Einzelveranstaltungen präsentieren. Das Anfang der 1990er-Jahre entwickelte Konzept, alle drei Jahre Hamburgs Kultur- schaffende einzuladen, gemeinsam mit uns ein vielschichtiges, breites Programm zu Architektur und Stadt auf die Beine zu stellen, ist damit aufgegangen, auch in diesem Jahr wieder. Das freut uns sehr. Den Diskurs über Architektur und Stadtentwicklung interdisziplinär und über das Fach- publikum hinaus offen, kontrovers sowie erhellend zu führen und zu vermitteln, das zeichnet den Hamburger Architektur Sommer seit seinen Anfängen aus: Ausgang offen. Erleben Sie Architektur aus der Innen- und der Außenperspektive, im Bild und mit allen Sinnen, im Diskurs und unter Einsatz Ihres Körpers, als Geschichte, Gegenwart und Zukunft, akademisch, künstlerisch und spielerisch, alltäglich und visionär – Architektur und Stadt gehen uns alle an. Das Bauhaus hat nur 14 Jahre als Schule existiert, doch war und ist seine Ausstrahlung global und bis heute anhaltend. Der Bundestag hat im Jahr 2015 beschlossen, den „erfolgreichsten kulturellen Exportartikel Deutschlands“ anlässlich der Gründung des Bauhauses vor 100 Jahren in Weimar mit einem bundesweiten und international ausstrahlenden Jubiläumsprogramm zu würdigen. Wir freuen uns, Ihnen die Beiträge zu 100 Jahre Bauhaus und Moderne in Hamburg als Teil des Hamburger Architektur Sommers präsentieren zu können. In etwa 60 Veranstaltungen wird die Geschichte der Moderne beleuchtet und deren Konzepte und Ansätze auf ihre Zukunftsfähigkeit hin befragt. Wir danken der Freien und Hansestadt Hamburg und allen Sponsoren für ihre groß zügige Unterstützung. Wir danken unseren Medienpartnern für kommende Bericht- erstattungen. Unser besonderer Dank gilt allen Veranstalter*innen, die wieder einmal mit großem Einsatz und Leidenschaft für die Sache den Hamburger Architektur Sommer haben Wirklichkeit werden lassen. Ohne dieses Engagement würde es den Hamburger Architektur Sommer nicht geben! Prof. Claus Friede, Renate Kammer, Ferdinand Rector, Prof. Dr. Ullrich Schwarz, Christoph Winkler Vorstand Initiative Hamburger Architektur Sommer e. V. 3
Wir freuen uns über die großzügige Unterstützung durch die Freie und Hansestadt Hamburg und durch unsere Sponsoren. Sie haben maßgeblich zur Realisierung des Hamburger Architektur Sommers 2019 beigetragen. KNOLL Stiftung Gerd und Gesa GGK Gedächtnis Stiftung Medienpartner 4
BESUCHERINFO Willkommen beim Hamburger Architektur Sommer 2019! An die 260 Veranstaltungen erwarten Sie in der Zeit von Mai bis Juli. Das vorliegende Magazin gibt Ihnen einen Einblick in die Themen und Projekte. Zusätzlich erhalten Sie mit unserem Programm- Booklet detailliert Auskunft über das vielfältige Programm. Beide, Magazin und Pro- gramm-Booklet, liegen an zahlreichen Orten in der Stadt zur kostenlosen Mitnahme aus. Sie können uns aber auch direkt besuchen: Ab dem 1. Mai 2019 wird unser Info Point im Bucerius Kunst Forum am Rathausmarkt zu dessen Öffnungszeiten besetzt sein. Das Bucerius Kunst Forum nimmt selbst mit der Ausstellung „Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre“ am Architektur Sommer teil. Dort erhalten Sie neben Magazin und Programm- Booklet die aktuellen Informationen und zusätzliche Materialien zu den Veranstaltungen. Mit dem Umzug des Bucerius Kunst Forums werden auch wir ab dem 7. Juni unseren Info Point in das neue Gebäude am Alten Wall (gleich um die Ecke) verlagern. Der Hamburger Architektur Sommer zu Gast im Bucerius Kunst Forum Rathausmarkt 2: 1. bis 19. Mai Alter Wall 12: 7. Juni bis 31. Juli täglich 11–19 Uhr, Do bis 21 Uhr Internet | Aktuelle Meldungen, Änderungen, zusätzliche Informationen erhalten Sie unter der Adresse: www.architektursommer.de #architektursommerHH APP | Kompakt und schnell einen Überblick über alle Veranstaltungen. Verortung, Zeiten und nähere Informationen zu den einzelnen Events. Android iOS Medienpartner | NDR 90,3 und Hamburg Journal; das Hamburger Abendblatt; KulturPort.De – FOLLOW ARTS/www.kultur-port.de und DA. Eine Plattform für Hamburger Baukultur werden über die Veranstaltungen und Themen des Hamburger Architektur Sommers 2019 berichten. 5
INHALT 1 Editorial 8 FOLLOWER 2 Grußwort Fotokunstprojekt von 3 Vorwort Simone Kessler und 4 Inhaltsverzeichnis Edward Beierle 7 Besucherinfo 14 Ausdruck einer neuen Zeit von Roland Jaeger 78 Veranstalter*innen 18 Indikator Stadtgrün 80 Bildnachweise, von Gabriele Wittmann Impressum 22 Alternativmedizin für die Leiden der Moderne von Till Briegleb 26 Jakob K. Vergessene Moderne → 215 32 25 Jahre Hamburger Architektur Sommer 38 Veranstaltungskalender Jakob K/Farben → 63 6
52 Bauforum 2019 – Interview mit Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing 56 Emilie Winkelmann: Frau Architekt 58 Architekturzentrum für Kinder in der HafenCity 60 Bêka & Lemoine: PLAYTIME – Filme zur Architektur 62 Das Archipel und die Bibliothek der Zukunft 64 Indische Moderne neu denken 66 Transforming the City 68 UNVOLLENDET: Die Geburt eines Stils 70 Suse Itzel „Wir haben so schön geschlafen“ 72 Rogelio Salmona, Bogotá: FOLLOWER → 92 Die Poesie des Backsteins 74 DIE NEUE HEIMAT Bauhaus in Hamburg: Künstler, Werke, Spuren → 72 7
FOLLOWER – female follows form ist der Name des Kunstprojekts, das die Künstler*innen Simone Kessler und Edward Beierle für den Architektur Sommer 2019 entwickelt haben. Die ersten Untersuchungen zum Projekt entstan Ich versuche mich auf das den bereits im Oktober 2018 bei einer Tour entlang Balancieren zu konzentrieren markanter Bauten und Orte der Moderne in – jemand kommt die Hamburg. Dabei stellten sie sich selbst in unge Treppe hoch wohnte körperliche Beziehung zur Architektur und hielten dies fotografisch fest. Von dem Perspektiv wechsel, den sie durch diese wortwörtlich neue (Körper-)Haltung erfahren haben, erzählen ihre Bilder. form follows function female follows form man follows form mann folgt frau frau folgt form I follow form 8
