Gestaltungswille - Donau-Universität Krems

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Gestaltungswille - Donau-Universität Krems
ISSN 1862-4154
Preis: € 5,–
Ausgabe 4.17

                    Gestaltungswille
                     S C H W E R P U N K T: S Y S T E M & E N T S C H E I D U N G

                      W A R U M E S L O H N T, S E L B S T Z U H A N D E L N –
                 T R OT Z A L G O R I T H M E N , K O M P L E X I T Ä T U N D R I S I K O
Gestaltungswille - Donau-Universität Krems
BILD: MORD IM ORIENT EXPRESS (CENTFOX)
       das
programmkino
      in krems                  Aktuelle Filmhighlights / Kinderfilme / Filmfrühstücke /
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kino im kesselhaus, am campus krems, Dr.-Karl-Dorrek-Straße 30, A-3500 Krems, E-Mail: tickets@filmgalerie.at, T. 02732/90 80 00
Gestaltungswille - Donau-Universität Krems
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                                         Editorial
                                                                   Liebe Leserin, lieber Leser,

                                                                   wenn wir 2018 die Gründung der Ersten Republik vor hundert
                                                                   Jahren feiern, dann erinnert dieses Jubiläum auch an eine
                                                                   ­politische Entscheidung, die zu einem wesentlichen System-
                                                                    wandel in Österreich geführt hat: von der jahrhundertelangen
                                                                    Monarchie hin zu einer Demokratie. Quer durch die Geschichte
                                                                    mussten Entscheiderinnen und Entscheider jeweils die Folgen
                                                                    und die Reichweite ihres Handelns abwägen. Dabei die Rele-
                                                                    vanz von Systemen zu beachten ist angesichts des im histori-
                                                                    schen Vergleich exponentiellen Vernetzungsgrades heute viel-
                                                                    leicht wichtiger denn je. Doch auch wenn uns nun gegenwärtig
                                                                    mehr Daten und Informationen zur Verfügung stehen, stellt
                                                                    sich stets auch die Frage nach der Validität. Zwei weitere Fak-
                                                                    toren sind ebenso zu bedenken: die jeweiligen Konstellationen
                                         MAG. FRIEDRICH             von Interessenlagen in ihrer Wirkung auf Entscheidungen und
                                         FAULHAMMER                 immer auch der Zufall. Seine Regie hat schon oft die ganze
                                         Rektor der                 Welt von einem Moment auf den anderen verändert.
                                         Donau-Universität Krems       Die aktuelle Ausgabe von upgrade mit dem Schwerpunkt
                                                                    System und Entscheidung beleuchtet, wie Data Science politi-
                                                                    sche Weichenstellungen unterstützen kann, gibt Einblick in das
                                                                    Management von Wissen, legt offen, wonach Wählerinnen und
                                                                    Wähler wirklich entscheiden, diskutiert, welche Optionen Poli-
                                                                    tik in Verfassungskrisen wie zuletzt in Spanien bzw. Katalonien
                                                                    hat, thematisiert die Entscheidungsmechanismen im Machtzen-
                                                                    trum der EU und zeigt, wie sich unterschiedliche Ansätze von
                                                                    Führungsverständnis auf das System eines Unternehmens aus-
                                                                    wirken. Die Bildstrecke illustriert in diesem Zusammenhang
                                                                    einige Momente zu Systemen und historischen Entscheidungen,
                                                                    vom Vertrag z­ wischen Columbus und der spanischen Königin,
                                                                    der zur Entdeckung Amerikas führte, bis zur legendären
                                                                    Presse­konferenz Günter Schabowskis, die den frühzeitigen Fall
                                                                    der Berliner Mauer brachte.

                                                                                                                                      Alle Ausgaben von upgrade
                                                                   Viel Freude bei der Lektüre wünscht
                                                                                                                                      gibt es auch im Internet:
Foto: Donau-Universität Krems/Reischer

                                                                                                                                      www.donau-uni.ac.at/upgrade

                                                                   Ihr Friedrich Faulhammer

                                                                                                                                                     upgrade 4 /2017
Gestaltungswille - Donau-Universität Krems
_WENDEPUNKTE

BALLHAUSSCHWUR
   Am 20. Juni 1789 fand sich der dritte Stand im
   ­Ballhaus des Königs ein, nachdem sich die
   ­zuge­hörigen Bauern und Bürger drei Tage zuvor
   zur N
       ­ ationalversammlung erklärt hatten. Dort
   ­leisteten sie den Schwur, „sich niemals zu trennen,
   bis der Staat eine Verfassung hat […] und nur der
   ­Gewalt der Bajonette zu weichen“. Es folgte die
   ­Erklärung zur Verfassungsgebenden Versammlung.
   Was danach kam: die Erstürmung der Bastille,
   der Sturz des Ancien Régime und der weitere Verlauf
   der Französischen R
                     ­ evolution, die unter anderem
   die Deklaration der Menschen­rechte hervorbrachte.
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                                                                                                                               Inhalt
                                                                                                                               Schwerpunkt: System & Entscheidung

                                                                                                                3   Editorial
                                                                                                               18   Im Fokus
                                                                                                               49   Kunst & Kultur
                                                                                                               50   Campus Krems
                                                                                                               52   Trends & Termine                 7   Kommentar: Was Caspar Einem meint
                                                                                                               53   Bücher                               System und Entscheidung
                                                                                                               54   Vorschau/Impressum
                                                                                                                                                     9   Die Verheißung der Datenspur
                                                                                                                                                         Ist die Zeit reif für Politik durch Big Data?

                                                                                                                                                    15   Ein Werkzeugkasten für das Wissen
                                                                                                                                                         Im Gespräch mit Gerald Steiner

                                                                                                                                                    21   Nix ist fix
                                                                                                                                                         Warum wir wählen wie wir wählen

                                                                                                                                                    25   Entscheiden in Verfassungskrisen
                                                                                                                                                         Wenn Politik und Rechtsstaat kollidieren

                                                                                                                                                    31
Fotos: Cover: Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk; Jacques-Louis David, Le Serment du Jeu de paume

                                                                                                                                                         Das Ufo auf den Boden holen
                                                                                                                                                         Stärkung einer europäischen ­Öffentlichkeit

                                                                                                                                                    35   Am Weg zur krisensicheren Gesellschaft
                                                                                                                                                         Entscheidungen zur Vermeidung des Systemkollapses

                                                                                                                                                    39   Die bunte Seite der Macht
                                                                                                                                                         Ruf nach neuen Machtstrukturen

                                                                                                                     Manche Momente des
                                                                                                                     Weltlaufs werden zu Mei-
                                                                                                                                                    42   Was forschen Sie?
                                                                                                                     lensteinen der ­Geschichte.         Lukas Zenk weiß, was Teams erfolgreich macht
                                                                                                                     Sie markieren gravierende
                                                                                                                     Veränderungen, die Er-         46   Alumni-Porträt
                                                                                                                     schütterung der Macht,              Die ORF-Journalistin Margit Veigl
                                                                                                                     ­Abschluss oder Beginn
                                                                                                                      ­einer neuen Ära. Die Bild-
                                                                                                                       strecke ­„Wendepunkte“ hat
                                                                                                                                                    48   Alumni-Club
                                                                                                                                                         Redaktionsstube, ganz exklusiv
                                                                                                                       ­einige davon eingefangen.
                                                                                                                        Idee und Konzeption:
                                                                                                                        ­DLE Kommuni­kation &
                                                                                                                    ­Wissenschaftsredaktion der
                                                                                                                         Donau-Universität Krems

                                                                                                                                                                                                             upgrade 4 /2017
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_WENDEPUNKTE

WESTFÄLISCHER FRIEDE
   30 Jahre Religionskrieg in Europa und 80 Jahre
   ­Unabhängigkeitskrieg der Niederlande wurden durch
   die als Westfälischer Friede bezeichneten Abkommen,
   wie hier jenes in Münster am 15. Mai 1648
   unterzeichnete, beendet. Der Westfälische Friede
   schuf eine e
              ­ uropäische Friedensordnung
   gleichberechtigter S
                      ­ taaten. Was möglicherweise
   nicht allen Delegierten bewusst war: Die Verträge
   bildeten die Grundlage des erstmals aufkommenden
   souveränen Nationalstaats und führten zur Heraus­
   bildung des modernen Völkerrechts.
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MEINUNG 7

                                                                System und
                                                                Entscheidung
                                                                Politik braucht eine rationale Entscheidungsgrundlage.
                                                                Das erfordert das Anhören unterschiedlicher Haltungen und
                                                                Vertrauen in die eigene rationale Urteilsfähigkeit.
                                                                Kommentar von Caspar Einem