9
1 FOLLOWER I follow 2 10
– 3 form 1 Unter mir gefühlt zwei Meter, lauernd auf das, was kommt 2 Frei, offen, dem Himmel zugewandt, jede Stufe ein kleiner Schmerz 3 Ich wusste nicht, dass ich fallen könnte, als ich da lag 4 Neben mir öffnet sich der Aufzug - ich sehe nicht hin 4 11
1 FOLLOWER – Mann folgt Frau 2 1 Die Kälte des Granits war seltsamerweise sehr beruhigend 2 Wir drehen das Bild – science fiction 3 Es ist dunkel, ich verschwinde im Schrank 12
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Ausdruck einer neuen Zeit Moderne Architektur bedeutete in den 1920er-Jahren nicht nur Entwerfen und Bauen. Zu ihrer Programmatik gehörte ebenso die Propagierung der neuen Ideen. Architekten nutzten dafür Publikationen, Ausstellungen, Vorträge, Fachverbände und Tagungen Roland Jaeger Auch die Hamburger Architekturmoderne konnte auf Neuen Baukunst. Im Dezember 1925 etwa hielt er Licht diese Weise über die Grenzen der Hansestadt hin- bildervorträge über „Moderne Wohnkultur“, die der auswirken. Der Architekt Dr. Fritz Block tat sich dabei „Hamburger Anzeiger“ begeistert besprach: „Solche besonders hervor. Außerdem fanden in der Hansestadt Vorträge, wie Dr. Block sie hielt, sind enorm wichtig zwei überregional wichtige Veranstaltungen statt: für jeden modernen Menschen. Der Architekt hat 1927 die Jahresversammlung des Bundes Deutscher in jeder Beziehung heute das wichtigste zur Lebens- Architekten und 1929 der Deutsche Architekten- und gestaltung zu sagen. Vom Bau eines Stuhles an bis zur Ingenieurtag. Organisation ganzer Städte rechnen seine Aufgaben.“ Den Anspruch und Auftrag der Moderne bezog der 1926 organisierte Block für den Bund Deutscher Hamburger Architekt Dr. Fritz Block (1889–1955) nicht Architekten, Landesbezirk Nord, die Hamburger Prä- nur auf eine zeitgemäße Gestaltung, sondern auch sentation der von der Städtischen Kunsthalle Mann- auf deren aktive Vermittlung an ein breites Publikum. heim übernommenen Architekturausstellung „Typen Seit 1921 betrieb er in der Hansestadt gemeinsam mit neuer Baukunst“. Im Hinblick auf einen Wettbewerb Ernst Hochfeld ein Architektenbüro, mit dem sich die zur Wohnsiedlung Jarrestadt wurde die Ausstellung in beiden zu den führenden Vertretern des Neuen Bauens Hamburg um einen internationalen Abschnitt „Neu- in Norddeutschland entwickelten. Ihr bekanntestes zeitlicher Volkswohnungsbau im In- und Ausland“ Werk sollte das Deutschlandhaus (1928/29) am Gän- erweitert. Vorbereitend war Block eigens nach Holland semarkt werden. Neben der eigenen Entwurfstätigkeit gereist, um Beispiele des dortigen Wohnungsbaus engagierte sich Block allgemein für die Belange der auszuwählen. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich mit 14
Deutschlandhaus von Block und Hochfeld, 1930 Architekt Dr. Fritz Block, Hamburg "Hamburg und seine um 1932 Bauten 1918–1929", Hamburg 1929 dem Rotterdamer Architekten J. J. P. Oud angefreun- lichem Abstand folgten dort Vorträge der Architekten det. Die Ausstellung wurde im Frühsommer 1926 in Fritz Schumacher (über „Die Reform halbentwickelter der Staatlichen Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld Bebauungspläne“), J. J. P. Oud (über „Die Entwicklung gezeigt. Im Katalog veröffentlichte Block einen Beitrag der modernen Architektur in Holland“) und Walter über „Volkswohnungsbau. Neue Wege – Neue Beispiele“ Gropius (über „Neues Bauen“). Im Dezember desselben und hielt im Begleitprogramm zum gleichen Thema Jahres sprach Block beim außerordentlichen Bundestag einen Lichtbildervortrag in der Kunsthalle. In wöchent- des Bundes Deutscher Architekten in Halle über Ratio- 15
nalisierungen im Bauwesen und erklärte: „Wir stehen schließlich am Nachmittag im Curiohaus der Bauhaus- am Anbeginn einer neuen Zeit.“ Anschließend besuchte Direktor Walter Gropius auf Vorschlag des Architekten er mit einer Delegation des Studienausschusses des Hans Poelzig in den BDA-Vorstand gewählt wurde, Bundes Deutscher Architekten für zeitgemäßes Bauen war die Geschlossenheit des Bundes wiederhergestellt, den kurz zuvor eingeweihten Bauhaus-Neubau von da nun auch die Moderne namhaft in der Führung Gropius in Dessau. vertreten war. 1927: Bundestag der Architekten Weiter stand die Eröffnung einer vom BDA organisier- Der 1903 gegründete Bund Deutscher Architekten ten Ausstellung „Neues Bauen und Neues Wohnen“ (BDA), dessen Landesbezirk Norden damals gut auf dem Programm; der Hamburger Architekt und Vor- 150 Hamburger Mitglieder hatte, hielt Anfang Septem- sitzende des Landesbezirks Norden, Carl Georg Bensel, ber 1927 mit rund 600 Teilnehmern seinen Bundestag sprach über das Thema „Neue Baukunst als Ausdruck in Hamburg ab. Die Veranstaltung diente nicht zuletzt neuer Zeit“. Am Ende des dritten Tages bei einem einer Zusammenführung der sich zwischen Traditio- abschließenden kulturellen Abend, moderiert von nalisten und Modernisten voneinander entfernenden Fritz Block, wurden Filme gezeigt: über die technische architektonischen Positionen innerhalb des Bundes. Konstruktion der neuen Elbbrücke, über einen Klein- Am ersten Tag stand eine Rundfahrt durch die Stadt zu haus- und einen Großwohnhausbau sowie ein Film über den „modernen Großwohnbauten“ und den Staatsbau- die damals viel diskutierten Wiener Gemeindebauten. ten des Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher Letzterer sorgte wegen seiner „politischen Tendenz“ auf dem Programm. Am Tag darauf beschwor der mit explizit sozialdemokratischer Ausrichtung bei kon- Architekt und Bundesvorsitzende Wilhelm Kreis in der servativeren Architekten einmal mehr für Unmut. Stadthalle im Stadtpark die Einigkeit der Architekten- schaft und den „fortschrittlichen Gedanken, der allen Den Hintergrund für die damaligen Kontroversen unter die Freiheit des künstlerischen Gewissens gewährt“. den Architekten bildete auch die Stuttgarter Werk- Damit war eine Formel gefunden, Tradition und bund-Ausstellung „Die Wohnung“ mit der Mustersied- Moderne unter den Architekten zu versöhnen. Und als lung am Weißenhof, die im Juli 1927 eröffnet worden Dampferbesichtigung von Teilnehmern der Hamburger Tagung der Architekten und Ingenieure, 1929 16
Vortrag über die „Zeitgebundenheit der Architektur“, in dem er das damalige Baugeschehen im Spannungs- feld zwischen technischen Notwendigkeiten, ästheti- schen Ansprüchen und sozialen Verpflichtungen interpretierte: „Es liegt im Wesen unserer Zeit, daß sie dem Architekten Aufgaben zuweist, die sich an die Masse wenden. Ihm fällt dadurch eine ganz bestimmte Eine Formel war gefunden, kulturelle Aufgabe zu [...] Diese Aufgabe aber liegt zur Zeit nicht im Bereich dessen, was wir Spitzenkultur Tradition und Moderne zu nennen, sondern im Bereich dessen, was wir Massen- versöhnen kultur nennen können.“ Touren zu Hamburgs Neubauten, Hafenrundfahrten und Dampferbesichtigungen schlossen die Wanderversammlung ab – nun auch in Begleitung der Damen (siehe Foto links). Bereits 1890 und 1914 hatte der AIV zu Hamburg die nationalen Treffen zum Anlass genommen, eine Baubilanz „Hamburg und seine Bauten“ in Buchform vorzulegen. war. Block hatte Siedlung und Ausstellung Mitte August Das geschah auch dieses Mal, nun für den Zeitraum besichtigt und darüber im Oktober in der Hamburger 1918 bis 1929. Der umfangreiche Band – noch heute ein Kulturzeitschrift „Der Kreis“, deren Architekturteil er Standardwerk – behandelt die Neubautätigkeit in der redaktionell mit betreute, berichtet. Im November hielt Hansestadt und ihrer Umgebung seit dem Ersten Welt- er dazu in der Kunsthalle einen Vortrag über „Haus krieg in Textbeiträgen und vor allem 860 Abbildungen. und Wohnung des modernen Menschen“. Vorträge der Dargestellt werden die städtebauliche Entwicklung, die Hamburger BDA-Tagung flossen in das von Block zur hervorgehobene Rolle des Wohnungsbaus, die Bedeu- Jahreswende 1927/28 in Zusammenarbeit mit dem tung von Verkehr und Hafen sowie der öffentlichen Studienausschuss des BDA für zeitgemäßes Bauen her- Einrichtungen. Der Bildteil führt Beispiele von Neubau- ausgegebene Buch „Probleme des Bauens. Der Wohnbau“ ten aller Baugattungen vor. In seinem programmatischen ein. Es enthält wichtige Beiträge zur damaligen Diskus- Beitrag „Architektonische Regungen der Nachkriegs- sion um Städtebau, Typenbildung und Rationalisierung zeit“ grenzte Fritz Schumacher die gemäßigte Hamburger im Wohnsiedlungsbau, moderne Grundrisslösungen und Moderne allerdings gegen allzu radikale Bauexperimente zukünftige Bauweisen. Zu den Autoren zählten Archi- ab. In der Hansestadt herrsche vielmehr eine „wohltu- tekten wie Walter Gropius, Richard Neutra, Ernst May, ende Einheitlichkeit bei äußerer Freiheit“, für die er den Fritz Schumacher – und Fritz Block. von ihm als Baustoff favorisierten Backstein verantwort- lich machte: „Es ist keine Frage, daß die Verwendung 1929: Architekten- und Ingenieurtag dieses Materials den verblüffenden Eindruck des Neuar- Das zweite Großereignis, das deutsche Architekten in tigen [...], der manchen neuzeitlichen Glanzleistungen den 1920er-Jahren in Hamburg zusammenführte, in anderen Städten eigen ist, dämpft.“ war die 54. Jahresversammlung des Verbandes Deut- scher Architekten- und Ingenieur-Vereine (VDAI), die Der Hamburger Architekt Fritz Block hatte inzwischen Anfang September 1929 in der Hansestadt mit bis zu eine zweite Karriere als Fotograf begonnen. Beim 700 Teilnehmern stattfand. Bereits 1858 und 1890 hatte Architekten- und Ingenieurtag zeigte er daher Aufnahmen sich diese Vereinigung hier getroffen, während das von der Bauausführung seines Deutschlandhauses. für 1914 schon vorbereitete Treffen wegen des Ausbruchs Block machte damit deutlich, wie sehr dieses Gebäude des Weltkrieges abgesagt werden musste. Die Veran- auch von der Konstruktionsweise her Ausdruck einer staltung von 1929 fiel mit dem 70-jährigen Bestehen neuen Zeit war. In „Hamburg und seine Bauten 1918–1929“ des regionalen Architekten- und Ingenieur-Vereins zu ist das Gebäude allerdings noch als Modell abgebildet, Hamburg (AIV) zusammen, der damals beachtliche weil es erst im Dezember 1929 fertiggestellt wurde. 450 Mitglieder hatte. Bittere Ironie der Architekturgeschichte: Ausgerechnet im Bauhaus-Jahr 2019 wird das, was nach Kriegsschäden Die Jubiläumsfeier im Patriotischen Gebäude und unsachgemäßer Totalrenovierung um 1980 von eröffnete der Vereinsvorsitzende Oberbaudirektor dem ursprünglichen Deutschlandhaus übrig geblieben Dr. Gustav Heinrich Leo. Am nächsten Tag fand eine ist, abgerissen. Abgeordnetenversammlung statt, abends folgte ein Senatsempfang. Bei der Hauptveranstaltung im Veranstaltungen zum Thema: 64, 69, 72, 95–99, 104; Curiohaus hielt Fritz Schumacher einen viel beachteten 63, 68, 70, 87, 92–96, 101 17