                                                                          m Grunde sind die Voraussetzungen         kennen zu lernen, mit potentiell Betroffenen
                                                                          für gute Entscheidungen in Unter-         zu reden und ihre Einschätzung zu hören.
                                                                          nehmen oder in der Politik die glei-      Kurz: sich gesellschaftlich zu vernetzen. Und
                                                                          chen. Was die Entscheidungen den-         einen persönlichen Eindruck zu gewinnen.
                                                                          noch deutlich unterscheidet, ist, dass         Und schließlich selbst ein möglichst be-
                                                                politische Entscheidungen sehr viel mehr            gründbares Urteil, eine möglichst rationale
                                                                Abstimmung mit Vertretern unterschiedlichs-         Entscheidung zu fällen. In allen meinen           CASPAR EINEM
                                                                ter Gruppen und Interessen in und außer-            ­Tä­tigkeiten, in denen ich Entscheidungen zu
                                                                halb der eigenen politischen Partei und der          treffen hatte, hat es sich dann auch noch        Dr. Caspar Einem fungierte
                                                                                                                                                                      von 1997 bis 2000 als
                                                                Politik insgesamt erfordern. Das macht es            bewährt, dort Zurückhaltung zu üben, wo
                                                                                                                     ­
                                                                                                                                                                      Wissenschaftsminister und
                                                                mit­unter etwas langwieriger oder mitunter           ich die gewünschte Entscheidung nicht ver-       davor als Innenminister.
                                                                auch uneindeutig im Ergebnis. Zu viel Kom-           stehen konnte, nicht nachvollziehen konnte,      Als Abgeordneter zum
                                                                promiss. Am dramatischsten zeigt sich das bei        warum gerade diese Entscheidung das Pro-         ­Nationalrat war er bis
                                                                Entscheidungen der europäischen Ratsforma­           blem l­ösen können sollte. Das heißt auch, der    2007 als Europasprecher
                                                                ­­tionen. Dort müssen jeweils die vielfach diver­    eigenen rationalen Urteilsfähigkeit ein Stück     der SPÖ. Er war Mitglied
                                                                gierenden Interessen von 28 Staaten unter            weit v ­ertrauen, jedenfalls dann, wenn die       im Europäischen Grund-
                                                                                                                                                                       rechts- und Verfassungs-
                                                                einen Hut gebracht werden. Das ist wie Re­gie­       Gründe für eine Entscheidung nicht einleuch-
                                                                                                                                                                       konvent. Derzeit übt der
                                                                ­ren mit 28 unterschiedlichen Parteien. Dabei        ten. Das hilft, schwere Fehler zu vermeiden.      Jurist die Funktion des
                                                                 ist es zu zweit schon ganz schön mühsam,                Eine Gewähr für ausschließlich richtige,      ­Vizepräsidenten des Euro-
                                                                 sich zu verständigen. In einem Unternehmen          ra­tional begründete Entscheidungen gibt es        päischen Forums Alpbach
                                                                 zu entscheiden ist eindeutig einfacher.             nicht.                                             und des Instituts für
                                                                     Auf welcher Basis sollen Entscheidungen             Wie soll die Ausbildung dazu beitragen,        ­Höhere Studien (IHS)
Fotos: Gerard Terborch, Rijksmuseum Amsterdam; Einem © Privat

                                                                 in Zeiten rascher Veränderungen und un­             bessere Voraussetzungen für gutes Entschei-         ­sowie die Präsidentschaft
                                                                                                                                                                          des Österreichischen
                                                                 über­ sichtlicher Informationslage getroffen        den zu schaffen? Gerade im universitären
                                                                                                                                                                          ­Instituts für Internationale
                                                                 werden? Klar: auf rationaler Grundlage.             Bildungsbereich sollten Bereitschaft zur              Politik (oiip) aus.
                                                                 Bloß: Stehen die wissenschaftlichen, die            Ko­
                                                                                                                     ­   operation und Verständigung mit fach-
                                                                 faktischen Prämissen jeweils zur Verfügung?         fremden Themen und Personen und Offen-
                                                                 Ist es zumutbar, sie alle kennen zu müssen,         heit gegenüber Andersdenkenden geschult
                                                                 sie tatsächlich alle zu kennen?                     und gefördert werden. Um sich in der un­
                                                                     Eine gute Voraussetzung ist, mit anderen        übersichtlichen Welt nach Beendigung des
                                                                 Menschen, die nicht unbedingt dieselben             Studiums zurechtzufinden und eine gesell-
                                                                 Überzeugungen, das gleiche Wissen teilen,           schaftlich nützliche Rolle spielen zu können,
                                                                 die nicht in derselben Blase gefangen sind, zu      braucht es Kommuni­ka­tions- und Koopera­
                                                                 reden, ihnen zuzuhören, zu kommunizieren.           tions­fähig­keit. Das schafft bessere Vor­aus-
                                                                 Unterschiedliche Informationsstände wahr­           setzun­­gen, sich orientieren, vertretbare
                                                                 zu­­nehmen, unterschiedliche Bewertungen            Lösun­gen finden zu können.

                                                                                                                                                                                         upgrade 4 /2017
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_WENDEPUNKTE

TIANANMEN-PLATZ
   Ein Mann stellt sich einer Panzerkolonne in den Weg.
   Das Bild vom 5. Juni 1989 steht für die nieder­­ge­
   schlagene Protestbewegung chinesischer S
                                          ­ tudierender
   am Pekinger Platz des himmlischen F
                                     ­ riedens gegen
   die Politik des Regimes. Obwohl die gewaltsamen
   Auseinandersetzungen keine radikale Systemwende in
   China brachten, war die Aufmerk­samkeit der Welt
   auf die Situation der Menschen­rechte in China stark
   angewachsen. Trotz spek­t akulärer ­Erfolge beim
   Wohlstandswachstum herrschen in China nach wie vor
   Zensur und eingeschränkte Menschenrechte.
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BIG DATA 9

                                                    Die Verheißung
                                                    der Datenspur
                                                      Die Euphorie rund um die Möglichkeiten von
                                                      Big Data ist groß. Doch der kritische Diskurs dazu hat
                                                      gerade erst ­begonnen. Ist die Zeit reif, um aus
                                                      Datenmassen politische Entscheidungen abzuleiten?
                                                      Von Alice Senarclens de Grancy

                                                                      ach der Wahl von Donald          holt vorgeworfen, mehr heiße Luft als ernst­
                                                                      Trump im Vorjahr rühmte          zunehmende Ergebnisse zu produzieren.
                                                                      sich die britische Datenfir­     Der wissenschaftliche Ansatz wurde in
                                                                      ma „Cambridge Analytica“         Frage gestellt. Die Behauptungen seien
                                                                                                       ­
                                                                      mit Hauptsitz in New York        überzogen, mit Big Data alleine würde man
                                                                      City, den US-Wahlkampf           keine Wahl gewinnen, hieß es. Und Füh­
                                                                      beeinflusst zu haben. Mit
                                                                      ­                                rungskräfte von Cambridge Analytica sollen
                                                      Analysen tausender Datenpunkte, durch die        schließlich öffentlich eingeräumt h  ­aben,
                                                      sich die Wähler weit gezielter mit politischer   dass im Zuge von Trumps Wahlkampagne
                                                      Werbung ansprechen lassen als bisher. Die        überhaupt keine Persönlichkeitsprofile er­
                                                      Firma soll Psychogramme zu 220 Millionen         stellt worden seien.
                                                      Amerikanern erstellt haben. In entwickelten         Waren also die Versprechungen des – ge­
Foto: Bundesarchiv / Thomas Lehmann, CC-BY-SA 3.0

                                                      Demokratien habe jede Partei das Recht,          winnorientierten – Unternehmens überhöht?
                                                      die beste Technologie zu nutzen, die sie         Inwieweit können Big Data und diejenigen,
                                                      sich leisten kann, sagte G
                                                                               ­ eschäftsführer Ale­   die in den Datenbergen wühlen, also Data
                                                      xander Nix im März 2017 zur „Frankfurter         Mining betreiben, tatsächlich Wahlentschei­
                                                      Allgemeinen ­Zeitung“. Dieses einzuschrän­       dungen beeinflussen?
                                                      ken, wäre ein Vergehen am demokratischen
                                                      Prozess. Man freute sich lautstark, dass der
                                                                                                       Der neue beste Weg
                                                      Republikaner, der so gerne über die Wissen­
                                                      schaft schimpft, mit Hilfe ihrer Methoden        Die in Aussicht gestellten Möglichkeiten
                                                      gesiegt hatte.                                   klingen freilich fantastisch. Data Mining
                                                         Aus kritischen Quellen klingt das etwas       erlaubt erstmals in der Geschichte der
                                                                                                       ­
                                                      anders. Cambridge Analytica wurde wieder­        Menschheit, Migrationsströme vor­ her­

                                                                                                                                       upgrade 4 /2017
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10 BIG DATA

                                                       fünf
                                           SPARPOTENZIAL BIG DATA

                                                                                                                                       Quelle:
      PETER PARYCEK                                                                                                                    Study on eGovernment