Indikator Stadtgrün Urbanes Grün und gute Luft betreffend war Hamburg planerisch vor 100 Jahren bereits ganz weit vorn. Taugen Konzepte von Moderne und Lebensreform heute noch für eine ökologisch nachhaltige Zukunft? Oder erfreut sich der Städter lieber an digital generierten Fassadengärten? Gabriele Wittmann Er kommt immer im Morgengrauen. Zwölf Meter Der Boden ist aller Grün Anfang schwingt er sich empor, dann lässt er sich hineinzie Alles hängt zusammen. Das wussten schon die alten hen in die warme Stadt: Der „weiße Nebel wunderbar“, Griechen: „Oikos“ bezeichnete nicht nur das „Haus“, wie ihn der Wandsbeker Dichter Matthias Claudius sondern auch den Hof im Allgemeinen, die Äcker und einst nannte. Frühmorgens lassen sich die Felder und Wälder ringsum, die es brauchte, um das Haus zu Wälder, die Pferdehöfe und Moore nur erahnen. Fried bewirtschaften. Daraus entstand im 19. Jahrhundert lich liegen sie unter dem Gipfel der „Hummelsbüttler das Wort „Ökologie“: Die Gesamtheit der Wechselbe Alpen“, wie die Anwohner diesen ehemaligen Müllberg ziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer belebten liebevoll nennen. Der Stadtplaner Fritz Schumacher und unbelebten Umwelt. entdeckte einst diese grünen „Kaltluftachsen“, auf deren Bahnen täglich frische Luft in die Stadt zieht. Das beginnt für den städtischen Grün- und Gartenbau Die nördlichste entsteht über einem „Hotspot Pflanzen bereits mit dem Boden. „Städtebau ist Bodenpolitik“, vielfalt“ entlang der Feuchtgebiete der Hummelsbüttler wusste Fritz Schumacher. Zum Wohnen gehöre nicht Feldmark. Während die Eimsbüttler*innen bereits in erster Linie ein Haus, sondern „Grund und Boden“. auf ihren warmen Balkonen frühstücken, zieht hier Und so forderte er in Zeiten des Übergangs vom draußen das Kälteband erst langsam Richtung ästhetischen zum sozialen Städtebau eine „vernünf Fuhlsbüttel, wo es sich später mit dem Alsterband tige Aufteilung von Grundeigentum“. vereinigt. So erhalten die Bürger*innen in der Innen stadt auch an heißen Tagen Frischluft. 18
Selbstversorgung vor der Haustür 19
Westlich der Hummelsbüttler Feldmark errichtete in die Gartenkunst, vor allem nach dem Ende des Ersten Fritz Schumacher deshalb eine Gartenstadt, die seinen Weltkriegs: In Zeiten von Nahrungsmangel, Arbeits Namen erhielt: 660 Wohneinheiten, einige als Doppel-, losigkeit und Wohnungsnot stellte der Gartenarchitekt die meisten als Reihenhäuser. Alle mit Gärten zur Leberecht Migge Überlegungen an, wie man Gärten für Selbstversorgung. Hier ziehen die „Börner“, wie sich die Massen in genossenschaftlichen Siedlungen anlegen die Siedler*innen selbst nennen, noch heute ihr eigenes könne. In seiner Schrift „Jedermann Selbstversorger“ Gemüse. Manche haben Gurken auf dem Kompost, führte er aus, wie Obst und Gemüse rentabel gemeinsam andere Kürbisse. Genug, um mit Nachbarn zu tauschen. gezogen werden könne. Komplette Gartenstädte Hier erzählt man sich, dass sich Zwiebeln und Möhren entstanden zu jener Zeit, in Hamburg oder, die bis heute gegenseitig die Schädlinge vertreiben. Etwa 30 alte bekannteste, in Hellerau bei Dresden. Apfelsorten stehen auf dem Gelände, neben Quitten und Kirschen. Und eine Urform der Pflaume, die sie hier 1919 begann Fritz Schumacher mit der Erbauung als „Kreten“ verbacken. Auch das ist ein Aspekt von der gleichnamigen Siedlung in Langenhorn. Die Häuser Ökologie: Das gesunde Essen muss nicht von außen für die Familien sind klein:nur 60-80 Quadratmeter, angefahren werden. dafür aber 650 Quadratmeter große Gärten. Ein Luxus? Nicht für die Natur: Für sie ist es ein Muss. Denn nur in solchen großen, zusammenhängenden Grünflächen können sich Kleinklimata und ökologische Nischen bilden, die zwischen Umwelt und landwirtschaftlicher Nutzung vermitteln. Auf vier Quadratkilometern erstreckt sich dieses Gebiet – genug, um einen grünen Gürtel zu bilden für die Wanderung der Kröten zu ihren Laichgebieten, für vagabundierende Igel, für Laufkäfer und Libellen. Hier gedeihen noch Holunder und Berberitze, Hage butte und Weißdorn. In wilden Ecken wuchern Brennnesseln und ernähren die Raupen von Tagpfauen- augen. 35 Vogelarten werden hier jährlich gezählt. Der Zukunft entgegen Je näher es in die Innenstadt hineingeht, desto dichter wird die Bebauung. Wo sich Hummelsbüttler und Alsterachse vereinigen, jagen vierspurige Stra ßen südwärts. Auf ihren Grünstreifen sprießen im Frühjahr bunte Tulpen. Ökologisch? Wohl kaum. Aber sie erfreuen die Herzen der Bürger im Vorbeifahren. Ästhetische Erbauung ist auch ein ökologischer Faktor – Grün beruhigt, heitert auf. Der Mensch braucht das Grün zur Erholung – optisch – und auch für seine Bewegung. Fritz Schumacher wollte vor einhundert Jahren dem „Großstadtwanderer“ weite „Auslaufmög lichkeiten“ bieten. Und so ließ er große Flächen wie den Stadtpark anlegen und als Grünzüge verbinden Smart ist grün – Baustoffe und Pflanzen kombiniert mit bis hin zum Hauptfriedhof Ohlsdorf. intelligenten Technologien Städte sind seit je Orte der Utopien. Orte der Kunst, der Imagination. Wie könnte das Grün der Zukunft Frühe Reformer aussehen, in Hamburgs Kern, wo die Verdichtung am Fritz Schumacher lebte in einer Zeit, als Reformideen höchsten ist? Wird es an den Elbbrücken eine Attrak Konjunktur hatten: Bereits um 1900 forderte die Jugend tion wie die bewaldeten Mailänder Zwillingstürme des mehr Bewegung, Freikörperkultur, und nackte Sonnen Architekten Stefano Boeri geben, einen „bosco ver bäder sollten zur Gesundheit beitragen. Frauen wollten ticale“? Oder werden Gebäude gleich aus Zellstoffen fernab der geschnürten Korsette und künstlich beleuch hergestellt – oder von ihnen begleitet? Mit Biologen und teten Fabriken leben, Gymnastik im Freien galt als Informatikern entwickelt das EU-Projekt „flora robotica“ Allheilmittel. Diese Reformbewegungen drangen auch gerade eine robotergesteuerte Begrünung für Städte. 20
erhalten bleiben. Den Flächenverbrauch eindämmen. Den Grünanteil auf privaten Grundstücken und im öffentlichen Raum sogar erhöhen – dann kann auch bei zunehmendem Starkregen das Wasser ablaufen. Ansätze im Kleinen gibt es bereits. Die Broschüren der Behörde für Umwelt und Energie werben für ein öko logisches Umdenken: Rasenflächen in Parks verwandeln sich künftig in Blühwiesen, die Insekten Nahrung geben und nur zweimal im Jahr gemäht werden – und in denen trotzdem Kinder spielen dürfen. Der Kirsch lorbeer wird durch einheimische Gehölze ersetzt, mit deren Brutmöglichkeiten und Nahrung die Tiere sich auskennen. Und urbane Lebensräume wie Brachflächen, Straßenrandstreifen oder Stadtbäume sind geschützt, denn sie bieten Raum für spontane und klimatisch Klee bleibt für Wildbienen stehen angepasste Vegetationsentwicklung – und erleichtern Wanderbewegungen zwischen den Arten. Und wie bewegen sich die Bürger*innen in ihrem neuen Grün? In manchen Stadtteilen engagieren sie sich Die Idee: Reale Pflanzen und programmierte Roboter bereits heute wie ihre englischen Vorreiter in einer zellen regen sich gegenseitig zu einem genau geplanten „green gym“: Drei Stunden lang gehen Einwohner*innen Wachstum an, um Überdachungen oder „grüne Wände“ nicht auf das Laufband, sondern pflegen ein Stück Park zu errichten – mit Fensterlöchern an der vorher berech oder Grünstreifen – kombiniert mit einem angeleiteten neten Stelle. So werden am Ende kühlender Schatten Fitnesstraining. Was sie suchen? Gemeinschaft, Mit und lebensnotwendiger Sauerstoff erzeugt. Und im wirkung. Ausgleich zur digitalen Zeit an Computer und Städter Stress reduziert. Smartphone. Und den tiefen Kontakt zur Natur. Was verlangen die Bürger*innen von heute von ihrem Zurück in die Zukunft Grün? Der Investitionsdruck in Immobilien ist hoch, Draußen am Stadtrand heißt es nicht „green gym“, zumindest in Zeiten von Niedrigzinspolitik und Wohnungs wenn die Leute sich aufmachen, das Beet vor der not. Das bringt Stadtentwicklung zur Nachverdichtung U-Bahn-Haltestelle Langenhorn-Nord zu jäten. Es ist von Bebauung. Die Natur dagegen ist endlich. Für ver einfach nur der altmodische „Gartenausschuss“ der siegelte Flächen gibt es keinen „Ausgleich“, auch wenn Fritz-Schumacher-Siedlung, der hier Lavendel, Frauen dies durch Aufwertungen ehemaliger Landschafts mantel und Rosen pflegt. schutzgebiete von der Politik so bezeichnet wird. Dar über täuschen auch nicht für ihre soziale und verkehrs Am Ende des Sommers werden sie alle wieder zusam technische Innovation ausgezeichnete Projekte wie menkommen, mindestens 400 Genossinnen und die neue Gartenstadt „Pergolenviertel“ an der S-Bahn Genossen der Fritz-Schumacher-Siedlung und ihre Rübenkamp hinweg: Zwar gibt es darin noch die gleiche 100 Kinder. Sie werden die Räder mit Blumen schmü Anzahl an Kleingärten. Doch sie sind nur noch halb cken und auf dem Festplatz die wasserbetriebene so groß. Die unversiegelte Grünfläche hat sich durch Obstpresse aufstellen. Die wird anschließend durch die Bebauung beinahe halbiert. zahlreiche Gärten wandern und auch in die benachbarte Schule. An die tausend Liter Apfelsaft werden so Utopien der Großstadt bis zum Herbstende zusammenkommen. Auch das ist Vielleicht besteht die nächste Utopie in Zeiten des Klima Ökologie: Nicht nur für die eigene Nahrung sorgen, wandels nicht mehr in dichterer Bebauung. Sondern sondern den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor der ganz im Gegenteil in einem umsichtigen stellenweisen Haustür pflegen. So erhält die nächste Generation Rückbau. Das durch Hamburger Wissenschaftler*innen gartenbauliches Wissen. Womöglich ist die alte Reform angestoßene interdisziplinäre Projekt „Klimzug Nord“ siedlungsidee der Stadtplaner von vor einhundert forschte fünf Jahre lang an dem 2014 publizierten Jahren heute wieder aktueller denn je. „Kursbuch Klimaanpassung“. Darin geben sie Handlungs empfehlungen für die Metropolregion. Ihr Rat: Den „Federplan“ von Fritz Schumacher konsequent umset zen, damit die klimatisch bedeutenden Freiräume Veranstaltungen zum Thema: 84, 100, 101, 106, 193–208 21
Kraftwerk Bille Alternativmedizin für die Leiden der Moderne Eine Stadt ohne Schmuddelecken ist wie ein Kranken Es gibt die Station für armes und für reiches Wohnen, haus. Wege und Räume sind glatt, hell und steril, die für geistige und die für körperliche Arbeit, es aber hinter den Türen herrscht Schmerz und Unbe gibt die Intensivstation für Kaufen und Freizeit, und hagen. Diese Stadt als Krankenhaus ist eine Erfindung dazwischen gibt es den Stadtpark als Krankenhausgar der Moderne, wenn nicht ihr hygienisches Leitbild. ten. Aber bitte die Wege nicht verlassen. Dass dieses Rasterfassaden verbergen Menschen mit den gleichen Hospital namens Stadt zur besseren Überwachung Symptomen der Einsamkeit, die viel Alkohol, Pillen auch noch gläsern ist, und zwar inzwischen mehr durch und Netflix-Serien zu sich nehmen. Infektiöse Tätig digitale Fenster als durch die fest montierten auf der keiten, die Lärm und Schmutz absondern, werden Fassade, passt wunderbar ins Bild einer Gesellschaft, in städtebauliche Quarantäne genommen, wie alle organisiert nach ärztlichen Maßstäben. In dieser menschlichen Grundbedürfnisse als ansteckende rundum gesunden Stadt nur für Kranke geht es nämlich Krankheiten behandelt werden, die ihre eigene Station nicht um Wohlbefinden, Glück und Pflege, sondern im Stadtbild brauchen. um reibungslose Abläufe, perfekte Steuerung, optimale Kontrolle und lukrative Geschäfte. 22