                                           MILLIARDEN EURO
                                                                                                                                       and the reduction of
      Univ.-Prof. Mag. Dr. Peter                                                                                                       administrative burden:
                                                                                                                                       final report, Ernst & Young,
      Parycek, MAS, MSc leitet                                                                                                         Danish Technology Insti­tute,
      seit 2015 das Department                                                                                                         European Commission, 2014

      für E-Governance in Wirt-            Once-Only Principle: Data-Science-Teams könnten durch EU-weit harmonisierte
                                           Modelle der Datenerhebung und -verarbeitung zu Business-Registern, Schiffszertifikaten
      schaft und Verwaltung der            oder Beschaffungsvorgängen Verwaltungskosten stark r­ eduzieren, ohne nationale
      Donau-Universität Krems.             Systeme a­ ufzugeben. Die Donau-Universität Krems forscht mit Partnern derzeit an der
                                           Umsetzung des Once-Only Principle. http://toop.eu
      Mit Juli 2017 hat er
      zu­sätzlich die Leitung
      des Kompetenzzentrums
      ­Öffentliche IT (ÖFIT),
       ­gefördert vom Bundes­
        ministerium des Innern,
        am Fraunhofer-­Institut    zu­­sagen und so besser planen zu können,                                      Fragen anwendbar. Ein scheinbares Uni-
        ­FOKUS in Berlin über­     wo es wann mehr Ressourcen braucht;                                            versalmittel, das denen Macht verleiht, die
         nommen.                   Data Mining gilt als Sensorium, um Angriffe                                    darüber verfügen. „Im derzeit geführten
                                   auf Stromnetze und andere kritische Infra-                                     Diskurs der Begeisterung besteht die Ge-
                                   struktur frühzeitig zu bemerken und abzu-                                      fahr, dass die Methoden rund um Big Data
                                   wehren; und mit Data Mining will man Kre-                                      überbewertet und ihre Grenzen und
                                   ditkartenbetrüger, die online unbemerkt im                                     Schwachstellen nicht gesehen werden“,
                                   großen Stil agieren, dingfest machen.                                          sagt Voß.
                                       Datenanalyse lasse sich jedenfalls für                                        Ähnlich sieht es auch Claudia Plant. Die
                                   viele Fragen, die aus dem politischen Dis-                                     aus Deutschland stammende Informatike-
                                   kurs heraus entstehen, nutzen, sagt Peter                                      rin wurde mit Jänner 2016 als erste Profes-
      CLAUDIA PLANT                Parycek, Leiter des Departments für E-Go-                                      sorin für Data Mining an die Universität
      Univ.-Prof. Dipl.-Inform.    vernance in Wirtschaft und Verwaltung der                                      Wien berufen. Sie entwickelt Methoden,
      Dr. Claudia Plant wurde      Donau-Universität Krems. „Das heutige                                          mit denen das Wissen aus Big Data zu-
      2016 als erste Professorin   Spektrum der Datenanalysemethoden bie-                                         gänglich gemacht werden soll. „Mehr Da-
      für Data Mining an die       tet der Verwaltung die Möglichkeit, ihre                                       ten bringen nicht automatisch mehr Wis-
      Universität Wien berufen.    neutralen Empfehlungen und Szenarien ge-                                       sen“, sagt sie. Das Potenzial, was sich aus
      Forschungsschwerpunkte
                                   genüber der Politik abzusichern.“ Weg von                                      Datenmassen herausfiltern lässt, sei groß,
      sind u. a. anwendungs­
      orientiertes Data Mining
                                   der Ideologie also, hin zu den Fakten.                                         damit aber auch die – notwendige – Ver-
      in der Biomedizin, den           Der an der TU Berlin tätige Soziologe                                      antwortung im Umgang mit diesen. Viel zu
      Neurowissenschaften          und Politikwissenschafter Jan-Peter Voß                                        oft würden pauschale Schlüsse ohne ge-
      und den Umweltwissen-        ­beobachtet die Entwicklung mit deutlicher                                     naue Kenntnis der Methoden und der da-
      schaften.                     Skepsis. Data Mining, also das systema-                                       hinterliegenden Algorithmen präsentiert:
                                    tische Durchsuchen großer Datenmengen                                         „Die Technologien werden oft blind einge-
                                    auf Zusammenhänge, ist für ihn nur „eine                                      setzt, die Ergebnisse blind berichtet.“ Da-
                                    weitere Methode, mit der sich die Gesell-                                     her müssten die Entscheider nicht nur über
                                    schaft selbst beobachtet“. Also eines neben                                   die Möglichkeiten, sondern auch über die
                                    vielen anderen Verfahren, die zum Rüst-                                       Grenzen der Methoden informiert werden,
                                    zeug der Sozialforscher gehören. Proble-                                      sagt sie. Hier ortet sie eine Kluft. Und auch
                                    matisch wird es aus seiner Sicht, wenn die                                    die Nutzer wüssten meist nicht, was mit
                                    neue Methode nicht neben, sondern über                                        ihren Daten passiert. Es brauche also
                                                                                                                  ­
                                    andere Verfahren gestellt wird und diese                                      Transparenz, die in der medizinischen For-
                                    verdrängt, also statt einer Verbreiterung                                     schung, ihrem Steckenpferd, allerdings
                                    der Möglichkeiten eine Monopolstellung                                        weit einfacher zu erreichen sein dürfte, als
                                    mit sich bringt: als „neuer bester Weg“,                                      wenn kommerziell ausgerichtete Unter-
                                    leicht zu handhaben und für praktisch alle                                    nehmen auf soziale Medien zugreifen.

   upgrade 4/2017
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                                                            Digitales Grundrauschen steigt
                                                                                                            In zehn Jahren
                                                            Dass sich Parteien von Daten aus der Be-
                                                            völkerung leiten lassen, ist freilich nicht     ­werden wir
                                                            neu. „Politiker agieren schon jetzt mit Blick
                                                            auf die neuesten Umfragen“, sagt Katharina       auch bei uns in
                                                            Schell, langjährige Leiterin der Innenpolitik
                                                            der Austria Presse Agentur (APA) und heute       allen Ministerien
                                                            als Mitglied der Chefredaktion für redaktio-
                                                            nelle Innovationen zuständig. Allerdings         ­Data-Science-
                                                            werde durch die steigende Masse an Infor-
                                                            mationen das „digitale Grundrauschen“ im-         Teams haben.
                                                            mer lauter. Und nicht nur die Zahl der In-
                                                            formationen, auch die Zahl der Quellen          Peter Parycek
                                                            habe stark zugenommen. „Eine Homepage
                                                            ist schnell angelegt, eine Facebookseite so-
                                                            wieso.“ Während früher klar gewesen sei,
                                                            wer etwas behauptet oder hinter einem Me-          „Die Datenqualität ist äußerst unter-
                                                            dium steht, sei dazu nun ein zusätzlicher       schiedlich“, sagt Informatikerin Plant. Wirk-
                                                            Rechercheschritt notwendig. „Vor dem Fak-       lich fatal werde es aber, wenn man auf Ba-
                                                            tencheck kommt jetzt der Quellencheck“,         sis falscher Werte Schlüsse ziehe – oder sie
                                                            erklärt sie. Als Antwort auf die für viele so   gar politischen Entscheidungen zugrunde
                                                            überraschende Wahl Trumps und mit Blick         lege. Kommerziell erhältliche Softwarepa-
                                                            auf die anstehenden Wahlen in Deutsch-          kete seien zwar schnell einsetzbar, erfor-
                                                            land und Frankreich – und dann auch Ös-         derten aber auch viel Fachwissen. Die Wis-
                                                            terreich – entwickelte die APA in der ersten    senschafterin ortet in der momentan
                                                            Hälfte 2017 mit dem „Source Check“ Quel-        boomenden Branche „viele Quereinsteiger
                                                            lenporträts, die bei einer raschen Einschät-    mit wenig Ahnung“.
                                                            zung helfen sollen. Denn im Journalismus
                                                            wie auch in der Wissenschaft sollte die Fra-
                                                                                                            Empirismus als Illusion
                                                            ge, woher Daten kommen und welche Qua-
                                                            lität sie haben, am Beginn der Überle-          Für den Soziologen Voß entpuppt sich
                                                            gungen stehen.                                  der „pure Empirismus“, bei dem man

                                                            Data Science gegen Medizin-Mythen
Foto: Parycek © DUK Andrea Reischer; Plant © Barbara Mair

                                                                                                        Teebaumöl hilft gegen Pickel, Schokolade      ­ sterreich an der Donau-Universität
                                                                                                                                                      Ö
                                                                                                        macht glücklich, blaues Licht stört den       Krems. Seit 2011 überprüft das Wissen-
                                                                                                        Schlaf: Ob Behauptungen zu Gesund­            schafterteam Gesundheitsbehauptungen
                                                                                                        heits­­themen stimmen oder Fake sind,         auf wissen­schaft­liche Haltbarkeit und
                                                                                                        klärt die neue, im August 2017 vorgestellte   durchforstet dazu medizinische
                                                                                                        App „MedBusters“ des Hauptverbands            ­Datenbanken nach tausenden Studien.
                                                                                                        der österreichischen Sozialver­siche­rungs­    346 Gesundheitsaussagen aus M  ­ edien,
                                                                                                        träger. Die darin ent­haltenen wissen-         ­Internet und Werbung wurden dafür
                                                                                                       schaftlich geprüften Fakten stammen              ­bisher dem Fakten-Check unterzogen.
                                                                                                       ­unter anderem von Medizin Trans­parent,
                                                                                                        dem Online-Service von Cochrane               www.medbusters.com

                                                                                                                                                                                     upgrade 4 /2017
12 BIG DATA

                                      Maschinen wertfrei auf Daten loslasse, ohne-       nicht verhindere, dass das Versprechen
                                      hin als Illusion. Auch in jedem Algorithmus        ­einen Hype um die neue Sozialtechnologie
                                      und seiner Programmierung steckten An-              auslöse.
                                      nahmen und Theorien. Allerdings seien die
                                      Methoden stark technisiert und versteckt
                                                                                         Stadtplan mit Brennpunkten
                                      und so einer öffentlichen Debatte kaum zu-
      JAN-PETER VOSS
                                      gänglich zu machen. „Damit geht Transpa-           In Autokratien wie Singapur oder China
                                      renz verloren“, sagt Voß, der zwei Jahre           werde die Technologie bereits in völlig an-
      Prof. Dr. Jan-Peter Voß         lang in einer Arbeitsgruppe die Bedeutung          deren Dimensionen genutzt, erzählt Rechts­
      ­leitet seit 2012 als Junior-
                                      von Big Data aus politikwissenschaftlicher         informatiker Parycek: einerseits für die
       professor das Fachgebiet
       Soziologie der Politik an
                                      Sicht mitdiskutierte. Die Behauptung, dass         pragmatische ideologiefreie Aufbereitung
       der TU Berlin. Er war zwei     diese besonders umfassende Ergebnisse              wirtschaftspolitischer Entscheidungen und
       Jahre lang im Forschungs-      liefern, teilt er nicht: „Was wir in den Online­   andererseits zur Kontrolle und Verhaltens-
       projekt Abida („Assessing      interaktionen beobachten, ist nicht die ganze      steuerung der Gesellschaft. China verwen-
       Big Data“) Mitglied eines      soziale Wirklichkeit, es sind lediglich Ak­        de die neuen Methoden bereits im großen
       Arbeitskreises zu politik-     tivitäten bestimmter Nutzergruppen.“ Nicht         Stil, um die Onlinekommunikation seiner
       wissenschaftlichen
                                      alle Menschen verwendeten aber Neue                Bürger zu überprüfen. „Da finden wir echte
       ­Dimensionen von Big
        Data.
                                      ­Medien, zudem würden diese die Kommuni­           Big-Data-Analysen, wenn Millionen von
                                       kation stark vorformen: „Twitter gibt den         Chinesen pro Sekunde kommunizieren“,
                                       Nutzern 140, neuerdings 280 Zeichen Platz,        sagt er. Das Land versuche, die soziale
                                       um sich auszudrücken.“ Umgekehrt könne            Ordnung sicherzustellen, indem es seine
                                                                                         ­
                                       eine Person aber auch mehrere Accounts            Bürger bewertet. Dazu werden Daten wie
                                       besitzen. Und nicht immer agierten Men-           Zahlungsmoral, Einkaufsgewohnheiten, On­
                                       schen hinter digitalen Handlungsspuren:           lineverhalten oder sozial korrektes Verhal-
                                       Social Bots, hinter denen Computerpro-            ten gebündelt. Das „Sozial-Kreditsystem“
                                       gramme stehen, würden mit ihrem men-              soll bis 2020 kontinuierlich weiter aus­
                                       schenähnlich programmierten Verhalten             gebaut werden. Zugleich lasse sich so aber
                                       das Internet manipulieren, PR-Agenturen           auch der Pulsschlag der Gesellschaft
                                       ganze Trollfarmen betreiben, um die öffent-       be­
                                                                                         ­  obachten und für Entscheidungen her­
                                       liche Meinung zu beeinflussen. Es sei mitt-       anziehen.
                                       lerweile schwierig, aus der Grundgesamt-             In Österreich steht man bei diesen Über-
                                       heit herauszufiltern, was PR ist, sagt Voß.       legungen erst am Anfang. „Was wir im
                                       Damit stehe das große Versprechen, dass           Wahlkampf erlebt haben, war lediglich die
                                       man damit die tatsächlichen Bedürfnisse           Debatte um ein paar Facebookseiten, wo
                                       der Bevölkerung erheben könne, um maß-            keiner wusste, wer dahintersteht“, sagt
                                       geschneiderte Politikleistungen zu begrün-        Journalistin Schell. Und auch Parycek wür-
                                       den, auf sehr wackligen Beinen. Was jedoch        de „im österreichischen Wahlkampf noch
                                                                                         nicht von Big Data sprechen“. Parteien hät-
                                                                                         ten gerade einmal Onlinewerbung gekauft.
                                                                                         Datenanalysemethoden könnten aber – an-

                                      Auch in jedem
                                                                                         onymisiert und unter Einhaltung des Da-
                                                                                         tenschutzes sowie demokratiepolitischer

                                      ­Algorithmus
                                                                                         Korrektive – auch hier dazu beitragen, den
                                                                                         Boden für komplexe Entscheidungen auf-

                                       und ­seiner
                                                                                         zubereiten. Außerdem würde es durch sie
                                                                                         gelingen, Emotion aus heiklen Debatten zu

                                       ­Programmierung
                                                                                         nehmen, sagt Parycek. Er ist daher über-
                                                                                         zeugt: „In zehn Jahren werden wir auch

                                        stecken Annahmen
                                                                                         bei uns in allen Ministerien Data-Science-­
                                                                                         Teams haben.“ Während die Registrierkassa

                                        und Theorien.
                                                                                         derzeit ein Kontrollinstrument sei, könnte
                                                                                         sie in Echtzeit, also „live“, an ein System
                                                                                         angebunden die Entwicklung der österrei-
                                      Jan-Peter Voß                                      chischen Wirtschaft unmittelbar messen.

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13

                                         Menschen und
                                                                                       als es bei Hochhausbränden immer wieder
                                                                                       viele Tote unter den Zivilisten, aber auch

                                         ­Computer haben
                                                                                       unter den Feuerwehrleuten gab, berichtet
                                                                                       er. Parycek fragte die Verantwortlichen,

                                          ganz unter­schied­
                                                                                       was ein Data Scientist können muss. Die
                                                                                       Antwort war: „Er muss die richtigen Fragen

                                          liche Stärken
                                                                                       stellen.“ Auf diese Weise könne man fast        KATHARINA SCHELL
                                                                                       jedes Problem mit Hilfe der Analyse von
                                                                                                                                       Mag. Katharina Schell
                                          und Schwächen.
                                                                                       Daten lösen. Als man bei den Hochhaus-
                                                                                                                                       ­studierte Germanistik
                                                                                       bränden nachforschte, warum so viele
                                                                                                                                        und Skandinavistik. 1998

                                          Gemeinsam lässt
                                                                                       Menschen starben, zeigte sich, dass sich die     ­begann sie bei der APA
                                                                                       Hausbesitzer nicht an baurechtliche Vorga-        als freie Mitarbeiterin.

                                          sich ein gutes
                                                                                       ben hielten und in den betroffenen Häu-           Von 2008 bis 2016 war sie
                                                                                       sern viel zu viele Leute wohnten. Das New         ­Innenpolitik-Chefin, aktuell

                                          Endergebnis
                                                                                       Yorker Data-Science-Team sammelte dazu             ist sie Medienredakteurin
                                                                                       Informationen und erstellte Stück für Stück        sowie Mitglied der Chef­
                                                                                                                                          redaktion und u. a. für

                                          erzielen.
                                                                                       einen Stadtplan mit potenziellen Brenn-
                                                                                                                                          redaktionelle Innovation
                                                                                       punkten. Um die Sicherheitsmaßnahmen               zuständig.
                                                                                       zu kontrollieren, rückten aber schließlich
                                         Claudia Plant                                 keine Beamten, sondern Feuerwehrleute
                                                                                       aus. Man habe angenommen, dass man die-
                                                                                       sen eher öffne, sagt Parycek. Und diese be-
                                                                                       rieten die Menschen bei der Gelegenheit
                                                                                       auch gleich über mögliche Risiken.
                                                                                          Generell scheint es sich zu bewähren,
                                                                                       wenn sich Mensch und Maschine trotz der
                                         Data-Science-Teams bereits aktiv
                                                                                       dynamischen Entwicklung auch weiter er-
Fotos: Schell © APA; Voss © Studioline

                                         In den USA sind sogenannte Data-Science-­     gänzen. „Menschen und Computer haben
                                         Teams bereits für Politik und Verwaltung      ganz unterschiedliche Stärken und Schwä-
                                         im Einsatz. Parycek kennt die disziplinen-    chen. Gemeinsam lässt sich ein gutes End-
                                         übergreifend zusammengesetzten Ein-           ergebnis erzielen“, sagt Informatikerin
                                         heiten, die sich mit ihren Methoden ganz      Plant. Persönlich fände sie es durchaus in-
                                                                                                                                       Alice Senarclens de
                                         unterschiedlichen Bereichen widmen, aus       teressant, wenn Politiker ihre Entschei-        Grancy ist Redakteurin
                                         seinem Forschungsnetzwerk. Das Data-          dungen stärker auf Basis von Fakten erklä-      der Tageszeitung
                                         Science-Team von New York beriet etwa,        ren würden.                                     „Die Presse“.