Demokratie als Privatpatient im Krankenhaus „Stadt“ Je größer die Objekte, umso radikaler bekämpfen die Chirurgen*innen der urbanen Schulmedizin das Sprießen von Visionen, etwa beim City-Hof, wo jeder alternative Nutzungsgedanke mit Radikalresektion verhindert werden soll. Was wäre das für ein gefährlicher Infektionsherd, wenn in diesen vier Hochhäusern plötz lich Studenten*innen, Künstler*innen und alternative Betriebe ein Heim fänden, Lebensgemeinschaften mit Alten und Flüchtlingen oder Initiativen, die ewiges Wachstum als destruktives Lebensprinzip des Kapita lismus ablehnen. Unvorstellbar. Auch dort darf nur das hin, was bereits überall auf der Station „City“ für die Stoffwechselkrankheit „Konsum“ privater Kontoge sundheit dient: die vorschriftsmäßige Linealrendite. Wenn nun also die Bitte für diesen Artikel lautete, sich mit den Einflüssen „architektonischer, stadträumlicher und ästhetischer“ Art zu befassen, die als „belebende Impulse für die Stadtentwicklung und Architektur von Laien, Bürgerinnen und Bürgern, Initiativen, Künst lerinnen und Künstlern ausgehen“, dann lässt sich das meiner Meinung nach nicht ohne diese Anamnese des aktuellen Zustands beschreiben: Die Demokratie hat sich freiwillig zum Privatpatienten im Krankenhaus Stadt machen lassen, das vom profitablen Denken einer Besitzerclique nach reinen Effizienzmaßstäben organisiert wird. Und vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die meisten Orte eigeninitiativer Stadtveränderung hart erkämpft werden mussten, und zwar nicht nur gegen Warum Stadtentwicklung gierige Spekulanten, sondern vor allem gegen die Vertreter des Volkes, die leider unfähig geworden sind, von unten die lebenswertere über eine Stadtentwicklung nachzudenken, die Prob leme ohne Investor löst. Schon die Hafenstraße war ein Stadt ergibt langer Krieg der gesunden Vernunft gegen die urbane Desinfektionspolitik von Profit-Assistenten*innen – und Till Briegleb steht heute als leuchtendes Beispiel dafür im Raum, wie billig, schön und selbstbestimmt es sich wohnen lässt, wenn man die städtische Substanz nicht Um sich gegen diese aseptische Stadt der Moderne Projektentwicklern zum Fraß vorwirft. rechtzeitig zu impfen, braucht es Kontakt mit dem Bazillus des Andersseins. Deswegen sind Immo Seelische Aufwärmpunkte neben bilienentwickler*innen, Städteplaner*innen, Brand ästhetischer Tiefkühlkost schützer*innen, Baubürokratie und Banken, also die Bis in die Gegenwart zieht sich eine lange Geschichte Ärzteschaft der modernen Hospitalstadt, so ener- des Widerstands, um Reste von Identifikationsorten gisch hinterher, diese Nester gar nicht erst entstehen zu retten und etwas gemischte Nutzung in Stadtvierteln zu lassen. Mit dem DreiwegeAntibiotikum der urbanen zu bewahren, die bereits der klinischen Therapie der Einheitskur – Lineal, Vorschriften und Rendite – wird Moderne zum Opfer gefallen sind. Die Künstlerorte Admi an den schönsten Orten des Verfalls, wo das Mensch ralitätstraße, Wendenstraße und Gängeviertel konnten sein sich erholen könnte vom Stress der Anpassung, die Qualitäten der vormodernen Stadt gegen das dafür gesorgt, dass bloß keine Vorstellung davon ent Skalpell der „Sanierungs“-Moderne mit ihren monotonen steht, wie Leben noch sein könnte. Büroprojekten im Einheitslook retten. Heute sind es viel geliebte seelische Aufwärmpunkte in einer Stadt, 23
Dichte, gemischte Doch wo immer Stadt und Investoren*innen gerade nicht ihren verheerenden Modernisierungsstrahl hinrichten, und vielfältige der zu Mietsteigerung und Monokultur funktionaler und sozialer Art führt, wachsen sofort zarte Pflänzchen der Stadt ist ein Alternativkultur, sei es in Wilhelmsburg oder St. Georg, im Münzviertel oder im Oberhafen, in Hamm oder Segen und kein auf der Veddel. Galerien, Gärten, Clubs oder Atelierge Albtraum meinschaften, aber auch Nachbarschaftstreffen, Kruschtläden und Werkstätten in Eigeninitiative retten dort die Stadt vor ihrem Corporate Design aus Ketten läden und Effektivfassaden. Vom Frappant, das so heißt, weil es einst in der gleich namigen Passage an der Großen Bergstraße beheimatet war, die dann IKEA weichen musste, bis zum Künstler haus Georgswerder, das ein zum Abriss freigegebenes die vor allem ästhetische Tiefkühlkost in praktischer Schulgebäude von 1902 rettete, ist dieser Impuls Stapelnorm bauen lässt. eigentlich immer gelenkt auf das Bewahren. Und dies ist vielleicht schon die wichtigste Botschaft der Am ansehnlichsten wehrt man sich seit den Achtzigern DIY-Kultur, die einen klitzekleinen Impuls geliefert hat im größten Widerstandnest der Stadt, St. Pauli, gegen für die allgemeine Stadtentwicklung. Die Qualitäten die Behandlung von Bürgern*innen als Patienten*innen. des vormodernen Städtebaus, seine innere Organisation Die Gentrifizierung, wie die klassische Entmischung mit dem großen Potenzial für variable Nutzungen, der Stadt heute heißt, hat zwar auch in diesem Quartier aber auch die Schönheit einer detaillierten Architektur immer mehr Reichtum von Leuten erzeugt, die nicht sprache haben durch zähen Widerspruch der Bevölke dort wohnen. Und Immigranten und Arme, die stets Teil rung ein leider noch immer dezentes Bewusstsein einer lebendigen Gegenkultur sind, wurden in den ver bei den Profis entwickelt, wie Stadt sich wohlfühlt. gangenen Jahrzehnten mit Mietsteigerungen ziemlich restlos an den Stadtrand verscheucht (unter tätiger Ihre Therapie lautet: Dichte, gemischte und vielfältige Mithilfe der städtischen Wohnungsbaugesellschaften). Stadt ist ein Segen und kein Albtraum, wie es die Aber zwischen Roter Flora und Hafenstraße hat die Dezibel- und Lux-Pedanten vom Amt mit dem dicksten Vielfalt noch ein lebendiges Gesicht. Und mit diesem Vorschriftenbuch der Welt unterm Arm im Chor mit Vorbild vor Augen wird das Versagen der Moderne den gesichtslosen Investmentfirmen behaupten. in puncto „Lebensfreude“ bei Neubauvierteln wie der Neuen Mitte Altona ziemlich kontrastscharf. Selbstermächtigung taugt zum Best-Practice-Modell Diese Alternativmedizin verdanken die aufgeschlos seneren Städtebauprofis absurderweise einem linken Konservatismus. Denn seit den Sechzigern ist die Rettung des Alten eine Sache der Jungen, jedenfalls der geistig Jungen. Aus dem Häuserkampf der linken Protestbewegung ist der Gedanke der behutsamen Künstlerhaus Georgswerder Stadterneuerung erwachsen, der – und das ist die nächste absurde Wendung – ein paar Jahrzehnte spä ter zu den teuersten Altbauquartieren mit der höchsten Rendite geführt hat. Aber im Sinne der Stadt wurde so wenigstens das gerettet, was heute jeder sofort als Heimatinseln erkennt. Die unschlagbaren Qualitäten der Gründerzeitstadt als belebendes Element wurden aber immer ergänzt durch das Erbe der Industrie. Leerstehende Gewerbe immobilien mit neuem Inhalt zu füllen gehört eben falls seit den Sechzigerjahren zur stadtliebenden Erziehungsleistung der Alternativkultur. Das Kraftwerk Bille an der Wasserscheide zwischen City Süd und 24