                                                                                                                                                             ANZEIGE

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_WENDEPUNKTE

ATTENTAT VON SARAJEVO
   Noch ist der Besuch des Thronfolgers der K.u.k-
   ­Monarchie, Franz Ferdinand, und seiner Gattin im
   Gange, noch besteht an diesem 28. Juni 1914 die
   Ordnung des Kaiserreichs und der europäischen
   Mächtekonstellation. Doch ihr Zusammenbruch
   wird nur wenige Minuten später durch die tödlichen
   ­Schüsse von Gavrilo Princip auf den Thronfolger
   ­ausgelöst. Der nachfolgende D
                                ­ ominoeffekt an
   ­Beistandserklärungen mündet in den Ersten
   ­Weltkrieg, dieser reißt die Monarchien, wie jene
   von Österreich-Ungarn, Deutschland und ­Russland
   in den Abgrund.
INTERVIEW 15

                                  Ein Werkzeugkasten
                                  für das Wissen
                                  Wer komplexe Systeme begreifen will, muss sie in ihrer Vielschichtigkeit
                                  verstehen. Der Innovationsexperte Gerald Steiner erklärt, was diese
                                  ­ausmacht und was Wissensmanager mit Automechanikern verbindet.
                                  Interview: Alice Senarclens de Grancy

                                             upgrade: Sie haben die HTL für                Sie haben später als Wirtschaftsprofessor
                                            ­Ma­schi­nen­­­bau besucht, zunächst in        in Harvard gemeint: „Spitzenleistungen
                                            ­Ingenieur­büros gearbeitet, wirkten           sind das Ergebnis einer klaren Vision.“
                                             u. a. auch am Bau des Grazer                  Seit 2015 sind Sie an der Donau-Univer­
                                             Plabutsch­tunnels mit. Was haben Sie          sität Krems, was ist die Vision für Ihre
                                             von dort für das ­Wissensmanagement           ­Arbeit hier?
                                             mitgenommen?                                   Steiner: Ich bin überzeugt, dass die Univer-
                                             Gerald Steiner: Ich habe im Bereich Tun-       sität nicht nur akademisches Wissen gene-
                                             nelbau mit Produktinnovationen und neuen       riert und vermittelt, sondern zunehmend
                                             Prozesszugängen zu tun gehabt. Da steht        auch Beiträge zu den großen gesellschaft­
                                             man schnell vor der Wahl: Entweder ich ver-    lichen Herausforderungen leisten muss.
                                             suche, alles selbst zu machen, und bin auf     Das ist die große Vision, die hinter all mei-
                                             meine Erfahrungen eingeschränkt, oder es       nem Tun steht. Themen wie Digitalisierung,
                                             gelingt mir, Menschen mit wichtigem Ex-        Sicherheit, nachhaltige Entwicklung oder
                                             perten- und Erfahrungswissen zu integrie-      Gesundheit haben eines gemeinsam: Sie
                                             ren. Für mich war es erstaunlich, wie viel     sind hochkomplex.
                                             Wissen es neben dem akademischen Be-
                                             reich in der Produktion gibt. Das wurde bei   Wie können Erkenntnisse aus dem
                                             den Entwicklungen aber sehr oft vernach-      ­Wissensmanagement beitragen, solche
                                             lässigt. Diese Erkenntnis hat mich dazu be-    hochkomplexen Aufgaben zu lösen?
                                             wegt, zu überlegen, wie ich etwa auch Vor-     Steiner: Betrachtet man den Begriff Wi­ s­
                                             arbeiter oder Montagearbeiter mit an Bord      sens­management von der Wurzel her und
Foto: Karl Tröstl, CC BY-SA 3.0

                                             holen kann. Ohne das damals als Business-      glaubt, es geht darum, bestehendes Wissen
                                             Management zu bezeichnen, hat es mir ge-       zusammenzubringen und im Sinne eines
                                             zeigt: Ich bekomme weitaus bessere Ergeb-      Kochrezepts zu Lösungen zu kommen, ist
                                             nisse, wenn ich eine Wissensintegration        das eine veraltete Sichtweise. Wissens­
                                             über verschiedene Bereiche und Akteure         management muss sich heute ständig neu
                                             hinweg erreiche.                               erfinden. Und das erfordert anderes als

                                                                                                                             upgrade 4 /2017
16 INTERVIEW

      Univ.-Prof. Mag. Dr.         ein a plus b plus c ist gleich – so läuft es   Wie geht man also vor?
      ­Gerald Steiner leitet       nicht. Die Wissensspirale hat längst so viel   Steiner: Ich muss ein System zunächst ver-
       das Department für
                                   Dynamik, dass sie kein rein deterministi-      stehen lernen in seiner Vielschichtigkeit.
       Wissens- und Kommuni­
       ka­­tions­management der    sches System mehr darstellt. Ein einfaches     Sie wissen in komplexen Systemen vorerst
       Donau-­Universität Krems.   Problem, etwa einen Sessel zusammenzu-         nicht, wie einzelne Reaktionen ablaufen,
       Außer­dem ist der Univer-   bauen, ist wohldefiniert: Ich weiß, wie viel   welche Störelemente sich ergeben. Überle-
     sitätsprofessor für Organi-   Teile ich habe, kenne den Prozess, damit aus   gungen dazu helfen, fit für die Zukunft zu
     sationskommunikation
                                   dem Ikea-Bauset ein fertiger Sessel wird.      werden. Wenn eine Fußballmannschaft trai-
     und Innovation Dekan
     der Fakultät für Wirtschaft   Nehme ich eine Uhr her, ist das noch immer     niert, weiß sie auch nicht, welche Spielzüge
     und Globalisierung.           ein deterministisches Problem, aber es ist     der Gegner machen wird, aber sie kann sich
     ­Steiner wirkte zuvor an      kompliziert, da brauche ich schon mehr         darauf einstellen, indem sie etwa Freund-
      den Universitäten Graz       Kenntnisse und Kompetenzen. Und eine           schaftsspiele durchführt, so die gegnerische
      und Harvard, wo er eine
                                   komplexe Fragestellung reicht noch weit        Mannschaft studiert und das eigene Adapti-
      Schumpeter-Gastprofessur
      innehatte.                   darüber hinaus.                                onsverhalten verbessert.

                                   Ein Beispiel?                                  Sie plädieren in Ihren Publikationen für
                                   Steiner: Wir hatten ein internationales        die Suche nach den „echten Problemen“
                                   Projekt zu Ernährungssicherheit. Das hat
                                   ­                                              als „Rohdiamanten“ der Innovation.
                                   nicht nur mit hungernden Menschen zu tun,      Was ist gemeint? Und wie findet man diese?
                                   sondern auch mit Übergewichtigen – deren       Steiner: Schon Paracelsus hat gesagt: Wenn
                                   Anteil an der Weltbevölkerung ist mit je       ich Fieber bekämpfe, senke ich zwar die
                                   rund einer Milliarde gleich groß. Es bedarf    Temperatur, aber das heißt nicht, dass der
                                   also einer ganzheitlichen Betrachtung in       Mensch gesund ist. Und so ist es auch bei
                                   Verbindung mit in kollaborative Problem­       der Innovation. Wenn Sie mit einem viel-
                                   lösungsprozesse eingebetteten Methoden.        leicht offensichtlichen Problem losstarten,
                                                                                  generieren Sie Ideen und zweifellos auch
                                                                                  Innovation, leisten aber keinen Beitrag für
                                                                                  die nachhaltige Verbesserung des Gesamt-
                                                                                  systems. Die wirklichen Ursachen von Pro-
                                                                                  blemen zu finden, ist daher zentral.

                                                                                  Passiert das häufig, dass das Pferd
                                                                                  so­­zu­sagen von hinten aufgezäumt wird?
                                                                                  Steiner: Wo man losstartet, muss nicht die
                                                                                  tatsächliche Ursache einer Problemkette
                                                                                  sein. Wir hatten ein Entwicklungsprojekt
                                                                                  mit dem Unternehmen Kärcher, da ging es
                                                                                  um die Innovation der Zukunft. Wofür steht
                                                                                  Kärcher? Für Reinigen. Spannend war, dass
                                                                                  es Kärcher um soziale, gesellschaftlich rele-
                                                                                  vante Fragestellungen gegangen ist und
                                                                                  nicht einfach nur um eine erhöhte Reini-
                                                                                  gungsleistung, aber das hat sich erst im
                                                                                  Prozess gezeigt. Kann die Firma etwa für
                                                                                  das Leben älterer Menschen oder bei
                                                                                  Reha-Maßnahmen etwas beitragen? Das
                                                                                  liegt nicht auf der Hand, das ist zunächst
                                                                                  verborgen.