Frappant e. V. und Galerie in der ehemaligen Viktoria-Kaserne dem Industriegebiet ist so ein spätes Beispiel dieses Ideen und Verzicht auf eine profitgetriebene Ent Denkens in Möglichkeiten. Ein riesiger unverhübschter wicklungspolitik sind große Ermöglicher einer kreati Komplex aus Hallen und Etagen, der bereits in Teilen ven Stadt – aber nicht im Ansatz Programm für die bespielt wird von Kreativen und dem Stadtteilbüro Hamburger Baupolitik. Und deswegen sind Wohn-, „Schaltzentrale“, könnte dieses kommende Entwick Arbeits- und Kulturprojekte, die aus dem lokalen lungsgebiet im Osten der Stadt mit neuen Ideen Wissen um die bessere Stadt erwachsen, hier noch befruchten. immer keine Best-Practice-Beispiele. Ein Resümee über die Wirkungsmacht einer Stadtent Dafür brauchte es weniger Immobilien-Pharmazie wicklung von unten fällt trotzdem eher pessimistisch verkauft vom Onkel Doktor Volksvertreter und mehr aus, gerade, wenn man es in Relation zu den vielen knallharte Steuer- und Konzeptpolitik im Interesse vertanen Chancen der Vergangenheit setzt, originelle kluger Vorsorge. Das wäre Heilung von modernen Narben. Stadt zu generieren. In den großen Neubauprojekten, Die bittere Pille, die alle Stadtärzte dafür schlucken von der HafenCity bis zur Neuen Mitte Altona, spiegelt müssten, hätte die Aufschrift: Glauben sie den „Quack sich sehr wenig von dem wider, was die Weisheit salbern“ selbst gebauter Schmuddelecken. Am Ende aktiver Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Inbesitznahme hatten sie immer recht. von Altbauten immer wieder energisch ausdrückt. Offenheit, Kleinteiligkeit, Raum für Experimente und Improvisation, Eigen- und Gemeinschaftssinn als produktive Gegensätze, Suche nach neuen Veranstaltungen zum Thema: 22, 23, 29, 44, 86, 88, 92, 132, 216, 222, 249 25
JAKOB K. Close-Reading: Manifest des Tanzenden Menschen von Jakob Klenke (Choreograph am Bauhaus Dessau 1926–1929) 26
Ideen zu einem Neuen Menschen von Fast alle Protagonist*innen des Bauhaus waren Bauhaus bis heute von Heike Bröckerhoff, daran interessiert, einen Neuen Menschen zu schaf- fen. Ob bei Walter Gropius oder bei Lázló Moholy- Moritz Frischkorn und Thomas Pearce Nagy: Design, Architektur und Kunst dienten immer dazu, den Menschen neu zu entwerfen. Kunst war Jakob Klenke hat mit seinen Manifesten posthum sozial-utopisch und Design tendenziell therapeu- für Furore gesorgt. Es gibt nur Fragmente. Manche tisch. Steck den Menschen in das gute Haus, und er sind mit derselben Ziffer durchnummeriert und wird sich bessern. Oft sind die damit verbundenen wirken etwas wahnsinnig. In allen aber geht es um Körperkonzepte totalisierend. Der moderne Mensch, einen erweiterten Begriff des Bauens als Tätigkeit geschlagen vom Ersten Weltkrieg, überfordert von des tanzenden Menschen. Wie muss man sich die der Technisierung seines Lebens, muss mit seiner Figur des tanzenden Menschen vorstellen? Umwelt wieder in harmonische Schwingung geraten. Das klingt für uns heute schnell unzeitgemäß und Jakob Klenke war ein Kind der Reform- und Körper- gefährlich. Aber wenn man sich anschaut, wie sehr kulturbewegung. Er ist dadurch schon früh mit dem wir mit unseren Smartphones verwachsen sind, dann Ideal vom Neuen Menschen in Berührung gekommen. ist die Idee, dass designte Objekte unsere Lebens- Da ist der Mensch Rohmaterial, das mithilfe von Kör- weise und (Selbst-)Wahrnehmung verändern, perpraktiken wie etwa der Rhythmischen Gymnastik plötzlich nicht mehr abwegig. Der Neue Menschen geformt werden muss. Ziel ist ein starker, schöner ist längst verwirklicht. Wir sind die Techno-Dinger, und kraftvoller Körper. Klenke versucht dieser Perfek- von denen Klenke spricht. Nur: Wo bleibt die Harmo- tion zu entkommen. Er schreibt etwa: „Der tanzende nie heute? Und ist das Smartphone nicht auch Mensch sucht nach flüchtigen Verbindungen, die nur eine Form totaler Präsenz, die zunehmend unsere in Bewegung erscheinen. Er liebt das Vergängliche, Wahrnehmung okkupiert? Schnelle, Rauschhafte, Zitternde, Zögerliche, Stolpernde – alles, was ihn und seine Wahrnehmung Ich verstehe das Konzept des tanzenden Menschen aus dem Gleichgewicht bringt“ (Vers. III, 58). Klenke bei Klenke als seinen persönlichen Alternativ-Vor- stellt dem Fitnesswahn der 20er-Jahre also eine schlag. Der tanzende Mensch ist sein Siegel für einen eher experimentelle Tanzpraxis gegenüber. Es ist experimentellen, adaptiven, sensiblen Körper und eine Art Wahrnehmungstraining, das auf Besonder- damit einen anderen Umgang mit sich selbst und heiten spezifischer Körper Rücksicht nimmt. seiner Umwelt. „Der tanzende Mensch hat das The- ater schon längst verlassen, sein Tanz ist der Aufbau Und wie positioniert sich diese experimentelle von Lebensraum (…)“ (Vers. I, 59b). Hier kann man Tanzpraxis im Kontext des Bauhauses, wo Klenke ja vielleicht den Bauhaus-Bezug herauslesen. Und an gearbeitet und unterrichtet hat? anderer Stelle: „Tanz ist seine Konstruktion, tanzend erschafft er flüchtige Bauten und Orte“ (ebd.). Nur 27