                                                                                  Was war das Ergebnis?
                                                                                  Steiner: Ein Rollator mit Reinigungsaufsatz
                                                                                  und mit Messsensoren für Körperfunktio-
                                                                                  nen. Wir haben gesehen, dass es den Leuten
                                                                                  im Altersheim viel Spaß macht, etwas selbst

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                              tun zu können. Die Arbeit mit dem Rollator
                              ersetzt Bewegungsmaßnahmen aus der               Zentral ist,
                              Reha. Und zusätzlich freut sich der Medizi-
                              ner, wenn über die an den Griffen einge-         die ­wirklichen
                              bauten Sensoren Körperwerte bei Bewe-
                              gung abgefragt werden. Fast jeder ist beim       ­Problemursachen
                              Arzt aufgeregt, die Herzfrequenz geht nach
                              oben. So bekommt man Messwerte von                zu finden.
                              ganz anderer Qualität, auch weil sie über
                              einen Zeitraum gemessen werden.                   Schon Paracelsus
                              Sie haben bei Ihrer Antrittsvorlesung ­gesagt,    sagte: Fieber
                              „komplexe gesellschaftliche­ He­r­aus­­for­
                              derungen benötigen besondere Formen               bekämpfen senkt
                              der Kollaboration und Kommunikation“.
                              ­Welche könnten das sein?                         die Temperatur,
                               Steiner: Interdisziplinäre Kollaborations-
                               prozesse und von Beginn an einen Stake-          aber das heißt nicht,
                               holderdiskurs, also einen Dialog mit Prakti-
                               kern im Sinne eines transdisziplinären           dass der Mensch
                               Vorgehens. Und das funktioniert nur auf
                               Augenhöhe.                                       gesund ist.
                              Fehlt diese mitunter?                            Gerald Steiner
                              Steiner: Wenn sich eine Disziplin als die
                              übergeordnete und wichtigere betrachtet,
                              habe ich ein Problem. Das kommt sehr oft
                              vor. Fehlleitend könnten manche meinen:
                              Die Geisteswissenschaften sind nicht so
                              wichtig. Da würde ich sagen: und wie wich-
                              tig die sind! Wenn ich heute etwa einen
                              Beteiligungsprozess gestalte, helfen mir
                              ­                                                bevor man die Werkzeuge wählt. System­
                              Anthro­ pologen extrem, die Akteure und          analytische Methoden haben heute etwa
                              Gruppen, ihre Kommunikationsmuster,              eine zentrale Bedeutung für das Wissens-
                              Vorstellungen und Werte zu verstehen. Und        management komplexer Aufgaben. Und
                              so ist es auch in der Zusammenarbeit mit         dann hat ein guter Wissensmanager – wie
                              Akteuren der Praxis. Betrachtet man nur          ein Mechaniker – so etwas wie einen Werk-
                              die akademische als kreative Klasse, ist das     zeugkoffer. Da sind traditionelle Elemente
                              eine Geringschätzung der österreichischen        drinnen wie Checklisten, Mindmaps, Prob-
                              Facharbeiterschaft, die ihrerseits aber zu       lemfindungs- und Problemlösungsmetho-
                              sehr vielen großen Innovationen im öster-        den oder Kreativitätstechniken.
                              reichischen Gesellschafts- und Wirtschafts-
                              system beigetragen hat. Es geht um einen         Wo zeigen sich in der Praxis Hindernisse
                              Dialog, der diese Unterschiedlichkeiten          für Wissensmanagement?
                              ­zulässt, um eine gemeinsame Sprache.            Steiner: Der Flaschenhals ist oft, dass un-
                                                                               sere Ausbildungssysteme die heute not-
                              Welche sind die wichtigsten Werkzeuge            wendigen Kompetenzen nicht ausreichend
                              ­modernen Wissensmanagements?                    herausbilden, etwa in Bezug auf systemi-
Foto: © DUK Andrea Reischer

                               Steiner: Das hängt von der Situation ab.        sches Denken, Kreativität, kollaboratives
                               Nehmen Sie an, Sie haben einen alten            Problemlösen und soziokulturelle Fähig-
                               Sportwagen. Er ist kaputt und sie fragen        keiten. Dann helfen auch einzelne Metho-
                               nach den besten Werkzeugen. Da muss             den nichts, weil die Leute diese nicht nut-
                               man zuerst wissen, was nicht funktioniert.      zen können, um die Prozesse entsprechend
                               Und so ist es auch im Wissensmanagement,        zu gestalten.

                                                                                                                             upgrade 4 /2017
18 DIE DONAU-UNIVERSITÄT KREMS STELLT VOR

                                 Im Fokus:
                                 Das Department für Wissens- und
                                 Kommunikationsmanagement
                                 der Donau-Universität Krems

                                                                                                            Problem
                                                                                                             lösen

                   Im Dreischritt
                                                                                                                    Ver-
                   Innovation gedeiht durch guten Austausch,
                   im Wechsel­spiel von Verstehen und                                                              stehen
                   ­Kommunizieren. Denn auf allen Feldern
                    der Wirtschaft gilt heute: Ohne Abläufe,
                    Mechanismen und Verständnis von Pro­                   Innovation
                    zessen lässt sich das Weiterkommen nicht
                    organisieren. „Innovation geht nur gemein-           and Leadership
                    sam, durch einen Prozess Step-by-step.                   - Change Management
                    So verhält es sich mit dem Verständnis:             - Communication and Leadership
                    Wie ein System tatsächlich funktioniert,               - Innovationsmanagement
                    lässt sich nur durch Kommunikation und            - Kommunikation und Management
                    Interaktion, also im Austausch mit anderen               - Wissensmanagement
                    Menschen begreifen. Das Gleiche gilt für
                    politische und Unternehmenskommu­ni­ka­
                    tion ebenso wie für den Journalismus.
                    Auch deren Vertreterinnen und Vertreter
                    müssen zunächst begreifen, bevor sie
                    ­kommunizieren und damit Prozesse mitge-
                     stalten“, sagt Univ.-Prof. Dr. Gerald Steiner,
                     Inno­vations­experte, Leiter des Departments                          Organisations-
                     für Wissens- und Kommunikations­manage­                               kommunikation
                     ment an der Donau-Universität Krems.
                                                                                             und Politik
                   www.donau-uni.ac.at/wuk                                              - Organizational Communication
                                                                                               - Politische Bildung
                                                                                           - Politische Kommunikation
                                                                                                 - PR-Fernstudium
                                                                                         - Strategische Kommunikation
                                                                                                       und PR

  upgrade 4/2017
19

   Journalismus
 und Digitalisierung                                                                                 Lehre
     - Digitale Kommunikation
       - Qualitätsjournalismus                                                                       Das Department bietet in Modul­
      - Quality Journalism and                                                                       bauweise berufs­begleitend flexibel
          New technologies                                                                           kon­zipierte Weiterbildungs­­­­programme
   - Wirtschaftskommunikation                                                                        vom Master­studium bis zu Einzel­
                                                                                                     modulen an, die Problemlösungs- und
                                                                                                     Kommunikations­kom­petenz sowie
                                                Performance                                          Management-Know-how verknüpfen.

                                                 Excellence
                                            - Integrated Management Systems
                                          - Internationales Projektmanagement
                                                                                                     Forschung
                                               - Lean Operation Management
  Kommuni­­­                                        - Prozessmanagement                              Im engen Zusammenspiel mit
                                                                                                     Prakti­kerinnen und Praktikern forscht
   zieren                                          - Qualitätsmanagement
                                                                                                     das Department trans­disziplinär
                                                     - Risikomanagement
                                                                                                     und international in fünf Themen­­­­­­­
                                                                                                     schwer­punkten.

       Professional
      Communication
        and Design                                                         Creativity and Innovation
- Informations- und Datenvisualisierung                         *Collective Mind: Erforschung kollektiver Intelligenz von Gruppen
          - Informationsdesign                                               *Sustainable Knowledge Management
    - Technische Kommunikation und
          Medienmanagement                                                 Information Visualization
                                                                        *DJ Isotype: Lösungen für den Datenjournalismus
                                                                     *Polycube: digitale Sammlungen besser nutzbar machen

                                                                                Sustainable Transition
                                                                           *Biodiversitäts-Hub: Schnittstelle Forschung,
                                                              Politik und Gesellschaft zur nachhaltigen Nutzung unserer Ökosysteme
                                                                                                                                              g)
                                                                                                                                           szu

                                                                      *Social Peace and Migration Studies (einschließlich PhD)
                                                                                                                                          Au
                                                                                                                                       te (

                                                                                 Transdisciplinarity
                                                                                                                                     jek
                                                                                                                                    Pro
                                                                                                                                elle

                                                                           *Interdisziplinäre Forschungsgruppe GMG:
                                                                                                                               ktu

                                                                          Gesundheit im Zeitalter weltweiter Mobilität
                                                                                                                              *A

                                                                          *ReDE: Wissensnetzwerk zu (unerwünschten)
                                                                             Rückwirkungen digitaler Technologien

                                                                                                                                                   upgrade 4 /2017
_WENDEPUNKTE

KONFERENZ VON JALTA
   Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin
   nebeneinandersitzend – das Foto dieses Moments bei
   der Konferenz von Jalta markiert die ­Aufteilung der
   Welt, insbesondere Europas in die russisch dominierte
   und amerikanisch-westlich dominierte Sphäre.
   Die ­Jalta-Konferenz, 4. bis 11. Februar 1945, besiegelte
   nicht nur das Schicksal Deutschlands und die
   ­Welt­ordnung für über vier Jahrzehnte, s­ ondern
   brachte auch eine Einigung über die letzten Punkte
   zur Gründung der Vereinten Nationen.
WÄHLERENTSCHEIDUNGEN 21

                                                                                Nix ist fix
                                                                                Wir wählen immer wechselhafter, aber wählen
                                                                                wir wenigstens, was wir wirklich wollen? Die Politik-
                                                                                wissenschaft hat einige Erklärungen, warum wir
                                                                                als Wählende entscheiden, wie wir wählen.
                                                                                Von Johanna Müller