im Unterschied zum bauenden Menschen würde der Wenn Klenke über die „flüchtigen Verbindungen“ tanzende Mensch sein Territorium nicht mit Flaggen (Ver. III, 59 c.) schreibt, die es tanzend zu erfassen gilt, und Steinen markieren. Den Begriff „Lebensraum“ dann denke ich an Finanzspekulationsinstrumente, hat Klenke übrigens in einer anderen Version seines an Derivate, an soziale Medien und wie sie unsere Manifests durch „bewohnbare Zonen“ ersetzt. Wahrnehmung verändern. Obwohl Klenke wohl eher Sehr wahrscheinlich, um jegliche Verbindung zum eine nuancierte, umweltfreundliche und nachhaltige, Nationalsozialismus loszuwerden. d.h. sanfte Techno-Utopie im Sinne hatte. Aber schon auch ein bisschen Silicon Valley. In seinem Sein tanzender Mensch ist aber keine unschuldige, Glauben, dass aus der Naturliebe keine Technik- gottesgleiche Figur. Auch der tanzende Mensch feindlichkeit zu folgen hat und dass romantisierende hat Blut an den Händen, schreibt er (Vers. II b, 58). Träume einer Rückkehr zu natürlichen Gleichgewich- Vielleicht wegen seiner häufigen Krankheiten oder ten eher gefährlich sind, darin war er sich mit Oskar wegen einer wundersamen Geruhsamkeit hat Klenke Schlemmer voll und ganz einig. Stärker als Schlem- die Fähigkeit, seine Doktrinen infrage zu stellen. mer aber war er an merkwürdigen Experimenten So schreibt er: „Der tanzende Mensch hingegen interessiert. Statt gerade Linien durch den Raum nimmt am Leben Teil. (…) Tanzend nimmt er Einfluss zu laufen und den Körpern mit Formen zu konfrontie- auf die Dinge. Der tanzende Mensch tanzt nie allein“ ren, hat Klenke sich dem technischen Fühlen ge- (Vers. II cx, 59). Ich frage mich, ob Klenke der Idee widmet, die Liebe zum Metall und zu Farbexperimen- anhängt, dass alle Dinge tanzen, dass die Welt um ihn ten gepflegt. Da war schon auch etwas Hippieskes, herum auch eine Art Tanz ist. Eine Form der expres- auch etwas Naives. siven Morphogenese, in der sich Vielfältigkeit und Erfindungsreichtum der Natur zeigen. Was gehörte sonst noch zu seiner Bewegungspraxis? Wie sähe das heute aus? Ist der tanzende Mensch Jakob Klenke war passionierter Fußgänger. Mit ein Hippie, oder ist er der digitale Selbstoptimierer seinen Studierenden am Bauhaus unternahm des 21. Jahrhunderts? er häufig Gruppenspaziergänge. Diese dienten dem Klenke war auf der Suche nach einem durchlässigen Frischluftieren, dem tiefen Durchatmen und dazu, Körper, der im Austausch steht, Schwamm ist, den Denkapparat anzukurbeln. Es handelte sich fragil, und die Welt in sich aufsaugen kann. Ein Kör- also um bewegte Diskussionen. Die Gruppen mit bis per, der vernetzt ist. Seine Ideen kollidieren dabei zu 20 Teilnehmenden mussten sich quasi beim Gehen eindrucksvoll mit unserer Gegenwart. Wie durchläs- formieren und ständig neu arrangieren, um sich sig können wir werden, ohne auseinanderzufallen? gegenseitig verstehen und folgen zu können. Die oder Wie können wir mit dem konstanten Informations- der Sprechende lief rückwärts, mittig im Pulk oder fluss umgehen, der durch unsere (neuronalen) Netze allen voran an der Spitze, der Gruppe zugewandt, strömt? Müssen wir den Körper durch Übungen und war also darauf angewiesen, dass diese ihn*sie dazu befähigen? Oder durch technische Interfaces auf Hindernisse aufmerksam machten. Man könnte seine Wahrnehmung „enhancen“? Wohin führen sagen, das waren Klenkes frühe Massenchoreo uns die individualisierten Trainingspraktiken der grafien. Oder seine Übungen für Schwarmintelligenz. Fitness-Apps, und wie würde eine übende Gemein- schaft, eine schwärmende Intelligenz aussehen? Ansonsten ist seine Bewegungspraxis ja, zumin- Brauchen wir noch einen (materiellen) Körper? dest teilweise, schon gut rekonstruiert. Es sind eine Reihe von Übungen, in denen in Schleifen gegangen, 28
getanzt und gedacht wird. Mich interessiert aber die Tatsache, dass Klenke schon ziemlich alt war, als er am Bauhaus unterrichtete, sodass auch nicht klar ist, wie ausgiebig er dort eigentlich noch Gymnastik praktiziert hat. Ich stelle mir eher vor, dass er in sei- nem Atelier im Prellerhaus besucht wurde, manchmal krude Thesen und manchmal weise Sätze gespro- chen, aber auch viel geschwiegen hat. Die „spooky remote action“, die virtuelle Steuerung, die Radio wellen, das faszinierte ihn sehr. Er hat vielleicht die heutigen Datennetze schon vorgefühlt. Die sicht baren und unsichtbaren Informationswelten, durch die wir hindurchwandern. Manchmal hat ihm das Albträume bereitet, vor allem wenn er Gropius’ eupho rische Design-Visionen ertragen musste. Aber immer hat er auch das Potenzial gesehen: sich einzu- mischen, sich beeinflussen zu lassen. So verstehe ich seinen letzten Satz, das „Werdet Licht“ (Vers. 61 a). Welche Art von Kunst würde Klenke heute machen? Er hätte gerne die Strahlen und Daten sichtbar gemacht, die uns umgeben. Er hätte wohl die Sende- masten, aus denen das LTE-Internet hinauskommt, bunt angemalt, damit wir sie nicht mehr übersehen. Er hätte Virtual-Reality-Dérives für gestresste Stadtmenschen erfunden, die dann in einem Park zusammenfinden, um die Revolution gegen Google, Facebook und Apple zu planen. Er hätte pädagogi- sche Spiele geliebt, auf dem Handy, in der U-Bahn, nach Mitternacht. Aber vermutlich hätte er auch Veganismus gepredigt, die Einschränkung der indivi- duellen Freiheit. Die technische Singularität, das sind wir selbst, hätte er gesagt. Das schwarze Loch der Zeit sitzt in dir. Schwing rein, schwing raus. Er hat Querflöte gespielt. Quark und Kefir hat er gerne gemocht. Joghurt-KULTUREN. Das waren Tänzer*innen für ihn. Heute vielleicht: die Minimally Invasive Chemical Body Therapy. Für eine bessere Welt. Alles in allem: Klenke war ähnlich orientie- rungslos wie wir heute. 29
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