                                                                                              o viel vorweg: Mit den reinen    und politischen Entscheidungen“, schreibt
                                                                                              Fakten erringt man die Gunst     die Linguistin Elisabeth Wehling in ihrem
                                                                                              der Stimmberechtigten nicht.     Buch „Politisches Framing“. Sie setzt hinzu:
                                                                                              „Man mag es sich wünschen“,      „Der Großteil unseres Denkens kann nicht
                                                                                              sagt der Politik- und Kommuni-   nur nicht von uns beeinflusst werden, son-
                                                                                              kationswissenschafter Markus     dern wird von uns nicht einmal wahrge-
                                                                                              Rhomberg, „aber Menschen sind    nommen.“ Wenn dem so ist, dass wir offen-
                                                                                keine rationalen Wählerinnen und Wähler;       bar nicht so recht wissen, warum wir uns so
                                                                                ebenso ­wenig wie sie rationale Konsumen-      und nicht anders entscheiden: Was wählen
                                                                                ten sind. Wenn ich Wähler von etwas über­      wir denn dann e  ­igentlich, wenn wir wäh-
                                                                                zeugen will, muss ich sie auch auf einer       len?
                                                                                emo­  tionalen Ebene ansprechen, bei ihren
Foto: TR 2828 from the collections of the Imperial War Museums, Public Domain

                                                                                Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Leiden­
                                                                                                                               Stammwähler schwinden
                                                                                ­schaften.“
                                                                                    Der Verdacht, dass wir uns bei unseren     Vielleicht zunächst zu dem, was wir nicht
                                                                                 Wahlentscheidungen nicht von Argumenten       wählen: Anders als früher fühlen wir uns
                                                                                 und Fakten leiten lassen, ist nicht neu. So   zum Beispiel nicht mehr an „unsere“ Partei
                                                                                 schrieb Edward L. Bernays bereits 1928 in     gebunden. „Stammwähler und -wählerin-
                                                                                 seinem PR-Klassiker „Propaganda“, dass die    nen“ sind rar geworden: Gerade einmal 45
                                                                                 „Volksmeinung aus überlieferten Vorurtei-     Prozent haben bei der Nationalratswahl
                                                                                 len, Symbolen und Klischees“ bestehe, die     2017 dieselbe Partei gewählt wie vier Jahre
                                                                                 wiederum von den jeweiligen „Anführern“       zuvor, stellten die beiden Institute SORA
                                                                                 entwickelt würden. Die Neuropsychologie       und ISA in ihrer gemeinsamen Wahltagsbe-
                                                                                 und die Neurolinguistik finden in den letz-   fragung nach der Nationalratswahl in Öster-
                                                                                 ten Jahrzehnten immer wieder starke Be­       reich am 15. Oktober fest. Mit 26 Prozent
                                                                                 lege dafür, dass wir Entscheidungen – auch    war der Anteil der Wechselwählerinnen und
                                                                                 Wahlentscheidungen – nicht bewusst treffen    -wähler bei dieser Nationalratswahl so hoch
                                                                                 und dies auch gar nicht können. „Nicht Fak-   wie noch nie. Woran liegt das? „Bereits seit
                                                                                 ten, sondern Frames sind die Grundlage un-    den 1970er Jahren kann man etwa aus der
                                                                                 serer alltäglichen sozialen, ökonomischen     Tat­sache, dass jemand Arbeiter ist, nicht

                                                                                                                                                               upgrade 4 /2017
22 WÄHLERENTSCHEIDUNGEN

                                        Die National­­rats­
                                        wahl 2017

                                                                     26
                                        mit dem bisher

                                                                                                             %
                                        höchsten Wechsel­
                                        wähler­anteil
     MARKUS
     RHOMBERG                                                                                                WECHSEL­
     Prof. Dr. Markus Rhomberg
                                                                                                             WÄHLERINNEN
                                                                                                             UND -WÄHLER
     ist Politik- und Kommuni-

                                        45
     kationswissenschafter
     und hat sich auf politische
     Kommunikation speziali-
                                                           %
                                                           WÄHLEN
     siert und mehrere Bücher                              DIESELBE
     zu diesen Themen verfasst.                            PARTEI
     Er leitet seit Oktober 2017                           WIE VIER
                                                                                                                    Quelle:
     die Geschäftsstelle der                               JAHRE                                         Wahltagsbefragung
     ­Internationalen Boden-                               ZUVOR                                             SORA und ISA
      see-Hochschule IBH und
      war zuvor Leiter des
      ­Zentrums für Politische
       Kommunikation an der        mehr auf sein Wahlverhalten schließen. Das        verhalten. Gänzlich losgelöst von sozio­
       Zeppelin Universität        hat damit zu tun, dass die soziale Zugehö-        ökonomischen Bindungen treffen wir unsere
       ­Friedrichshafen (ZU).      rigkeit nicht mehr identitätsstiftend ist. Des-   Wahlentscheidungen dennoch nicht. „Män-
                                   halb fallen Wahlentscheidungen heute viel         ner wählen tendenziell eher Mitte-­  Rechts-
                                   kurzfristiger in Abhängigkeit von vielen ver-     Parteien und Frauen eher Mitte-Links-Par-
                                   schiedenen Faktoren“, erklärt Sylvia Kritzin-     teien“, sagt der Politologe Peter Filzmaier.
                                   ger, Politikwissenschafterin der Universität      Doch die Aussagekraft der sozialen Katego-
                                   Wien.                                             rien ist begrenzt: „SPÖ und ÖVP werden
                                      Das Kreuzchen bei einer Partei zu ma-          überdurchschnittlich von der 60-plus-Gene-
                                   chen, die sich auch als solche präsentiert,       ration gewählt, das heißt, auch von Frauen
                                   fällt uns generell zunehmend schwer. „Par-        dieser Generation; während die Grünen
                                   teien haben heute keinen guten Ruf: Sie ste-      eher von jüngeren städtischen Frauen ge-
                                   hen für ein elitäres Politikverständnis und       wählt werden.“ Während Unterschiede wie
                                   die Populismusforschung zeigt uns, dass es        Alter oder Geschlecht also an Bedeutung
                                   unter manchen der Wählern durchaus einen          und auch an Erkenntniswert zu verlieren
                                   Elitenfrust gibt“, sagt Sylvia Kritzinger. Die    scheinen, sind die Unterschiede im Wahl-
                                   Frustration über die Eliten, die Sehnsucht        verhalten zwischen Land- und Stadtbe­
                                   nach etwas Neuem machen „Bewegungen“              wohnern nach wie vor auffallend, wie Peter
                                   für uns attraktiv, meint Kritzinger. „Diese       Filzmaier sagt: „Der Stadt-Land-Gegensatz
                                   populistischen Wahlmotive finden wir zum          ist oft noch viel stärker ausgeprägt als an­
                                   Beispiel bei den Wählern der Liste Pilz           dere demografische Unterschiede. Das war
                                   ebenso wie bei der FPÖ.“ Anders als Partei-       bei der Präsidentschaftswahl 2016 beson-
                                   en können populistische Bewegungen                ders deutlich: Alexander Van der Bellen hat
                                   glaubhaft suggerieren, sie würden für „das        in den Städten 60 Prozent und mehr der
                                   Volk“ sprechen. „Ein genialer Schachzug“,         Stimmen bekommen, Norbert Hofer um­
                                   so Kritzinger, „denn keiner weiß, wer das         gekehrt in den kleineren Gemeinden eben-
                                   Volk ist. Das Volk sind ja wir alle. Und wir      so viel.“
                                   haben alle ganz unterschiedliche Interessen          Dass es im Präsidentschaftswahlkampf
                                   und Ideologien.“                                  2016 um zwei Personen ging und nicht um
                                                                                     Parteien, kann dazu beigetragen haben,
                                                                                     dass die Wahlbeteiligung damals sehr hoch
                                   Stadt-Land-Gefälle
                                                                                     war und der Wahlkampf insgesamt sehr
                                   Alter, Klasse, Geschlecht spielen zwar eine       emotional geführt wurde. Sobald Gefühle
                                   zunehmend geringere Rolle für unser Wahl-         im Spiel sind und diese mit Themen und

  upgrade 4/2017
23

                                                                                             Personen verknüpft werden können, fühlen       schien daher neben dem Thema Migration
                                                                                             wir uns nämlich angesprochen. „Personali-      kein anderes Thema mehr Platz zu haben,
                                                                                             sierung – das hat man auch in diesem Nati-     „obwohl andere Fragen, wie etwa Digitali-
                                                                                             onalratswahlkampf gesehen – funktioniert       sierung, soziale Sicherung, Bildung oder
                                                                                             vor allem auch medial sehr gut“, sagt Mar-     Pflege, mindestens ebenso dringlich und
                                                                                             kus Rhomberg.                                  relevant sind.“ Eine politische Partei, die
                                                                                                                                            das Momentum für sich nutzen will, findet       PETER FILZMAIER
                                                                                                                                            in den Medien daher einen kongenialen
                                                                                             Weder Chronisten noch                                                                          Univ.-Prof. Dr. Peter
                                                                                                                                            Partner, wenn sie ebenfalls auf die emotio-
                                                                                             Meinungsmacher                                                                                 Filzmaier ist Politikwissen-
                                                                                                                                            nale Karte setzt. „Die Politik hat die medi-
                                                                                                                                                                                            schafter und Professor für
                                                                                             Die Medien – sitzen sie nicht gerade in die-   ale Logik längst übernommen, weil sie           Demokratiestudien und
                                                                                             sen digitalen Zeiten an besonders langen       glaubt, die Wähler dann besser erreichen        Politikforschung an der
                                                                                             Hebeln, indem sie bestimmte Themen             zu können“, so Rhomberg. Wahlkampag-            Donau-Universität Krems
                                                                                             leicht in den Vordergrund spielen können?      nen, die auf unsere Gefühle abzielen, errei-    sowie für Politische Kom-
                                                                                             Es sei zwar so, meint Rhomberg, dass die       chen uns mit ihrer Botschaft viel eher.         munikation an der Karl-­
                                                                                             Medien nicht im Alleingang bestimmen,                                                          Franzens-­Universität Graz.
                                                                                                                                                                                            Er leitet das Internationale
                                                                                             welche Themen etwa einen Wahlkampf do-
                                                                                                                                            Ängste nicht negieren                           und Interuniversitäre Netz-
                                                                                             minieren, ihr Einfluss sei aber auch nicht                                                     werk Politische Kommuni-
                                                                                             zu unterschätzen: „Die Medien sind weder       Emotional starke Themen sind oft Themen,        kation netPOL und grün-
                                                                                             reine Chronisten des politischen Gesche-       die geeignet sind, Unsicherheiten und           dete 2007 das Institut für
                                                                                             hens noch allmächtige Meinungsmacher“,         Ängste zu schüren. Diese Unsicherheiten         Strategieanalysen (ISA).
                                                                                             sagt er. Wenn die These der Kognitionsfor-     und Ängste, die es ja tatsächlich gibt, ein-
                                                                                             schung stimmt, dass wir eben nicht ratio-      fach zu negieren, sei keine gute Strategie,
                                                                                             nal und objektiv Argumente gegeneinan-         wie Sylvia Kritzinger sagt: „Weder die
                                                                                             der abwägen, wenn wir Entscheidungen           Grünen in Österreich noch die Linke in
                                                                                                                                            ­
                                                                                             treffen, dann liegen die Medien bei uns        Deutschland haben eine Gegenposition bei
                                                                                             genau richtig. Medien tendierten nämlich       dem Thema Migration entwickelt. Wenn ein
                                                                                             dazu, so Rhomberg, gerade die Themen           Thema so stark dominiert, ist es nicht emp-
                                                                                             „groß“ zu machen, die mit starken Gefüh-       fehlenswert, sich einfach nicht damit aus­
                                                                                             len verbunden sind. Bei den beiden Wahl-       einanderzusetzen und keine Antworten zu         SYLVIA KRITZINGER
                                                                                             kämpfen in Deutschland und in Österreich       liefern.“ Spielen Inhalte für uns also doch     Univ.-Prof. Dr. Sylvia
                                                                                                                                            eine Rolle? Kommt es nur darauf an, sie         ­Kritzinger ist Politik­
                                                                                                                                            richtig zu verpacken? „Ja“, meint zumindest      wissenschafterin und
Fotos: Rhomberg: © IBH Ulrike Sommer; Filzmaier © DUK Andrea Reischer; Kritzinger © privat

                                                                                                                                            Sylvia Kritzinger. „Wählerinnen und Wähler       ­Professorin für Methoden
                                                                                                                                                                                              der Sozialwissenschaften
                                                                                             Bereits seit den
                                                                                                                                            nehmen aber oft ‚Abkürzungen‘, wenn sie
                                                                                                                                                                                              am Institut für Staats­
                                                                                                                                            sich entscheiden sollen. Nicht jeder und
                                                                                                                                                                                              wissenschaften der

                                                                                             1970er Jahren
                                                                                                                                            jede hat die Ressourcen, also ausreichend         ­Universität Wien. Sie ist
                                                                                                                                            Zeit und Interesse, sich lang mit politischen      eine der Projektleiterinnen

                                                                                             kann man etwa
                                                                                                                                            Fragen zu beschäftigen, daher braucht man          der „Austrian National
                                                                                                                                            Shortcuts, die von den Parteien zur Ver­           Election Study“ (AUTNES)

                                                                                             aus der Tatsache,
                                                                                                                                            fügung gestellt werden.“                           und verantwortlich für
                                                                                                                                               Einer dieser Shortcuts kann darin beste-        „the Demand Side –
                                                                                                                                                                                               ­Wahlverhalten“.

                                                                                             dass jemand
                                                                                                                                            hen, die einfachste Antwort zu suchen und
                                                                                                                                            dann die Partei oder Bewegung zu wählen,

                                                                                             Arbeiter ist,
                                                                                                                                            die es einem am leichtesten macht. Populis-
                                                                                                                                            tische Parteien haben dabei einen Vorteil:

                                                                                             nicht mehr auf sein
                                                                                                                                            Sie liefern die Lösung gleich mit. „Warum
                                                                                                                                            sind Populisten so populär? Die Antwort ist,

                                                                                             Wahlverhalten
                                                                                                                                            dass sie einfache Lösungen bei komplexen
                                                                                                                                            Angelegenheiten anbieten. Und es ist natür-

                                                                                             schließen.
                                                                                                                                            lich einfacher, sich zu entscheiden, wenn
                                                                                                                                            man eine klare Message bekommt und sich
                                                                                                                                            denken kann, o. k., wenn wir das so machen,
                                                                                             Sylvia Kritzinger                              dann wäre das Problem gelöst.“

                                                                                                                                                                                                              upgrade 4 /2017
_WENDEPUNKTE

TREFFEN ROOSEVELT – IBN SAUD
   An Bord des US-Kriegsschiffes USS Quincy kon­­­­­ferier­ten
   am 14. Februar 1945, drei Tage nach der Jalta-­Konferenz,
   der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der
   ­saudische König Abd al-Aziz ibn Saud. Das Treffen wird
   in der arabischen Welt ambivalent ge­sehen, steht es
   doch für den B
                ­ eginn der strate­gi­schen Zusammen­arbeit
   zwischen den USA und Saudi-Arabien, der Ausbeutung
   der dortigen Ölreserven und des w
                                   ­ estlichen Einflusses
   auf die arabische Welt. Z
                           ­ ahlreiche Konflikte bis hin
   zur Radikalisierung des I­slam haben ihre mittel- und
   unmittelbare Ursache i­n diesem Treffen.
VERFASSUNGSKRISEN 25

                                                 Entscheiden in
                                                 Verfassungskrisen
                                                 In Ungarn und Polen droht mithilfe der direkten Demokratie
                                                 der Rechtsstaat ausgehöhlt zu werden, Katalonien
                                                 löste in Spanien Unruhe aus. Wie entscheiden, wenn
                                                 Politik und Rechtsstaat kollidieren?
                                                 Von Gunnar Landsgesell

                                                                           n Katalonien kündigt Regierungs-    onen aufzulösen, es gab Durchsuchungen,
                                                                           chef Carles Puigdemont die Se­      Verhaftungen und die Anweisung, neun
                                                                           zession vom spanischen Zentral-     Millionen Stimmzettel zu beschlagnahmen.
                                                                           staat an und wird von diesem        Mehrmals drohte Rajoy, den Artikel 155 der
                                                                           entmachtet. In Ungarn wird unter    Verfassung einzusetzen und die autonome
                                                                           Premier Viktor Orbán (FIDESZ) die   Region unter Zwangsverwaltung zu stellen.
                                                                           Gewaltentrennung aufgeweicht,       Als das Referendum tatsächlich pro Unab-
                                                                           während Medien und NGOs unter       hängigkeit ausging, rief Puigdemont diese
                                                                 Beobachtung stehen. Auch in Polen ver-        nicht aus, sondern spielte auf Zeit und for-
                                                                 sucht die regierende PiS unter der Regie      derte Rajoy zum Dialog auf.
                                                                 von Jarosław Kaczyński sich die Justiz
                                                                 dienstbar zu machen und gefährdet deren
Foto: U.S. Army Signal Corps / photo USA-C-545

                                                                                                               Kein Recht auf Sezession
                                                                 Unabhängigkeit. Drei Beispiele krisenhafter
                                                                 Politik aus Europa, bei der die Verfassung    In Madrid hatte das Verfassungsgericht
                                                                 eine entscheidende Rolle spielt. Was kann,    noch vor den turbulenten Ereignissen in
                                                                 was muss Politik tun, wenn demokratische      Katalonien ein Unabhängigkeitsreferendum
                                                                 Rechte zur Disposition stehen?                als Kompetenzüberschreitung bezeichnet.
                                                                    In Spanien griff Premier Mariano Rajoy     Ganz allgemein berufen sich die Katalanen
                                                                 energisch durch, als sich die Pläne für das   hingegen auf das Selbstbestimmungsrecht
                                                                 Katalonien-Referendum konkretisierten Ein­­   der Völker. Thomas Ratka, Professor für
                                                                 satzkräfte der Guardia Civil wurden nach      ­Europarecht, schränkt jedoch ein: „Es gibt
                                                                 Barcelona verlegt, um illegale Demonstrati-    kein völkerrechtliches ‚Recht auf Sezes-

                                                                                                                                               upgrade 4 /2017
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